Ludwig Tieck
Die Reisenden
Ludwig Tieck

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Der neue Director Anselm hatte sich indessen um seinen kranken Collegen bemüht, und es war ihm auch gelungen, den alten Mann wieder ziemlich zu beruhigen. Dieser sah seinen Zustand ein, und fühlte sich beschämt, daß er so leicht jenem Gelüste nachgegeben, welches ihm noch kürzlich der Prediger als so gefährlich geschildert hatte. Er besaß in der Nähe ein Landhaus, auf welches er sich verfügte, und Anselm sah ihn gern abreisen, weil er überzeugt war, daß die schnell erzeugte Unpäßlichkeit in einigen Tagen auf immer verschwinden müßte.

Jetzt ward eine Gesellschaft von Reisenden gemeldet, die das Haus besehn wollten. Anselm ging ihnen entgegen, sie zu bewillkommen, und zugleich zu entschuldigen, daß ihre Neugier sich diesmal mit einem einzigen Vernünftigen begnügen müsse. Voran in den Saal trat ein langer alter Herr, dem die Uebrigen große Verehrung bezeigten; er führte an seinem Arm ein phantastisch geschmücktes Frauenzimmer, die dem Arzte bekannt schien, obwohl er sich ihrer nicht gleich erinnern konnte. Ein breitschultriger junger Mann folgte, und als letzte Begleiterin schlich ein blasses, krankes Mädchen nach, die Strickkorb und Tuch ihrer lachenden und übermüthigen Gebieterin demüthig trug.

Wir kommen, sagte der angesehene Mann, Ihre Anstalt zu betrachten; meine junge Gemahlin hat dergleichen noch niemals gesehn, und der Bruder meiner Frau hat noch andere philosophische und künstlerische Absichten bei dieser Reise.

Sind die Narren aber auch nicht fürchterlich? fragte die junge Dame; ist man nicht auch in Gefahr angesteckt zu werden?

260 Anselm erzählte ihnen die unglückliche und doch lächerliche Begebenheit, worauf der alte Herr sehr betreten und erblaßt zurück fuhr und ausrief: wie? Alle entlaufen? Schrecklich! Und auch ein gewisser Baron Linden unter den Geflüchteten?

Ja wohl; leider, sagte der Arzt, indem er den Sprechenden näher ins Auge faßte.

Das ist ein Jammer, rief der robuste junge Mensch aus; so bin ich denn vergebens hieher gereiset? Mir fallen jetzt bei unserm Theater die wichtigen Rollen des Macbeth und Lear zu, und für diese möchte ich so gern hier meine Studien machen; denn seit unser Großprahler, der Adlerfels, so ganz verschollen ist, und man nirgend von ihm hört (Schade um den übrigens guten Künstler!), so muß ich doch nothwendig die Lücke ausfüllen, die mit seinem Verlust bei uns entstanden ist.

Du solltest ihn nicht nennen, mon frère, sagte die Dame: sieh nur, wie Fanny wieder von Erinnerung ergriffen wird.

Auf den großen Mann, sagte der Bruder, hätte sich das Köpfchen ja doch niemals Rechnung machen dürfen.

Friedrich, der auch zugegen war, sagte: es ist außer mir Niemand im Hause, als der berüchtigte Graf Birken; den haben sie vor Kurzem mit Gewalt wieder zurück geschleppt.

Graf Birken? rief der Arzt höchst erfreut aus; o diesen führe sogleich zu mir, guter Mann. Zugleich winkte er den Baron in ein Fenster, um im Geheimen mit ihm zu sprechen: ich habe die Ehre, fing er an, den Herrn Baron Eberhard vor mir zu sehn. Jener verbeugte sich. Wenn Ihr Neffe, fuhr der Arzt fort, jetzt sich wieder fände, würden Sie gewiß seiner Verbindung mit Fräulein Blanka nichts mehr in den Weg legen. – Wenn er noch lebte, der liebe Jüngling, sagte jener süßlich, und sie den Verstand wieder gefunden hätte, – doch scheinen das unmögliche Dinge zu seyn! – 261 Doch nicht viel unmöglicher, sagte Anselm, als daß dieser nämliche Neffe lange als Baron Linden hier im Hause gelebt hat. – Ei! was Sie mir sagen! – Sie mußten es doch wohl wissen, da Sie sich gleich so angelegentlich nach dem jungen Linden erkundigten. – Ich? Ja, sehn Sie einmal, – daß ich nicht wüßte, – stotterte jener.

Sie sind ein so berühmter Christ, fuhr Anselm fort, Ihre Frömmigkeit und Menschenliebe sind so exemplarisch, daß Sie ganz gewiß in alle meine Bitten und Vorschläge willigen werden, da ich es gleich gut mit Ihnen, wie mit Ihrem Neffen meine.

Je, du mein Himmel, ächzte der Baron, wir sind ja alle gute Menschen. Wann ich nur erst wüßte, wodurch ich die Ehre habe, von Ihnen gekannt zu seyn.

Die arge Welt könnte glauben, fuhr Anselm leise im sanftmüthigsten Tone fort, Sie hätten es auf das Vermögen Ihres lieben Neffen angesehn, besonders weil ein alter Schuft sich nicht entblödet, auszusagen, ein gewisser Pankraz –

O der Galgenschwengel! rief der Baron: was sagt er aus? der soll mir Alles bezahlen!

Sehn Sie einmal, indem Anselm die Bogen aus einander faltete, diese weitläuftige Anklage, vor Zeugen ausgesagt und unterschrieben. Es ist entsetzlich! Was gewinnt aber ein frommes Herz, wie das Ihrige, dabei, einen solchen Menschen zu bestrafen? Nein; sammeln Sie feurige Kohlen auf sein Haupt; belohnen Sie ihn großmüthig und übermäßig, daß er in sich geht, und an Ihrem Edelmuth hinauf staunend, an Tugend glauben lernt. Sie könnten ihm wohl ein Häuschen, ein kleines Capital, eine mäßige Wiese und einige Aecker schenken, wie ihm ein sonderbarer Mann, der seit gestern Gerichtspräsident hier drüben in der Stadt ist, etwas voreilig in Ihrem Namen schon versprochen hat: ein 262 gewisser Walther, er hat auch die Ehre, mit Ihnen verwandt zu seyn, und denkt Ihnen auch die Mühe abzunehmen, künftig noch des Vermögens wegen, das Ihrem Neffen zusteht, Sorge zu tragen.

Je du mein Gott, ja, – Alles herzlich gern! seufzte der Alte kaum hörbar.

Wie wäre es denn nun noch zuletzt, theuerster Mann, den ich immer mehr verehren muß, wenn Sie auch Ihren armen Sohn, den Theophil, legitimirten, und ihm ein anständiges Auskommen gewährten. Würde Ihr Herz darüber nicht eine unbeschreibliche Freude empfinden?

Ach ja, sagte jener, eine unbeschreibliche Freude, und da Sie es wünschen – und Sie eine gewisse Art zu bitten, – und zum Herzen zu sprechen haben, – o Himmel! die Thränen stehn mir in den Augen, daß ich eine solche Bekanntschaft gemacht habe.

Ich bin im Innersten gerührt, erwiederte Anselm. Sie umarmten sich herzlich, und der Baron wischte sich die Tropfen des kalten Angstschweißes von der Stirn; lange bin ich nicht so bewegt gewesen, seufzte er, und blickte zum Himmel. Und ich, erwiederte Anselm, habe auch, so lange ich lebe, an keinem so großen Herzen gelegen.

Der Baron trat zur schäkernden Gattin. Sie werden, sagte er fromm, in diesen Tagen einen Sohn von mir kennen lernen: auch ist mein Neffe wieder gefunden, und ein alter Diener Pankraz wird das kleine Gütchen Liebendorf erhalten, welches Sie dem Pachter verkaufen wollten.

Das ist ja viel in einer kleinen Viertelstunde, sagte sie, und maaß den Director mit großen Augen.

Es geht fast zu, wie im Lustspiel, sagte dieser.

Ja, sagte der Baron, der Herr Director haben mir Eröffnungen gemacht, und auf eine Art –

263 Hier kommt Graf Birken, schrie Friedrich; er wollte sich erst gar nicht dazu bequemen.

Wolfsberg trat herein; der Arzt ging ihm entgegen, aber beide fuhren in demselben Augenblicke vor einander zurück. Sie, Herr von Wolfsberg, hier? unter diesem Namen? Und so verwandelt? so abgefallen? So drückte mit wiederholten Ausrufungen der Arzt sein Erstaunen aus. Die Uebrigen im Saale waren nicht ruhiger. Fanny lag in Ohnmacht, und Wolfsberg, der jetzt erst die Gruppe sah, machte sich aus den Armen des umhalsenden jungen Mannes, der einmal über das andre: mein Adlerfels! rief, los und eilte der Niedergesunkenen zu Hülfe. Er kniete zu ihr nieder, er legte ihr Köpfchen auf seinen Schooß: o meine geliebte, meine theuerste, meine einzige Franziska! rief er in den zärtlichsten Tönen; entziehe Dich mir jetzt nicht wegen meiner Missethat, entfliehe mir nicht, denn ich bin kein Herzloser mehr: ich kehre zu Dir zurück, wenn Du mich noch würdigest, mich Dein zu nennen! Ich bin ja aus meinem tiefen Elende zu mir selber erwacht; o so erwache denn auch Du zu diesem Leben wieder!

Franziska schlug die ermatteten, aber schönen Augen auf. Sie konnte an ihr Glück nicht glauben, daß sie in dessen Armen lag, der sie mit so grausamem Hochmuthe von sich gestoßen hatte. Du mein? stammelte sie; gewiß?

Ja, mein süßes Herz, erwiederte Wolfsberg, der sich nun als Adlerfels ausgewiesen hatte; ja ich kehre mit Dir zurück, Du wirst meine Gattin, und alle Schmerzen, allen Hohn, den Du um meinetwillen ertragen hast, will ich Dir vergüten, wenn ich es vermag. Und unser Kind, das arme Würmchen, lebt es denn noch?

Die liebe Bertha, sagte die Entzückte, ist zu Hause, bei meiner Schwester. Gott! wie wird sich Alles freuen!

264 Ich gratulire, Fanny, sagte die gnädige Frau: nun gieb mir nur Strickkorb und Shawl her, daß ich es selber trage.

Bruder, rief der andre Schauspieler, wie wird das Publikum sich freuen, Dich in Deinen Effekt-Rollen wieder auftreten zu sehn.

So eben, rief Friedrich herein springend, haben sie noch einen ganz neuen Narren eingefangen. Das geht scharf her.

Walther trat lachend ein und man verständigte sich sogleich. Anselm stellte ihn dem Baron vor und sagte ihm kurz, daß das edle Herz des frommen alten Herrn in Alles gewilligt habe, was er nur irgend als Mensch oder Rechtsgelehrter von ihm fordern könne. So laßt uns denn, rief Walther, nach dem Dorfe zurück kehren, von dem ich eben herkomme, denn wenn meine Augen nicht ganz zu Lügnern geworden sind, so haben sie dort meinen geliebten Raimund erblickt.

Wirklich war es Raimund gewesen, den Walther erst erspäht hatte. Stumm und in sich gekehrt hatte der Jüngling das Haus verlassen. Er begriff nicht, was ihm geschah; er wußte auch nicht, wo er hin wollte. So ging er dem Fußsteige nach, der ihn bald in den Wald führte. Er sann seinem verschwundenen Leben nach, und ihm ward fromm und heilig zu Sinne. War es doch, als fielen verhüllende Schleier von seinem Gemüthe und Herzen herunter. Er kam an einen grünen runden Platz im Walde, wo er sich unendlich bewegt fühlte. Er sah sich um, um sich zu erkennen, und eine alte Birke, in welcher noch die Namenszüge, die er einst eingegraben, fast unkenntlich verwachsen waren, erinnerte ihn an Alles. Er war noch ein Kind gewesen, als er hier einmal von seiner theuren Mutter Abschied genommen hatte; bis hieher hatte er sie begleiten dürfen, und von dieser Stelle kehrte er mit seinem Vater wieder nach dem Schlosse zurück. Er ahndete damals nicht, daß er nach einem Jahre schon 265 beide Aeltern beweinen sollte. Das Gut wurde nachher vom Oheime vortheilhaft verkauft, und Raimund hatte seit seiner Kindheit diese Gegend nicht wieder gesehn. So wie er jetzt zu diesen Erinnerungen immer deutlicher erwachte, wie die Sehnsucht nach den Scenen seiner Kindheit, nach dem Kirchhofe, wo seine Aeltern ruhten, in ihm wuchs; so empfand er es, wie jene dumpfe Angst immer mehr verschwand, die bis dahin seinen Geist wie in einem finstern Kerker eingefangen hielt. Er verließ den Wald, da lag der kleine Fluß vor ihm, der vom Wohnsitze seiner Kindheit herströmte. Alle Wogen schienen ihn zu grüßen, jede Blume am Ufer ihm einen kindlichen Gruß zuzunicken. Da fand er schon die Mühle im engen Thal, die ihm als Knaben mit ihren rauschenden Rädern so wunderbar erschienen war. Sie ist ja jetzt nicht weniger wundervoll, sagte er zu sich, wenn ich gleich weiß, was und wozu sie da ist. Er ging vorüber, und wollüstige erleichternde Thränen strömten aus seinen Augen. Da war der Bergschacht, der ihm so entsetzlich vorgekommen war; er ging dicht hinan, und erinnerte sich der grauenvollen Sagen, die von ihm im Lande umgingen. Nun sah er schon den wohlbekannten Berg seines Geburtsortes, die rothe hohe Felswand und die von oben herabhangenden Bäume. Da schimmerte auch schon das Dach des Schlosses herüber. Es schmerzte ihn, daß er nicht in das Thor vertraut eintreten dürfe, daß fremde Menschen, die er nur wenig kannte, in den Zimmern wohnten, wo seine Wiege gestanden, wo sein Vater ihm vorgelesen, wo seine Mutter ihn in einer Krankheit auf ihrem Schooße eingesungen hatte. Auf dem Kirchhofe kniete er mit Andacht an der Gruft. Er nahm sich nun fest vor, seine Freunde wieder aufzusuchen, und nachzuforschen, wer ihm das Schicksal bereitet haben könne, das ihm erst jetzt seltsam erschien. Doch mußte er, ehe er weiter ging, die 266 einsameWiese hinter des Pfarrers Garten besuchen, den Spielplatz seiner Kindheit, wo er unter der hohen Linde so manchmal im grünen Grase halb eingeschlummert war, auf das Säuseln der Blätter, das Summen der Bienen, und das Plätschern des nahen Baches horchend, wo Alles wie süßer Geistergesang ihn anredete, und er noch lieblicher aus seinen Träumen Antwort gab. Nun stand er wieder unter dem Baume, und eine himmlische Müdigkeit ergriff ihn, wie damals; er tauchte die brennenden, thränennassen, jetzt so bleichen Wangen in das kühle grüne Gras, und die Bienen schwärmten im Baum, die Blätter schwatzten mit ihnen, das Flüßchen erzählte sich selbst eine alte Geschichte, und er entschlief wieder, wie in der Kindheit. – –

Ein Wagen hielt am Dorfe. Willst Du ruhen, mein Kind? – fragte die Mutter. – Ja, aber im Freien. – Bist Du auch wohl genug? – O Sie sorgsame, treue, mütterliche Pflegerin, antwortete die Tochter, Sie sehn ja, wie es mit meiner Gesundheit mit jedem Tage besser wird. Vertrauen Sie mir nur mehr, damit ich mir auch selber wieder vertraue. Nein, Geliebteste, jene trübe Zeit wird niemals wieder kehren; aber ich fühle es, durch diesen fürchterlichen Zustand mußte sich meine Krankheit arbeiten, damit ich wieder genesen konnte. – Bist Du dessen so gewiß, meine Tochter? Dann möchte ich Gott mit Thränen für die Verzweiflung danken, durch welche er mich damals geprüft hat.

Gewiß, liebe Mutter, sagte die reizende Tochter. Kenne ich doch nun mein ganzes Unglück; es ist mir kein düstres Geheimniß mehr. Wenn ich an die Ewigkeit der Liebe glaube, warum sollte ich denn jemals verzweifeln? Hier ist er geboren! O hätte ich ihn doch als Kind gekannt! Eine Welt voll Glück wäre mehr in meinem Besitz! Hier ist er auch wohl gewandelt; alle diese Gegenstände hat sein frisches Auge, wie 267 oft, begrüßt. Nur über die Wiese will ich gehn, ein Viertelstündchen am Bache ruhn, so recht an ihn denken; dann komm' ich zurück und wir reisen weiter. Aber allein müssen Sie mich lassen! – Sie umarmte die Mutter, und schritt über die kleine hölzerne Brücke. – –

Raimund träumte indessen einen seltsamen Traum. Der Wahnsinn war die Wahrheit, und was die Menschen Vernunft nannten, nur ein dämmernder Schimmer. Auch kein Raum war da, und keine Zeit. So wie auf den alten Stammbäumen es abgebildet ist, sah er sich aus dem Herzen eine hohe Blume wachsen; sie wurde von seinem Herzblut getränkt, und ihr rother Glanz ward immer mehr zum goldnen Purpur. Da sang es im wiegenden Kelch, er that sich süßflötend auf, und Blanka schaukelte sich drin hin und wieder, wie in einem durchsichtigen Kahn. Da blickte er über sich, und ihr blaues Auge ging in das seine; da zitterte sein Herz und mit ihm die Blume. Warte, rief sie, jetzt stirbt mein Blumenhaus ab, ich komme draußen in der Wirklichkeit zu Dir! Sie schlüpfte auf den Rasen und stellte sich unter die Linde. – Gott im Himmel, hörte er sagen, das ist Raimund! Er schlug die Augen auf, und Blanka's blaues Auge ging in das seine. Er kannte sie gleich. Sie umschlossen sich, als wenn die Arme sich nie wieder los lassen wollten. Auf den lauten Freudenschrei eilte die Mutter herbei, und fand das unvermuthete Glück, das sie noch nicht begriff. Auch Walther und Anselm kamen. Walther war so entzückt und berauscht, als wenn er selbst der Bräutigam wäre.



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