Ludwig Tieck
Die Reisenden
Ludwig Tieck

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Bei der Gesellschaft im Saale waren einige Veränderungen vorgegangen. Die beiden Redner hatten sich immer 233 noch nicht versöhnt, und jeder vermied den andern; die Schachspielenden schienen auch weniger einig, als sonst, und der Mann mit dem Maaßstabe war unruhiger, und lief hastig hin und wieder. Wolfsberg gesellte sich zu diesem, und fragte, was ihm fehle. Ach, mein Herr, sagte dieser heftig bewegt, Sie haben gewiß auch von meinem großen Hause gehört, welches ich durch meine Geschicklichkeit so ansehnlich gemacht hatte. Das konnte mir der Neid nie vergeben, daß ich durch Wissenschaft Besitzer eines der größten Paläste in der Stadt seyn sollte. Bald hieß es, durch die übermäßige Ausdehnung habe der Bau eine so zarte Constitution erhalten, daß er bei der nächsten Veranlassung, wenn etwa Truppen marschirten und die Trommel gerührt würde, erschreckend, wie in einem Nervenfieber zusammenstürzen müsse. Andre meinten gar, ich hätte die Stadt dadurch verengt, und die nahestehenden Häuser und Gassen litten darunter: als wenn der unendliche Raum etwas so Beschränktes wäre, daß man die Welt so leicht verderben könnte. Ich erbot mich, die ganze Stadt durch Beobachtung des Tactes auszudehnen, und sie, wenn wir Geld und Zeit genug hätten, größer als London oder Nanking zu machen. Aber die Bosheit hörte auf nichts; ich mußte mich hieher in die Einsamkeit zurück ziehn. Und was ist nun im Werke? Sollten Sie's glauben, daß die Verderbtheit der Menschen so weit gehen könne! Eine ganze Schiffsladung von Gummi elasticum läßt man mit Erlaubniß des Parlaments von England kommen. Fünfhundert Menschen zerren das Zeug aus einander; man practizirt es so, nach allen Seiten ausgedehnt, unter meinen Palast, und auf ein Zeichen von dem nahestehenden Kirchthurm (denn auch die Religion wird dazu gemißbraucht) lassen alle fünfhundert Bösewichter in einem und demselben Augenblicke die Gummifetzen los; das 234 unglückselige Zeug schnappt zusammen, und nimmt unwiderstehlich Breite und Länge meines Palastes mit sich, der durch dieses höllische Kunststück wieder zu einem gewöhnlichen Hause zusammenschrumpft. Denn das giebt die Vernunft, daß, da das elastische Unwesen sich nun in der Grundlage an das Gebäude anklemmt, keine menschliche Kraft, keine Wissenschaft, kein noch so gut observirter Tact dazu hinreicht, es aus den Gummi-Klauen zu retten und wieder aus einander zu dehnen.

Wolfsberg mußte dem Klagenden Recht geben; doch wurde jetzt seine Aufmerksamkeit auf einen jungen Menschen gerichtet, der zum Saale herein schlich, und den er bisher noch niemals gesehen hatte. Methusalem kommt einmal wieder! riefen Einige, und über die blassen Wangen des kranken Jünglings lief ein leichtes Roth. Wie nennen Sie ihn? fragte der Baron. O er heißt nur so, antwortete Sokrates, der eben vorüber ging, weil das Gespenst schon so außerordentlich bei Jahren ist, daß, gegen ihn gerechnet, Methusalem selbst noch in den Kinderschuhen steckt.

Die Gestalt und das Wesen des Jünglings waren so wunderbar und von Allem, was sich in diesem Hause zeigte, so verschieden, daß sich Wolfsberg wie gezwungen fühlte, sich ihm langsam und mit Blödigkeit zu nähern. Der Jüngling war schlank und mager, seine Geberde ruhig und edel, sein Gesicht schön, aber blaß und abgefallen; die Augen glänzten so überirdisch, daß man vor ihnen erschrecken konnte, wenn nicht eine süße Schwermuth ihr Feuer wieder gemildert hätte. Der junge Mensch schritt dem Baron entgegen, vielleicht, weil ihm auch dessen Gestalt und Wesen, als ein milderes, auffiel. Wolfsberg war um Worte verlegen, mit welchen er das Gespräch eröffnen könne; aber der Kranke kam ihm 235 zuvor, nahm ihn bei der Hand und sagte mit der lieblichsten Stimme: was fehlt Ihnen?

Meine Vergehungen, sagte der Baron in einem fast zerknirschten Tone, haben mich hieher geführt. Aber woran leiden Sie?

Ach! klagte der Jüngling, daß ich so gar übermäßig alt bin; die große Menge der Jahre drückt mich zu Boden. Wie alt schätzen Sie mich?

Höchstens drei und zwanzig Jahre, sagte der Baron.

Des Jünglings Gesicht ward noch wehmüthiger, und zwei große Thränen fielen aus den Augen. Sie sehn, sagte er mit seiner lieblichen Stimme, wie ich lachen muß. Nun bin ich gerade sechstausend dreihundert und vier und neunzig Jahre alt. Gestern Nachmittag hatte ich nur sechstausend und vier und neunzig: und denken Sie, in der kurzen Zeit bin ich schon wieder um die dreihundert Jahre älter geworden.

Sie setzen mich in Erstaunen, sagte Wolfsberg.

Wissen Sie denn, was die Zeit ist? klagte jener weiter. O Lieber, mancher Achtzigjährige geht zu Grabe, und hat vielleicht nicht zwanzig Jahre, nicht zehn gelebt. Vielleicht giebt es Menschen, die von der Geburt an bis zum Greisenalter nicht zur Zeit erwachen, und erst jenseit die erste Stunde müssen kennen lernen. In der Gleichgültigkeit ist kein Strom; weder Vergangenheit, noch Zukunft, auch keine Gegenwart. Freude, Jubel und Glück sind rasende Kinder, die tobend umher springen und das zarte Stundenglas zerbrechen; hinter ihnen steht Tod und Nichtsein, – der Himmel gab uns dafür keine Sinne. Aber im Schmerz, im Schmerz! Wie durch diesen Wunderbalsam die Secunde, die das Auge kaum unterscheidet, aufschwillt und mit der Ewigkeit schwanger wird! Ja, mein junger Zeitgenosse, ich habe Tage erlebt, 236 in denen Jahrhunderte eingewickelt waren; sie lösten sie aus ihren Schleiern und legten sich mir um die Seele. Dann kam eine Stunde, eigentlich nur ein Augenblick; da sprang die ganze aufschwellende Knospe entzwei, in der mir die Zeit in duftenden Blättern aus einander blühen sollte, und ein Alles und Nichts, ein großer ewiger Tod, in dessen finsterm Herzen kindisch das süßeste Leben lächelte, brach mit Gewitternacht über mich ein. Da waren die Jahrtausende verlebt, dieselben, an denen das Menschengeschlecht, ohne sie nur zu kosten, vorüber kriecht. Schmerz, Herz, Scherz: nicht wahr, im Schmerz ist Alles, was die Andern nur einzeln aussprechen? Leben Sie wohl, und hüten Sie sich, so alt zu werden! Ich gehe wieder auf mein Zimmer, denn wenn diese großen Minuten mich besuchen wollen, müssen sie mich wach finden. Adieu, junger Mann, vielleicht bin ich schon acht oder zehntausend Jahre, wenn wir uns wiedersehn. Er wankte hinaus, und keiner von den Gegenwärtigen achtete auf ihn.

Die Uebrigen umringten Wolfsberg, und Sokrates, der den Sprecher im Namen Aller zu machen schien, sagte: Junger Herr, wir Alle sind es nun endlich überdrüssig, Sie noch länger diese triviale Rolle spielen zu sehn, mit der Sie uns Allen herzliche Langeweile machen. Nicht der Unbedeutendste hier, der nicht sein Pfund wuchern ließe; und Sie wollen immer noch als leutseliger Beobachter sich herum treiben? Fordert die Menschheit nicht auch Ihre Kraft und Ihren Entschluß? Sie sollen nicht länger der Niemand seyn, mit dem Keiner von uns etwas anzufangen weiß.

Meine Herren, sagte Wolfsberg in einer sonderbaren Stimmung, die aus Schmerz und toller Laune gemischt war: da Sie mich Alle mit einem so gütigen Zuruf und schmeichelnden Zutrauen beehren, und da ich sehe, daß uns 237 hier eine so glückliche Republik umfaßt, in der uns weder Gesetze der Zeit, noch des Raumes tyrannisiren, und eine so freie Verfassung unsre Kräfte erhebt, daß auch selbst das Unmögliche möglich wird: so will ich denn auch nicht länger hinter dem Berge halten, mich Ihnen entdecken und Ihren herrlichen Bestrebungen anschließen. Wissen Sie also, daß ich das Eigne an mir habe, daß ich schon öfters gelebt habe, vielerlei Zustände erfahren, und mein dermaliges Leben nur als die hundertste Wiederholung in einer etwas veränderten Modification aufführe.

Wie meinen Sie das, Trivialer? fragte der Leser.

Dieselben geruhen, antwortete Wolfsberg, mit Ihrer unvergleichlichen Stupidität nicht zu capiren. Ich war mit Einem Wort, genau nach der Lehre des Pythagoras, schon in vielfachen Gestalten im Leben. Ich war König, Kaiser, Bettler, Vater, Sohn, lasterhaft, zur Tugend geneigt, glücklich und elend.

O, sagte der Indianische Schachspieler, Sie fangen an interessant zu werden, Männchen; fahren Sie nur so fort, so können Sie noch was leisten.

Können Sie uns nicht etwas Bestimmteres von Ihren früheren Verhältnissen mittheilen? fragte Sokrates.

Gern, erwiederte der Baron mit geläufiger Zunge, ich war z. B. zugegen, als Cäsar ermordet wurde.

Trefflich! rief der Leser; wer waren Sie denn dazumal?

Wer anders, als der berühmte Cassius, antwortete Wolfsberg.

Halt! schrie der aufgedunsene Redner, der noch immer mit der Zinnschnalle paradirte, halt! rief seine krächzende Stimme; das ist nur Windbeutelei! Denn wenn ich damals hätte leben können, so würde ich Cassius gewesen seyn: also ist es pur unmöglich, daß Du selbiger gewesen!

238 Dieser leere Wunsch und die etwanige Möglichkeit, sagte Wolfsberg spitzfindig, schließt doch wohl meine wirklich erlebte Wirklichkeit nicht aus?

Leerer Wunsch? schrie der aufgebrachte Dichter, in meinem ganzen großen Leibe und noch größeren Geiste ist kein einziger Wunsch, den man als leer verlästern dürfte! Leer! Ei, den ausgelernten Lehrer! Mit diesen Worten schlug er auf den jungen Baron ein. Sokrates wollte seinen ehemaligen Schüler zurechtweisen; da dieser aber, noch ergrollt, ihn ebenfalls nicht schonte, so verließ auch diesen die sokratische Ruhe. Doch, wie es auch wohl bei Vernünftigern zu geschehen pflegt, vergaß er den Beginn des Zanks, und sein thätiger Unwille wandte sich nach wenigen Augenblicken gegen Wolfsberg. Die Schachspieler, Melchior, der Baukünstler, ja Alle im Saale schienen plötzlich von der Ueberzeugung begeistert, daß es nothwendig sei, denjenigen, der schon als Cassius und in andern Zuständen Vieles gelitten, auch in diesem Momente mit empfindlichen Leiden zu überhäufen. Am grausamsten aber wüthete die Peitsche des Pygmäen-Bezwingers, dessen Seherkraft auf Rücken und Schultern des Armen Myriaden seiner kleinen Gegner erblicken mußte, weil er, unbarmherzig gegen sich und den Geschlagenen, in die Geister mit der Anstrengung aller Kräfte hinein arbeitete. Entsetzt stürzte Friedrich, der seinen fleißigen Arbeiter und Schatzheber unterliegen sah, mit fürchterlichem Geschrei zum Director, dessen Autorität und starkes Wort den armen erschöpften Baron auch wirklich frei machte, der sich verdrießlich und zerschlagen nach seinem Zimmer begab, und den der Trost, welchen ihm Friedrich noch in der Thür zuraunte, daß die nun kommende Nacht die letzte und entscheidende sei, in diesem Augenblick nicht sonderlich erheben konnte.



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