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Zweites Buch.
Enthält Herrn Esmonds militärische Laufbahn und andere Angelegenheiten der Familie Esmond

 

Erstes Kapitel
Ich sitze im Gefängnis und werde besucht, aber nicht getröstet

Wer je mit angesehen hat, wie ein vorzeitiger Tod geliebte Menschen hinwegrafft, und weiß, wie nutzlos jeder Trost bleibt, wird Esmonds Qual nach dieser unheimlichen Mitternachtsszene voll Blut und Mord ermessen können. Er fühlte, daß er nicht fähig wäre, mit diesem Bericht vor seine teure Herrin zu treten, und war dankbar, daß der gütige Atterbury in das traurige Amt willigte.

Aber neben seinem Schmerz trug er im Gefängnis noch etwas im Herzen, das ihn im stillen tröstete und aufrichtete.

Ein wichtiges Geheimnis hatte ihm sein unglücklicher Verwandter auf dem Sterbebett enthüllt. Machte er Gebrauch davon, wie es ihm Ehre und Gerechtigkeit erlaubten, so brachte die Entdeckung Schande und Not über die Menschen, an die er mit so festen Banden der Liebe und Dankbarkeit geknüpft war. Sollte er denen noch größeren Kummer bereiten, die schon traurig genug waren? Sollte er seines Vaters Witwe entehren, den Namen seines Vaters und seines Verwandten besudeln? Und wofür? Für einen bloßen Titel, den er auf Kosten eines unschuldigen Knaben, des Sohnes seiner geliebten Wohltäterin, führen würde? Er hatte die Frage in seinem Gewissen erwogen, während sein armer Herr dem Geistlichen das letzte Bekenntnis ablegte. Auf der einen Seite lockte Ehrgeiz, ja Gerechtigkeit; aber Liebe, Dankbarkeit und Treue sprachen auf der anderen Seite. Als der Kampf vorüber war, erfüllte die Glut eines redlichen Glücks Harrys Seele, und mit Tränen in den Augen dankte er Gott, daß er ihm die Kraft zu seinem Entschluß gegeben hatte.

Als mein eigenes Blut mich verleugnete, dachte er, da haben sie mich aufgenommen und liebgehabt. Als ich eine Waise ohne Namen war und einen Beschützer brauchte, da habe ich einen gefunden in jenem gutmütigen Menschen, der das Unrecht, das er mir getan, so bitter bereut hat.

Mit diesem tröstlichen Gedanken hatte er die kalten Lippen seines Wohltäters geküßt und war seinem Gefängnis zugegangen.

Am dritten Tage seiner Gefangenschaft, als er krank darniederlag – denn seine Wunde hatte sich entzündet und machte ihm große Schmerzen –, kam sein Gefängniswärter und kündete ihm einen Besuch an: Obwohl er ihr Gesicht nicht sehen konnte, das in einer schwarzen Kapuze verborgen und wie ihre ganze Gestalt verschleiert und in tiefste Trauer gehüllt war, wußte Esmond doch sofort, daß seine liebe Herrin zu ihm kam.

Als der Wärter sich zurückgezogen und die Tür von außen geschlossen hatte, stand Esmond, schwach, wie er war, vom Bett auf und ging seinem Besuch an dieser traurigen Stätte entgegen. Er streckte ihr die linke Hand hin, denn die rechte war verwundet und verbunden, und er hätte gern die gütige Hand seiner Herrin, die lange Jahre hindurch so viele Freundschaftsdienste an ihm getan, in der seinen gehalten.

Aber Lady Castlewood wich vor ihm zurück, schlug die Kapuze herab und lehnte sich gegen die eisenbeschlagene Tür. Ihr Gesicht sah geisterhaft bleich aus der schwarzen Umrahmung, und ihre sonst so freundlichen und sanften Augen waren mit einem so tragischen Ausdruck von Leid und Zorn auf ihn gerichtet, daß der junge Mann unwillkürlich den Blick abwandte.

»So sehe ich Sie wieder, Herr Esmond«, sagte sie, »und dahin haben Sie mich gebracht!«

»Sie kommen, mich in meinem Unglück zu trösten, gnädige Frau«, stammelte Esmond, der nicht recht wußte, wie er sie anreden sollte, so überwältigten ihn seine Gefühle bei ihrem Anblick.

Sie ging ein paar Schritte auf ihn zu; dann stand sie schweigend und zitternd, die kleinen weißen Hände krampfhaft gefaltet, und starrte ihn aus ihren schwarzen Schleiern mit hohlen Augen und bebenden Lippen an.

»Sie sind nicht gekommen, mir Vorwürfe zu machen«, fuhr er nach einer Pause fort. »Mein Kummer ist schon groß genug.«

»Nehmen Sie Ihre Hand zurück; berühren Sie mich nicht damit!« schrie sie. »Sehen Sie nicht? Es klebt Blut daran!«

»Ich wünschte, all mein Blut wäre geflossen«, sagte Esmond, »wenn Sie so grausam zu mir sind.«

»Wo ist mein Gatte?« brach sie aus. »Gib ihn mir zurück, Harry! Warum hast du um Mitternacht dabeigestanden und zugesehen, wie man ihn ermordet? Warum entkam der Verräter, der es tat? Du, der Verteidiger unseres Hauses, der für uns sterben wollte – du, den er liebte und dem er vertraute und dem ich ihn anvertraut hatte – du, der Ergebung und Dankbarkeit gelobte, und ich habe dir geglaubt – ja, ich habe dir geglaubt –, warum stehst du hier, und mein edelmütiger Francis ist tot? Warum bist du in unsere Familie gekommen? Du hast uns nichts als Kummer und Sorge gebracht und bittre, bittre Reue als Dank für unsere Liebe und Güte. Habe ich dir je ein Unrecht getan, Henry? Du warst ein verwaistes Kind, als ich dich zum ersten Male sah – als er dich zum ersten Male sah, der so gut, so edel, so vertrauensvoll war. Er wollte dich fortschicken, aber ich törichtes Weib bat ihn, dich bei uns zu lassen. Du gabst vor, uns liebzuhaben, und wir glaubten dir – und du hast unser Haus ins Elend gebracht, und ich habe meines Gatten Herz verloren: und ich verlor ihn durch dich, ihn, den Geliebten meiner Jugend, sage ich. Ich habe ihn angebetet; du weißt, wie ich ihn angebetet habe; aber sein Sinn wurde von mir gewendet. Er war nicht mehr mein Francis von einst – mein lieber, lieber Soldat! Er liebte mich, ehe er dich erblickte, und ich liebte ihn. Oh, Gott ist mein Zeuge, wie ich ihn geliebt habe. Warum hat er dich nicht fortgeschickt? Er war nur allzu gütig; er konnte mir damals keine Bitte versagen. Ich wußte, daß es uns Unglück bringen werde, dich bei uns zu behalten. So jung du warst, schwach und verlassen, ich las es in deinem Gesicht und deinen Augen. Ich sah, daß sie uns Unheil kündeten, und das Unheil kam – ich wußte, daß es kommen würde. Warum bist du nicht an den Pocken gestorben? Ich habe dich selbst gepflegt, und du kanntest mich nicht in deinem Fieber. Du riefst nach mir, und ich war an deiner Seite. Alles, was seitdem geschehen ist, war eine gerechte Strafe für mein gottloses Herz – mein sündiges, eifersüchtiges Herz. Ach, ich bin bestraft – furchtbar bestraft! Mein Gatte liegt in seinem Blut, gemordet, weil er mich verteidigte, mein gütiger, großmütiger Herr, und du hast dabeigestanden und ihn sterben lassen, Harry!«

Diese Worte, in wildem Gram herausgeschleudert von ihr, die sonst so ruhig war und selten anders sprach als mit freundlichem Lächeln und in sanftem Ton, klangen in Esmonds Ohren. Er soll so manche davon in seinen Phantasien wiederholt haben; denn durch die Entzündung seiner Wunde und wohl auch durch die Erregung über so furchtbare und ungerechte Vorwürfe verfiel er in ein Fieber. Es schien, als sollten all seine Opfer und all seine Liebe für diese Frau und ihre Familie sich in Unheil und Unrecht verkehren, als wäre seine Anwesenheit unter ihnen wirklich eine Ursache des Kummers und die Fortdauer seines Lebens nur Schmerz und Bitternis für das ihre. Kein Wort der Abwehr oder Verteidigung kam über seine Lippen, als Mylady heftig, scharf, ohne eine Träne, zu ihm sprach. Er saß am Fußende seines Bettes und litt zwiefache Qual, weil es eine so weiche und geliebte Hand war, die ihn so grausam verwundete, und weil er machtlos war gegen ihren furchtbaren Schmerz. Ihre Worte rührten an alle Saiten seiner Erinnerung; seine ganze Knaben- und Jünglingszeit zog an ihm vorüber; und sie, noch vor wenigen Tagen so zärtlich und liebevoll, der gute Engel, den er verehrt und angebetet hatte, stand vor ihm und peinigte ihn mit harter Rede und feindseligen Blicken.

»Ich wünschte, ich läge, wo Mylord liegt«, stöhnte er. »Ich habe dazu getan, was in meiner Macht stand. Aber das Schicksal ist stärker als wir alle, und es hat seinen Willen gehabt. Es wäre besser für mich gewesen, die Pocken hätten mich damals umgebracht!«

»Ja, Harry«, sagte sie – und dabei sah sie ihn plötzlich so zärtlich und traurig an, daß der junge Mann seine Arme wild in die Luft warf und auf das Bett zurückfiel. Er stieß mit seiner verwundeten Hand gegen die Mauer, der Verband verschob sich, und das Blut schoß aus der Wunde. Er erinnerte sich, daß er eine geheime Freude über diesen Unfall empfand und daß der Gedanke ihm durch den Kopf fuhr: Wenn ich jetzt sterbe, wer weint um mich?

Diese Blutung oder die jammervolle Verzweiflung, in der sich der unglückliche junge Mann gerade befand, müssen ihm augenblicklich das Bewußtsein geraubt haben. Er hatte später nur noch die Erinnerung, daß jemand seine Hand ergriff, wahrscheinlich seine Herrin. Ein Brausen war in seinen Ohren, als er erwachte. Er lag in einer Blutlache auf seinem Bett; mehrere Menschen waren um ihn.

Der Gefängnisarzt, der zufällig in der Nähe war, legte ihm einen neuen Verband an; die Frau des Kommandanten und ihre Dienerin, beide sehr freundlich, halfen ihm. Seine Herrin war noch da, als er wieder zur Besinnung kam, aber sie ging fort ohne ein Wort des Abschieds. Die Frau des Kommandanten erzählte ihm später, sie habe noch lange in ihrer Wohnung gesessen und habe das Gefängnis nicht eher verlassen, bis man ihr die Nachricht gebracht hatte, daß Esmond allem Anschein nach genesen werde.

In der Nacht brach das Fieber aus, und erst nach Tagen, als Esmond davon genesen war, brachte ihm die ehrliche Frau des Wärters ein frisch gewaschenes und gebügeltes Taschentuch, das mit dem wohlbekannten Monogramm seiner Herrin und der gräflichen Krone gezeichnet war. »Die Dame hat es um Ihre Hand gebunden, als Sie ohnmächtig wurden und ehe sie Hilfe herbeirief«, berichtete die gute Frau. »Die arme Dame! Sie grämte sich so um ihren Mann. Er wurde heute begraben. Viele Kutschen des Adels sind mit ihm gefahren, Mylord Marlboroughs und Mylord Sunderlands. Viele Offiziere von der Garde sind mitgegangen, weil er in des alten Königs Zeit in der Garde gedient hat. Mylady ist mit ihren beiden Kindern in Kensington beim König gewesen und hat um Gerechtigkeit gebeten gegen Mylord Mohun, der sich verborgen hält, und gegen den Grafen von Warwick und Holland, der bereit ist, sich selbst zu stellen und den Richterspruch zu erwarten.«

Das waren ihre Neuigkeiten, die sie mit Beteuerungen ihrer Ehrlichkeit verband, und sie versicherte, auch Molly, ihre Magd, sei ehrlich und könnte niemals einen gewissen goldenen Ärmelknopf gestohlen haben, der an Herrn Esmonds Rock seit seinem Ohnmachtsanfall fehlte. Als seine Pflegerin gegangen war, nahm Esmond das Taschentuch und wird es wohl geküßt haben. Er sah auf die gestickte Krone in der Ecke und dachte: Sie hat dich Kummer genug gekostet, teure Frau, so sanft und liebevoll. Soll ich sie dir und deinen Kindern nehmen? Nein, nimmermehr! Behalte sie und trage sie, mein kleiner Frank, mein hübscher Junge! Wenn ich mir nicht selber einen Namen machen kann, dann sterbe ich ohne Namen. Einst, wenn meine liebe Herrin mir ins Herz sieht, werde ich gerechtfertigt sein; und wenn es hier auf Erden nicht geschieht, so wird es dort geschehen, wohin uns die Ehre nicht folgt, aber wo die Liebe ewig herrscht.

Es erübrigt sich, hier auf den Ausgang oder die Einzelheiten des Prozesses einzugehen, den das jammervolle Ende Lord Castlewoods heraufbeschwor. Sie sind in den Gerichtsakten aufgezeichnet. Von den beiden in die traurige Sache verwickelten Herren wurde der Graf von Warwick und Holland, der gegen Oberst Westbury gefochten hatte und von ihm verwundet worden war, durch die Peers, die unter dem Vorsitz des Oberhofrichters Lord Somers die Untersuchung führten, nicht schuldig befunden; der Haupttäter, Lord Mohun, wurde des Totschlags überwiesen, der ihm jedoch tatsächlich aufgezwungen war und den er aufrichtig bereute. Er berief sich aber darauf, daß er ein studierter Mann sei, und ging nach englischem Recht straflos aus. Die Witwe des Erschlagenen zeigte ungewöhnliche Energie, wie. uns im Gefängnis erzählt wurde; und obwohl sie noch zehn Jahre zu warten hatte, ehe ihr in ihrem Sohn ein Rächer erstehen konnte, so erklärte sie doch, sie werde sich rächen. So völlig schienen Kummer, Zorn und Mißgeschick sie plötzlich zu verwandeln. Aber gute und böse Schicksale ändern, glaube ich, die Menschen nicht, sie entwickeln nur ihren Charakter. So wie im Menschen tausend Gedanken schlummern, von denen er nichts ahnt, bis er zur Feder greift und schreibt, so ist selbst das Herz in der eigenen Brust ihm ein Geheimnis. Wer fand sich nicht schon überrascht zur Rache, zur jähen Tat oder Leidenschaft getrieben, im Guten oder Bösen? Die Saat lag in ihm, verborgen und unbewußt, bis die Gelegenheit sie reifte. Mit dem Tod ihres Gatten schien ein Wandel in Lady Castlewoods Sinn und Betragen einzutreten, aber davon werden wir später und zur rechten Zeit noch sprechen.

Während die Grafen, ihrem Vorrecht gemäß, vor die Peers in Westminster geführt wurden, wohin man sie vom Tower aus in feierlichem Umzug und auf Barken, von Offizieren und Beilträgern begleitet, verbrachte, machte man den gewöhnlichen Beteiligten an dieser jämmerlichen Schlägerei, wie es ihnen zukam, in Newgate den Prozeß; und da sie alle schuldig befunden wurden, machten sie gleicherweise ihr Privilegium geltend, daß sie studiert hatten. In solchen Fällen lautet das Urteil, wie wir alle wissen, auf ein Jahr Gefängnis, oder so lang es dem König gefällt. Dem Verurteilten wird ein Brandmal in die Hand gedrückt, oder er wird nur mit einem kalten Eisen gezeichnet; doch kann diese letzte Strafe durch die Gnade des Herrschers aufgehoben werden. So war Harry Esmond mit zweiundzwanzig Jahren ein Verbrecher und Gefangener. Seine Kameraden, die beiden Offiziere, nahmen die Sache sehr leicht. Duellieren gehörte zu ihrem Beruf, und sie konnten solche Aufforderungen in Ehren nicht abschlagen.

Aber der Fall lag bei Herrn Esmond anders. Der Schwertstreich, der das Leben seines Beschützers auslöschte, veränderte auch das seine. Während er gefangen saß, erkrankte der alte Tusher und starb, und Lady Castlewood bestimmte Thomas Tusher für die freigewordene Pfarre. Wie oft hatte sie liebevoll von Harry Esmond als dem Nachfolger gesprochen; wie oft hatte sie gesagt, man wolle sich niemals trennen; er solle ihren Jungen erziehen; der Beruf eines Landgeistlichen, wenn man ihn so auffasse wie der selige Georg Herbert oder der fromme Doktor Ken, sei das glücklichste, erhabenste Los auf Erden; sie wolle eine gute Frau für ihn finden, falls er darauf bestände, denn sie selbst teilte eher die Meinung der Königin Bess, daß ein Bischof kein Weib haben solle, und wenn nicht der Bischof, warum dann der Pfarrer? Und was der schönen Zukunftsgedanken mehr waren abends beim traulichen Geplauder am Kaminfeuer, während die Kinder in der Halle spielten. Alle diese Pläne waren jetzt über Bord geworfen. Esmond bekam im Gefängnis einen Brief von Thomas Tusher, der ihm mitteilte, daß Mylady das Amt seines ehrwürdigen Vaters auf ihn übertragen habe, daß sie nach all den traurigen Ereignissen, über die sich Tom mit sehr erbaulichem Entsetzen erging, weder auf der Kanzel des verehrten Tusher noch am Tisch ihres Sohnes den Mann zu sehen wünsche, der für des Grafen Tod verantwortlich sei. Ihre Gnaden ließen ihm sagen, daß er bei seinen künftigen Lebensplänen frei über ihre Hilfe verfügen könne, daß sie für seine Besserung und sein weltliches Fortkommen bete, daß sie ihn aber auf dieser Erde nicht wiedersehen wolle. Tusher fügte von seiner Seite hinzu, er werde für ihn, als den Freund seiner Jugend, zum Höchsten beten und empfahl ihm als Lektüre im Gefängnis gewisse Erbauungsbücher, die, wie Seine Hochwürden schrieb, für Sünder in seiner beklagenswerten Verfassung sehr heilsam seien.

Das war die Vergeltung für ein Leben voll Ergebenheit, das war das Ende jahrelanger liebevoller Anhänglichkeit und leidenschaftlicher Treue. Harry hatte für seinen Herrn sterben wollen und wurde behandelt, als sei er beinahe sein Mörder. Er hatte für seine Herrin so viel geopfert, mehr als sie ahnte, und sie stieß ihn von sich. Ihre Familie verdankte ihm alles, was sie besaß, und sie wollte ihm Almosen geben wie einem Bettler! Der Kummer um den Verlust seines Schützers, die Pein seiner gegenwärtigen Lage, die Ungewißheit seiner Zukunft – alles wurde vergessen über der unerhörten Beschimpfung, die er ertragen mußte, und überboten durch die Qualen dieser Folter.

Er erwiderte den Brief des Herrn Tusher mit einem Glückwunsch zum Antritt seines Amtes und empfahl Seiner Hochwürden spöttisch, in die Fußstapfen seines verehrungswürdigen Vaters zu treten, dessen Talar sich auf ihn herabgesenkt habe. Er dankte Ihrer Gnaden für ihr Anerbieten, fügte aber hinzu, er denke, daß er ihrer Almosen nicht bedürfen werde. Wenn ihre Ansichten über ihn sich jemals ändern sollten, so werde sie ihn jederzeit bereit finden zu neuen Beweisen einer Treue, die niemals geschwankt habe und die ihr Haus niemals hätte anzweifeln dürfen. »Sollten wir uns auf Erden nie oder nur als Fremde wiedersehen«, so schloß er, »ein Urteil, gegen dessen Grausamkeit und Ungerechtigkeit ich es verschmähe, mich zu wehren, so wird sie in einer anderen Welt erfahren, wer ihr wahrhaft ergeben war und ob sie irgendeinen Grund hatte, an der Liebe und Treue ihres Vetters und Dieners zu zweifeln.«

Nachdem er diesen Brief abgeschickt hatte, war es dem armen Jungen leichter ums Herz. Der Schlag war gefallen, und er hatte ihn ertragen. Seine grausame Göttin hatte die Schwingen gerüttelt und war geflohen; sie ließ ihn allein und freudlos zurück, doch virtute suâ. Um sich wieder zu erheben, hatte er sowohl das Bewußtsein des eigenen Rechts als auch das Gefühl der Ehre, des erlittenen Unrechts und des Unglücks. Wie der Soldat bei der Alarmtrommel aufwacht und zu seinen Waffen greift, so rafft ein männlicher Sinn sich vor dem Untergang entschlossen auf, begegnet der drohenden Gefahr mit unverzagter Miene und tritt ihr stets entgegen, ob er nun siegt oder unterliegt. Kein Mensch kennt seine Kraft oder seine Schwäche, ehe er seine Probe bestanden hat. Wenn es im Leben eines Menschen Gedanken und Handlungen gibt, vor denen die Erinnerung schamvoll zurückschreckt, so gibt es gewiß auch andere, an die er mit Stolz zurückdenken kann – vergebene Kränkungen, überwundene Versuchungen, wenigstens dann und wann einmal, und Schwierigkeiten, die er durch Ausdauer besiegte.

Es waren viel mehr diese Gedanken über das Leben als jede schwere Bitterkeit des Grams über den Tod, die ihn nach seinem Prozeß im Gefängnis beschäftigten, aber man kann sich vorstellen, daß er seinen Unglücksgenossen seine Gefühle nicht gut anvertrauen konnte; sie glaubten, daß der Kummer um seinen Herrn ihn so bedrücke, und er widersprach dieser Ansicht nicht. Er war ein so schwermütiger und wortkarger Gesellschafter, daß die beiden Offiziere ihn meist sich selbst überließen. Sie trösteten sich mit Trinken, mit Würfel- und Kartenspiel und vertrieben sich die Zeit der Gefangenschaft auf ihre Art. Es schien Esmond, als habe er jahrelang im Gefängnis gelebt, und als er es verließ, fühlte er sich verwandelt und gealtert. Es gibt Zeiten, in denen wir Jahre der Gefühlsbewegung in wenigen Wochen erleben, und schauen wir zurück, so scheinen diese Zeiten wie Abgründe zwischen einem alten und einem neuen Leben. Erst wenn die Krisis vorüber ist, macht man sich klar, wie furchtbar man an einer solchen Krankheit der Seele gelitten hat. Während sie dauert, wird das Leiden schließlich doch ertragen; die Tage gehen mehr oder weniger unter Schmerzen dahin, und die Nächte schleichen auch vorüber. Nur später erkennen wir, in welcher Gefahr wir gewesen sind – wie der Mann, der um sein Leben reitet, auf das Hindernis zurückblickt und staunt, wie er den Sprung überleben konnte. O dunkle Monate des Kummers und der Wut! Er ist ein alter Mann, der euch jetzt zurückruft. Er hat der sanften Hand, die ihn verwundete, längst vergeben. Aber das Zeichen bleibt; die Wunde ist nur vernarbt, und keine Tränen, keine Liebkosungen, keine Reue können ihre Spur auslöschen. Wir lernen trotzdem nicht, den Kummer zu vermeiden. Reficimus rates quassas: wir segeln wieder und wieder aufs Meer hinaus und wagen uns in neue Abenteuer. Esmond betrachtete seine Jugend als eine Probezeit und die überstandene Prüfung wie eine Weihe für das Leben – so wie unsere jungen Indianer sich schweigend Martern unterwerfen, ehe sie den Rang des Kriegers im Stamm erreichen.

Die Offiziere, die an Duelle gewöhnt waren und oft genug einen oder den anderen Kameraden unter dem Degen fallen sahen, waren natürlich nicht untröstlich über das Schicksal ihres dahingegangenen Waffenbruders. Der eine erzählte von früheren Kriegs- und Liebesabenteuern, in denen der arme Frank Esmond eine Rolle gespielt; der andere erging sich in Erinnerungen, wie man einen Kommandanten beschwindelt oder einen großschnauzigen Trinker verprügelt hatte. Unterdes saß Mylords arme Witwe an seinem Grab und verehrte ihn als wahren Heiligen und makellosen Helden. So erzählten die Besucher, die über Lady Castlewood unterrichtet waren; denn fast die ganze Stadt kam ins Gefängnis und machte Westbury und Macartney ihre Aufwartung.

Das Duell, sein verhängnisvoller Ausgang, das Verfahren gegen zwei Peers und drei gewöhnliche Beteiligte hatten in der Stadt größtes Aufsehen erregt. Die Zeitungen waren voll davon. Die wirkliche Ursache des unseligen Kampfes wurde nicht bekannt, so streng hatten die Eingeweihten das Geheimnis bewahrt. Jeder glaubte, es habe sich um einen Streit beim Spiel gehandelt. Die drei Herren in Newgate zogen die Neugierigen ebensosehr an wie die Bischöfe im Tower oder der Straßenräuber, der hingerichtet werden soll. Man gestattete ihnen, sowohl vor dem Prozeß wie nach der Verurteilung, im Hause des Kommandanten zu wohnen. Außer frischer Luft konnten die Gefangenen gegen Bezahlung fast alles haben, was sie sich wünschen mochten. Es war dafür gesorgt, daß sie nicht in Berührung mit den gewöhnlichen Verbrechern kamen, deren Flüche und wilde Gesänge sie aus den anderen Räumen des Gefängnisses herüberschallen hörten, wo sie und die unglückseligen Schuldgefangenen ohne Unterschied zusammengepfercht waren.


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