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XV

Als Innocenz wieder erwachte, lag sein Haupt in Filomenas Schoß. Sie hatte ihm die Schläfen mit Enzianbranntwein eingerieben und flößte ihm nun auch einige Tropfen davon ein, als er die Augen groß-verwundert aufschlug. Ein seliges Lächeln umspielte seine Lippen, als er sie gewahrte. Aber es war ihm wie ein Traum, und er glaubte nicht an die Wirklichkeit dessen, was er sah. Er wollte auch nicht daran glauben, weil er meinte, dann würde alles wieder in nichts verrinnen. Er mochte nicht ins volle Tagesbewußtsein zurückkehren, ihm bangte davor. Dieses Vorsichhindämmern tat ihm' unsäglich wohl. Er meinte, zwischen Wachen und Träumen ein Zwitterleben zu führen, das friedvoll und besänftigend war.

Dann hörte er aber ganz deutlich Filomenas Stimme, wenn sie auch aus weiter Ferne zu ihm drang: »Ist dir jetzt besser, Innocenz?«

Er hatte die Augen wieder geschlossen, aber trotzdem wogte es unablässig von rinnenden Nebelschleiern davor hin und her, aus denen das Bild des Mädchens sich in leuchtendem Liebreiz loslöste. Wachte er denn wirklich? Lebte er überhaupt? Konnte das alles wahr und wirklich sein?

»Mir ist ganz wohl,« murmelte er, »so wohl, wie nie im Leben, glaub' ich.«

Und dann trank er nochmals von dem Branntwein, den sie ihm vor die Lippen brachte, und nun wußte er plötzlich ganz genau, daß Leben in ihm war. Er dehnte und reckte seine Glieder in wohliger Müdigkeit. Dann horchte er plötzlich auf. Das Rollen und Tosen da draußen klang ihm wie eine altbekannte Musik im Ohr. Wo er sich aber befand und was mit ihm vorgegangen war, wußte er nicht. Er wollte es auch gar nicht wissen. Das lag alles so fern hinter ihm. Und dann spürte er plötzlich, daß er sehr hungrig war, und das sagte er Filomena auch. Und Filomena lächelte. Sie brachte ihm Brot, Milch und Käse, und eine ganze Weile aß er mit sichtlichem Behagen, ohne ein Wort dabei zu sprechen, und sie saß neben ihm und sah ihm schweigend zu. Und draußen heulte der Sturm, goß der Regen und strudelte das Wildwasser, das von allen Höhen und aus allen Tiefen, aus allen Gletscherfeldern und allen Schneemulden der Dolomiten quoll und rann, als seien mit einem Zauberschlage alle die unterirdischen Quellen wachgeworden, die bis dahin in diesem schweigsamsten aller Hochgebirge ihr verborgenes, geheimnisvolles Dasein gelebt hatten, um der Stunde entgegenzuharren, die sie ans Licht rufen würde, damit sie ihr Verderberamt begannen.

Als Innocenz sich wieder völlig erquickt und gestärkt hatte, blickte er erst um sich. Er sah nun, daß er sich auf dem Heulager einer Almhütte befand, aber er kannte sie nicht, es war nicht Filomenas Hütte. »Wie sind wir hierhergekommen?« fragte er nach einer Weile erstaunt.

Da erzählte sie ihm, wie sie droben in ihrer einsamen Hütte nahe der Forcheralm zurückgeblieben sei, um auf seine Heimkehr zu warten, denn sie habe ja gewußt, daß er wiederkommen werde, wenn er's ihr auch nicht versprochen habe, sondern ohne Abschied von ihr gegangen sei; und wenn er nicht wiedergekommen wäre, so hätte sie ja doch nicht mehr weiterleben können und wollen. Es seien furchtbare Stunden gestern gewesen. Denn da oben sei der Bach zu einem Strome geworden, weil die tausend rieselnden Gletscherbäche sich unaufhörlich in ihn ergossen hätten, um ihn anzuschwellen, und alsbald sei das ganze Engtal zwischen den himmelhohen Steilwänden unter Wasser gesetzt gewesen, und die Flut habe gurgelnd gegen die Wände der Holzhütte gepocht und gedonnert, um Einlaß zu fordern. Da habe sie gewußt, daß ihres Bleibens dort oben nicht länger sein könne, und habe zu fliehen beschlossen. Aber sie habe nicht gewußt, wohin sie sich wenden solle. Da sei ihr eingefallen, ihm auf dem Wege nach Moosbrunn, den er ja wieder heraufkommen müsse, eine Strecke weit entgegenzugehen, so weit, bis sie in Sicherheit gelange und auf ihn warten könne. Das habe sie denn auch getan, aber es sei bei weitem schwieriger und gefahrvoller gewesen, als sie sich's gedacht, und ein wahres Wunder, daß sie mit dem Leben davongekommen. Alle Steige fortgerissen und verschwemmt, alle Felsen in Bewegung, ein Tosen, Rollen und Donnern, wie wenn ein ewiges Gewitter niederginge, stürzende Tannen und herabkollernde Steine; – es sei gewesen, als ob die ganze Hölle losgelassen worden, und betäubt, fassungslos, atemlos sei sie aufs Geratewohl dahingestürmt, einmal von einem Sturzbach minutenlang mit hinabgespült, dann von einem abrollenden Fels gestreift, von einem fallenden Ast getroffen. Endlich habe sie nicht mehr gekonnt, auch sei es Nacht geworden, und sie habe sich darauf vorbereitet, zu sterben. Da habe sie plötzlich diese Hütte vor sich gesehen, an die sie nicht gedacht, in deren Nähe sie sich nicht geglaubt habe. Die Hütte auf der Bacherlalm sei's. Die könne noch nicht lange verlassen gewesen sein, denn sie habe noch allerlei Vorräte, welche die Almleute bei ihrer eiligen Flucht zurückgelassen, hier vorgefunden und sich todesmatt aufs Heu geworfen, um bis heute in den Tag hinein zu schlafen. Da habe sie erst entdeckt, daß die Hütte durch die sanft abfallende Matte, auf der sie stehe, und von der die Wasser abfließen könnten, ohne sich zu stauen, einen verhältnismäßig sicheren Aufenthalt biete, zumal kein Wald und kein überbangendes Gefelse auf sie herabdrohe. Also habe sie Gott aus vollem Herzen für ihre Rettung gedankt und dann für die seine gebetet.

Den ganzen Tag habe sie auf ihn gewartet, hundertmal durch Regengeprassel und Windpfeifen seine Stimme zu hören geglaubt, hundertmal selber nach ihm gerufen, ohne eine andere Antwort zu vernehmen, als das Gekrächz der Zirbenkrähen und das Strudeln des Wildwassers. Immer wieder sei sie hinausgelaufen, um nach ihm zu spähen, weil er ja doch endlich, endlich habe kommen müssen, und habe ihn von allen Schrecknissen der Wildnis bedroht gesehen und habe gebetet, so heiß, so inbrünstig, wie nie zuvor in ihrem ganzen Leben. Und dann endlich, als sie schon verzweiflungsvoll den Weg nach Moosbrunn habe antreten wollen, um nach ihm zu forschen, obgleich sie ja wisse, daß man dort sie einfangen und festhalten werde, da sei sein Hilferuf an ihr Ohr gedrungen, und sie habe trotz all der bangen Qual, die daraus aufgetönt, mit einem Jubelruf ihm geantwortet und sei hinausgestürzt, um ihn in die Hütte zu führen. Das habe er freilich nicht mehr erkannt und nicht mehr gewußt, aber gefunden habe sie ihn dennoch, und auf ihren Armen habe sie ihn in die Hütte getragen, und nun sei er geborgen und endlich wieder zum Leben erwacht, und nun lasse sie ihn nimmer wieder von sich, sondern wolle mit ihm leben und mit ihm sterben.

In heiß ausbrechender Leidenschaftlichkeit war sie bei ihren letzten Worten vor ihm hingekniet und hatte ihn umschlungen. Die Angst, die Verzagtheit, der Jubel, – alles das, was in den verflossenen Stunden wechselnd durch ihre Seele hingegangen war, löste sich in einen Tränenstrom, der aus ihren Augen brach. Innocenz aber drückte wortlos seine Lippen zum ersten Male auf die ihren, die sich ihm boten, und erst nach einer Weile konnte er stammeln: »Mein Weib! Mein geliebtes Weib! – Du bist's – darfst es sein –«

Dann waltete heiliges Schweigen um sie her. Was sie beide sich noch zu sagen hatten, erstarb in einem leisen Flüstern. Dunkler und dunkler ward es um sie her. Eng aneinandergeschmiegt, horchten sie nur manchmal hinaus auf das rastlose Wüten des Sturmes und das prasselnde Stürzen der Wasser, mit dem draußen das Wetter forttobte um die einsame Hütte des Hochgebirges. Es war ihnen, als sei die Zeit der großen Sintflut wiedergekehrt, weil der Menschen Sünden zu laut aufschrien wider die Gebote des Göttlichen, das in ihre Brust gepflanzt worden war, und sie beide hätten sich in eine Arche geflüchtet, welche die ruhelosen Wogen Umtrieben, ohne sie zu zerstören, und würden dereinst, wenn die Wasser sich wieder verlaufen, irgendwo landen – gleichviel wann und wo? – um das Stammelternpaar eines neuen Geschlechts zu werden, das da die Religion der Menschheit verkünden und nach ihr leben sollte und in ihr wirken, unter der hohen, hellen Sonne eines neuen Tages. – – –

Und wieder, wie zwei Tage früher, trat Innocenz aus der Tür der Alphütte in den grau dämmernden Morgen hinaus. Aber kein Grauen war jetzt in ihm, wie damals, sondern der Widerschein eines vollbewußt genossenen Glückes lag auf seinem Anlitz. Und plötzlich tauchte aus den Erzählungen der alten Wurzin eine Erinnerung in ihm auf, die ein seltsames Leuchten in seinen Augen hervorrief. Die Bacherlalp – hatte sie nicht so geheißen, die Alm, auf welche damals Anastasia Afinger im Frühsommer gezogen war, um im Herbst von dort mit einem Kinde zurückzukehren, das sie für ihr Kind ausgab? War das nicht die Hütte, in welcher die stolze, vornehme, tugendhafte Gräfin Theodora Karditsch damals heimlich bei der Sennerin gehaust hatte, welche zu dem Kinde, dem dieses Weib hier das Leben gab, und das ihres Bruders Kind war, aus Liebe für eben diesen Bruder sich als Mutter bekannt hatte, weil die wahre Mutter es in unnatürlicher Feigheit verleugnete? Hatte sein Leben hier einst seinen Anfang genommen, um von hier aus zum zweiten Male ihn als einen neuen Menschen wieder ins Leben hinauszusenden? Wie wunderbar waren doch die Wege, auf denen die Sterblichen wandelten!

Innocenz stand noch in schweigendes Sinnen verloren, als Filomena zu ihm trat und, ihn mit beiden Armen umschlingend, ihr erglühendes Gesicht an seiner Schulter barg. Er strich ihr mit den Händen leise über das weiche Haar und küßte sie. Dann fragte sie, ohne zu ihm aufzusehen, leise: »Wann gehen wir, Innocenz?«

»Wohin?« fragte er träumerisch dagegen.

»Nach Welschland hinab. Dort hinüber kommen wir durch. Ich weiß dich sichere Wege zu führen.«

Es lag etwas seltsam Ängstliches und Dringliches in ihren Worten. Er aber schüttelte den Kopf, als wenn er den letzten Rest von Traumverworrenheit, der ihm noch anhaftete, von sich scheuchen wollte. »Nein, Filomena,« sagte er dann, den Arm um ihren Nacken gepreßt, »das dürfen wir nicht und das wollen wir nicht. Es wäre feige Flucht. Dort unten ringen Menschen gleich uns in erbitterter Fehde gegen die Verheerungen der blinden Naturgewalten, die unser aller gemeinsame Feinde sind, und es ist an uns, uns an diesem Kampf entschlossen, mit allen Kräften unseres Seins zu beteiligen. Wir würden, wenn wir es nicht täten, sondern einzig an uns und daran dächten, unser junges Glück zu bergen, dereinst dieses Glückes nicht mehr froh werden und die Augen nicht zu denen emporschlagen können, die uns mit jedem ihrer Blicke fragen würden: ›Und wo waret denn Ihr in der Stunde der großen, gemeinschaftlichen Gefahr?‹ Nein, mein Weib, wir wollen Menschen sein unter Menschen. Unser Weg führt nicht nach Welschland hinüber, sondern dort hinab, von wo ich kam, und wohin wir gehören als Kinder des Bodens, dem heute Gefahr und Untergang droht. Komm mit mir!«

Sie weinte leise vor sich hin, sah ihn aber mit ihren tränenüberströmten Augen doch stolz und glücklich an. »Ich wußte es,« murmelte sie, »ich fürchtete es, daß du so entscheiden würdest, und ich bin bereit!«

Eine Stunde danach waren sie auf dem Wege nach Moosbrunn hinab. Als sie um Mittag nach mancherlei Mühseligkeiten das Dorf erreichten, kamen sie mitten in eine grauenvolle Zerstörung hinein. Die Lahn war jetzt völlig von den Schlammfluten überschwemmt, das Wasser war bis zu den Giebeln der Häuser gestiegen. Die hölzernen Notbrücken, die man errichtet hatte, hielten dem Anprall der Wasser nur noch notdürftig Widerstand, einzelne Hütten, darunter die der alten Wurzin, waren bereits zusammengebrochen, anderen drohte jeden Augenblick der Einsturz, zumal die von den Bergen niederstrudelnden, immer höher anschwellenden Bäche die Felsstücke und Baumstämme, welche sie mit herabtrugen, in wildem Ungestüm gleich Sturmböcken gegen die Hausmauern warfen, die krachend darunter zu bersten begannen. Zahlloser Hausrat schwamm auf den trüben, dickflüssigen Wassern umher, hier und da blökte kläglich das Vieh in den Ställen, das instinktiv die Todesgefahr erkannte, die ihm drohte. Der Kirchenhügel war bereits überschwemmt, die Grabkreuze waren umgerissen, die Grüfte überflutet, man mußte gewärtig sein, daß die nimmer rastende, gefräßige, vor nichts zurückschreckende Welle nun auch bald die Gebeine der Toten aus den vermoderten Särgen spülen und aus ihrer dunklen Tiefe erbarmungslos an das Licht des Tages herauftragen werde.

In der Kirche selber, zu der höher und höher die schlammigen Wasser mit gierigen Zungen heraufleckten, hockten zusammengedrängt betend und singend die Dorfbewohner. Unablässig bewegten sich ihre Lippen, unablässig liefen die Perlen des Rosenkranzes durch ihre Finger. Aber auf ihre fahlen Gesichter, welche das graue Zwitterlicht des Tages, das durch die hohen, bleigefaßten, rundscheibigen Fenster hereinfiel, noch farbloser erscheinen ließ, lag nichts von freudiger Zuversicht oder frommer Ergebung; vielmehr prägte sich ein starrer, dumpfer Trotz darin aus, und manchmal, wenn der Wind mit heulendem Geächz um die Kirche fuhr, oder ein glucksender Ton der heranschwellenden Fluten vernehmlich ward, schien ihren ingrimmig und angstvoll zugleich verzerrten Lippen eher ein Fluch als ein Gebet sich zu entringen.

Manche standen auch draußen auf dem Kirchplatz unter ihren gewaltigen, roten und braunen Regenschirmen und blickten mit trostlos-stumpfem Ausdruck ihres Gesichts auf die ungeheure Verwüstung. An Rettungsarbeiten hatte man noch nicht gedacht, geschweige denn an ein plan- und ordnungsmäßiges gemeinsames Vorgehen gegen den gemeinsamen Feind. Nur hier und da war ein einzelner damit beschäftigt, auf ein schnell aus Sägestämmen zusammengezimmertes Floß, mit dem er sich vermittels einer Stange bis zu seinem Hause gestoßen hatte, allerlei ihn wertvoll dünkenden Hausrat hinüberzuretten, wobei er häufig genug nach dem griff, was am leichtesten zu vermissen, am ehesten zu ersetzen war.

Alle erwarteten mit finsterer Ungeduld das Aufhören des Regens, das Sinken der Flut. Die Kinder schrien und lärmten; hier und da wurde noch an den Giebelfenstern der Häuser und auf den Dächern eine verängstigt über die steigende Flut hinstarrende menschliche Gestalt sichtbar, welche entweder ihr Eigentum nicht hatte verlassen wollen oder zu spät an die Rettung gedacht hatte. Auch mancher Kranke und Gebrechliche, der ans Siechbett gefesselt war, mochte noch in den Häusern weilen. Und unaufhörlich gellte nur die Sturmglocke über der im Gotteshause zusammengepferchten, betenden Menge hin. Aber sie rief keinen, sie tröstete keinen. Wen im weiten Alpengebiet der Dolomiten hätte sie auch in den Schreckenstagen dieses Herbstes zur Rettung einer bedrohten, weltfernen Bergdorfgemeinde herbeirufen sollen, wo überall gleicherweise zwischen Rienz und Drau die Tausende an Leib und Leben, an Hab und Gut bedrohter Menschenkinder voller Todesangst zum Himmel emporschrien? Das Glockengeläut war nur wie die natürliche Begleitung für diese gewaltige Symphonie des Jammers, die das Hochgebirgstal durchtönte.

Innocenz suchte, nachdem er Filomena in die Kirche geleitet, den Pfarrer Josef Ladurner auf, um mit ihm über ein gemeinsames Vorgehen zum Schutze des bedrohten Dorfes zu beraten. Er fand ihn untätig in seinem Hause, mit der Moidel beratend, ob man zu Mittag werde kochen können, ohne den Neid und Unwillen der anderen zu erregen. Das zynische Lachen, mit dem er seine Worte begleitete, berührte den Eintretenden widrig. Als Josef Ladurner Innocenz' Ansinnen vernommen hatte, zuckte er gleichgültig die mächtigen Schultern. »Meinetwegen. Warum nicht? Wenn die harten Köpfe dazu zu bewegen sind! Aber das wird nicht leicht sein. Ich meinesteils will meine Knochen schon zu Markte tragen. So oder so! Und wenn's zum Schlimmsten kommt, – um so besser, um so besser!«

Die letzten Worte murmelte er mit einer rauhen Verbissenheit, schlug der Moidel zum Abschied leicht auf die Wange und ging hinaus. Innocenz folgte ihm.

Die kräftigsten Männer der Gemeinde wurden nunmehr zusammengerufen, der Pfarrer sprach zu ihnen von der gemeinsamen Gefahr und der Notwendigkeit eines Zusammenstehens aller, um sie abzuwehren, um wenigstens das zu retten, was von Menschenleben sowohl wie von beweglicher Habe noch zu retten war. Er schlug vor, große Flöße zu bauen, auf denen aller Hausrat, soweit er noch geborgen werden konnte, aufgestapelt werden sollte, vor allem aber sämtliche Menschen zu retten, die sich noch in den Häusern befanden, da man dort für ihr Leben nicht mehr bürgen könne, und an Lebensmitteln herbeizuschleppen, was sich nur irgend aus den Vorratskammern noch zusammenraffen ließ, da man sich darauf gefaßt machen müsse, sich für eine Reihe von Tagen zu verproviantieren, während derer man voraussichtlich von allem Verkehr abgeschnitten bleiben werde. Josef Ladurner sprach ernst, eindringlich und mit knappen, klaren Worten, die auf die um ihn in der Sakristei gescharten Männer nicht ohne Eindruck blieben.

Dennoch blickten sie sich, ohne zuzustimmen, unsicher und mit dumpf-trotzigen Mienen an. Der eine meinte endlich, wenn man alles Hab und Gut auf einen Stapel zusammentrage, werde nachher kein Mensch mehr das Seinige herausfinden, und es werde nur Zank und Streit geben, weil die Unredlichen die Gelegenheit benutzen würden, sich auf Kosten der anderen zu bereichern, und es gäbe Unredliche genug in der Gemeinde. Andere hatten schwere Bedenken gegen die gemeinsame Verköstigung aller aus den zusammengebrachten Eßvorräten. Dann werde man diejenigen, die selber nichts mehr zu beißen hätten, also wohl durchfüttern sollen, um selbst nachher am Hungertuche zu nagen; als ob man nicht durch das Hochwasser schon gerade Schaden genug erleide! Wenn das Wasser so weiterstieg, waren bis zum Abend die Kornböden ohnedies überschwemmt. Man wollte sich nicht für etwaiges Bettelvolk vorzeitig zugrunde richten. Übrigens waren sie sich alle darin einig, daß das Hochwasser nun alsbald fallen werde, da bereits vierundzwanzig Stunden seit der Prozession verflossen seien; länger pflege der heilige Nepomuk nicht zu zögern, und überdies habe man ja ebensowohl den heiligen Ulrich, den Schutzpatron des Tals, noch ausdrücklich um seine Beihilfe angerufen, und die Gelöbnisse, die in diesen vierundzwanzig Stunden der heiligen Jungfrau gemacht worden, seien kaum zu zählen. Kein Zweifel also, daß der Regen nun bald aufhören und die Flut sinken werde. Inzwischen aber könne jeder zusehen, wie er am besten fertig werde, jeder sei gleich schwer geschädigt und habe für den anderen weder Zeit noch Kräfte übrig.

Josef Ladurner blickte Innocenz bei diesen Erörterungen mit einem halb überlegenen, halb ingrimmigen Lächeln an, als ob er ihn fragen wollte: »Nun? Kenn' ich meine Leute besser als du, oder nicht?«

Innocenz aber brach zornig aus: »Dann bleibt uns also nichts, als daß wir beide uns allein ans Werk machen. Eure Gemeinde läßt ihren Pfarrer im Stiche!«

Die Männer sahen sich abermals fragend und ungewiß untereinander an. Einer fing an, von einem zweiten Bittgang zu reden, den man vielleicht veranstalten könne, und der doch sicherlich die Gefahr beschwören werde. Da erscholl plötzlich ein furchtbares Krachen und Dröhnen draußen. Man vernahm es durch das Rauschen des Regens, das Windgeheul und das Wimmern der Turmglocke. Und nun folgte ein hundertstimmiges Aufkreischen von Stimmen drinnen im Gewölbe der Kirche. Alles stürzte vor die Türen hinaus. Auch die Männer aus der Sakristei stürmten ins Freie.

Dort gewahrten sie, was geschehen war. Drei Häuser auf einmal waren zusammengestürzt. Die Schlammflut hatte Steinblöcke gegen sie gewälzt, deren Anprall sie erlegen waren, nachdem das Wasser längst ihr Fundament unterspült, das Erdgeschoß überflutet hatte. Noch immer vernahm man ein Bersten, Brechen und Splittern des zertrümmerten Holzes. Teile des Daches, Balken, Schindeln und Hausrat trieben auf dem Wasser umher. Mit einem aus Grauen und Neugierde gemischten Erstaunen stierten hundert Augen auf die Stellen, wo noch vor wenigen Minuten die Häuser aus der trüben Masse aufgeragt hatten. Keiner regte sich.

Plötzlich gellte ein markerschütternder Schrei auf. Ein Kopf war aus der Schlammflut heraufgetaucht, ein paar Arme ruderten und rangen gegen die Wasser an, reckten sich nach einem treibenden Holzstück aus, um sich angstvoll daran zu klammern, und versanken wieder, ohne es zu erreichen. Nun brach ein jäher Aufschrei von hundert Lippen los. Ein Name wurde laut, der von Mund zu Munde ging: »Der Bach-Franzi!« Aller Hände streckten sich nach ihm aus, Gebete wurden gemurmelt, ängstliche, scheue, anklagende Blicke gingen hin und her. Sollte man den Mann, der da im Wasser mit einem qualvollen Tode rang, untergehen lassen, ohne nur einen Versuch zu seiner Rettung zu wagen? Der Anblick des ersten Menschenopfers, welches die Überschwemmung fordern wollte, rief jählings einen Umschwung der Stimmung, rief ein Gefühl der Gemeinsamkeit hervor, das bisher unter dem Druck der widerstreitenden Einzelinteressen nicht hatte erwachen, nicht hatte den Sieg davontragen können. Der furchtbare Ernst der Sachlage, die bange Ahnung einer noch grauenvolleren Zukunft traten in die Erscheinung. Wo Trotz, Gleichgültigkeit, stumpfe Ergebung und leere Hoffnungsseligkeit vorgeherrscht hatten, verzerrten mit einem Male stiere Verzweiflung, furchtbare Todesangst aller Mienen.

Inzwischen hatte Innocenz als der erste von allen nach einem Floß gerufen. Als er eines, das nur aus drei auseinandergekeilten Baumstämmen bestand, mit allerlei Hausrat beladen, in der Nähe treiben sah, sprang er hinauf, ließ sich eine Stange reichen, und war, ehe noch einer ihm hatte folgen können, schon bis an die Stelle hinausgerudert, wo der mit den Wassern Ringende zum letzten Male aufgetaucht war. Achtlos warf er einen Teil des Geräts, mit dem das Floß beladen war, und das ihn seiner Schwere wegen am raschen Vorwärtskommen behinderte, unterwegs ins Wasser, und unter der zuschauenden Menge vor der Kirche erhob sich kein Laut des Widerspruchs oder der Entrüstung dagegen. Aller Blicke und Mienen waren einzig gespannt auf das gerichtet, was nun kommen würde; man hätte in dieser Minute den, der um den Verlust seines Hab und Guts gejammert haben würde, wahrscheinlich mit den Fäusten niedergeschlagen.

Und nun hatte Innocenz die Unglücksstelle erreicht, er rief nach dem Ertrunkenen, er suchte mit seiner Stange nach dem Körper desselben in der trüben Flut, er beugte sich weit über, um nach ihm herabzulangen. Sekunden bangster Erwartung verrannen. Dann brach ein Schrei von den Lippen der gaffenden Menge. Innocenz hatte den Körper gefunden, er bückte sich vor, um ihn zu erfassen, da er nur noch eine leblose Masse berührte, die ihm keinen Beistand mehr zu leisten vermochte, das Floß legte sich über, und er drohte zu sinken. Im nächsten Augenblick jedoch hatte er das Gleichgewicht wieder gewonnen, warf sich nach hinten zurück, zog mit aller Anstrengung den halberstarrten, unbeweglichen Körper vollends aufs Floß herauf und stieß dasselbe mit kräftigen Armbewegungen bis an das bergende Ufer zurück. Dort empfing ihn vielstimmiges Geschrei, aller Arme wetteiferten, um ihm seine Last abzunehmen, man zog den Leblosen ans Land, man trug ihn in die Kirche, man begann, alle Mittel zu versuchen, um ihn wieder ins Bewußtsein zurückzurufen.

Und die Rettung dieses einen, der schon eine sichere Beute der Wasser gewesen zu sein schien, die entschlossene Tat des fremden Mönches, der sein Leben für ihn aufs Spiel gesetzt, und, ohne daß er selber hier etwas zu verlieren hatte, in so flammenden Worten zu tatkräftigem Handeln aufforderte, stachelte nun plötzlich alle an, ihm nachzueifern, ihm zu gehorchen. Der Bann war gebrochen. Mit einem Male wußten sie alle, daß sie gleicherweise bedroht waren, daß sie gegen einen gemeinsamen Feind kämpfen mußten, um ihm nicht zu erliegen, fühlten sie sich eines Sinnes und waren bereit, ihre Arme zu regen, einer für den anderen und einer für alle, der Arme wie der Reiche, die Alten wie die Jungen. Und nun begann eine angestrengte Tätigkeit. Josef Ladurner übernahm die Leitung der Rettungsarbeiten. Seine weithin schallende Stimme gebot, er selber war überall der erste, wo es galt, kräftig Hand anzulegen, und seine mächtige Gestalt ragte über allen hervor. Innocenz ordnete sich bereitwillig ihm unter.

Aus den zahlreich umhertreibenden Baumstämmen wurden große Flöße zusammengefügt, und die Bergungsarbeiten begannen. Was sich noch an Menschenleben in den überfluteten Häusern befand, wurde zum Verlassen derselben genötigt; nicht selten mußte man Zwang dabei anwenden. Denn es gab Eigensinnige genug, die abergläubisch ihre armseligen Hütten nicht verlassen wollten, welche alles bargen, was sie auf Erden ihr Eigen nannten; Greise, die es vorgezogen, unter den Trümmern ihrer Häuser zu sterben; Kranke und Bresthafte, die sich nicht selber fortbewegen konnten. Sie alle mußten hinausgetragen werden. Und immer war es Josef Ladurner, der an erster Stelle sie sich auf seine gewaltigen Schultern lud, um sie draußen unter Betten und Kissen auf einem der Flöße niederzusetzen. Nachdem seine feurige Tatkraft einmal erwacht war, schien er völlig verwandelt zu sein. Er konnte sich selber nicht mehr genug tun. Den Priesterrock, der ihn in der freien Bewegung seiner Arme behinderte, hatte er von sich geworfen. Sein Gesicht glühte von Anstrengung, seine Augen leuchteten in heißer Befriedigung. Scharf, kurz und befehlshaberisch klangen seine Worte. Mit rauher Entschiedenheit griff er zu, wo man ihm Widerstand entgegensetzte, ohne sich auf lange Auseinandersetzungen einzulassen.

Die Geretteten wurden in der Kirche untergebracht, die Sakristei zum Spital eingerichtet. Selbst die Warenvorräte, die man aus den gefährdeten Schuppen und Häusern herbeischaffte, und die zur Erhaltung des Lebens aller gleichmäßig verwandt werden sollten, ohne daß noch ein Eigentumsrecht des einzelnen daran anerkannt wurde, mußten im Gotteshause geborgen werden. Von den Frauen wurden etliche ausgewählt, welchen die Verwaltung der vorhandenen Eßwaren, deren Verteilung und Zubereitung übertragen wurde. Andere mußten die Kranken und Gebrechlichen versorgen; unter ihnen befand sich Filomena. Selbst gekocht wurde in der Kirche. Allmählich hörte man nur noch vereinzeltes Beten darin; zumeist wurde es übertönt und verschlungen vom Kindergeschrei, von dem Stimmengewirr derer, in denen der neue Lebensdrang erwacht war, und die sich ihr Leben aus eigener Kraft erhalten wollten, vom Geräusch der Arbeit und dem Ruf der Tat.

Dabei aber durfte man noch immer nicht stehenbleiben. Es ließ sich nicht darauf bauen, daß die Kirche bei steigender Flut, die zu fürchten stand, da der Regen noch immer fortströmte, dem Anprall der Wasser dauernd standhalten werde, und man mußte auch für diesen Fall äußerster Gefahr Vorsorge treffen. Es blieb nichts, als auf einer schmalen Felsabdachung oberhalb des Dorfes und unweit der Ulrichskapelle eine neue Niederlassung zu gründen und hier, wo man sich unter einer fast senkrecht schroffen Wand des Monte Valdena sicher glauben durfte, eine Reihe von Holzbaracken aufzuschlagen, in denen die Dorfbewohner untergebracht werden konnten, sobald die Kirche keine genügende Sicherheit mehr zu bieten schien.

Auch dieser Plan ging von Josef Ladurner aus, und da die anderen ihn billigen mußten, machte man sich unverzüglich an die Arbeit, um für alle Fälle gerüstet zu sein. Von einer Prozession war jetzt keine Rede mehr. Aber der Anbruch der Nacht beendigte das kaum begonnene Werk, und man mußte sich Ruhe gönnen. Von Schlaf konnte freilich nicht viel die Rede sein. Zu sorgenvoll-erregt waren aller Gemüter, mit zu bangen Ahnungen sah man dem Kommenden entgegen. Nur die Erschöpfung forderte hier und da ihr Recht. Immer wieder lief man hinaus, um das Wachsen der Flut zu beobachten, um auf Regen und Sturm zu lauschen, die in ununterbrochener Kraftprobe forttobten. Jedes Donnern und Rollen, jedes Rauschen und Dröhnen, alle die unheimlichen Stimmen der Hochgebirgsnacht ließen die Schläfer angstvoll emporfahren. Und als das erste Dämmergrauen eines neuen Morgens erwachte, war man schon wieder bei der Arbeit.

Heute galt es nach der Vollendung der Barackenbauten dem gemeinsamen Verderber, dem Wasser, selber kampfbereit entgegenzutreten. Man mußte versuchen, den aufgestauten Fluten neue Abflüsse zu verschaffen und den andrängenden Wassermassen feste Dämme entgegenzuwerfen, die sie ablenken, zum mindesten aufhalten konnten. Auch hierbei ging man rüstig ans Werk. Da war keine Hand mehr, die feierte, einer spornte den anderen durch sein Beispiel, keiner wollte sich mehr beschämen lassen. Und überall war der Pfarrer Josef Ladurner der Führer, überall stand er an dem Posten, der am meisten gefährdet war oder die größte Anspannung aller Kräfte erforderte. Sein Tatendrang, seine Umsicht rissen alle anderen mit fort. Man folgte ihm zuletzt blindlings; er hätte über ihrer aller Leben frei gebieten können. Und am unermüdlichsten ihm zur Seite hielt sich Innocenz.

Aber den fessellos wütenden Naturgewalten gegenüber schien sich alles Menschenwerk als ebenso machtlos zu erweisen, wie Gebete und Bittgänge. Es war umsonst, daß man gewaltige Dämme aus ineinandergeflochtenen Ästen, von Strauchwerk, Baumstämmen und Steinen errichtete, um dem Anprall der tobenden Flut zu wehren, die von den Bergen, aus zahllosen Gletscherbächen und dem geschmolzenen Schnee der Höhen zusammenfließend, niederstürzten. Immer aufs neue rissen die herabrollenden Wassermassen sie um. Und vergeblich war es auch, den Wassern neue Bahnen zu weisen, denn beharrlich bohrten und wühlten sie sich in ihre alten Betten ein. Die Gefahr wuchs mit jeder Stunde. Und noch immer ließ kein Aufhören des Regens auf ein Ende der Not hoffen; es war wirklich, als sollte die Erde ersäuft werden unter den himmlischen Fluten.

Tage und Nächte vergingen unter steter Arbeit, unter beharrlichem Ringen, unter Angst und Sorge, unter Not und Gefahr. Immer stumpfer, immer hoffnungsloser wurden die Gesichter der Bedrängten, allmählich erlahmte der Mut, allmählich trat die klaglose Ergebung in ein Unvermeidliches ein. Die Gräber des Friedhofs hatte die Flut aufgerissen, die Gebeine der Toten ans Tageslicht gespült. Und einer war in der Sakristei gestorben, den man nicht begraben konnte. Man mußte ihn hoch auf den Berg hinauftragen, um ihn in ungeweihter Erde einzugraben, – kaum einen Fuß tief, denn man konnte nicht weiter in den felsigen Boden eindringen; man hatte auch jetzt keine Zeit übrig für die Toten, wo es sich um die Rettung der Lebendigen handelte.

Täglich, fast stündlich kamen jetzt Szenen des Schreckens und des Grauens vor. Die Bestie Mensch war erwacht. Die Disziplin begann sich zu lockern. Man sah ein, daß nicht alle gerettet werden könnten, und deshalb glaubte jeder sich vor dem andern berechtigt, gerettet zu werden, hielt jedes Mittel für erlaubt, sein Vorrecht durchzusetzen und zu betätigen.

Dann kam die Stunde, wo das Schutzbollwerk, welches die Kirche gebildet hatte, zerstört wurde. Man hatte sie lange vorausgesehen und ihr mit Bangen und Grauen entgegengeharrt. Nun kam sie doch ganz anders, als man erwartet hatte. Eine gewaltige Steinmuhr ging über Nacht nieder, riß zahllose Stämme mit sich, stürzte sich lawinenartig über die Lahn und zerdrückte das Kirchendach, wie mit der Pranke eines Raubtieres. Mit furchtbarem Gekrach brach der Turm zusammen, die Steine wie das Mauerwerk kollerten durch das klaffende Loch des Daches in das Innere des Gotteshauses hinab, die schwere Glocke senkte sich mit sausendem Getöse zu Boden.

Da entstand ein furchtbarer Aufruhr. Schreiend, kreischend und heulend stürzten die aus dumpfem Halbschlaf aufgescheuchten Dörfler ins Freie hinaus, wo die steigenden Wasser ihnen mit tobendem Drohen entgegenschwollen. Die Mauern wankten hinter ihnen. Lichtlose Finsternis starrte ihnen verderbenatmend ins Gesicht. Das Chaos schien hereinzubrechen.

Da begann ein erbitterter, wilder, wahnsinniger Kampf aller gegen alle. Mit tierischem Geheul wollte sich jeder zuerst auf die Flöße stürzen, riß, stieß, schob den andern zurück, selbst die eigenen Angehörigen, selbst Weib und Kind. Und ehe sich die übrigen geborgen hatten, begann man abzustoßen, um nur aus der Nähe des Gebäudes zu kommen, dessen Einsturz drohte, das ihnen allen Verderben zu bereiten schien. An die Toten, an die Verwundeten, an die hilflos Zurückbleibenden dachte niemand. Man wußte gar nicht, wollte gar nicht wissen, ob es Tote und Verwundete überhaupt gab, ob da drinnen Kranke und Gebrechliche darauf harrten, daß man sie erlösen würde. Nur fort! galt für alle als alleinige Losung; rücksichtslos, erbarmungslos rang jedes Leben nach Selbsterhaltung.

In dieser Stunde erwies sich wiederum Josef Ladurner als derjenige, der sein eigenes Leben besinnungslos in die Schanze schlug zum Heile aller. Mit einer mächtigen Altarkerze, deren Flamme seine Hand gegen das Verlöschen schirmte, stand er plötzlich im Priesterrock hochaufgerichtet, mit flammenden Augen vor der wüst durcheinander heulenden und tobenden Masse. Und alle schwiegen, als sie ihn sahen, alle hörten auf ihn, als er sprach. Es war nicht viel, was er redete, aber doch krochen sie scheu, wie verängstigte Tiere vor ihrem Wärter, in sich zusammen bei seinen Worten. Keiner wagte zu meutern, keiner widersprach. Plötzlich vollzog sich die Flucht in vollster Ordnung wie auf Kommando.

Und nun ging es an die Rettung der Verwundeten, an die Bergung der Toten. Innocenz hielt sich dicht an der Seite des Pfarrers. Als sie in die zertrümmerte Kirche eindrangen, aus der alles entflohen war, was die Glieder noch regen konnte, empfing sie ein ohrzerreißendes Wehklagen, Stöhnen und Winseln, das schauerlich durch den öden Raum gellte. Die entzündeten Wachskerzen flackerten im Luftzuge, der durch das Dach hereindrang, der Regen stürzte durch die Öffnungen, durch ein Gewirr von Steingeröll, Schutt, Ziegeln und Mauerwerk mußten sie sich fortarbeiten. Als man sie bemerkt hatte, erhoben sich kläglich-ungestüme Hilferufe; jeder wollte zuerst gerettet werden.

Innocenz spähte nach Filomena aus. Er hatte sie draußen unter den Flüchtlingen nicht gewahrt und konnte sie nun auch hier nicht finden. Da überfiel ihn eine tödliche Angst. Laut und hallend rief er ihren Namen. Da kam ihm aus einem dunklen Winkel des Gebäudes, bis zu welchem der Flackerschein der Kerzen nicht vordrang, ihre Antwort: »Hier! Komm hierher!«

In der nächsten Sekunde war er neben ihr. Da sah er, daß sie vor der alten Wurzin auf dem Boden kniete. Die letztere war von einem der herabgestürzten Dachsparren gerade auf die Brust getroffen worden, sie atmete nicht mehr. Filomena hatte sich gemüht, die Last von dem reglosen Körper zu entfernen und diesem selbst wieder Leben einzuflößen, aber ihre Kräfte versagten, und nichts deutete darauf hin, daß ihre Hilfe hier noch Erfolg haben könne. Als Innocenz sich neben ihr zu der Greisin herabbeugte, sah er, daß sie tot war. Ein leichter Schauer überfröstelte ihn. Dann aber ermannte er sich und sagte: »Sie hat es überstanden, wir können nichts mehr für sie tun als sie bestatten. Und du selbst, Filomena? Bist du unverwundet geblieben?«

Als sie das bejahte und nur über leichte Schmerzen in der Schulter klagte, wo sie von einem Balken gestreift worden war, nahm er den Leichnam der Greisin in seine Arme und trug ihn hinaus. Sie war nicht die einzige, die bei der Zertrümmerung des Kirchendaches ihren Tod gefunden hatte. Schon ein halbes Dutzend Leichen waren zur Stelle geschafft worden, andere mochten noch unter den Trümmern begraben liegen, unter denen man sie hervorscharren mußte. Vorher aber galt es, die Verwundeten in Sicherheit zu bringen und ihnen die erste Hilfe angedeihen zu lassen; das Leben forderte sein Recht vor dem Tode.

Als Innocenz seine Last niedergelegt hatte, schloß er sich abermals Josef Ladurner an, der mit einigen Männern die Bergung der Verwundeten in Angriff nahm. Auch hier zeigte der Pfarrer von Moosbrunn sich voll unermüdlichen Eifers, tatkräftig, umsichtig und opferbereit. In all diesen Tagen hatte Innocenz schon gelernt, in Josef Ladurner einen echten und wahren Priester zu erkennen, der nur nicht an seinen richtigen Posten gestellt worden war; in diesen letzten Stunden bewunderte er ihn.

Auf seinen machtvollen Schultern trug der Pfarrer einen nach dem anderen von den Verwundeten aus der Kirche. Er selbst wälzte die Lasten von ihren Gliedern fort, unter denen sie ächzten, er selbst grub sie aus Schutt und Geröll ans Tageslicht und ins Leben zurück. Als zuletzt alle anderen, auch Innocenz, ihm dringend rieten, die Kirche nicht mehr zu betreten, weil sich ein verdächtiges Knarren und Bersten in dem noch gebliebenen Rest des Daches hören ließ, und man auf einen Nachsturz von Trümmerwerk gefaßt sein mußte, eilte er doch noch einmal hinein, weil er bestimmt ein leises Wimmern unter einem der Schutthaufen gehört zu haben glaubte. Da ward ihm sein heldenmütiges Wagnis zum Verhängnis. Kaum hatte er den halb zerstörten Raum wieder betreten, als mit donnerähnlichem Krachen abermals ein Teil des noch übriggebliebenen Daches zusammenstürzte und ihn unter zersplitternden Trümmern begrub.

Ein Schrei der Angst und des Entsetzens brach von den Lippen aller, die das Gräßliche tatenlos mit ansehen mußten. Dann übernahm Innocenz die Leitung der Rettungsversuche, ja, als keiner sich heranwagte, griff er selber nach Spitzhacke und Schaufel und drang als der erste in das Trümmerfeld ein. Das eiferte andere an, ihm nachzufolgen. Nach einer halben Stunde angestrengter, mühseliger, gefahrvoller Arbeit förderten sie den Körper des Verschütteten wirklich zutage, aber kein Atem war mehr in seiner Brust. Josef Ladurner war tot. Friedlich und stolz zugleich lächelnd, lag er, wie ein Held auf der Walstatt, in der Kirche, in der er jahrzehntelang einem eisernen Zwange, einer mechanischen Gewohnheit gehorchend, seines Amtes gewaltet hatte, und die doch erst in diesen Tagen des Gerichts wahrhaft zu einer Stätte seines mannhaften Wirkens, zu einem Schauplatz seines ehrlichen Wollens und großherziger Opferbereitschaft geworden war. Er war nun doch einen schönen Tod gestorben, einen schöneren, als er ihn sich je hätte träumen lassen; die Kirche, in der seine Worte immer nur wie ein tönendes Erz und eine klingende Schelle gehallt hatten, lag in Trümmern um ihn her, aber Innocenz war es, als habe dieser Tote in den letztvergangenen Tagen sich eine schönere und größere auferbaut, in welcher er ein wahrer Priester des Gottes gewesen war, der da die Liebe ist. Und über seinen Leichnam, unbekümmert um all das erschrocken gaffende Volk umher, mit einem Aufschrei echten Seelenschmerzes warf sich ein Weib, das mit ihren Tränen und Küssen heute und hier zum ersten Male ungescheut vor allen bekannte, daß sie ihn als sein Weib geliebt hatte. Man hatte Mühe, die Moidel endlich von der Leiche des Pfarrers Josef Ladurner fortzubringen.

Die Leitung der Moosbrunner Gemeinde, die nunmehr in den selbstgezimmerten Holzbaracken am Berge Obdach gefunden hatte, war nach des Pfarrers Tode naturgemäß auf Innocenz übergegangen, und er gab sich der Erfüllung aller seiner neuen, ernsten Pflichten mit rücksichtslosem Opfermute hin, die Toten mußten bestattet, die Kranken gewartet, die Verwundeten gepflegt werden. Daneben galt es, zu trösten, zu ermahnen und aufzurichten. Und Innocenz hielt strenge Zucht, welche die allmählich verwildernden Gemüter nötig machten. Er selbst gönnte sich keine Ruhe. In der Ulrichskapelle, unter den gedunkelten und beschädigten Fresken des großen Venezianers, die ihm zuerst die Ahnung von seinem Künstlerberuf geweckt, hatte er sich selber heimisch gemacht, um von hier aus die Ordnung alles dessen zu betreiben, was in seine Hände gegeben war.

Nicht mehr lange aber hatte er die Bürde einer schweren Verantwortung auf seinen Schultern zu tragen. Die harte Zeit der Prüfung ging vorüber. Der Sturm hatte sich ausgetobt, die Regengüsse hörten auf, die Wasser begannen, sich zu verlaufen. Fast um die gleiche Zeit traf auch Hilfe der Regierung ein. Es kamen Ingenieure und Soldaten, die ausgeschickt waren, die Rettungsarbeiten in Angriff zu nehmen; aber erst jetzt nach herber Arbeit drunten im Tale hatten sie bis zu der weltabgelegenen Lahn vordringen können. Auch Lebensmittel und Geldsummen aus den in aller Welt für die Überschwemmten Tirols veranstalteten Sammlungen gelangten jetzt nach Moosbrunn zur Verteilung. Die augenblickliche Not war gestillt, die Sorge für die Zukunft verläßlichen Kräften anvertraut. Jetzt galt es, daß jeder mit neuem Mut sich wieder sein Leben aufbaute. Mehr und mehr traten die Wasser zurück, das Feld für die Arbeit war frei.

Da regte der unausrottbare Selbsterhaltungstrieb sich wieder in den Menschen, und auf der gleichen Stelle, wo ihre Hütte von den fessellos tobenden Elementen zerstört worden war, fingen sie an, in nicht zu ertötendem Heimatssinn sich die neue aufzurichten. Hundert fleißige Hände begannen sich zu regen. Und nun ward auch das schwierigmühevolle Werk der Wasserregulierung der Flüsse und Bäche der Dolomiten von den sachkundigen Helfern erwogen und in Angriff genommen.

Unter solchen Verhältnissen durfte Innocenz endlich an sein Scheiden von der Lahn und an sich selber denken. Und es kam ein strahlender Spätherbstmorgen, wo er Filomenas Hand in die seine nahm und mit ihr in den frischen Tag hinauswanderte. Sie hatten von niemand Abschied zu nehmen, nur Gräber ließen sie ja hier zurück, und niemand legte ihnen mehr Hindernisse in den Weg, als sie gingen. Selbst der Meßner hätte es wohl kaum gewagt, wenn er nicht ohnehin schwerkrank an einer Verwundung in der Ulrichskapelle daniedergelegen hätte. In diesen Zeiten der Heimsuchung hatte jeder zuviel mit sich selber zu tun, als daß er sich um der anderen Tun und Lassen noch hätte bekümmern wollen oder können. Der Meßner hatte zwar häufig seiner feindseligen Gesinnung gegen Innocenz jetzt offen Ausdruck gegeben und Filomena mit Entschiedenheit für sich zurückverlangt, er würde auch vielleicht dem abtrünnigen Mönch, wenn er dessen Absichten erraten hätte und eine Verbindung mit dem Kloster Greifenburg möglich gewesen wäre, jede nur erdenkbare Schwierigkeit bereitet, ja den Angeber und Häscher ihm gegenüber gespielt haben, hätten ihn nicht Innocenz' drohende Augen darüber aufgeklärt, daß dieser gebotenenfalls zum Äußersten entschlossen gewesen und vor nichts mehr zurückgeschreckt wäre. Bartholomäus Innerkofler war zu feige, um es darauf ankommen zu lassen, und jetzt wußte er in seinen Fieberdelirien nicht einmal, was vorging. Der Bürgermeister von Moosbrunn aber hatte beschlossen, einen von allen Gemeindegliedern zu unterzeichnenden Brief an das Kloster zu Greifenburg zu richten, in welchem der Verdienste des Paters Innocenz um die Gemeinde in der Zeit der furchtbaren Überschwemmung in den rühmlichsten Worten gedacht, und woran die Bitte geknüpft werden sollte, ihnen diesen edlen und hochherzigen Priester zum ständigen Seelsorger an der nun verwaisten Stelle zu gewähren, auf welcher Josef Ladurner gestanden hatte.

Innocenz und Filomena wanderten die Straße von Moosbrunn nach St. Ulrich. Sie hielten sich bei der Hand und sahen sich zu manchen Malen mit leuchtender Glückszuversicht in die Augen, die sich einem neuen Leben entgegen richteten. Als sie an den Hügel kamen, auf dem einst das verwitterte Heiligenbild gestanden hatte, bei dessen Bekränzung Filomena Innocenz einen Arm voll Blüten in den Schoß geworfen, sahen sie, daß die Flut den Hügel zerrissen und das Bildnis fortgeschwemmt hatte. Da blieb Innocenz stehen und sagte: »Die großen Wasser sind über die alten Heiligtümer deiner Kindheit vernichtend hingegangen, Filomena. Wir müssen uns neue statt ihrer aufrichten in unseren Herzen.«

In St. Ulrich zeigte sich das gleiche Bild der Zerstörung, das sie in Moosbrunn verlassen hatten. Die von Sonne und Wind rasch getrockneten Schlammassen, die voller Ritzen und Spalten klafften, hatten weithin den Boden überdeckt, die Häuser standen zum Teil noch darin begraben. Doch auch hier hatte schon unverdrossene, zukunftsfreudige Arbeit eines rüstigen Volksschlages wieder begonnen.

Die Sägemühle war völlig zerstört worden, aber Anton Pyrker war der erste, der sein Gut und Eigen neu wieder an der nämlichen Stelle auferstehen ließ, wo es früher gestanden hatte. Er tat das mit dem ungebeugten Trotz seiner Natur und mit dem herausfordernden Stolz des reichen Mannes. Der Tod seiner Frau, die das Grab ihres Kindes trotz des den Friedhof überschwemmenden Hochwassers nicht hatte verlassen wollen und in den Fluten zugrunde gegangen war, hatte ihn nach allem Voraufgegangenen nicht mehr erschüttern können, er empfand ihn vielmehr als eine Erleichterung und erwog bereits im stillen die Eingehung einer dritten Ehe.

Im Pfarrhause hatte sich nichts verändert. Aloys Antholzer hatte die Schreckenszeit mit stumpfem Gleichmut überdauert. Ohne einen Versuch zu machen, seine Gemeinde zu tatkräftiger Gegenwehr wider die entfesselten Elemente aufzustacheln, hatte er apathisch, ohne inneren Anteil seines Seelsorgeramtes gewaltet und die Wasser im Augenblick höchster Not ebenso gleichmütig wieder fallen sehen, wie er sie vorher steigen gesehen hatte. Jetzt saß er an seiner Hobelbank, um die Staketen für eine neue Friedhofsumzäunung zurechtzuschneiden, und die alte Resi ging brummend wie sonst aus und ein. Innocenz legte ihm die Bestellung des Briefes an das Kloster zu Greifenburg, der noch unberührt auf dem Tische seiner Kammer lag, wie er ihn damals zurückgelassen, ans Herz und ging dann, um den wilden Xaverl zu begrüßen.

Der Senn stieg mit den beiden bis ins Tal hinab, wohin er zum ersten Male seit dem Beginn des Hochwassers wieder einen Botengang tun durfte, und berichtete unterwegs von den Schreckenstagen, wie man sie zu St. Ulrich nie durchlebt hatte.

Als Innocenz ihm von den besseren Zeiten sprach, die nun nach so traurigen Erfahrungen auch für das Hochgebirgstal unter den Dolomiten kommen würden, nickte er nachdenklich und meinte: »Gott geb's!« Wohin die beiden wanderten, danach fragte er nicht, auch nicht, als sie drunten im Tale voneinander herzlichen Abschied nahmen. Aber der Stimme, mit der er ihnen sein: »B'hüt' Gott!« zurief, und der unwirsch mit dem Jackenärmel fortgewischten Träne an seiner Wimper merkte man es an, daß er wußte, sie würden nicht wiederkommen, und es sei ein Abschied für immer.

Innocenz, der längst seine geistliche Kleidung nicht mehr trug und in einem Lodengewand Josef Ladurners mit seinem vollen, dunklen Bart in nichts mehr an einen Mönch erinnerte, sah ihm eine Weile schweigend nach, als er gegangen war. Er wartete darauf, daß die hellen Jodler des treuherzigen Gesellen zu ihnen herüberschallen würden. Aber der wilde Xaverl blieb heute stumm. Da zogen auch sie weiter durch die alte »Strada di Allemagna« talwärts, immer zwischen den hochragenden, phantastisch gezackten, im wechselnden Sonnenlicht vielfarbig aufglühenden Kuppen, Giebeln und Zinnen der Dolomiten gen Welschland zu. Überall begleiteten sie noch die Spuren der vorangegangenen Schrecknisse, überall sahen sie zurückblickend noch die gewaltigen, steinernen Wahrzeichen der eigenartigen, wunderreichen Bergwelt, in der sie heimisch gewesen. Aber die Gedanken ihres Kopfes wie die Empfindungen ihres Herzens weilten bei dem Kommenden.

Bei Anbruch der Nacht überschritten sie die italienische Grenze und kehrten in dem Dörfchen Chiapuzza ein, um in der Morgenfrühe des folgenden Tages weiter auf der steil an den Abhängen des Antelao hinführenden Straße dem herrlichen Cadoretal entgegenzuwandern. Im Hauptorte desselben, in dem hoch über der Piave auf ragendem Felsvorsprung gelegenen Pieve di Cadore, kehrten sie ein, um pietätvoll den verwehten Spuren des Unsterblichen nachzuforschen, der sie von hier dann weiter in sein Venedig lockte, und Augen und Sinne zu weiden an dem herrlichen Landschaftsbilde, das noch heute, wie auf so vielen seiner Bilder, in unvergänglicher Jugendpracht vor ihnen gleißte und leuchtete. Hier nahmen sie Abschied von der Märchenwelt der Dolomiten und zogen der Lagunenstadt und dem neuen Leben zu als zwei neue Menschen.


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