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IX

Erst gegen Morgen war Innocenz in tiefen und traumlosen Schlaf verfallen. Bis dahin hatte er sich unruhig hin- und hergeworfen, war immer wieder aufgesprungen, um sich zum Gebet niederzubeugen und hatte um das junge Leben, das drüben im Schlosse auszulöschen drohte, mit Gott gerungen in heißer Inbrunst. Nie glaubte er in seinem Leben innigere Gebete emporgschickt zu haben. Und doch sagte er sich wieder und wieder dabei, daß er nicht mehr in der rechten Art zu beten verstehe, weil die felsenfeste Oberzeugung von ehemals, er werde erhört werden, nicht mehr in ihm wohnte, und weil der Zweifel, der an seiner Seele nagte und bohrte, nie mehr ganz zur Ruhe kommen wollte, nur im heißen Ungestüm des Ringens um Erhörung zeitweilig erstickt ward. Mit hämmernden Schläfen und wogenden Pulsen hatte er sich in die Kissen geworfen. Immer wieder spiegelte seine Phantasie ihm die schöne, goldhaarige Frau vor, die jetzt in ihrem dunklen Kleide am Bette ihres Kindes kniete, seinen heißen, ächzenden Atemstößen lauschte, um ihn bangte und für ihn flehte in namenloser Qual, einsam, eine Beute ihrer schwarzen Furcht und ihres grauenvollen Argwohns zugleich – einsam und gottverlassen.

Oder war Gott in ihr und mit ihr – ihr Gott? War es wirklich wahr, was sie ihm gesagt hatte, daß jeder Mensch seinen eigenen Gott hatte? Was aber starb ihr in diesem Kinde, wenn Gott es zu sich rief! Wie würde sie das Leben ohne das Kind überhaupt ertragen können, zumal, wenn sie sich sagte, sagen mußte, daß es am Leben geblieben wäre, hätte man es nicht hierher in die rauhe Luft des Hochgebirges verbannt, hätte man seiner geschont und es nicht erbarmungslos um der höheren Zwecke willen aufgeopfert? Und war dies wirklich geschehen? Beging man sogar unmenschliche Verbrechen im Namen Gottes, der doch die Alliebe und das Allerbarmen war? Unmöglich! Unmöglich! Und doch klang es dem sich schlummerlos, fiebernd auf seinem Lager Wälzenden immer wieder im Ohr, was er auch einmal von Gräfin Donatas Lippen vernommen hatte; »Was haben die Menschen im Namen Ihrer Religion schon alles gefrevelt, Pater Innocenz! Was haben sie aus Ihrer Religion gemacht!« Und als er ihr damals erwidert hatte, das dürfe man doch der Religion nicht zurechnen, danach nicht ihren Wert und ihre Wahrheit beurteilen, hatte sie hinzugefügt: »Sicherlich nicht; aber deshalb kann man auch nicht verlangen, daß wir uns einer sichtbaren Kirche zuschwören, deren Formeln und Satzungen zu solchem Mißbrauch leicht verleiten können, sondern muß sich daran genügen lassen, daß wir der unsichtbaren angehören und Christen sind und sein wollen im Sinne des großen Stifters unserer Gemeinschaft!« Hatte sie recht?

Das war die wühlende Frage, die ihm in der Seele gebrannt hatte, als endlich die Mattigkeit ihn überwältigte und bleierner Schlaf ihn gefangen nahm. Aber nicht lange sollte Innocenz sich dessen erfreuen. Draußen pochte es an seinem Fenster, und als er, in der Meinung, es sei der Wind, der die ganze Nacht hindurch schon gepfiffen und gerüttelt hatte, nicht darauf hörte, rief es: »Pater Innocenz! Pater Innocenz!«

Nun fuhr der Mönch empor. »Was ist? Was gibt's? Wer ist draußen?«

»Auf der Sägemühle verlangt man nach Euch,« rief eine weibliche Stimme, »die Sägemüllerin ist närrisch g'worden!«

Innocenz war mit einem Satz von seinem Lager aufgesprungen. »Was hat's denn gegeben?« fragte er erschrocken, nach seinen Kleidern langend.

»'s Kind hat sie umbringen wollen,« klang's zurück. »Toll ist sie g'worden. Sollt ihr den Teufel austreiben, Hochwürden.«

»Ich bin gleich drüben,« rief Innocenz, der in Hast seinen Anzug vollendete.

Dann stürzte er zum Hause hinaus. Pfeifend blies ihm der Frühwind entgegen, der die dicken, grauen Wolkenmassen über den Himmel fegte und die Steine auf den niederen Schindeldächern ins Kollern brachte; in sausenden Stößen fuhr er über die Lahn dahin, und die zerrissenen Nebelfetzen flatterten in bizarren Gebilden um die Felszacken. Laufend erreichte Innocenz die Sägemühle.

Drinnen hörte er noch, ehe er die Türe der Wohnstube aufgestoßen hatte, das heisere Gekreisch einer Weiberstimme und dazwischen die rauh polternden Worte des Sägemüllers: »Halt' sie fest, Hamerl! Binden müssen wir sie, wenn sie nicht Ruh' gibt. Der leibhaftige Satan steckt in dem Weibe!«

Dem Eintretenden bot sich ein widriger Anblick. Der Sägemüller und der Großknecht, beide nur halb bekleidet, mit wirren Haaren und barfüßig, wie sie aus dem Bett gesprungen sein mochten, hielten die Sägemüllerin, die unablässig schrie und ächzte, mit den Füßen stieß, Schaum vor dem Munde hatte und sich wie eine Wahnsinnige gebärdete, mit groben Fäusten gepackt und mühten sich, sie aus dem Zimmer zu zerren, während sie mit ihnen wütend rang und sich durch Kratzen, Beißen und Stoßen kreischend von ihnen freizumachen suchte. Die Augen quollen ihr fast aus den Höhlen dabei, ihre Kleider hingen halb zerrissen wüst um sie her oder schleppten hinter ihr drein.

»Um Gottes willen, was geht hier vor?« rief Innocenz, stehenbleibend.

»Den Teufel hat sie im Leibe!« schrie der Sägemüller, dem der Schweiß in dicken Tropfen auf der Stirn stand. »Ihr sollt ihr den Teufel austreiben! Beschwört den Satan, sag' ich Euch, sie ist verhext! Die Kathi hat sie erwürgen wollen. Lauft hinein und seht selbst – das Kind ist halb tot, so hat sie ihr die Gurgel zusammengepreßt. Hätt' das Würml nicht noch einmal in der Todesangst aufschreien können, wär's jetzt ganz hin. Und das Weib will kein' Frieden geben. Wenn wir sie loslassen, läuft sie wieder hin und erwürgt ihr eigen Fleisch und Blut. Den Teufel hat sie. Ihr sollt den Teufel aus ihr austreiben, Hochwürden!«

Innocenz trat totenblaß näher auf Aloysia zu, sah sie mit traurig-erzürnten Augen an, schlug das Kreuz über sie und murmelte: »Im Namen Gottes, des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes.«

Aber das Weib schlug eine gellende Hohnlache auf und wand sich wie in Krämpfen in den Armen der Männer, die sie hielten. »Ihr seid der Rechte!« schrie sie den Mönch an, und ihre Augen verdrehten sich ihr wild im Kopfe. »Ihr habt mir den Wurm eing'setzt ins Gewissen. Ihr! Und wenn ich den Wurm erwürgen möcht, dann schlagt Ihr's Kreuzel gegen mich, als ob ich ein böser Geist wär'. Wie soll ich den Wurm umbringen, wenn ich kein' Engel hab' zur Fürbitt' bei der heiligen Jungfrau? Ein' Engel muß ich haben! Und mein Kind ist's, die Kathi. Zum Engel kann ich sie machen, wann ich will, dafür bin ich sein' Mutter, dafür hab' ich's geboren. Soll mich das Kind in den ewigen Flammen brennen lassen? Und könnt' mich doch erlösen und würd' ein Engel sein in der ewigen Paradiesesherrlichkeit? So verstockt und so schlecht ist mein Kind nicht. Laßt's mich aus, sag' ich, laßt's mich zu mein' Kind!«

Wieder versuchte sie sich mit wilder Gewalt loszuringen, aber die Fäuste der beiden Männer hielten sie fest und zwangen sie nieder. Sie fiel zu Boden, wälzte sich in Zuckungen dort hin und her, biß dem Sägemüller, der sie emporreißen wollte, in die Finger, so daß er mit einem Aufschrei die blutende Hand zurückzog, und lag endlich stöhnend, von kaltem Schweiß überdeckt, geschlossenen Auges und offenen Mundes regungslos da, wie eine Sterbende.

»Jetzt können wir sie binden,« sagte der Sägemüller.

»Vielleicht ist der Satan jetzt von ihr gewichen,« meinte der Hamerl, der vorsichtig ihre Hand losließ und sich über sie herabbeugte.

»Darauf lass' ich's nicht ankommen,« meinte Anton Pyrker. »Sie verstellt sich am End' bloß. Bring' ein paar Strick' her, Hamerl. Die Händ' auf dem Rücken bind' ich ihr auf alle Fäll' z'sammen.«

Trotzdem die Sägemüllerin sich auch jetzt, wo ihre eine Hand frei war, nicht regte und die Augen nicht aufschlug, und trotzdem Innocenz den Sägemüller bat, er möge von seinem barbarischen Vorhaben abstehen, führte dieser dasselbe doch aus, ohne den Mönch auch nur einer Antwort zu würdigen. Aloysia ließ sich widerstandslos fesseln, ohne einen Laut, ohne eine Regung. Ihr Ächzen war verstummt, und der Sägemüller konnte sie, wie einen leblosen Gegenstand, in seine Arme nehmen und davontragen.

Dann kam er zurück, stellte sich in seiner breitspurigen Art vor Innocenz hin, der müde und ratlos auf einen Holzstuhl niedergesunken war, und sagte: »Mit der wären wir fertig 'worden. Meint Ihr, sie wird rückfällig, wann man sie losbindet?«

»Ich weiß nicht,« versetzte der Mönch trübe. »Ihr solltet einen Arzt holen lassen. Sie ist geisteskrank geworden.«

Der Sägemüller kniff die Augen zusammen und ließ einen kurzen Pfiff hören. »Und wer trägt an dem die Schuld, hochwürdiger Herr?« fragte er mit höhnischer Überlegenheit. »Wer hat ihr die große Sünd' wegen dem Windischen Sepp immer und immer wieder vor die Seel' gerückt? Sie sagt es ja selbst, so viel Verstand hat sie noch: den Wurm habt Ihr in ihr Gewissen eing'setzt, Ihr und kein anderer. Nun treibt ihn auch wieder aus. – Das ist Eure Schuldigkeit!«

»Ich habe getan, was unsere Religion und mein heiliges Amt mir befahlen,« erwiderte der Mönch mit harter Entschiedenheit. »Klagt also nicht mich an, sondern allein Eure Sünden!«

Der Sägemüller zuckte die Achseln. »Die Sach' ist zu End',« sagte er, »der Sepp ist tot.«

»Tot?« Innocenz sprang vom Sessel auf. »Tot?«

Der Sägemüller nickte. »Man nimmt's fest so an, und das ist g'nug. Die Landjäger, die ich von Ampezzo hab' heraufkommen lassen, haben ihn gestern nicht mehr g'funden. Hat alles Suchen nichts g'holfen. Und seine Schlupflöcher haben wir doch gut gekannt. In der Höhl', wo er immer g'schlafen hat, hat alles noch dag'legen, gerad', wie er's verlassen hat: Decken und Mantel und sein Rucksack auch. Die halbe Nacht haben sie vergebens auf ihn g'lauert. Dann hat einer beim Abziehen an einer grausig abschüssigen Stell' mitten im wilden G'birg einen Hut g'funden und ein rotes Tuch. Und die haben dem Sepp g'hört, das ist g'wiß. Wird also abg'stürzt sein, als er beim Unwetter neulich hat seine Höhl'n aufsuchen wollen. Ist recht so, hat der liebe Gott gut g'macht. Um so ein' nichtswürdigen Haderlumpen ist's nicht schad', und wegen der Aloysia wär's auch recht. Hat jetzt, was er verdient, der Schandbub'.«

Innocenz war erschüttert. »Wie hat Eure Frau es aufgenommen?« fragte er. »Erzählt mir alles!«

»Die Gendarmen sind heim'kommen, haben hier Unterstand g'sucht und alles erzählt, wie's g'wesen ist, und der Sepp wär' tot. Ist kaum eine Stund', seit sie von hier fort sind – wieder nach Ampezzo hinab. Ist die Aloysia aufg'wacht von dem Lärm, den's 'geben hat, als sie fortmachten, und hat g'fragt, was ist. ›Kannst jetzt schon ganz ruhig und stad sein, Loysl‹, sag' ich, ›dein Sünd' hat der lieb' Herrgott von dir 'nommen, damit alles wieder in der Regel ist, der Sepp ist tot.‹ ›Hast ihn leicht totg'schossen?‹ fragt sie ganz wild. Da erzähl' ich ihr alles. Sie bleibt aber ganz still und sagt kein Wort. Und als ich mein', jetzt wär' sie zufrieden, und alles könnt' wieder sein wie früher, hör' ich, daß sie grauslich zu stöhnen anfangt. ›Was ist's?‹ frag' ich erschrocken. Da antwortet sie: ›Die Sünd' bleibt deshalb doch bestehen, wenn der Sepp auch tot ist. Zurück'gangen wär' ich ja doch nicht zu ihm, wann er auch leben g'blieben wär, das ist alles eins. Jetzt ist's eher noch schlimmer als vorher, weil er vielleicht um meinetwillen ist in den Tod 'gangen. Oh, die Sünd' drückt schwer, gar so schwer, Toni. Dann ist's still 'worden, und nur nach einer Weil' hat die Aloysia noch einmal aufg'seufzt: ›Wann ich nur ein' rechten Fürsprech hätt'! Ein' Fürsprech braucht' ich gar so notwendig!‹ Weiter nichts! Dann hab' ich g'meint, sie ist wieder eing'schlafen, weil's noch früh am Tag ist, und hab' mich selber aufs Ohr g'legt, denn müd' war ich noch rechtschaffen. Mit ein'm Mal hab' ich ein'n jämmerlichen Schrei g'hört, der ist von nebenan 'kommen, wo die zwei Kinder schlafen, war aber g'rad', als würd' eins aufg'spießt, so schrecklich hat's klungen. Ich fahr' auf und lauf' 'nein. Was seh' ich? Die Aloysia kniet neben der Kathi ihr'm Bett auf dem Fußboden, hat ihr die zwei Händ' um den Hals g'klamrnert und drückt und drückt zu, um dem arm' Hascherl die Luft auszupressen. Und dabei schreit sie: ›Mein Fürsprech sollst sein, hörst? Mein Fürsprech! daß ich nit allzulang' brennen muß im Fegfeuer.‹ Herr, du mein Gott, war das ein Anblick! Ich also drauf zu, hab' sie wegg'rissen und hab' ihr zug'ruf'n, ob's verrückt wär', und hab' gleich auch nach dem Hamerl g'schrien, denn g'tobt hat sie ja nun wie toll und um sich g'schlagen und geheult und wollt' sich nicht fortbringen lassen, um kein' Preis wollt' sie's, und der Satan war ganz und gar in sie gefahren. So ist's g'wesen.«

Der Sägemüller fuhr sich mit dem Ärmel seiner Jacke, die er während der Erzählung vom Nagel genommen und angezogen hatte, über die Stirn hin, auf der noch die dicken Tropfen standen. Innocenz hatte ihm in düsterem Sinnen zugehört. Ein Schauer rieselte ihm über den Leib. »Sägemüller,« sagte er jetzt, »ich fürchte, das ist die Strafe, welche der Herr Euch schickt wegen Eurer sündigen Verstocktheit, und ich kann Euch nicht davon befreien. Auch hat Euer Weib ganz recht: wenn Aloysia jetzt nach des Windischen Sepp Tode auch als Eure rechtmäßige Ehefrau gelten darf, die Sünde, die Ihr damals begangen habt, als Ihr sie heiratetet, wäscht sich dadurch nicht von Euch ab, für die Sünde müßt Ihr erst Buße tun.«

Anton Pyrker machte eine großspurig-wegwerfende Handbewegung. »Auf ein Dutzend Seelenmessen für den armen Sünder soll's mir halt nicht ankommen. Und wann Ihr sonst eine Pönitenz für mich habt, Hochwürden, der Sägemüller von Sankt Ulrich läßt sich's schon was kosten. Wann Ihr vielleicht eine Altardecke brauchen könnt, oder die heilige Gottesmutter eine neue Kron' nötig hat, sagt's nur frei heraus, ich lass' mich nicht lumpen.«

Der Mönch hatte seine Stirn finster gekraust. »Mit dergleichen läßt Gott sich von Euch nicht um die wahre Buße betrügen, Sägemüller,« sagte er strengen Tones. »Er verlangt von Euch Reue, gute Werke und echte Frömmigkeit. Über das Weitere haben wir im Beichtstuhl miteinander zu reden, nicht jetzt und hier.« Er stand auf.

»Hat man nach der Leiche des abgestürzten Sepp nicht gesucht?« fragte er plötzlich.

»Wär' auch der Müh' wert,« erwiderte Anton Pyrker achselzuckend. »Ist ja recht, wann die Aasvögel an ihm satt werden!«

»Schämt Euch solcher Reden!« fuhr Innocenz zornig auf. »Mich dünkt, es ist Eure Pflicht, da Ihr hier der Bürgermeister des Ortes seid, nach dem Verunglückten suchen zu lassen. Wer er ist, gilt ja gleichviel, ein Mensch war er doch in jedem Falle. Und vielleicht lebt er doch noch.«

Der Sägemüller ließ eine rauhe Lache hören. »Wer da abg'stürzt ist, der spürt's nimmer in seinen Knochen, Hochwürden. Aber wer da suchen wollt', der könnt' leicht dasselbe erleben wie der Sepp. Mein' schon, so einer wär's nicht wert, daß andere ihr Leben drum riskieren.«

»Man muß aber doch Gewißheit haben,« fiel Innocenz ein. »Das sollte Euch schon um der Aloysia willen von Wert sein. Erst wenn man den Leichnam des Sepp gefunden hat, ist sie ja wirklich Euer Eheweib, und dann wird sie auch ruhiger werden und wieder genesen, hoff' ich.«

Während des letzten Teiles ihres Gespräches war der Hamerl wieder in die Stube getreten. Er stand an der Tür und blickte mit seinen tiefliegenden Augen unter der kantigen Stirn zu dem Mönch hinüber. »Den Leichnam finden sie nimmer,« sagte er mit ruhiger Bestimmtheit.

Innocenz musterte ihn mit argwöhnischen Blicken; er konnte seit seiner letzten Begegnung mit dem Großknecht in der einsamen Felsöde einen furchtbaren Verdacht nicht loswerden, der jetzt, da er vom Tode des Sepp gehört hatte, nur noch lauter seine Stimme in ihm erhob. »Woher wißt Ihr das?« fragte er, dem Hamerl gerade gegenübertretend.

Dieser wich unwillkürlich einen Schritt zurück, zuckte dann aber gleichmütig mit den Schultern und entgegnete phlegmatisch: »Da hinunter steigt ihm halt keiner nach.«

»Wenn Gott es will,« fiel der Mönch mit leicht erhobener Stimme ein und ließ seine Blicke nicht von dem Großknecht los, »bringt er den Leichnam an das helle Licht des Tages herauf, Abraham Hirzer – nicht heute vielleicht und nicht morgen, aber einmal doch. Und wenn er es will, dann wird auch alle Welt erfahren, ob der Windische Sepp verunglückt oder – ermordet worden ist!«

Der Hamerl hatte nur ein irres Lächeln zur Antwort auf diese Rede, aber der Sägemüller brach zornig aus: »Ermordet? Wer sagt das? Geht das auf mich aus?« Seine Faust hatte sich geballt. »Noch heut' lass' ich oben in der Schlucht nachsuchen – für mein Geld tu' ich's, hundert Gulden lass' ich mich's kosten – Jesus Maria! Will man den Sägemüller zum Halunken machen? An einem Menschenleben vergreift er sich denn doch nicht. Das soll ans Licht – so wahr ich Anton Pyrker heiß'!«

»Regt Euch nicht unnötig auf!« versetzte der Mönch ruhig, »Euch hat niemand verdächtigt. Aber daß Ihr Klarheit schafft in dieser traurigen Sache, das ist freilich Eure Schuldigkeit. Jetzt will ich nach Eurem Weibe sehen.«

Er ging in die Schlafstube hinüber, wo Aloysia mit gefesselten Armen, geschlossenen Auges auf ihrem Bette lag. Sie hatte den Mund offenstehen und rührte sich nicht. Innocenz rief sie an, und sie fragte, aber ohne die Augen zu öffnen, was er wolle. »Ist Euch jetzt besser, Aloysia?«

»Ganz wohl, ganz wohl,« gab sie zur Antwort.

»Ihr wißt, was Ihr vorher habt tun wollen?« fragte der Mönch weiter.

»Freilich weiß ich's.«

»Ihr wäret in Eurer schrecklichen Verblendung fast zur Mörderin Eures Kindes geworden, Aloysia. Das wäre eine Todsünde gewesen, für die Ihr die ewige Verdammnis hättet erleiden müssen. Gott und die Jungfrau haben Euch vor so Furchtbarem bewahrt. Ihr werdet nicht zum zweiten Male das Entsetzliche versuchen, wenn man Euch freigibt, nicht wahr?«

Darauf gab sie keine Antwort. Und ab er sie nochmals und dringlicher das gleiche fragte, erwiderte sie: »Einen Fürsprech brauch' ich halt gar so nötig.«

Er redete ihr noch eine ganze Weile lang ins Gewissen, so nachdrücklich und so ernst-mahnend, wie er das nur irgend vermochte. Aber er hatte nicht die Empfindung dabei, daß sie sich überzeugen ließ, und daß seine Worte Eingang zu ihrem Innern fanden. Auch ließ sie ihn das mit keinem Wort glauben, sondern verharrte überhaupt in stumpfem Schweigen. »Aloysia,« sagte er zuletzt, »weshalb seht Ihr mich nicht an?«

Nun schlug sie die Lider wirklich auf, aber der Blick, der auf ihn fiel, entsetzte ihn. Denn, wenn ihre Augen auch auf ihm ruhten, so sah sie doch offenbar nicht ihn, sondern irgend etwas anderes, und es machte den Eindruck, als schauten sie durch ihn fort darauf hin. Ein Ausdruck nicht zu brechender Starrheit lag in ihnen. Innocenz fühlte sich von tiefer Hoffnungslosigkeit durchdrungen. »Aloysia,« fragte er, »habt Ihr alles verstanden, was ich Euch gesagt habe?«

»Wohl, wohl,« murmelte sie.

»Und Euer eigen Fleisch und Blut braucht sich nicht mehr vor Euch zu fürchten?«

»Einen Fürsprech brauch' ich halt doch,« kam es mit der alten Zähigkeit über ihre Lippen.

Da schlug er aufseufzend das Kreuz über ihr und erhob sich. Der Sägemüller hatte unter der Tür gestanden und alles mit angehört. Er machte, als Innocenz ihn ratlos anblickte, nur achselzuckend eine Bewegung mit dem Zeigefinger nach der Stirn und sagte jetzt, ihn in die Schlafkammer der Kinder führend: »Man muß sie halt eine Weile scharf bewachen und ihr die Arme festbinden, so oft sie allein bleibt.«

Drinnen wies er dem Mönch das Kind, das wimmernd in seinem Bettchen lag und jetzt mit großen, entsetzten Augen auf die Männer blickte, zugleich mit beiden Händen ängstlich nach seinem Halse greifend. Dieser trug noch die deutlichen Spuren der Finger, die sich krallend um ihn gepreßt hatten, in den überall sichtbaren blauen Flecken, und das Kind klagte weinerlich, daß es gar so arge Schmerzen habe, wenn es schlucken wolle. Der Mönch beugte sich über die Kleine und küßte sie auf die Stirn. Dann versprach er dem Sägemüller, den Ampezzaner Arzt hersenden zu wollen, der heute abend nach Schloß Peutelstein komme, und ging. »Friede sei mit Euch!« sprach er unter der Tür des Hauses, »der Herr hat Euch schwer heimgesucht um Eure Sünden; tut Buße und betet fleißig um Erlösung. Auch ich will für Euch beten. Der Name des Herrn sei gebenedeit in Ewigkeit!«

»Amen,« vollendete der Sägemüller mit gefalteten Händen, aber der trotzig-herrische Zug aus seinem Gesicht schwand nicht dabei.

Innocenz war schwer niedergedrückt, als er ins Freie hinaustrat. Seine Schuld sei es, hatte der Sägemüller ihm zugerufen, daß dies Furchtbare hatte geschehen können. Seine Schuld! Und er hatte ihm erwidert, daß er nichts getan, als was er hatte tun müssen. Dann also war's die Schuld der Kirche, deren Diener er war, die Schuld der Religion, zu welcher er sich bekannte? Unmöglich. Er hatte es ja selbst ausgesprochen: die Schuld der Sünde war's, die begangen worden war und Sühne erheischte. Woher aber war dem Weibe der grausige Gedanke gekommen, ihr Kind könne als Engel der Fürsprech der Mutter vor dem Throne der himmlischen Jungfrau sein und so diese von den Qualen des Fegefeuers erlösen, zu denen sie sonst verdammt werden würde, ein Gedanke, der sich allmählich zur Wahnidee bei ihr ausgebildet und sie unwiderstehlich zum Verbrechen getrieben hatte, ohne daß sie es als Verbrechen erkannte? Woher? Eben doch nur aus ihrer Religion, wenn auch aus einer gefälschten und irreführenden Verkündung derselben, die ihr geworden war, aus religiösen Wahnvorstellungen, die das natürliche Empfinden in ihr ertötet und die Mutterliebe giftig überwuchert hatten. War es denn wirklich so schwer, das Rein-Menschliche immer in vollen Einklang mit den Geboten einer geoffenbarten Religion zu bringen? Schwer für den Priester, wie für den Laien? Und wenn es so war, wem durfte, mußte man in einem entstehenden Konflikt den Vorrang einräumen und bedingungslos folgen, wenn nicht dem Menschlichen und Natürlichen, dem in uns wohnenden Sittengesetz, das über allen Normen und allen Satzungen stand, die von Menschengeist und von Menschenblindheit herrührten? Mußte, durfte das auch der Priester? Und war er noch ein Priester, wenn er es tat? Konnte man nicht ein Mensch und ein Priester zugleich sein? Und wenn nicht, was war er selber – was war er hier geworden?

Innocenz nahm seinen Hut vom Kopfe, um den Wind, der ihm fauchend entgegenblies, frei um seine Stirn wehen zu lassen. Trotz der regnerischen Morgenkühle war ihm schwül zu Sinne geworden. Er machte eine unmutig abwehrende Bewegung, als ob er alle die sich ihm aufdrängenden Quäl- und Zweifelgeister von sich scheuchen wollte, und schritt rascher aus auf dem Wege nach Schloß Peutelstein. Von der Mutter, die ihr Kind in furchtbarem Wahnsinn um ihrer eigenen Rettung willen hinopfern wollte und sich dabei eine fromme Christin dünkte, zu der anderen, die, obgleich sie ein Kind der Welt war, dennoch für ihres Kindes Leben – Innocenz wußte es – jeden Tropfen ihres Herzblutes freudig hingegeben hätte! Konnte man also in der Mutterliebe alle anderen Frauen überstrahlen und edel und gut und rein sein – denn das alles war ja Gräfin Donata – und dennoch nicht gläubig dabei, dennoch keiner geoffenbarten Religion anhängen, die allein das Heil und die Wahrheit ist? Woher nahm denn diese Frau die geheimnisvolle Kraft, die sie stärkte und erhob, die sie nicht straucheln und nicht fallen ließ, obgleich sie in einer unglückseligen Ehe und an der Seite eines Gatten lebte, der ihr Gatte nicht war? Wo sprudelte der Quell, der ihr Mut und Trost spendete? Gab es noch eine andere Macht außer der Religion, die, gleich dieser, alle edlen und großen menschlichen Eigenschaften weckte und nährte? Und welches war ihr Name? Woher aber vor allem kam es, daß das starre, gläubige und vertrauensvolle Festhalten an den überlieferten Normen, Satzungen und Gebräuchen der Religion die Menschen nicht unbedingt gut und rein und edel machte, sondern in ihnen die schlimmen Gedanken und die frevlen Wünsche erstehen ließ, sie von Sünde und Verbrechen nicht zurückhielt, sondern sie oft genug sogar lehrte, diese mit dem Schein der Religiosität zu verschleiern und zu bemänteln? In welch ein Labyrinth verirrte er sich da!

Innocenz blickte verwirrt um sich und gewahrte plötzlich, daß vom Schlosse her eine dunkle Gestalt ihm auf dem Wege entgegenkam. Sekundenlang durchschoß ihn eine törichte Einbildung, die ihm das Herz wild schlagen ließ. Dann erkannte er den Ankömmling: es war Pater Pius. Der kleine, alte Priester wankte mühselig an einem Krückstock daher. Er sah noch viel müder und verfallener aus als sonst; die eine Schulter hing ebenso wie der Kopf, der ihm zu schwer geworden zu sein schien, schlaff herab. Als Innocenz näherkam, gewahrte er auch den todestraurigen, überwachten Ausdruck seines Gesichts und die halbgeschlossenen Augenlider, die ihn fast wie einen Schlafwandler erscheinen ließen. Innocenz durchfuhr es mit bangem Erschrecken. Er rief den Priester an, der sein Nahen gar nicht bemerkt hatte. »Wie steht's im Schlosse? Was bringen Sie? Gilt Ihre Botschaft mir?«

Pater Pius nahm stehenbleibend den Hut vom Kopfe, trocknete sich die perlende Stirn, atmete ein paarmal tief auf und warf dem Frager einen unsäglich schmerzvollen Blick zu, der gleichzeitig etwas Vergebungflehendes an sich hatte. »Friede sei mit Ihnen, lieber Bruder!« murmelte er, die welken Hände über dem Krückstock ineinanderfaltend. »Meine Botschaft gilt Ihnen, ja. Aber Sie müssen mich diese Botschaft nicht entgelten lassen!«

Seine Stimme zitterte, und eine Träne trat an seine Wimper. Innocenz tat einen schweren Atemzug. »Sie wollen doch nicht sagen, daß« – er stockte, und seine Augen forschten ängstlich in den trostlos-müden und verzagten Gesichtszügen des Alten – »daß ich das Schlimmste hören müßte?«

Pater Pius nickte und seufzte tief hintennach. »Das Schlimmste, lieber Bruder. Gott hat es so gewollt.« Und er seufzte wieder. Mit einem Ausdruck völliger Hilflosigkeit blickte er um sich.

Innocenz dagegen starrte düster zu Boden. Es währte eine geraume Weile, bis er sich wieder so weit fassen konnte, um seine Haltung zurückzugewinnen; es war ihm gewesen, als müsse er zusammenbrechen. Auch jetzt konnte er zuerst nur einen Laut des Schmerzes von sich geben, von Frieden und Ergebung war nichts in ihm. Er hatte zähe an der Hoffnung festgehalten, daß der unglückseligen Frau das Kind erhalten bleiben würde, ja, er hatte gewähnt, seine Gebete in dieser Nacht könnten die göttliche Vorsehung bestimmen, auf dies Opfer Verzicht zu leisten. Gott werde so entscheiden, hatte er sich gedacht, um diese irrende Menschenseele, die so verlangend nach ihm suchte, zu erretten, weil ihres Kindes Tod ihr nur als Folge menschlichen Verschuldens, wohl gar in der Blindheit ihres Schmerzes als die Folge menschlichen Frevels erscheinen mußte und sie dann nur um so weiter von Gott selbst und seiner Verkündigung entfernen würde, da diejenigen, die den Frevel begangen, glauben mochten, ihn zur Ehre Gottes zu begehen und begehen zu dürfen, und da sie selber sich fromme Bekenner des wahren Glaubens zu sein dünkten. Um deswillen hatte er geglaubt, Gott würde ihn erhören. Aber Gottes Wege ließen sich eben nicht erraten, und Gott ließ sich nicht bestimmen von menschlichen Erwägungen und nicht von blindem, menschlichem Wünschen und Hoffen.

»Erzählen Sie mir alles!« sagte Innocenz endlich, als er wieder Worte fand. »Bitte, – ich möchte alles wissen.«

Pater Pius trocknete sich die Augen, nickte vor sich hin und atmete schwer. »Lieber Gott,« murmelte er, »lieber Gott, was soll ich Ihnen sagen? Es ist so unsäglich traurig – so unsäglich traurig –«

»Ich kehre mit Ihnen um,« fiel Innocenz ein. »Kommen Sie! Und sagen Sie mir unterwegs, wann es geschah und – wie die Gräfin es trägt, – vor allem das!«

Er hatte seinen Arm unter den des Greises geschoben, um ihn mit fortzuziehen, da Pater Pius in seiner Ratlosigkeit offenbar nicht wußte, ob er ins Dorf gehen oder ins Schloß zurückkehren sollte. Erst nach einigem Nachsinnen fiel ihm ein, daß er ja im Dorf nur Innocenz hatte aufsuchen wollen, und nun trocknete er tief aufseufzend seine feuchte Stirn und ließ sich eine Strecke weit geleiten, immer nur vor sich hinmurmelnd: »Welch eine Schickung! Welch eine Schickung!« Endlich versuchte er seine Gedanken zu sammeln und fing mit müder, gebrochener Stimme an: »Wie die Gräfin es trägt, wollen Sie wissen, lieber Bruder? Oh, sie ist ganz ruhig, ganz ruhig. Aber diese Ruhe hat etwas so Grausiges bei solchem Schmerze, ich wollte, sie schrie und tobte, sie lärmte und lästerte lieber dabei, dann würde ihr leichter zu Sinne werden, und sie würde sich allmählich vielleicht zum Frieden in Gott durchringen. So – so ist's furchtbar. Wenn man sie ansieht, meint man, sie wäre versteinert. Ich habe einmal die Mutter der Niobiden gesehen, lieber Bruder – eine Marmorskulptur, mein' ich –, an die hat sie mich plötzlich wieder erinnert. – Lieber Gott! Lieber Gott!«

»Wann ist das Kind gestorben?« fragte Innocenz, während der Alte wieder in sein dumpfes, verzweifeltes Brüten versank.

»Ich weiß es nicht, lieber Bruder,« antwortete Pater Pius. »Ich wäre ja gern über Nacht bei ihr geblieben, wie gern! Aber sie wollte es nicht dulden. Auch die Frau Gräfin-Mutter hatte sie nicht im Zimmer gelitten, um alle Welt nicht. Abends spät, als es schon sehr schlimm stand – das Kind hatte gar keinen Atem mehr und redete dabei irre und sang sogar mit einer Stimme, die einem durch Mark und Bein schauerte, mitten in der Fieberhitze seine süßen Kinderlieder, die es von der Mutter gelernt hat –, da hat die Frau Gräfin-Mutter noch Einlaß verlangt und gesagt, es wär' ihr Recht, bei dem Kinde die Nacht zu wachen; aber die junge Frau Gräfin hat ihr eine schreckliche Erwiderung gegeben, eine ganz schreckliche, lieber Bruder. Wissen Sie, was sie ihr gesagt hat? ›Sie wollen sich auch wohl noch an dem Sterben Ihres unschuldigen Opfers weiden?‹ hat sie gefragt. O lieber Gott, lieber Gott!«

»Gräfin Donata war also ganz allein?« fragte Innocenz, dem das Atmen plötzlich Beschwerde zu machen schien.

»Mit der alten Mirz, wohlverstanden. Ja, eingeschlossen hatte sie sich, eingeschlossen, damit niemand wider ihren Willen hereinkonnte. Ganz allein wollte sie sein mit dem sterbenden Kinde. Denn sie hat gewußt, daß es sterben würde, und eifersüchtig war sie auf jeden, der ihr nur einen Blick von dem Kinde hätte rauben wollen. Nur für sich wollte sie es haben, als ob sie nicht einmal einem gönnte, dieselbe Luft mit dem Knaben zu atmen, solange der überhaupt noch atmen würde. Und wie es dann gewesen, und wann das Ende gekommen ist, weiß ich also nicht. Die Frau Gräfin-Mutter hatte sich in ihr Schlafgemach zurückgezogen, – glaub' aber nicht, daß sie hat schlafen können, du lieber Gott! – Und ich – ich bin ruhelos umhergeirrt und hab' gebetet und hab' mich manchmal hinuntergeschlichen, um an der Tür zu horchen, wie es denn stehen möchte. Und einmal, als ich wieder komm', hör' ich nicht mehr das Röcheln und Stöhnen aus der kranken Kinderbrust, sondern nur ein lautes Weinen von der alten Mirz, und weiter nichts. Da hab' ich gewußt, was geschehen war, hab' mich aber nicht getraut, an die Tür zu klopfen und zu fragen, denn die Tür war immer noch verschlossen. Wie ich nun aber so steh' und zaudere, wird der Riegel plötzlich zurückgeschoben, und die alte Mirz stürzt heraus, ganz verweint und ganz fassungslos, die Schürze übers Gesicht gezogen, – du lieber, lieber Gott! Und wie sie schluchzend und wimmernd an mir vorüberstürmt, ohne mich zu sehen, bleibt die Tür halb offen, und da gewahr' ich die junge Frau Gräfin, wie sie neben dem Bett, in dem das leblose, wachsbleiche Kindergesicht zwischen den Kissen sichtbar wird – noch nicht einmal die Augen waren ihm zugedrückt worden –, auf dem Boden liegt, lang hingestreckt und ganz ohne Regung, gerade als wenn der Blitz sie getroffen hätte. Gott, du allmächtiger, war das ein jammernswürdiger Anblick! Aber nun denken Sie sich, lieber Bruder, als ich hineinwill, um sie aufzuheben und nach ihr zu sehen, voller Todesangst und Mitleid, da schnellt sie plötzlich empor, hat meinen Schritt gehört und steht hochaufgerichtet vor mir da, – mit einem Gesicht, lieber Bruder, mit einem Gesicht! Ganz starr, ganz steinern. Und hoheitsvoll obendrein, hoheitsvoll und gebieterisch. ›Pater Pius,‹ sagt sie mit ganz klarer, fester Stimme, ›das Kind hat ausgelitten. Melden Sie es der Gräfin Theodora und dem Pater Innocenz!‹ Und als ich noch etwas fragen will, drückt sie nur meine Hand und sagt, ehe ich ein Wort herausbringe: ›Ich weiß, was Sie mir sagen möchten und sagen könnten. Sie sind gut. Aber ich brauche keinen Trost, es gibt keinen für mich. Ich bin ganz ruhig und gefaßt, wie Sie sehen. Und so lassen Sie mich denn allein, ich muß allein sein.‹ Und damit drängt sie mich der Tür zu, und als ich ganz betäubt und sprachlos hinauswanke, schiebt sich der Riegel schon wieder drinnen vor. Und das ist alles, was ich weiß, lieber Bruder. O mein Gott, es war furchtbar, furchtbar!«

Der Alte schlug stehenbleibend beide Hände vor das Gesicht, das noch aschfahler geworden war in der Rückerinnerung an jene Stunde, als vorher. Innocenz stand ihm schweigend zur Seite, auch er war mächtig erschüttert. Endlich fragte er: »Wie nahm es die Gräfin Theodora auf? War sie vorbereitet? Gestern trug sie große Sorglosigkeit zur Schau. Auch der Arzt war so hoffnungsvoll, – oder war's eine Maske, die er aufgesetzt hatte?«

Pater Pius hatte langsam wieder an seinem Stock weiterzuschreiten begonnen, mußte aber zeitweilig immer aufs neue stehenbleiben, um schwer aufzuseufzen, wobei sein Kopf immer tiefer herabsank und seine Augen immer müder und trostloser vor sich hinblickten. »Lieber Bruder,« sagte er, »was kann ich Ihnen darüber berichten? Wer kann in der Menschen Herz schauen? Die Frau Gräfin-Mutter ist eine sehr fromme Christin, sie wird gewiß Trost und Aufrichtung finden in der Religion, und ich glaube nicht, daß es sie niederwerfen wird. Das würde sie für Schwäche und wohl gar für Sünde halten. Als ich ihr die Meldung gemacht habe, hat sie die Augen gen Himmel aufgeschlagen und mir erwidert: ›Gott hat ihn gegeben, Gott hat ihn genommen, Gottes Wille sei gepriesen!‹ Und damit ist sie in die Kapelle hinabgestiegen, um zu beten. Oh, sie ist eine starke Seele, Bruder Innocenz, eine sehr starke Seele. An dieser Frau könnten wir alle uns ein Beispiel nehmen.«

»Sie ist mehr hart als stark,« entgegnete Innocenz leise, wie erschauernd, »manchmal könnte man vergessen, daß sie ein Weib ist!«

»Vielleicht ist sie früher einmal zu sehr Weib gewesen, lieber Bruder. Wer sich eigener früherer Schwächen bewußt ist, wird in reiferen Jahren leicht verhärtet gegen alle weicheren Regungen, die ihn selbst empfänglich und geneigt machten für die Sünde. Und damit richtet er doppelt streng und unduldsam darüber bei den anderen.«

Der Sprecher hatte die Worte kaum herausgebracht, als sie ihm sichtlich auch schon wieder leid waren, und er warf einen scheuen, um Vergebung flehenden Blick auf seinen Begleiter, der überrascht aufgehorcht hatte. »Wenn es das wäre,« sagte Innocenz nach einer Weile, »so müßte Gräfin Theodora eine große Sünderin gewesen sein; denn ihr Sinn ist stahlhart, und ihr Herz kennt weder Milde noch Erbarmen.«

Pater Pius war leicht zusammengezuckt, zumal er einen prüfenden Blick des Mönches auf sich ruhen glaubte, seufzte dann wieder, trocknete sich die Stirn und schleppte sich, ohne etwas zu sprechen, mühselig weiter. »Sie kennen die Gräfin seit Ihrer Jugend?« fragte Innocenz, ohne ein bestimmtes Interesse zu verfolgen, nur um seine Gedanken von dem Furchtbaren abzulenken, was ihn fast erdrückte, nur um überhaupt irgend etwas zu sprechen.

Der Alte wurde sichtlich unruhig. »Ja, ja,« erwiderte er, »o ja, lieber Bruder, ich kenne sie recht lange, recht lange. Aber mein Gedächtnis ist schwach geworden in meinen hohen Jahren. Und ich bin auch kein Schwätzer, lieber Bruder, nein, ich bin kein Schwätzer. Was geschehen ist, darüber wird der himmlische Vater ja wohl einmal richten in seiner allerbarmenden Liebe, denk' ich; für uns Kinder der flüchtigen Stunde aber ist es vorüber und vergessen, wenn die Jahre gehen, – vorüber und vergessen.«

Innocenz entgegnete nichts mehr, und der Alte setzte nach einer Weile murmelnd hinzu, als ob damit alles abgetan sei, oder als sei es ein Refrain, der bei allem, was er dachte und redete, in seiner Seele nachhallte: »Sie ist eine sehr fromme Christin, die Frau Gräfin-Mutter, eine sehr fromme Christin.«

Dann hatten sie Schloß Peutelstein erreicht, und es mochte die höchste Zeit gewesen sein, denn der greise Priester, der zuletzt nach jedem zweiten Schritte seufzend stehengeblieben war und das Tuch nicht mehr aus den zitternden Händen ließ, um sich immer wieder das Gesicht damit zu trocknen, schien beinahe zusammenzubrechen. Innocenz hatte ihn zuletzt kräftig stützen müssen, damit sie das Schloß nur erreichten.

Drinnen fanden sie alles in tiefster Lautlosigkeit, man hätte denken können, daß überhaupt kein Leben mehr darin wohne. Der Diener, der sie stumm und traurig empfing, schlich auf den Zehen. Hektor kauerte vor der Tür des Gemachs, wo das tote Kind lag, wedelte leise mit dem Schweif zum Willkommen, blickte aber mit seinen großen, treuen Augen so wehmütig drein, als wisse er ganz genau, was hier vorgegangen. Pater Pius fragte nach der Gräfin-Mutter. Der Diener wußte nichts von ihr, nahm aber an, daß sie sich in ihren Zimmern befinde. Die junge Frau Gräfin, setzte er hinzu, habe dagegen noch immer die Tür des Totenzimmers nicht geöffnet, und man wisse nicht, was man tun solle. Übrigens sei an den Grafen depeschiert worden, und man erwarte jeden Augenblick seine Befehle über die Beerdigung, wahrscheinlich werde die Leiche des Kindes doch in das Erbbegräbnis nach Karditsch übergeführt werden sollen, wozu noch so viele Vorbereitungen gehörten, daß die Zeit dränge und der Hausmeister in Verzweiflung darüber sei, wegen der Weigerung der jungen Frau Gräfin, zu der Leiche des Kindes Zutritt zu gewähren, mit denselben nicht beginnen zu dürfen.

Pater Pius ging, um die Gräfin-Mutter aufzusuchen und ihr die Ankunft des Mönches zu melden, aber er fand sie nirgends. Innocenz hatte inzwischen die Tür der Kapelle leise geöffnet, um noch ein Gebet zu verrichten, ehe er Donata gegenüberstehen würde; er fürchtete sich vor dieser Stunde und vor ihren Augen. Drinnen in dem dämmerigen Raum, in welchen das Licht durch die gemalten Glasscheiben fiel, gewahrte er die Gräfin Theodora. Sie lag auf den Stufen des Marmoraltars, lang hingestreckt, mit der Stirn den Boden berührend, ohne eine Regung. Man hätte sie für tot oder für das Gebilde eines Künstlers halten können, der die andächtige Versunkenheit in Menschengestalt verkörpern gewollt. Erst bei längerem Hinschauen gewahrte Innocenz, daß der noch immer schlanke Gliederbau dieser Frau, um den das schwarze Seidengewand niederfloß, von einem Schauern durchzittert wurde. Da schlich er hinaus und zog die Tür hinter sich zu.

Dennoch mußte das verursachte Geräusch oder die Empfindung von der Nähe eines menschlichen Wesens die Beterin aufgeschreckt haben, denn kaum hatte Innocenz dem Priester die Meldung gebracht, daß die Gräfin Theodora in der Kapelle ihre Andachtsübungen verrichte, man sie jetzt aber nicht stören dürfe, als sie selber schon auf der Schwelle der Kapellentür erschien. Sie sah starr und düster aus wie sonst; nichts deutete darauf, daß sie eben im heißen Gebet vor Gott gelegen und jählings daraus emporgefahren war. Ihre Mienen zeigten die sich immer gleichbleibende Ruhe und Selbstbeherrschung, die ihr eigen waren. »Freuen Sie sich mit uns,« rief sie dem Mönch zu, der sich ihr nahte, und ihre Arme breiteten sich, gen Himmel deutend, aus, »Gott der Herr hat unser Haus reich begnadet und den Erben unseres Stammes und Geschlechtes zu sich gerufen in die ewige Seligkeit!«

Innocenz wußte nicht, was er hierauf erwidern sollte. Er murmelte ein paar unverständliche Worte, während sich ihm das Herz in der Brust zusammenkrampfte. »Ist diese Frau eine frömmere Christin als du selber?« mußte er denken, »oder ist sie nur keiner menschlichen Regung und Empfindung mehr fähig, oder ist das alles Trug und Heuchelei?« Er verstand es nicht, er selbst fühlte nur heißen Schmerz und tiefe Niedergeschlagenheit bei dem Gedanken an das, was diesem Hause widerfahren war, und an das Weh der gebeugten, vereinsamten Mutter.

Als sie zusammen das Gemach betreten hatten, in das die Gräfin Theodora sie mit einer einladenden Handbewegung führte, konnte er sich nicht enthalten, zu sagen: »Ich bewundere Ihre Fassung, Gräfin!« Vielleicht war sogar ein bitterer Klang in seinen Worten.

Sie aber maß ihn mit einem hoheitsvollen Blick und erwiderte kalt: »Ich bin eine Christin, Pater Innocenz.« Da verneigte er sich stumm.

»Ich hätte gewünscht,« fuhr sie nach einer Pause fort, »daß Sie meiner Schwiegertochter jetzt an der Leiche ihres Kindes den Trost spenden könnten, der allein in unserer Religion zu finden ist. Ich muß aber darauf Verzicht leisten, weil der hartnäckige Eigensinn der Gräfin Donata uns zur Stunde noch das Sterbezimmer überhaupt verschlossen hält, sie auch durch die Tür mir mit aller Entschiedenheit erklärt hat, daß sie heute – selbst wenn sie das Sterbezimmer verlassen haben werde – niemand sehen könne. Ich halte jedoch trotzdem daran fest, daß diese Schickung uns dazu führen wird, unser Ziel zu erreichen, und daß sie eben um deswillen allein uns geworden ist. Gräfin Donata wird sich jetzt bekehren, und so ist das Opfer, das gebracht werden mußte, nicht zu groß um solchen Preis. Seien Sie also meines Rufes gewärtig, Pater Innocenz! Ich werde Ihnen melden lassen, wenn es Zeit ist, und dann wappnen Sie sich mit allem Feuer der göttlichen Beredsamkeit, um das Höchste zu gewinnen und Ihre Mission zu erfüllen. Bis dahin lassen Sie uns wachen und beten!«

Innocenz erhob keinerlei Einwand mehr. Die Nähe dieser Frau übte mehr als je einen erkältenden Eindruck auf ihn aus, und er meinte, alle Wärme des Lebens in sich darunter verlöschen zu fühlen. Er war froh, daß sie keine Miene machte, ihn zu halten, als er sich nun verabschiedete: offenbar bedurfte sie seiner jetzt nicht oder wollte allein sein, vielleicht um ihre unterbrochenen Andachtsübungen wieder aufzunehmen. Er verneigte sich stumm vor ihr, drückte Pater Pius, der schweigend der kurzen Unterredung beigewohnt hatte, die Hand und ging.

Draußen wurde ihm leichter. Er fühlte, daß er jetzt ein schlechter Priester gewesen wäre, wenn er Donata hätte unter die Augen treten sollen; die Worte, um ihr den Trost der Religion zu spenden und ihr Herz auf das Bekenntnis des wahren Glaubens hinzulenken, wie die Gräfin Theodora es von ihm forderte, hätten ihm gefehlt. Und hatte Gräfin Theodora wirklich recht? Würde Donata sich jetzt bekehren? Würde das Unglück über sie vermögen, was seine Beredsamkeit nicht vermocht hatte?

Er war, während er es dachte, eine Strecke weit gegen das Gebirge zu gegangen, ohne des Weges zu achten. Nun stieg er langsamer auf steinigem Pfade bergan. Nach einer Weile gelangte er auf eine Halde, deren sie schirmende Steilwände den Wind abhielten, der immer noch mit pfeifendem Winselton rauh über die Höhe strich. Er wollte sich hier auf einen Stein niederlassen, um einsam in der Hochlandsstille sein Herz zu prüfen, als er die Schritte eines Nahenden vernahm und gleich danach mit einem Manne in Jägertracht zusammenstieß, der eilfertig den Felssteig herabkam. Es war der blonde Barthel.

Der junge Mann sah gedrückt und finster aus. Als er des Mönches ansichtig wurde, blieb er stehen, rückte an seinem mit Habichtsfedern geschmückten Lodenhut und sagte nach kurzem Gruß: »Werdet die Frage nicht für ungut nehmen, Hochwürden. Wißt Ihr etwas von der Filomena?«

»Von Filomena?« wiederholte Innocenz erstaunt. »Was sollt' ich von ihr wissen? Ist sie nicht mehr in Moosbrunn?«

Der Jäger warf ihm einen argwöhnisch-lauernden Blick zu. »Ihr wißt nicht, daß sie fort ist?« fragte er mißtrauisch.

»Fort? Was soll das heißen?«

»Fort! Verschwunden! Kein Mensch weiß, wohin.«

Innocenz erschrak. »Redet Ihr im Ernst?«

»Sollt's meinen, bei meiner Treu'! Mir ist's g'rad' nicht zum Scherzen zu Mute.«

»Und wann ist das geschehen?« fragte der Mönch, der ganz blaß geworden war.

»Vor drei Tagen.«

»Und warum ist sie fort? Was vermutet man? Hat man gar keinen Anhalt?«

Barthel ließ abermals einen mißtrauisch-prüfenden Blick über den Sprecher hinstreifen, dann schob er den Hut aus der Stirn und erwiderte: »Soll ich Euch sagen, was man vermutet?«

»Nun?«

»Daß Ihr sie versteckt haltet – daß Ihr allein wißt, wo sie sich befindet!«

»Ich?« Innocenz machte eine halb zornige, halb verächtliche Gebärde. »Ist das im Ernst gesprochen? Und wer wagt das zu behaupten? Und weshalb sollt' ich es tun?«

Barthel ließ ein kurzes, hämisches Auflachen hören. »Nun, was das angeht« – er kräuselte seinen blonden Schnurrbart. »Man hat schon manches erlebt von den geistlichen Herren, besonders da heroben im Gebirg, wo der Bischof weit ist und die Gerichte auch. Und daß Ihr mit dem Dirndl alleweil zusammengehockt habt, werdet Ihr doch wohl nicht in Abred' stellen. Und wenn nun ein Bursch' kommt und will das Mädel zur Frau, und der Pflegevater sagt's ihm zu, und das Dirndl sagt nein, so wird man halt stutzig. Denn auszusetzen ist an dem Burschen nichts, sein Brot hat er, und ein ehrlicher Kerl ist er auch und der häßlichste eben nicht, 's Dirndl hat ihn bis dahin auch immer recht gern g'habt! Und gibt weiter keinen Grund an und will weiter nichts hören und sagt einfach nein. Und als der Pflegevater ihr ins Gewissen red't, fangt's an zu weinen und schluchzt gar zum Herzbrechen und sagt, es kann halt nicht, und wenn's sterben sollt' darum, es kann doch nicht. Und als der Pflegevater sie hart anläßt wegen dem Geschwätz und ob's einen andern lieb hat und wen?, da heißt's: das könnt' sie nicht sagen, aber heiraten wollt' sie gar nimmer, lieber ins Kloster gehen. Da ist er ganz fuchtig 'worden, der Meßner, hat sie halt in ihrer Kammer eing'sperrt und hat gesagt, eher laßt er sie nimmer heraus, bis sie vernünftig 'worden ist und ihm ein' ordentlichen Bescheid sagt; entweder soll sie den Barthel heiraten oder soll sagen, auf wen sie wartet. Als er aber am anderen Morgen an die Kammertür pocht und fragen will, ob sie sich besonnen hat, kommt kein' Antwort, und als er die Tür aufreißt, ist die Dirn' bei Nacht und Nebel aus'm Fenster g'sprungen und fort. Und da pfeif' ihr nun einmal einer nach! Seht Ihr, das ist die Geschicht'. Und da hab' ich halt gemeint – weil der Meßner sich nicht g'traut hat – ich müßt' Euch einmal fragen, ob Ihr von der Filomena nichts wißt.«

Der Mönch hatte in atemloser Spannung zugehört und die Farbe auf seinem Antlitz hatte unablässig dabei gewechselt. Filomena fort! Das traf ihn wie ein Blitzschlag. Er hatte immer während der letzten Tage ihrer gedacht, und oft war während seines seelischen Ringens und Kämpfens ein heißes, tiefes Sehnen nach ihr in ihm gewesen. Nur, daß er sich vor einem Wiedersehen mit ihr nach jenem letzten Zusammensein am Pfaffensprung gefürchtet hatte, daß eine Stimme in ihm unablässig gemahnt hatte, er solle nicht wieder zu ihr gehen, denn der Versucher habe ihre Gestalt angenommen und werde ihn auf einen hohen Berg führen, um ihm alle Schätze und Herrlichkeiten der Welt zu zeigen, und dann könne es geschehen, daß er wirklich niederfalle und ihn anbete. Nun war Filomena geflohen. Vor wem? Weshalb? Er wußte keine Antwort, er wollte keine wissen. Und doch fragte es rastlos in ihm: Warum will sie den blonden Barthel nicht heiraten? Warum will sie lieber ins Kloster gehen, als eines Mannes Weib werden?

Dann brachte er endlich laut über die Lippen: »Hat man nach ihr gesucht?«

Die sichtliche Betroffenheit, in die den Mönch die Nachricht von dem Verschwinden Filomenas versetzt hatte, ließ die anfängliche, feindselige Stimmung und den Argwohn des Jägers gegen ihn bis zu einem gewissen Grade schwinden. Das alles machte nicht den Eindruck der Verstellung. Dennoch faßte er kein Vertrauen zu ihm. »Ob man nach ihr gesucht hat! Seit den drei Tagen, daß sie fort ist, bin ich hinter ihr her, kaum, daß ich mir Zeit gönn', einmal einen Bissen zu mir zu nehmen. Und ich versteh' mich aufs Spurfinden, werdet Ihr mir glauben. In alle Höhlen bin ich gekrochen und kein Steig ist im Gebirg, den ich nicht betreten hab'. Aber da such' einmal einer! Nach Welschland ist sie hinunter, darauf möcht' ich schwören. Sonst wüßt' man längst von ihr. 's steckt ihr halt im Blute!« Er zuckte die Achseln. »Da oben, wenn Ihr bis an die Schlucht geht, trefft Ihr die Wurzin. Die hat mir's eben gesagt, wie's mit dem Vater der Filomena steht. Ein Welscher ist's gewesen, und als er die Mutter, das arme Ding, betört hatte, ist er auf und davon auf Nimmerwiederkehr. Wird ihn halt suchen gegangen sein, die Filomena!« Er lachte rauh hinterdrein.

»Und es ist wirklich keinerlei Nachricht von ihr gekommen? Auch der Meßner weiß nichts?« fragte Innocenz.

»Sonst hätt' ich mich nicht an Euch gewandt, Hochwürden.«

»Ich weiß nichts von ihr – Gott ist mein Zeuge.«

Barthel nickte vor sich hin. »Würd' Euch auch nichts helfen, Hochwürden. Das Mädchen lass' ich Euch und Euresgleichen nicht, oder – wenn ich schon überlistet würd' – straf mich Gott: es würd' ein schlimmes Nachspiel dazu geben. Will also hoffen, daß Ihr wahr redet, zu Eurem eigenen Besten. Und damit: b'hüt Gott!« Er rückte wieder an seinem Hut und ging, zwischen den Zähnen pfeifend, talab.

Innocenz stieg langsam weiter bergauf. Die Gedanken wogten unruhig in ihm, und das Herz war ihm so schwer, daß er meinte, er müsse es in seine beiden Hände nehmen, um es zu halten. Filomenas anmutiges Bild stand vor seiner Seele. Wo war sie? Weshalb war sie entflohen? Trug er nicht vielleicht wirklich die Schuld an dem, was sie getan hatte? »O mein Gott,« murmelte er, »laß nicht auch dies noch auf mich kommen! Du prüfest mich zu hart!«

Als er die Schlucht erreicht hatte, spähte er nach der alten Wurzin aus, die er nach des Jägers Bericht hier finden sollte. Er sah sie zwar nicht, hörte aber das Klirren ihres Spatens, mit dem sie nach den Enzianwurzeln grub, aus der Tiefe. Da klomm er, dem Schalle folgend, hinab und gewahrte die Alte nach einiger Zeit auch wirklich zwischen den moosbewachsenen und farnumwucherten Steinen, welche die Schlucht in wildem Durcheinander erfüllten. Nur ihren mächtigen, schwarzen Filzhut entdeckte er zuerst, aber als er sie anrief, tauchte auch ihr verrunzeltes, gelbes Gesicht darunter hinter einem mächtigen Felsblock herauf, und so erwiderte sie seinen Gruß, um sich dann aber gleich wieder herabzubücken und gleichgültig weiterzugraben.

Innocenz ließ sich jedoch dadurch nicht abschrecken, sondern wand sich zwischen den Steinen hindurch auf den schmalen Wegen bis dicht zu ihrem Platze heran und beugte sich über den Felsblock, hinter dem sie grub. »Eure Enkeltochter ist fort, Crescentia Afinger?« fragte er.

Die Alte ließ den Spaten sinken, kauerte sich nieder, sah dem Frager starr ins Gesicht und wiederholte: »Meine Enkeltochter? Was meint der hochwürdige Herr? Ich hab' keine Enkeltochter. Hab' keine einzige verwandte Seel' mehr am Leben. Alles auf dem Friedhof – alles auf dem Friedhof. Die Wurzin von Moosbrunn steht ganz allein auf der Welt, mutterseelenallein.«

»Die Filomena ist eben doch die Tochter Eurer Tochter, Wurzin, wenn sie auch ein Sündenkind ist. Es ist nicht wohlgetan, wenn Ihr sie verleugnet und sie die Schlechtigkeit ihrer Mutter entgelten laßt. Sie ist eine unschuldige Seele, und ich habe sie allezeit rein und gut erfunden.«

Ein seltsames, heiseres, meckerndes Lachen kam über die Lippen der Alten, die dabei ihre knochigen, braunen, welken Hände übereinanderrieb. »Habt Ihr? Habt Ihr?« murmelte sie. »Meinetwegen. Ich hab' mich damals losg'sagt von der Stasi und hab' nichts mehr zu tun g'habt mit ihr und mit dem Wechselbalg da. Hab' g'nug Leid erlebt in der Welt, Herr. Wollt' halt nicht noch mehr. Wenn man sein Herz an Menschen hängt, erlebt man nur Kummer und Leid. Hab' ich mir gedacht: jetzt ist's aus, jetzt hängst dich an keinen mehr, jetzt hast g'nug. An dem Würml würd'st halt wieder dein Narr'n fress'n, und nachher wird's wie sein' Mutter, und wieder hätt'st dein Jammer. Bleibst halt lieber allein! Wer allein ist, hat kein Leid, wer allein ist, dem druckt's das Herz nicht ab, wenn ein anderer schlecht wird und elendiglich zugrund' geht. Gut ist's g'wesen. Allein bin ich g'blieben, hab' kein Mitleid mehr g'habt und hab' nichts mehr wissen wollen davon, daß 's noch andere Menschen gibt auf derer Welt. Und wie ist's dann kommen? Wegg'laufen ist's, ein' schlechte Dirn' ist's. Aber mich kümmert's jetzt nicht, daß es so 'worden ist, mich nicht. Mögen sich andere d'rum grämen! Ich hab' g'nug, ich hab' reichlich g'nug!«

Sie wollte wieder nach ihrem Spaten greifen und weitergraben, aber Innocenz, auf den ihre Worte einen tiefen Eindruck gemacht hatten, fragte bewegt: »Welchen Kummer habt Ihr denn noch gehabt außer dem mit Eurer Tochter?«

Da kam aus der eingesunkenen Brust der Greisin ein kurzes, schmerzvolles Stöhnen. Sie fuhr sich mit dem Kleidärmel über die Stirn hin, als ob ihr dort schwül geworden sei, sank auf ihren Sitz an der Erde zurück und saß zusammengekrümmt eine Weile da, ohne eine Regung des Lebens von sich zu geben. »Wißt Ihr's denn nicht?« fragte sie dann, mit einem Male auffahrend und dem Mönch starr ins Gesicht blickend. »Ist freilich lang' her und gern redet man g'wiß nicht davon, am wenigsten zu einem geistlichen Herrn. Wissen's aber doch noch viele hier auf der Lahn. Mein Sohn ist geistlich g'wesen. Ja, dazu haben wir's 'bracht, wir zwei, der Andrä und ich, daß er hat auf geistlich studier'n können. Dazumal haben wir halt noch den Hof g'habt. Und einen andern Bub'n, das Peterl, hatten wir ja auch, der den Hof erben könnt', und der Innocentius – so hat er g'heißen nach sei'm Kalenderheiligen – war gar ein so g'scheidter Bub', daß der Pfarrer g'meint hat, 's wär' Sünd' und Schand', wenn er nicht dem lieben Gott in der Kirchen sollt' dienen dürfen. Hat ihn schon als kleines Büberl in die Kirchen mit'nommen, den Cenzerl, weil er ein Kind Gottes wär', und hat mit sein'm hellen Stimmchen als Meßbub' am Altar g'sungen in sein'm weißen Chorhemderl und hat mit der Glocken g'läut't, wenn er dem Hochwürdigen vorang'schritten bei einem Versehgang. Ja, das ist halt ein herzig's Büberl g'wesen von eh', der Cenzerl, könnt nicht glauben, wie sehr. Den hat der Herrgott lieb, haben alle Leut' g'sagt, den hat er aber gar lieb. Und so klug – heilige Mutter Gottes, wie er klug ist g'wesen! Auf sein' Fragen haben der Andrä und ich schon kein Antwort mehr g'wußt, als er noch gar ein klein's Büberl war. Nun, wir sind halt einfältige Bauersleut' g'wesen und in den Cenzerl war ja wohl der Heilige Geist selbst nieder'fahren. Gut also: der Cenzerl sollt' geistlich werden. Und dann war die Stasi noch da – die war bildsauber und recht ein gutes Herz hat's g'habt, als Dirndl. Also, wir sind glückliche Leut' g'wesen, und mit dem Hof stand's wohl, haben also den lieben Herrgott gepriesen und waren alleweil' guter Dinge. Der Cenzerl ist nach Innsbruck 'gangen und ist nicht eher wiederkommen, als bis er sein Tonsur g'habt hat. Uh, das war ein Mannsbild 'worden! So eins hab' ich nicht vorher g'sehen und nicht nachher und hier auf der Lahn gab's keins so, wie der war. Das ist richtig wahr.«

Die Alte unterbrach sich in ihrer Erzählung und starrte dem Mönch, der in regungsloser Spannung zugehört hatte, wiederum gerade ins Gesicht. Ihre Augen hatten einen unsäglich wehmütigen und zugleich verwunderten Ausdruck angenommen, und Innocenz mußte der ersten Begegnung mit ihr auf seinem Wege vom Pustertal in die Dolomiten hinauf gedenken, wo sie ihn in der Bergöde, als er sie angerufen, geradeso angeblickt hatte, wie eben jetzt. Eine Weile murmelte sie, während er schweigend ihren Blick aushielt, mit ihrem zahnlosen Munde etwas vor sich hin, das nicht bis an sein Ohr drang, und in dem er sie nicht unterbrach. Dann sagte sie plötzlich laut: »Ich mein' immer, Ihr seht ihm ähnlich, Hochwürden. Und wie ähnlich! Und Innocentius heißt Ihr auch, sagen die Leut'. So seltsam ist's. Aber das ist lang' her, daß mein Cenzerl so ausg'schaut hat, gar so lang'. Und an die zwanzig Jahr' ist er g'wiß schon tot – wird auch wohl drüber sein, wird wohl drüber sein.«

Sie versank in dumpfes Brüten, und der Mönch, den ein wunderlicher Schauer überlaufen hatte, mußte sie erst wieder daraus aufrütteln, indem er fragte: »Euer Sohn ist früh gestorben?«

Da traf ihn abermals der gleiche Blick aus ihren Augen wie vorher, und sie nickte ein paarmal stumm vor sich hin. »Wißt Ihr's nicht?« fragte sie dann müden, raunenden Tones, »wißt Ihr's nicht? Früh, sehr früh. Aber g'storben ist er halt nicht, g'storben nicht. Ich hab' mir's zwar wollen einreden, hab's aller Welt wollen einreden und fuchtig bin ich 'worden wie ein wild's Tier, g'rad' wie ein wild's Tier, wenn wer was and'res g'sagt hat. Aber 's ist halt doch g'wesen, g'storben ist der Cenzerl nicht. Und ist auch nicht abg'stürzt ohne Wissen und Wollen, wie ein frommes, unkundiges Menschenkind, das sich zum ersten Male in unsere Berg' verirrt hat – Gott, du Allmächtiger, hat ja jeden Steg und jeden Weg hier g'wußt wie der beste Gamsjäger, der Cenzerl, und hätt' alleweil in stockfinsterer Nacht sich zurechtg'funden, ohne ein Lichterl, bloß mit sein' zwei Augen und sein' zwei Händen dazu. Muß also wohl herabg'sprungen sein, richtig herabg'sprungen, damit's aus sein sollt' und vorbei mit sei'm elendiglichen Leben. Heilige Mutter Gottes, bitt' für ihn! Muß halt gar dunkel g'wesen sein in sei'm Hirn, wenn er das hat tun g'konnt. Und wer ihn dazu 'bracht hat, der mag verdammt sein in alle Ewigkeit!«

Bei dem letzten Satz hatte sich plötzlich die Stimme der Greisin zu einem wild grollenden Ton emporgehoben, ihre Faust hatte sich geballt, und zornfunkelnden Blicks, während ihr Kinn vor Erregung zitterte, hatte sie dieselbe in die Luft gereckt. Innocenz mußte der Stunde gedenken, als sie bei ihrer Warnung, er solle sich nicht mit den Weibsleuten des Schlosses einlassen, von denen immer noch Verderben über seinesgleichen gekommen sei, so nach Peutelstein hinübergedroht hatte. Galt auch jetzt diesem ihr grausiger Fluch? Das Pfaffenmarterl da oben an der einsamen Felsecke hatte die alte Wurzin also dereinst ihrem Sohne gesetzt, der dort ums Leben gekommen war, und der Name, den Innocenz einmal so mühselig darauf zu entziffern versucht, war der des »herzigen Buberl,« von dem sie ihm vorher in so rührenden Worten erzählt hatte, des Wunderkindes, das der geistliche Herr im Orte schon in seinem zarten Alter ein Kind Gottes genannt hatte. Und dann war dies Kind Gottes trotz der Tonsur, die es schon getragen zum Zeichen seiner Priesterweihe, ein Selbstmörder geworden!

Die Gedanken gingen wunderlich um in dem Mönche. Er mußte daran denken, wie er zum letzten Male mit Filomena an jener wild-schönen Stelle gestanden hatte, um ihr zu sagen, daß sie doch auch um das verlassene und vergessene Bildstöckel einmal einen frischen Alpenblumenkranz schlingen solle. Und dann hatte sie ihm berichtet, daß dort ein Priester seinen Tod gesucht und gefunden habe, weil er ein Weib geliebt, das nicht mit ihm habe gehen wollen, weil er ein Priester gewesen. Hatte sie gar nicht gewußt, daß es ihr eigener Oheim war, von dem sie redete, der Sohn der alten Wurzin, und daß der unlesbar gewordene Name auf dem verwaschenen Blechschilde lautete: Innocentius Afinger? Wie seltsam schlangen sich hier die Fäden menschlicher Schicksale ineinander!

Des Mönches Herz schlug laut, während das alles ihm wirbelnd durch die Seele schoß, die Greisin aber war in ihr stumpfes Brüten zurückverfallen und bewegte tief herabgedrückten Kopfes nur mechanisch die braunen, verkrümmten Finger übereinander, als ließe sie die Kugeln eines Rosenkranzes dazwischen hinlaufen. Erst als Innocenz sie mit der Frage aufschreckte: »Wer war's denn, der Euren Sohn dazu gebracht hat, den Tod zu suchen?« blickte sie wieder mit umdüsterten Augen auf, schien sich erst eine Weile darauf besinnen zu müssen, wo sie sich befand und was geschehen war, und erwiderte dann in dumpf grollendem Ton: »Wer den Cenzerl in den Tod g'jagt hat, wollt Ihr wissen? Ein Weib ist's g'wesen. Was liegt Euch am Namen? Das Weib war schön, Hochwürden. Und weil der Cenzerl gar ein so schmuckes Mannsbild g'wesen ist, wie's auf der Lahn nicht leicht ein zweit's 'geben hat, solang' ich am Leben bin, deshalb hat er ihr gar wohl g'fallen, wenn er auch die Tonsur g'habt hat. Und dann ist's halt so 'kommen.« Und nach einer Weile setzte sie hinzu: »Sollt' keine jungen und schönen Priester geben, mein' ich. Priester müssen alt sein und ruhig. Oder sie müßten ein Weib nehmen dürfen wie and're Mannsleut'. Gibt sonst allemal ein Unglück, allemal.«

Wieder schwieg sie, sich zusammenkauernd, als ob es sie fröstele, und auch dem Mönch war abermals bei ihren Worten ein Schauer angeflogen. Nun sagte er: »Erzählt mir doch mehr und weiter! Wie ist dann alles gekommen? Wenn Ihr eine Bäuerin gewesen seid, die auf dem eigenen Hof saß, weshalb müßt Ihr denn heute in Euren alten Tagen Euch so mühselig mit Wurzelgraben Euer Brot verdienen? Und wie war's mit der Stasi?«

Die Wurzin nickte. »Ja, da habt Ihr ein Recht, zu fragen, Hochwürden, da habt Ihr freilich ein Recht. Es ist halt so 'worden. Wer kann sagen, warum? Und wer kann sagen, ob es so hat müssen sein? Man muß es eben nehmen, wie's kommt. Uns'ren anderen Buben, den Peterl, den hat's Hochwasser umg'bracht. Dazumal ist ein schlimmer Herbst g'wesen. Und als er's Häusel hat retten wollen, hat's ihn wegg'rissen und ist als Leich' später weit drunten aufg'funden word'n. Im Villgrattenbach ist er ertrunken. Und da waren die zwei Buben, auf die wir gar so stolz sind g'wesen, der Andrä und ich, alle zwei hin und mußten sie in die Erd' legen, den Cenzerl gar noch an die Kirchhofsmauer abseits, weil er sich selber 's Leben g'nommen hat. Und der Peterl hat auch sterben müssen ohne Beicht' und ist nicht versehen worden. War wenigstens ein ehrlicher Tod, den er g'storben ist, und der geistlich' Herr hat g'sagt, der lieb' Herrgott würd' ihn ja wohl auch aufnehmen ohn's heilig' Öl. Waren die zwei also begrab'n, und die Stasi ist schlecht worden. Nachher hat sich's der Andrä gar so zu Herzen g'nommen z'weg'n der Kinder, daß er ang'fangen hat zu trinken. ›Andrä‹, hab' ich zu ihm g'sagt, ›damit machst die zwei Bub'n nimmer wieder lebendig und die Stasi nicht wieder rechtschaffen. Laß ab vom Enzeler!‹ Aber er hat mir zur Antwort 'geben: ›Vergessen tu' ich's halt doch dabei!‹ Und dann ist's so weiter 'gangen. Und's Wildwasser hat uns ja damals auch viel Schaden g'macht. 's geht halt so lang', wie's gehen kann. Dann ist uns der Hof vergantet word'n, und dann ist der Andrä g'storb'n, – ganz schlimm ist er g'storb'n, ganz schlimm, lieber Gott, ganz schlimm, und ist so ein gut's Mannsbild g'wesen, als alles noch anders war. Und dann bin ich ja wohl ganz bettelarm zurück'blieben. Die Stasi war damals schon lang' fort, ins Welschland hinunter. Hat g'meint, sie find't dort den wieder, der sie in die Schand' 'bracht hat. Ja, lieb's Herrgöttel, hat ihn nimmer 'funden. Und als sie heim'kommen ist, war sie schon am Sterben. Nu, ich hab' lang' schon von ihr nichts mehr wissen wollen, von ihr nicht und von ihrem Sündenkind auch nicht. Und weil ich ein bettelarm's alt's Weib 'worden bin, hab' ich halt's Wurzelgrab'n ang'fang'n, denn leben will so ein alt's Mütterl, das kein' Menschen mehr auf der Welt hat, ja doch auch noch. Das sind nun an die zwanzig Jahr' her, mein' ich, daß ich die alt' Wurzin von Moosbrunn bin, und die anderen liegen halt alle auf dem Kirchhof. Die Stasi auch. Und manchmal mein' ich wohl, sie sind wieder lebendig. Aber das ist halt so ein' Idee, wenn man alt wird. Jetzt ist's nicht lang' mehr, dann lieg' ich auch bei den andern. Und aus ist's, ganz aus.«

Sie lächelte mit ihrem breiten, zahnlosen Munde eigentümlich vor sich hin, indes Innocenz in seltsamer Ergriffenheit ins Leere starrte. »Ihr habt wahrlich schwere Schicksale gehabt, Wurzin,« sagte er warmen Tones, »Euch hat Gott stärker heimgesucht als tausend und tausend andere. Und das alles habt Ihr mit solcher Ergebung und solcher Kraft getragen! In Euch muß ein starker Glaubensmut wohnen, Crescentia Afinger!«

Aber die Alte schüttelte mit großer Entschiedenheit den Kopf. »Nein, Hochwürden, nein. Müßt mich um Gottes willen nicht loben, weil ich's ganz und gar nicht verdient hab'. Ist nicht weit her mit meinem Glauben, o nein, nein. Den einen macht's leicht fromm, wenn er das erlebt, was ich hab' erleben müssen, Schlag auf Schlag, wie wenn ein grausliches Hagelwetter niedergeht; den anderen aber macht's hart. Und mich hat's hart g'macht. Weil ich nicht noch mehr Unglück hab' erleb'n woll'n, und weil mein Herz an kein'm Menschen mehr hat hängen wollen, von dem mir Kummer und Leid hätt' g'scheh'n können, darum hab' ich ja von dem Kinde nichts wissen wollen, das die Stasi in Sünden geboren hatte. Ein frommes Menschenkind hat sich ja wohl des armen Würmerl erbarmt, das an der Mutter ihrer Schand' unschuldig ist g'wesen. Ich aber hab's nicht 'könnt. Mein Herz ist leer und tot g'wesen, und ich hab' g'wußt, so müßt's bleiben, wann ich weiter leben sollt', so und nicht anders, denn mehr tragen könnt' ich jetzt nicht. Kein's Menschen Freund und kein's Menschen Feind mehr, so ganz mutterseelenallein, – so wollt' ich mein letzt' bisserl Leben verbringen, und so wollt' ich sterben, je eher es sein könnt', desto lieber sollt' mir's sein. So hab' ich's g'wollt und so hab' ich's g'tan. Und von dem Kind hab' ich mir gleich 'dacht: die wird einmal schlecht, wie ihr' Mutter 'worden ist, denn das steckt im Blut, und der Vater ist ja auch ein Lump g'wesen. Und schön ist das Kind g'wesen, schön, wie man sich so die Englein im Himmel vorstellt, noch viel schöner, als die Stasi war, und man hat's ihr auch gleich ang'seh'n, daß ihr Vater ein Welscher g'wesen ist, schon wegen der Augen, die so g'funkelt haben wie die Kohlen. Das war nun gar ein Unglück für sie, die Schönheit. Und ein Sündkind war sie ja obendrein. An die wagen sich die Mannsleut' immer am eh'sten, weil sie meinen, die sind zu nichts Besserem da in derer Welt. Und was haben sie auch schon von den and'ren auszuhalten an Spott und Verachtung von Kind an! Das hätt' viel Kummer und Herzeleid für mich 'geben, wenn ich das arm' Würmerl lieb g'habt hätt' und hätt's zu mir g'nommen; jeder Tag wär' ein neuer Gram für mich g'wesen. Und wie hätt' ich's nachher behüten sollen, daß es nicht in jungen Jahren schon zu Falle kommt und grundschlecht und lästerlich verderbt wird? Und hätt' mir dann doch allemal sagen müssen, g'rad' wie bei der Stasi: hätt'st sie besser bewahrt, hätt'st treuer dein' Pflicht und Schuldigkeit 'tan, wär's nicht g'scheh'n! Und wär' mir als neue Sünd' auf die Seel' g'fallen. Das aber hab' ich nicht g'wollt und nicht g'konnt. Und deshalb hab' ich kein Enkeltochter nicht auf derer Welt, und deshalb kann's mir recht sein, daß die Filomena auch schlecht g'worden ist und ist davong'laufen – Gott weiß, wohin? und Gott weiß, wann und wie sie heimkommen wird, – ganz recht kann mir's sein. Hat eh' so kommen müssen, jetzt oder ein ander Mal – hat so kommen müssen.«

Sie nickte starr blickend vor sich hin, aber der Mönch fiel mit ernst verweisendem Tone ein: »Ihr urteilt ungerecht. Crescentia Afinger! Woher wißt Ihr, daß die Filomena schlecht geworden ist? Kein Mensch weiß etwas davon zu sagen. Und ich weiß, daß es nicht wahr ist. Wenn sie davongelaufen ist, so wird sie ihre Gründe gehabt haben, so zu tun, – aber um schlecht zu werden, hat sie es nicht getan, dafür bürg' ich Euch. Ich kenne sie. Vielleicht ist sie gerade deshalb fortgelaufen, damit sie nicht schlecht werde, und man hat sie nur schlecht machen wollen. Das alles wird die Zukunft uns lehren, und Gott wird es an den Tag bringen. Ich aber kann nicht dulden, daß Ihr so von ihr redet!«

Die Alte hatte den Kopf um ein weniges aufgehoben und warf unter dem mächtigen Hutrand hervor einen erstaunt-nachdenklichen Blick in das Antlitz des Mönches, das von kaum verhaltener Erregung gerötet war. Dann nickte sie wiederum, und ihre Finger rieben sich übereinander. »Wohl, wohl,« murmelte sie. »Mag sein, daß Ihr recht habt. Mich kümmert's nicht, – mich nicht.«

»Glaubt Ihr,« fragte Innocenz nach einer Weile, während allerlei irre Gedanken in ihm umgegangen waren, »glaubt Ihr, daß Filomena bei dem Meßner Innerkofler in guten Händen war?«

Die Wurzin zuckte die Achseln und schien noch tiefer in sich hineinzusinken wie bisher. »Selbiges nicht,« raunte sie dann mit einem häßlichen, heiseren Auflachen, »selbiges wohl ganz g'wiß nicht. Der geistlich' Herr, unser hochwürdiger Herr Pfarrer Ladurner, gibt schon kein gut's Beispiel. Weiß ja alle Welt, daß die Moidl noch ein weniges mehr für ihn ist, als bloß Pfarrköchin. Und jetzt ist er ein alter Mann. Hat aber eine Zeit 'geben, da ist's ein' groß' Ärgernis g'wesen. Einer wie der andere. Machen's ja alle nicht viel besser hier heroben. Ist gar so viel einsam für einen geistlichen Herrn, wann der Winter kommt und will gar kein End' nehmen. Hab's ja schon g'sagt: sollt' nicht sein, daß die geistlichen Herrn ohn' Weib und Kinder leben müßten zu Gottes Ehr'; gäb' halt viel weniger Sünd' in der Welt und viel weniger Unrecht. Denn's g'schieht ja nun doch, und jetzt nur ist's Schand' und böses Beispiel und sonst wär's recht und gut, und der Herrgott hätt' sein Freud' d'ran. Sind ja g'wiß fromme und gelehrte Herren, die im schwarzen Rock, aber Menschen sind's halt doch auch und immer noch obenein Mannsleut'. Das nimmt ihnen keine Weih' und keine Tonsur fort. Hab's ja an mein' Cenzerl auch erleben müssen, der g'wiß ein guter und frommer Priester ist g'wesen und so streng' mit sich und allen seinen Fleischessünden, wie kein zweiter auf derer Welt. Was hat's ihm g'holfen, all' das Fasten und Kasteien, mit dem er sich g'wiß nicht g'schont hat? Ist doch in Sünd' und Schand' und Tod hineing'raten und liegt an der Kirchhofsmauer wie ein hergelaufener Verbrecher! Ich bin halt ein alt's Weib, Hochwürden, ein steinalt's Weib, und hab' viel auf derer wunderlichen Welt erlebt und g'sehen; müßt's mir schon zugut' halten, daß ich so daherred': besser wär's, wenn der Priester ein Weib' nehmen dürft', weil er doch immer ein Mann bleibt! Und könnt' kein' Sünd' sein nach mein'm einfältigen Verstand. So aber, wie's nun ist, ist's Sünd' und bringt schwer' Herzeleid über die Menschen!«

Sie fuhr sich mit dem Kleidärmel über die Augen hin, als ob ihr ein paar heiße Tropfen an die Wimper getreten wären. Innocenz' Züge hatten sich noch mehr verfinstert als bisher. Wie kam's, daß diese alte Frau da Worte fand für etwas, was in seiner eigenen Seele seit langem gärte und wogte und vergeblich nach einem Ausdruck rang? Er erschrak davor. Und welche furchtbare Anklage sie mit ihren Worten erhob! Er mußte an den Pfarrer Aloys Antholzer denken, der heute stumpf und gebrechlich war, der aber doch auch einmal jung und kraftvoll gewesen war und heißes Blut in seinen Adern gehabt hatte, damals, als auch die Resi noch jung und hübsch gewesen sein mochte; und damals hatte auch er die einsame Öde des Hochgebirges und das unendliche Gleichmaß der Tage in dieser Weltferne, welche für ihn den geistigen Tod bedeuten sollte, wohl minder gleichmütig und minder ergebungsvoll ertragen und sich anders als beim Enzeler und an der Hobelbank darüber fortgetäuscht. Er und Josef Ladurner und alle, die vor ihnen auf der Lahn gehaust hatten und alle, die nach ihnen dort hausen würden unter dem ehernen Zwange des Zölibats, alle, aus Trotz, aus Schwachheit, aus sündiger Lust, aus heißer Begierde nach einem einzigen Trunk Leben und Genußfreudigkeit inmitten dieser herzerstarrenden, trostlosen Öde, – was kam darauf an?

Als der Mönch, der in seine düsteren Gedanken versunken war, keine Antwort gab, fing die Greisin, in der nach oft wochenlang hintereinander andauerndem Schweigen plötzlich der Trieb zum Sprechen unwiderstehlich erwacht war, aufs neue an: »Kennt Ihr den Innerkofler? Das ist der Schlechteste von allen. Der hat mehr Sünden auf dem G'wissen, als der lieb' Herrgott ihm bei aller Gnad' und Barmherzigkeit je wird verzeihen können. Und mein' alten Kopf tät' ich verwetten, daß er die Filomena bloß aufg'zog'n hat, damit er sie einmal an den Grafen verkaufen kann, wenn der nach Peutelstein kommt. Denn das tut er, das hat er schon oft g'tan. Dem Grafen führt er hübsche Weibsleut' zu, damit er sein' Kurzweil hat, der und die anderen, wann's zur Jagd auf dem Schlosse wohnen. So ein Erzlump ist's und hat schon bei mancher den Verführer g'macht und hat den Judaslohn dafür eing'sackt, – Gott soll ihn strafen, wie er's verdient hat! Und bei mei'm Cenzerl hat er halt auch die Hand im Spiel g'habt, davon laß ich mich nimmer abbringen, der und kein and'rer! Ein rechter Teufel ist's, und wird ihm der Teufel ja auch sein' Lohn geben!«

Innocenz hatte in wachsender Erregung zugehört. »So seht Ihr ja selber,« rief er nun, »daß ich mit meiner Vermutung recht hatte: die Filomena wird davongelaufen sein, um nicht schlecht zu werden! Und in den Händen solch eines Menschen habt Ihr Euer Tochterkind gelassen, Wurzin? Ich weiß nicht mehr, was ich von Eurem christlichen Sinn halten und von Eurem menschlichen Mitgefühl denken soll!«

Die Alte lachte wieder heiser auf. »Wann ein Dirndl in ei'm Priesterhaus aufwachst, kann es besser b'hüt't sein?«

Sie griff zu ihrem Spaten und langte nach dem breiten Bastkorbe, der neben ihr zwischen den Steinen stand, als wolle sie die Unterhaltung damit beendigen und ihr Gewerbe wieder aufnehmen. Dann aber wandte sie sich plötzlich dem Mönch zu und sagte mit seltsamer Betonung: »Wie's kommen soll, so kommt's halt, hochwürdiger Herr, dabei können Menschen nichts tun. Was gut bleib'n soll, das bleibt gut, auch mitten in Verderbnis und Sünden, und was schlecht werden soll, das rett't kein Mensch davor mit all' sein'm Herzblut. Warum ist mein' Stasi schlecht 'worden? Bei uns im Haus hat sie nie nichts Schlecht's g'sehen, nur alles immer, was gut und recht war. Und hat's wirklich gut g'habt, wie keine and're. Nun, ist eben doch in Schand' 'kommen. Wer kann dawider an? Wann die Filomena gut bleiben soll, kann's der Innerkofler auch nicht schlecht machen mit all' sein' schandbar'n Taten und Gelüsten, darauf verlaßt Euch!«

Sie war aufgestanden und wollte offenbar jetzt davonhumpeln, als Innocenz aus seinen irr durcheinanderwogenden Gedanken heraus sie fragte: »Filomena hat mir einmal berichtet, daß sie einen Bruder habe, den sie aber nicht kenne, weil er schon frühe ins Kloster gekommen sei. Wie soll ich das verstehen? Eure Tochter hatte also zwei Kinder, ohne verheiratet zu sein? Und beide hatten den gleichen Vater, oder –?«

Er sprach nicht zu Ende, denn ein langer, verwundert-trauriger Blick der Greisin war über sein Antlitz hingegangen, und nun kam es, während sie vor sich hinnickte, über ihre Lippen: »Weiß sie das auch schon? Reden die Leut' immer noch davon auf der Lahn? Freilich, freilich, wird schon so sein, wie sie sagen. Zwei Kinder! Und ist doch nie verheirat't g'wesen, die Stasi. Aber der Bub' ist verscholl'n und vergessen auf der Lahn. Weiß nicht einmal, in welch' Kloster sie ihn 'bracht hab'n, und ob er noch lebt. Von sein' Eltern wird er nichts wissen und von sein' alten Ahn' erst recht nichts. Ist halt ein Klosterkind 'worden. Und ist recht so. Sündkinder soll man ins Kloster tun, daß sie nicht wieder Sünd' begehen können, sondern die Sünden der Eltern abbüßen. Hätten die Filomena sollen ins Kloster bringen. Vielleicht geht sie selber 'nein, wenn sie nicht schlecht ist und nicht schlecht werden will, 's best' wär's. – Aber jetzt ist's g'nug geschwätzt, glaub' ich. Muß schauen, daß ich weiterkomm'. B'hüt' Gott! B'hüt' Gott!«

Mit unerwarteter Hast griff sie nach ihren Geräten und machte sich humpelnd davon, wie wenn sie ihm jede weitere Frage abschneiden wolle, oder als ob sie sich mit Schreck eben der langen Zeit erinnert habe, die sie durch zweckloses Geschwätz in ihrem Gewerbe versäumt hatte. Innocenz hätte sie gern aufgehalten, weil ihm noch manches an dem Vernommenen unerklärt geblieben war, aber er wagte es nicht.

»B'hüt' Gott, Wurzin!« rief also auch er, »und auf ein ander Mal!«

Dann ging er in anderer Richtung davon, als sie, deren Spatenklirren er noch eine Weile in der tiefen Stille des Hochgebirges zu vernehmen glaubte, bis es hinter ihm verstummt war und nur noch der Wind in wechselnden Stößen durch die Felsspalten und Steinblöcke pfiff und wehklagte.

Plötzlich wußte er, wohin er gehen sollte. Mitten durch die öde Wildnis schlug er den Weg zum Pfaffensprung ein. Was er an Blumen des Hochlandes unterwegs antraf, das pflückte er. Mit einem großen, wilden Strauß in der Hand kam er bis zu dem eingesunkenen Marterl an der Felsecke, das die Mutter hier für ihren Sohn errichtet hatte, den Priester, der in den Tod gegangen war, weil er ein Weib geliebt hatte. Er legte die Blumen zu den Füßen des Bildstöckels nieder. Und in der ungeheuren, schweigenden Einsamkeit, die ihn hier umgab, gedachte er in heißer Sehnsucht plötzlich Filomenas und kniete nieder, um seine brennende Stirn gegen das Bildstöckel zu lehnen und zu beten. Lange lag er so in schmerzlichem Ringen. Über ihm schlug nur ein Bergfalk beim Aufsteigen Kreise in Kreise, hin und wieder nur seinen gellenden Schrei herabsendend, und aus der dunkel aufgähnenden Tiefe scholl ein dumpfes Geräusch, wie das Murren windzerzauster Nadelkronen oder das Rauschen unterirdisch ihren Weg sich bahnender Wasser. Es war, als lockten geheimnisvolle Stimmen des Abgrunds mahnend und verheißend zu dem betenden Mönche empor.


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