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XIII

Wieder und wieder war Innocenz zu der einsamen Hütte auf der Forcheralm hinaufgeklommen, aber noch immer sprach er zu Filomena nicht davon, wann sie nach Welschland hinabziehen möchten. Und als sie einmal fragte, erwiderte er: »Noch nicht. Erst muß ich über das Höchste, was es für unser Leben gibt, Klarheit haben.« Seitdem kam sie nie mehr darauf zurück.

Und eines Tages traf die Nachricht, nach welcher Innocenz schon seit Tagen mit gespannter Erwartung ausblickte, endlich ein. Es war ein Schreiben des Paters Benedikt, das man ihm von St. Ulrich heraufbrachte, und Innocenz erbrach es mit zitternden Händen. Als er nach Stunden wieder aus der Hütte hervortrat, in die er sich mit dem Briefe zurückgezogen hatte, erschrak der wilde Xaverl über sein Aussehen. Denn Innocenz war wieder so geisterhaft bleich geworden, wie er es während seiner Krankheit nur in den schwersten Tagen gewesen war, und seine Augen blickten in so düsterer Trauer, während sein Mund schmerzlich zuckte, daß man hätte glauben können, die Verzweiflung wohne in ihm. Er gewahrte den Xaverl gar nicht, als er an ihm vorüber ins Gebirge hinaufstieg.

Da rief der Senn ihm warnend nach, er möge sich nicht zu weit fortwagen, das Wetter komme ihm trotz der Klarheit des Himmels nicht mehr geheuer vor, und es liege etwas in der Luft: wenn der Wind jetzt umspringe, könne es schlimm werden. Innocenz winkte grüßend zurück, obgleich er die Worte wohl gehört, nicht aber verstanden hatte, und schritt unbekümmert weiter bergan.

Er hatte wieder den Weg zur Forcheralm am Arzenkopf eingeschlagen, blieb aber, bevor er dieselbe erreichte, noch einmal rastend auf einem Felsblock mitten im wilden Gebirge sitzen und überlas hier das Schreiben, das er heute erhalten und zu sich gesteckt hatte, noch einmal, als könne und wolle er noch immer nicht glauben, daß er dessen Inhalt früher recht verstanden habe.

Pater Benedikt schrieb:

»Daß die furchtbaren Ereignisse, die der Allmächtige hat geschehen lassen, nicht nur auf Dein leibliches, sondern auch auf Dein seelisches Wohlbefinden verheerend eingewirkt haben, viellieber Bruder, kann mich nicht wundernehmen, und ich ersehe es außer aus Deinen Berichten und denen des Pfarrers Antholzer, sowie des Bruders Pius, der noch immer mit der schwer erkrankten Gräfin Theodora Karditsch auf Peutelstein weilt, vor allem aus dem schmerzlich-zerrissenen Ton Deines Briefes an mich und aus den Fragen, die Dich plötzlich zu quälen und zu beschäftigen beginnen. Wir haben hier alle viel für Dich gebetet, geliebter Bruder Innocenz, und beten noch immer. Hoffentlich erlaubt Dir Dein Gesundheitszustand nun in allernächster Zeit die Rückkehr zu uns, unter denen Du sicherlich in Bälde wieder seelisch genesen wirst; für einen Mönch und Jünger unseres großen Heiligen ist es nicht gut, draußen in der Welt allein zu sein. Er gehört zu den Brüdern, von denen er ein Teil ist. Der hochwürdige Abt harrt schon ungeduldig Deines Kommens, aber er möchte Dir in seiner bekannten väterlichen Milde und Güte keinen Heimkehrsbefehl senden, ehe er von Dir selber erfahren hat, daß Du wieder völlig genesen und ganz Herr Deiner Kräfte bist; er meint, daß Du Dich in der herrlichen Luft des Hochgebirges eher kräftigen werdest, als hier bei uns, und daß Dir eine Zeit der stillen Sammlung und Einkehr in der Einsamkeit nach so schrecklichen Erlebnissen wohltun werde. Um deswillen läßt er Dir freie Hand, wartet aber so sehnlich auf Dich, wie wir alle.

Daß die Gräfin durch ruchlose Mörderhand aus dem Leben hat scheiden müssen, ohne vorher der Wohltaten unserer heiligen Religion teilhaftig zu werden, ist nicht genug zu beklagen. Aber Gott hat es so gewollt, und ihm sei Ehre und Preis in aller Ewigkeit! Und wenn dies Opfer gebracht werden mußte, um uns allen und unserer heiligen Kirche Deine Glaubenskraft zu erhalten, geliebter Bruder, so beugen wir uns gewiß in freudiger Ergebung. Warum Du aber nun Deiner Herkunft in so dringlicher Weise nachforschest und mich bei allem, was mir heilig ist, beschwörst, Dir die volle Wahrheit darüber zu sagen, das vermag ich mir nur aus Deinem zerrütteten Seelenzustande zu erklären, welcher von einer Heilung noch weit entfernt ist. Was kümmert es einen Klosterbruder, lieber Innocenz, welcher sterblichen Eltern Kind er gewesen, ehe denn die Kirche ihn in ihren mütterlichen Schoß aufnahm? Ich klage mich selbst an, daß ich durch eine meiner angstvollen Sorge um Dich entflossene Bemerkung, Du seiest ein Kind der Sünde, Deine Neugier geweckt und Dich in Unruhe versetzt habe. Dies hat mir wahrlich fern gelegen. Aber andererseits sehe ich nicht, welchen Schaden es Dir bringen könnte, zu erfahren, woher Du stammst, da doch Deine zeitliche Heimat das Kloster und Deine ewige der Himmel bleibt. Deshalb zögere ich auch nicht, Dir mitzuteilen, daß Deine Vermutung, Du stammtest aus dortiger Gegend, zutrifft, da Du auf der Lahn geboren bist, und zwar von der unvermählten Anastasia Afinger in Moosbrunn. Wer Dein Vater gewesen ist, weiß ich nicht und würde solches Dir zu wissen auch wenig frommen. Deine Mutter ist seit langen Jahren tot, hat aber vorher noch einem zweiten Kinde der Sünde das Leben gegeben, von welchem mir nicht bekanntgeworden, ob es den gleichen Vater gehabt, wie Du, und ob es noch am Leben ist. Der Herr, unser Gott, hat es nicht gewollt, daß Deine Mutter noch lebte, als Du wieder in Deine alte Kinderheimat zurückkamst, wie durch eine wundersame Schickung; denn er wollte nicht, daß Du Dich ihrer hättest schämen müssen –«

Hier brach Innocenz die Lesung des Briefes ab, steckte ihn zusammengefaltet wiederum zu sich und ging weiter bergauf. Die Schläfen brannten ihm, und ein Zucken ging hin und wieder durch sein Herz. Mit düster umwölkter Stirn langte er in der Felswildnis an, welche Filomenas Hütte umschirmte.

Das Mädchen hatte schon seit einer Weile dagestanden und nach ihm ausgeschaut, weil er heute viel später kam als sonst. Dann wollte sie ihm mit einem Freudenschrei entgegenfliegen, weil in ihr alles jubelte, daß er doch erschien, was sie zu hoffen schon fast aufgegeben hatte, gewahrte aber nun seine jäh verwandelten Mienen und blieb, die Hände angstvoll aufs Herz gepreßt, stehen, um ihn zu erwarten.

Stumm bot er ihr beide Hände, dann ließ er sich wieder auf der Bank vor der Hütte neben ihr nieder, wies jede Erquickung, die sie ihm bot, von sich und starrte in die Bergwildnis hinaus. Endlich reichte er ihr schweigend den Brief des Bruders Benedikt. Und Filomena las ihn. Als sie zu Ende war, war auch ihr Antlitz von einer fahlen Blässe bedeckt, und ihre Brust ging unruhig auf und nieder. Ohne ein Wort zu sprechen gab sie ihm den Brief zurück.

Erst nach einer langen Zeit fragte sie leise, ohne ihn anzublicken: »Das war's, weshalb du noch hier bleiben wolltest, und darauf wartetest du?«

»Das war's,« entgegnete er nickend.

»Du glaubtest es schon immer, Innocenz.«

»Ich fürchtete es, Filomena.«

Wieder trat eine Pause ein. Dann fragte Filomena mit müder, trauriger Stimme: »Was soll nun werden?«

Er zögerte eine Zeitlang mit der Antwort, sagte aber endlich ganz ruhig: »Wir bleiben doch zusammen – wenn du willst.«

Ein Zittern überflog sie sekundenlang, doch ihre Stimme klang jetzt ganz fest: »Ich will.«

Ihre Hand hatte sich in die seine geschmiegt, und so hielten sie sich und blickten, Schulter an Schulter, lange schweigend in die Felseneinsamkeit hinaus, und nichts um sie war hörbar, als das unheimliche Rauschen der unterirdischen Wasser und einmal der Schrei eines Bergadlers, der so dicht über ihnen erklang, daß sie erschrocken zusammenfuhren. Unwillkürlich waren sich ihre Augen dabei begegnet, und die seinen hafteten mit einem angstvoll-forschenden, fast entsetzten Ausdruck auf ihr, um rasch wieder abzugleiten.

Sie aber war in ihre Versonnenheit zurückgefallen und, den linken Arm leicht auf seine Schulter lehnend, den Kopf daran gepreßt und die Augen geschlossen, als wenn sie schliefe, murmelte sie vor sich hin: »Mir war's damals gleich, als ich dich zum ersten Male sah, du wärest mein Bruder, Innocenz, den ich nie im Leben gesehen, an den ich aber immer und immer gedacht hatte, und nach dem ich mich so oft sehnte. Später freilich wünschte und hoffte ich, es wäre nicht so. Ich glaubte nicht mehr daran. Ich hatte dich ja so lieb, Innocenz, so lieb. Aber weil du ein Mönch warst, sagte ich mir auch, es sei besser, du wärest mein Bruder, damit keinerlei sündhafte Wünsche in mir wach werden könnten. Dennoch wurden sie wach. Ich konnte nicht anders. Ich habe so viel gebetet, Innocenz, so viel. Aber die heilige Jungfrau hat meine Liebe nicht von mir nehmen wollen, auch hier in der Einsamkeit nicht, wo doch sonst alles so viel stiller und friedsamer in mir geworden ist. Und jetzt kann ich nicht mehr beten, jetzt nicht mehr.«

Ihre Stimme klang leiser und leiser, allmählich erstarb sie ganz im Weinen. Innocenz sprach kein Wort, er schlang den Arm nicht um sie, und er rührte sich nicht. Düsterer und düsterer starrte er vor sich hin. Filomena weinte sich an seiner Schulter aus.

Darüber war die Zeit hingeronnen, und sie hatten es beide in ihrer Versunkenheit nicht wahrgenommen, daß der schmale Himmelsstrich über dem felsigen Engtal von dunklem Gewölk überbraut worden war und die Nacht vorzeitig hereinzubrechen schien. Plötzlich wurden sie von einem furchtbaren Donnerschlag, der die Bergwände fast bersten ließ, aufgeschreckt. Fassungslos und verwirrt blickten sie einander an, während das Echo des gewaltigen Krachens fort und fort sie betäubend umdröhnte. Nun sahen sie auch, daß es beinahe finster geworden war um sie her, nun hörten sie das Gurgeln und Rauschen der Wasser lauter und unheilkündender zu ihnen herüberhallen. Dann ein jäh züngelnder Blitz, der das düstere Wolkengeschwader zischend zerriß, wieder ein mächtiger Donnerschlag, dem ein Knattern, Brechen und Kollern im Gefelse folgte, als rissen sich irgendwo gewaltige Trümmer los, die Verderben bereitend die Tiefe erfüllen und überdecken wollten. Und nun goß ein heftiger, mit Hagelkörnern untermischter Regen nieder. Unwillkürlich waren die beiden unter das schützende Vordach der Hütte getreten. Aber auch bis dorthin peitschte der Regen, und jetzt fielen immer größere Schloßen nieder, immer rascher folgten sich Blitz und Donner, und schauerlich heulte dazwischen in langgezogenen, winselnden Tönen der Wind durch die Enge der Felsschlucht.

»Komm herein!« sagte Filomena erbebend, »das ist ein furchtbares Unwetter.«

Sie hatte unwillkürlich die Hände dabei gefaltet, und unter dem Flammenschein des nächsten Blitzes gewahrte Innocenz, daß ihr Antlitz todesbleich und die dunklen Augen mit einem Ausdruck schreckhaften Bangens darin standen. Dann folgte er ihr stumm in das Innere der Hütte. Hier war es ganz dunkel, und sie wollte Licht anzünden. Aber er bat: »Laß! Die Blitze leuchten.«

Dann saßen sie zusammen an dem kleinen Fenster, gegen das der Regen schlug und die Schloßen klapperten, und immer wieder in kurzen Zwischenräumen tauchten die Blitze das Innere der Hütte plötzlich in taghellen Schein, und wenn der Donnerschlag niederkrachte, war's, als bebe der Felsboden unter ihren Füßen und drohe die Hütte in einen aufgähnenden Spalt hinabzureißen. Furchtbar dröhnte das Unwetter in der Felsöde. Immer von neuem erscholl das Brechen und Knattern stürzender Steinblöcke, immer gewaltiger krachte es in den Gletscherfurchen, die sich spalteten, immer wilder tobten die reißenden Wasser. Plötzlich verstummte der Donner. Nun aber blieb es ganz nächtig finster, der Sturm raste um die Hütte, als ob er sie mit sich davonführen wollte, vom Schindeldach polterte ein Stein nieder, und unaufhörlich goß der Regen. Man konnte in dem rastlosen Strömen und Rinnen draußen nicht mehr unterscheiden, was davon die Wasser des Himmels und was die der Erde verursachten.

Die beiden hatten sich eng aneinandergeschmiegt in dem instinktiven Verlangen, gemeinsam einer sie umdrohenden Gefahr zu trotzen oder sich wechselseitig Mut einzusprechen, sich durch ihre Nähe zu beruhigen. Filomenas Haupt lag endlich an Innocenz' Brust, und sie ruhte weltvergessen hier, während der furchtbare Aufruhr der Elemente die einsame Hütte umtobte. Auch als der krachende Donnerhall schwieg, der bis dahin alles Sprechen fast unmöglich gemacht hatte, redeten sie nichts. Erst nach langer Zeit sagte Innocenz einmal, wie in auftauchender Angst: »Ich muß nun gehen!«

Aber sie erwiderte, ohne die Augen zu ihm aufzuheben oder auch nur zu öffnen, in halbem Traum, wie betäubt: »Nein, du kannst nicht gehen. Unmöglich! Bleib!«

Dann blieb er. Aber die Stunden verrannen, und es war nun wirklich Nacht geworden, nicht mehr nur die Nacht des Unwetters, und immer noch goß der Regen nieder und heulte in wehklagenden Tönen der Sturm durch die Felsschlucht. Dazwischen scholl das Gepolter der abrollenden Steinbrocken, das Krachen im Eise, das Rauschen der Wildwasser fort und fort.

Innocenz war trotz alledem aufgestanden und vor die Tür hinausgetreten, um in die schaurige Nacht zu blicken. Er wußte selber, daß sein Weg bis zur Anderetalp jetzt ein in hohem Grade gefahrvoller sei, daß er leicht zu einem Todeswege werden könne. Wenn er ihn in der Dunkelheit überhaupt fand, würde er von Felstrümmern überstreut, von den stürzenden Wassern verschwemmt sein, und jeder neu herabrollende Steinblock konnte ihn töten, die niederdonnernde Flut ihn mit fortreißen. Dennoch wollte er gehen, dennoch konnte er nicht bleiben.

Filomena war ihm gefolgt, sie erriet die in ihm wogenden Gedanken, ohne daß nur ein Wort davon über ihre Lippen gekommen wäre, ohne daß er ihr mit einem Blick oder einer Bewegung geoffenbart hätte, daß er gehen wolle. Sie schlang ihm die beiden Arme von rückwärts her um den Nacken, schmiegte ihre Stirn an ihn und sagte: »Nein, nein, geh' nicht, du darfst nicht! Es wäre dein Tod. Und ich hielte es nicht aus, Innocenz.«

»Muß ich nicht?« fragte er leise in den niederrauschenden Regen hinaus.

»Nein! Oder ich gehe mit dir!«

»Du?« Er wandte sich verwirrt nach ihr um.

»Zweifelst du daran? Meinst du, ich könnte dich gehen lassen und allein hier in der Hütte zurückbleiben?«

»Was soll ich also tun?« Seine Augen hingen an den ihren, wie in scheuer, hilfloser Frage.

»Bleib!« kam es von ihren Lippen wie ein Hauch.

Da wandte er sich langsam, und ihre Arme ineinanderschlingend kehrten sie in die Hütte zurück. Nun zündete sie dort Licht an und trug von ihren bescheidenen Vorräten auf, was ihr Schrank barg. Sie aßen beide.

Als sie zu Ende waren – draußen rieselte noch immer der Regen –, blieben sie stumm beieinander sitzen. Manchmal horchten sie in das wilde Toben der Elemente hinaus, dann aber wurde Filomena müde, und ihr Kopf sank nieder gegen Innocenz' Brust. Das gleichmäßige Geräusch der fallenden Wasser draußen schläferte sie ein, ihre Augen schlossen sich allmählich. Ein friedsames, glückseliges Lächeln umspielte ihre halb offenen Lippen im Schlafe.

Unablässig heulte der Sturm und floß der Regen. Das Licht brannte nieder und erlosch. Nun war es ganz finster in der Hütte. Da hob Innocenz behutsam die Schlummernde auf und trug sie auf ihr Lager. –

Filomena war noch nicht erwacht, als Innocenz in den grauen Morgen hinaustrat. Sein Gesicht war sehr bleich, aber eine finstere Entschlossenheit lag darin ausgeprägt. Er griff nach seinem Alpenstocke, den er auf all seinen Wanderungen durchs Gebirg zu benutzen pflegte, und der von gestern her noch an der Außenwand der Hütte lehnte; der wilde Xaverl hatte ihn geschnitten. Dann schritt er, ohne von der Schlafenden Abschied genommen zu haben, rüstigen Ganges talab.

Der Regen rieselte jetzt nur noch leise hernieder, aber die Berge waren rundum in dicke, graue Wolken gehüllt, die sich träge und schwerfällig an ihnen entlangschoben, und dichte Nebel durchwogten die Felsschluchten. Der Wind schwieg. Die Luft war schwer, und man fühlte, es werde noch viel Regen niedergehen. Die Berghalden waren dicht mit Felsbrocken überstreut. Manchmal mußte Innocenz sie überklettern, um nur weiterzukommen.

Überhaupt war der Weg völlig zerstört, und er hatte Mühe, sich zurechtzufinden und die Richtung einzuhalten, die er einschlagen wollte, – nicht nach der Anderetalp, sondern nach Moosbrunn hinab. Tiefe Rinnsale hatten die stürzenden Wasser in den steinigen Boden gerissen, und von allen Seiten her rauschten und drängten sie mit flutendem Gewoge um die Felssteige. Es war, als seien in dieser Bergwelt, die sonst so tot dalag, plötzlich alle Stimmen der Wasser entfesselt worden, die bis dahin in geheimnisvoller Tiefe lautlos geronnen waren, gleich den stygischen Fluten. Von allen Felsenhängen stürzte es sich schäumend nieder, in allen Runsen strudelte es, über alle Mulden schoß es dahin. Alle Gletscherfelder sandten zahllose, rieselnde Bäche zu Tal, und aus allen Schneehängen stäubten und rannen sie niederwärts.

Innocenz hatte auf das alles wenig acht. Er ging durch diese verwandelte Welt hin wie ein Fremder. Seine Seele war erfüllt von Furchtbarem, und manchmal schüttelte ihn ein Grauen. Dann aber klang es immer wieder in ihm auf: »Es kann nicht sein, wie könnte diese Liebe geworden und gewachsen sein, wenn sie wider die Natur wäre? Es ist alles Lüge, es muß alles Lüge sein – alles. Wir sind nicht eines Blutes.«

Manchmal scholl freilich auch eine andere Stimme höhnisch dazwischen, welche fragte: »Und war die Liebe des Priesters, der die Weihen empfangen, zu diesem Mädchen nicht auch eine Sünde, solange er noch Priester war? Und doch ist sie geworden und gewachsen!« Aber wieder gab er sich dann in titanischem Trotz, der sich in seinem Innern aufbäumte, zur Antwort: »Diese Liebe war keine Sünde, weil es wider die Natur ist, daß der Priester nicht auch fühlen und denken, sehnen und verlangen soll wie ein Mann; weil auch der Priester allezeit ein Mensch bleibt trotz seiner Weihen, und weil alles Lüge und Betrug ist, was sie sagen von der Kraft des Glaubens, die da feien soll gegen das, was menschlich in ihm ist, – ab ob es Gott wohlgefällig und sein Wille sein könnte, dies Beste, Edelste und Köstlichste im Menschenleben zu unterdrücken und abzutöten! Nein, das war sein Wille nicht, konnte nicht der Wille eines Schaffenden seinen Geschöpfen gegenüber sein. Weshalb also wäre die Liebe zu einem Weibe für den Priester wider die Natur, weshalb Sünde gewesen? Und nun sollte diese Liebe, die entstanden war unter der Einwirkung aller reinsten und frommsten Gefühle, die je seine Brust durchwogt und ihn still und gut und friedvoll gemacht hatten, ein Verbrechen werden wider heiliges und unwandelbares Gesetz der Natur? Unmöglich! Unmöglich!«

Und immer wilder bäumte der Widerstand in ihm sich auf. »Und wenn wir selbst der gleichen Mutter Kinder wären,« dachte er weiter, »beweist nicht dann das Entstehen unserer Liebe, die doch ohne unser Wissen und Wollen aus geheimsten Tiefen der Natur und unter ihrem unwiderstehlichen Zwange heraufwuchs, daß diese Liebe nichts Widernatürliches, nichts Verbrecherisches ist und sein kann; daß wir, wenn wir ahnungslos geblieben wären, wie wir es gewesen, glücklich in ihr hätten werden können und sollen? Und nur weil wir wissen, daß eine Mutter uns geboren, sollte unsühnbarer, verabscheuungswürdiger Frevel sein, was für die Unwissenden Glück gewesen wäre? Nur deshalb graut uns davor? Und doch lehrt man uns schon in unseren Kinderjahren aus den Berichten der Heiligen Schrift, die für uns lebenslang unverbrüchliche, ewige Wahrheit enthalten soll, daß wir alle von einem einzigen, ersten Menschenpaare abstammen. Weshalb ist, was im Kindesalter der Menschheit heilig und erlaubt war, und wovon wir mit frommer Ehrfurcht uns berichten lassen, was seither in den Jahrtausenden der Menschheit auch bei anderen Naturvölkern gestattet, ja in dem altägyptischen Herrschergeschlecht sogar geboten war, wenn die Geschichtschreiber uns recht belehren, – weshalb ist es heute ein Vergehen wider die Natur?«

Er wußte keine Antwort auf all seine grübelnden Fragen. Aber er konnte auch in all seinem Trotz und in all seiner stürmischen Widerstandsgier dieses Grauens nicht Herr werden, das in seiner Seele wohnte. Und trotzdem er sich wieder und immer wieder zurief, es sei nicht möglich, wollte doch kein Friede bei ihm einkehren, und keine Zuversicht sein Herz ruhiger schlagen machen. So schritt er mit verdüsterter Stirn, wie ein hoffnungsloser, gebrochener Mann talab.

Endlich war er in Moosbrunn. Er fragte im ersten Hause, das er erreichte, nach der Wohnung der alten Crescentia Afinger und achtete nicht darauf, daß die Leute ihn verwundert und erschreckt anstarrten, wie er mit seinem wilden Bart, seinem wuchernden Haupthaar, in der verwahrlosten, von den Unbilden des Wetters und der Talwanderung arg mitgenommenen Gewandung vor ihnen stand, blaß und finster blickend, wie wenn er aus einer Welt der Schrecken und des Unheils zu ihnen herniedergestiegen wäre. Manche erkannten ihn gar nicht, einige schlugen ein Kreuz, als er vorüberkam, als ob ihnen ein böser Geist erschienen wäre; die alte, welsche Obsthändlerin, die auf ihrer Türschwelle kauerte, machte erschrocken das Schutzzeichen gegen den bösen Blick, als sie ihn gewahrte. So kam er an die Hütte der Wurzin.

Er fand sie in einem dunklen, niedrigen Gelaß, das ihr als Herdraum und Schlafkammer diente, wie sie in einem Kessel sich ihre Suppe rührte. Grauer, beizender Rauch umwallte sie dabei, weil die schwere Luft zum Rauchfang hereindrückte und das offene Feuer nicht in heller Flamme aufschlagen ließ. Hustend und scheltend hantierte sie mit ihrer Holzkelle umher. Es währte einige Zeit, bis Innocenz sich ihr bemerkbar machen konnte und sie ihn in dem Rauch, der ihr in die Augen biß, erkannte. Auch mußte er heute sehr laut sprechen, weil ihr Gehör bei der feuchtkalten Witterung noch schlechter war als sonst.

»Was wollt Ihr?« rief sie ihn mißtrauisch und abweisend zugleich an; »wegen der Filomena kommt Ihr? Hab' ich's Euch noch nicht oft g'nug g'sagt, daß mich das Wechselbalg nicht schert? Und wo sie ist, weiß ich auch heut noch nicht. Fragt den Meßner danach!«

»Hört mich nur in Ruhe an!« fiel Innocenz, ungeduldig mit der Hand ihre Schulter berührend, ein, »ich rede jetzt nicht von dem Mädchen. Ich habe aber eine ernste Frage an Euch zu richten, von der das Wohl und Wehe zweier Menschen abhängt. Darum beschwör' ich Euch vor allen Dingen: sagt mir die Wahrheit, die volle Wahrheit, als ob Ihr vor Eurem Gott redetet!«

Seine Stimme klang so mahnend und feierlich, daß die Alte ihn jetzt betroffen anstarrte. Auch aus seinen verstörten Mienen und aus dem düsteren Blick seiner Augen mochte sie entnehmen, daß es sich hier um bedeutsame Dinge handle. Sie warf brummend ihre Kelle hin, hob den Kessel vom Feuer, trocknete sich die Hände an ihrer Schürze ab und fragte, ihm einen Holzschemel heranrückend:

»Was wollt Ihr also? Macht's kurz!«

»Das will ich,« sagte Innocenz. »Ihr habt mir seinerzeit erzählt und damit bestätigt, was ich von Filomena gehört hatte, daß Eure Tochter Anastasia nicht nur dieses eine Kind – Eure von Euch nicht anerkannte Enkelin –, sondern auch noch einen Sohn hatte. Ist das wahr?«

Der Alten war diese Frage, die er an sie richtete, wie überhaupt das Gespräch, auf das sie hindeutete, sichtlich unangenehm. Sie schien erst gar nicht antworten zu wollen. Endlich brummte sie: »Denk' wohl. Hättet um deswillen nicht zu mir kommen brauchen. Gibt noch mehr Leut' auf der Lahn, die davon wissen, mein' ich. Hätt' sie gern begraben, die alten G'schichten.«

»Nein,« fiel er mit ernster Bestimmtheit ein, »sie sind nicht zu begraben, sie sind heute lebendiger als je und ragen in die Wirklichkeit unserer Tage mahnend und drohend herein.« Das verstand sie offenbar nicht. Er aber fragte weiter: »Was ist aus diesem Sohne Eurer Tochter geworden?«

»Ins Kloster haben sie ihn g'holt.«

»Wer hat ihn dorthin geholt?«

»Ist halt ein Klosterbruder 'kommen – aus dem Kärntnischen, sagen sie ja –, der hat g'meint, das Büberl hätt' kein' Vater und kein' Mutter mehr – denn die Stasi ist ja damals auch nicht mehr am Leben g'west –, da wär's gut, wenn man ihn ins Kloster brächt', wo er zeitlebens wohl aufg'hoben wär' und auch noch für die Sünden von Vater und Mutter beten könnt', damit ihre Seelen nicht gar so lang' brennen müßten. Nun, alle Welt ist z'frieden g'west, und fort'bracht ist er word'n.«

»Und Ihr habt nie wieder von ihm gehört, Wurzin?«

»Nie wieder. Hab' halt andres z' tun und z' denk'n g'habt.«

»Wie hieß jener Sohn Eurer Tochter?«

»Hat Innocentius g'heiß'n, g'rad wie mein Sohn selig!«

»Und« – das Antlitz des Sprechers war noch fahler, seine Augen waren noch düsterer geworden – »wer war der Vater dieses Sohnes?«

Die Wurzin zuckte die Achseln. »Was kümmert das mich? Weiß nichts mehr, will nichts mehr wissen von dem allen.« Sie machte eine zornig abwehrende Bewegung, als ob sie nun das Gespräch abbrechen wolle, als ob sie froh sein würde, wenn er sie jetzt verließe.

Aber Innocenz blieb. Er trat ganz dicht vor sie hin, seine Augen flammten, als er wiederholte: »Wurzin, wer war der Vater dieses Sohnes?«

»Weiß nicht,« murrte sie, ohne seinen Blick aushalten zu können.

»Ihr wißt es! Schwört mir's, wenn Ihr's nicht wißt!« Sie schwieg.

»Wurzin,« sagte er wieder, und seine Finger umklammerten ihre Handgelenke, »war jener Knabe Innocentius, den sie ins Kloster geholt haben, wirklich der Sohn Eurer Tochter Anastasia?«

»Sie hat's ja selbst g'sagt. Fragt die Leut', die es noch erlebt haben, ob sie's nicht g'sagt hat. Damals ist sie auf der Bacherlalp als Sennerin g'west und war ganz allein durch fast fünf Monat'. Und als sie heimg'kommen ist, hat sie das Büberl g'habt und hat g'sagt, ihr g'hört's und kei'm andren. Fragt doch herum auf der Lahn, ob's anders g'west ist, fragt doch herum!«

Sie befreite ungeduldig ihre Arme aus seinen Händen, riß sich scheltend los und wollte sich wieder am Herde zu tun machen. Innocenz hatte einen tiefen Atemzug getan. Es war, als sei ein eisernes Band zersprengt worden, das bis dahin seine Brust umspannt gehalten. »Wurzin,« sagte er in weicherem Ton als vorher, »ich will nicht wissen, was die Leute glauben und will auch nicht wissen, was die Anastasia gesagt hat, ich will einzig und allein die Wahrheit wissen. Das ist nicht das gleiche. Und Ihr wißt die Wahrheit. Wessen Sohn war jener Knabe?«

»Ich sag's nicht!« schrie die Alte jetzt plötzlich in heller Wut, die beiden geballten Fäuste drohend gegen ihn in die Luft gereckt, »ich sag's halt einmal nicht, und wenn ich's auch wüßt'. Will doch einmal sehen, ob Ihr mich zwingen könnt, – will's doch einmal seh'n! Die Stasi hat das Büberl als ihren Sohn bei sich g'habt, und warum hätt' sie sich in die Schand' bringen sollen, wenn's nicht so g'west wär'? Um nichts tut das keine, mein' ich. Und nun gar die Stasi! Warum hat das bildsaubere Dirndl denn damals keinen g'funden, der sie zum Weib g'nommen hat, wo wir doch noch in guten Umständen g'west sind obenein und den Hof g'habt haben? Bloß wegen der Schand' nicht. Und weshalb ist nachher einer 'kommen, so ein windiger Welscher und hat die Ehr' g'stohlen und hat sie dann noch im Stich g'lassen, als das Würmerl, die Filomena, ist auf die Welt g'bracht worden? Ja, z'weg'n dem Bub'n ist all das Unglück 'kommen, die Schand' und der Tod. Und der Bub' sollt nicht wirklich ihr Bub' g'west sein? Wär' doch wunderlich, Hochwürden, wär' doch wunderlich!«

Ein wilder, verbissener Ingrimm hallte aus ihren Worten; aber gerade um deswillen blickten Innocenz' Augen immer hoffnungsfreudiger und immer zuversichtlicher vor sich hin. »Crescentia Afinger,« sagte er, »könnt Ihr mir schwören, daß jener Bube Euer Enkelsohn war?«

Da blitzte ein seltsames Leuchten in den Augen der Greisin auf. »Wohl, wohl, das kann ich Euch schwören, Hochwürden,« murmelte sie, »das kann ich Euch schwören.«

Ein beinahe listiges Lächeln spielte dabei um ihre welken, eingefallenen Lippen. Innocenz aber atmete plötzlich so erleichtert auf, als ob eine Bergeslast sich von seiner Brust gewälzt hätte. Seine Augen flammten. »Ah!« machte er, »das also ist's – das! Jetzt begreif' ich alles. Gott im Himmel sei gelobt!«

Er warf sich, als wenn seine Kräfte ihn plötzlich verließen, auf den Holzstuhl nieder und legte die beiden Hände eine Weile vor die Augen, wie um eine Blendung von ihnen abzuwehren. Sein Antlitz erschien, als er es frei wieder aufhob, friedvoll und klar, wie wenn jetzt eine tiefe Ruhe über ihn gekommen wäre. »Wurzin,« sagte er, während sie ihn argwöhnisch-erstaunt betrachtete, und ergriff eine ihrer braunen, verrunzelten Hände mit warmem Druck, »ich verstehe Euch, – jetzt versteh' ich Euch. Jener Knabe, den Eure Tochter Anastasia als ihren Sohn von der Alm mit herabbrachte und dann bei sich behielt, ist zwar Euer Enkelsohn gewesen, – das durftet Ihr mir zuschwören, wie ich's verlange, – aber Eurer Tochter Sohn war er deshalb doch nicht. Das war's – das wolltet Ihr mir verheimlichen. Ihr wolltet den Vater dieses Kindes schonen, – weil er ein Priester war und Euer Sohn!«

Die Greisin stieß einen halb überraschten, halb zornigen Schrei aus und erhob abwehrend ihre beiden Hände. »Woher wollt Ihr das wissen?« kreischte sie auf. »Nicht wahr ist's – nicht wahr!«

Innocenz blieb ganz ruhig. »Versündigt Euch nicht,« sagte er milden Tones, »es ist wahr, – muß wahr sein. Euch bindet Eure Liebe zu dem toten Sohn, auf den Ihr keinen Makel wollt fallen lassen, weil Ihr ihn vor allen Euren Kindern geliebt habt und am stolzesten auf ihn waret, – vielleicht auch ein heiliges Versprechen oder ein Gelöbnis. Ihr braucht Euch dessen auch nicht zu schämen, vielmehr macht es Eurem Herzen Ehre. Aber mir braucht Ihr die Wahrheit nicht vorzuenthalten, mir dürft Ihr sie nicht vorenthalten, Crescentia Afinger. Denn ich – ich bin der Sohn Eures Sohnes!«

Einen Augenblick sah es aus, als wollte es die Greisin zu Boden werfen, sie taumelte, sie hielt sich mit beiden Händen am Herde fest. Dabei blieb ihr Mund offen stehen, und sie stierte den Sprecher mit großen, schreckhaften Augen an. »Ihr?« stieß sie heraus. »Ihr? Heiliger Gott, hab' ich's nicht gedacht? Wie ein Blitz ist mir's gleich in den Kopf g'fahren, als ich Euch damals g'sehen hab'. Wißt Ihr's noch? G'rad', als Ihr auf die Lahn kamt. Und der erste Mensch bin ich g'wesen, der Euch hier b'gegnet hat in unsere Berg', ist's nicht so? Und hab' Euch selber hier heraufführen müssen. Gott im Himmel droben, hab' ich g'dacht, sieht der mein' Cenzerl ähnlich, so ein' Ähnlichkeit ist ja noch gar nicht dag'wesen, Zug um Zug, und die Augen g'rad' so und die Stimm' auch. Grundgütiger Heiland! Ja, ist denn das möglich? Ist denn das möglich?«

»Es ist schon so, – Großmutter!« sagte er mit leisem Lächeln, ergriff ihre beiden Hände und drückte sie. Dann wurde er wieder ernst und fuhr fort: »Seht, schon um deswillen mußt' ich die Wahrheit wissen, nicht wahr? Denn vom Kloster haben sie mir auch geschrieben, ich sei der Sohn Eurer Tochter Anastasia, und das wollt' und konnt' ich nicht glauben. Und wenn es wahr gewesen wäre, so hätte furchtbares Unheil daraus entstehen können. Man darf mit der Wahrheit kein leichtfertiges Spiel treiben, auch um vermeintlich guter Zwecke willen nicht, Großmutter! Seht, Filomena und ich, wir haben uns lieb. Und da ich kein Mönch und kein Priester mehr sein kann, mehr sein will, wollen wir Mann und Weib werden. Und nun denkt, wie es sein würde, wenn wir glauben müßten, wir wären einer Mutter Kinder!«

»Heiliger Gott!« stöhnte die Greisin auf, den Sprecher mit angstvollem Entsetzen anstarrend. »Ihr und die Filomena? Aber der Rock, den Ihr tragt –! Großmächtige Jungfrau, der Rock! Und Ihr wißt ja doch, wie mein Cenzerl geend't hat! Ein geistlicher Herr seid Ihr und sprecht davon, daß die Filomena Euer Weib werden soll! Du allgütige Vorsehung!«

Sie war wie in einer Anwandlung von Ohnmacht auf den Schemel gesunken, von dem Innocenz vor einer Weile aufgestanden war, und legte den Arm vor die Augen, als ob sie nichts mehr hören oder sehen wollte. Sie war wie gebrochen, und ihr Kopf wackelte haltlos hin und her.

»Seid ruhig,« sprach ihr Innocenz mit warmem Ton zu, »mein Vater hat ja nicht in so grausiger Art geendet, weil er ein Weib lieb hatte, trotzdem er den Priesterrock trug, sondern nur, weil dies Weib ihm nicht folgen wollte, als er mit ihr in die weite Welt hinauszuziehen gedachte. Filomena aber will mir folgen. Und diesen Rock werf' ich von mir ab. Mir ist das gleiche Los geworden, wie meinem Vater, Großmutter, aber ich soll glücklicher werden, als er gewesen ist. Er kannte keine andere Rettung mehr für sich als den Sprung in die Tiefe, – vor mir aber liegt das Leben!«

Sie konnte das und anderes, was er mit leuchtenden Augen zu ihr redete, offenbar nicht fassen, sich überhaupt in all das Neue und Ungeheure, was hier jählings auf sie einstürmte, nicht finden. Ihr Kopf ging hin und her, und sie griff sich immer wieder mit den Händen danach, als wollte sie ihn halten. Innocenz aber sagte nach einer Weile: »Und nun müßt Ihr mir alles erzählen, Großmutter. Wie kam's, daß Eure Tochter Anastasia das Kind, das doch nicht ihr Kind war, dafür ausgab und sich selber die Schande einer anderen auflud? Das war ein seltsames und verhängnisvolles Tun!«

Die Wurzin nickte rastlos vor sich hin. »Wohl, wohl, Ihr habt ganz recht. Und ganz recht habt Ihr auch darin, daß ich g'lobt hab', nie davon zu reden. Hab's auch bei Gott dem Allmächtigen nie getan. Und alle Welt hat 'glaubt, der kleine Cenzerl wär' der Stasi ihr Bub'. Ist aber nicht so g'west. Auf der Bacherlalm hat eine andere bei ihr g'wohnt, von der kein Mensch nichts g'wußt hat, und die ist die Mutter g'wesen. Und weil der Cenzerl, mein Sohn, der Vater war und hat doch den Priesterrock g'trag'n, hat er die Stasi ang'fleht, bei Gott und bei all'n Heiligen, sie möcht' aussagen, das Kind wär' ihr Kind, und möcht' ganz stillschweigen von der anderen. Und die andere hat sie auch b'schworen, so zu tun, und hat ihr viel Geld g'boten, viel Geld, wenn's g'schehen würd', – 's Geld hat die Stasi nicht g'nommen, aber g'schwieg'n hat's bis an ihr Lebensend', obgleich's gar so ein groß' Unglück für sie g'west ist, und hat zu keiner Menschenseel' je davon g'sprochen als bloß zu mir, und ich hab's ihr in die Hand versprechen müssen, nie ein Wörtel davon zu reden. Hab's ja auch nicht 'tan, so sehr mich's oft g'wurmt hat. Glaubt ja heut noch alle Welt, daß die Stasi die Mutter war, und von der wirklichen Mutter ahnt kein Mensch nichts. Und die Stasi hat's halt dem Cenzerl zu Lieb' tan, weil sie den gar so gern g'habt hat und ihm nichts hat abschlagen können; – wir haben ihn halt alle so gern g'habt. Herr du mein Gott, war das ein Mann, der Cenzerl! Der hätt' uns all' um den Finger g'wickelt, so lieb und gut und treu, wie er war. Aber für die Stasi ist's halt doch gar schrecklich g'wesen, daß sie das Opfer so stillschweigends g'bracht hat. Denn alle Welt hat sie ja veracht't deswegen, und sie war doch ganz unschuldig und rein, und kein Mann hat sie mehr zum Weibe haben wollen. Da hat sie denn manchmal freilich bitter g'weint und, als der Cenzerl tot war, hat sie g'dacht, die wahre Mutter könnt' nun wohl den Zwang von ihr nehmen und könnt' sich zu dem Bub'n bekennen. Ja, du lieber Gott! Die hat sich nimmer sehen lassen. Und einmal hat ein braver Bursch, der die Stasi gern g'habt hat, sie g'fragt, ob's denn wahr und wirklich ihr Kind wär', das sie da bei sich hätt', er könnt's nimmer glauben. Und da hat sie ja wohl sagen müssen: doch, es wär' ihr Kind; und er hat sie da nicht mehr zum Weibe haben wollen. Und schließlich hat der Welsche, der in der Kirchen drüben die neue Kanzel und das G'stühl 'zimmert hat, – ein bildsaubrer Bursch ist's g'wesen, das muß wahr sein, und g'schickt war er auch mit den Händen, – der Matteo hat er g'heißen, er hat 'dacht: so eine, die schon ein Kind hat und kein' Vater dazu, so eine kannst schon haben, wenn sie auch nicht heiraten willst, das ist jetzt kein' Sünd' mehr. Und richtig ist's so 'worden. Die Stasi hat ihm 'glaubt, daß sie einmal sein Weib werden sollt', und nachher ist er auf und davon und hat nimmer von sich hören lassen. Da ist sie ihm nachg'laufen ins Welschland, du lieber Gott, und hat's Kind unter'm Herzen g'habt und hat g'meint, sie find't ihn schon, und er wird sie schon wieder ehrlich machen wegen sein' Kind. Wohl, wohl. Sie hat ihn nicht g'funden und ist wieder 'kommen und hat's Dirndl bei sich g'habt und ist siech und tod'selend g'west und war am besten, daß sie g'storben ist. Und dann ist der klein' Cenzerl ins Kloster g'holt word'n – wird die Mutter so ang'ordnet hab'n, denk' ich mir halt –, und das Dirndl ist zum Meßner 'kommen. War aber das Unglück, daß die Stasi sich als Mutter von dem Büberl aus'geben hat, war ihr ganzes Unglück. Von da hat's ang'fangen. Nun, verlohn' ihr's Gott! Ich mein' halt, eine gute Tat war's halt doch, wenn sie's auch lieber nicht hätt' tun sollen – lieber nicht.«

Die Alte kauerte sich jetzt wie fröstelnd zusammen und nickte mit ruhelos sich bewegenden Lippen, als wollte sie immer wieder ihre letzten Worte vor sich selber bestätigen. Innocenz hatte mit auf dem Rücken zusammengelegten Händen und gesenktem Kopf ein paarmal das Gelaß in der Länge und in der Breite durchmessen. Die Gedanken gingen noch immer stürmisch in ihm um, und er war tief bewegt. Endlich blieb er vor der Alten stehen und fragte, während der Atem nur gepreßt aus seiner Brust kam: »Weshalb sagt Ihr mir nicht auch das Letzte jetzt noch?«

Sie schien ihn nicht zu verstehen oder wollte es nicht. »Was soll ich noch sagen?« murmelte sie.

»Ihr habt mir noch nicht gesagt, wer – meine Mutter war.«

Die Wurzin schlug ein Kreuz und murmelte Unverständliches. Dann schüttelte sie den Kopf. »Ich hab's g'lobt, es nie zu sag'n – nie im Leben. Fragt mich nicht!«

»Ihr wißt es also doch?«

»Könnt's nicht b'schwören, aber ich denk' halt, ich weiß es; die und kein' andere.«

»Und Ihr wollt mir nicht sagen, wo ich meine Mutter zu suchen habe?«

Die Alte gab keine Antwort, sondern schüttelte in sichtlichen Zweifeln heftig den Kopf.

»Großmutter,« fragte Innocenz, »weshalb habt Ihr mich gewarnt damals, als Ihr mich mit der Gräfin Karditsch zusammen angetroffen hattet? Weshalb sagtet Ihr mir damals, von Schloß Peutelstein her käme allezeit Unheil über meinesgleichen?«

»Ist so, ist richtig so wahr,« murmelte die Alte.

»Find' ich meine Mutter im Schlosse Peutelstein, Großmutter?«

»Heiliger Gott im Himmel! Wie Ihr redet! Ich hab's nicht g'sagt, ich weiß nichts von dem. Geht hin und fragt sie selber!«

»Das will ich.«

Es war in kurz entschlossenem Tone gesprochen, und Innocenz machte sich zum Gehen fertig. Er bot der Greisin seine beiden Hände und hielt sie eine Weile in warmem Druck umschlossen. Die alte Wurzin aber war plötzlich mit einem aufschluchzenden Ton neben ihm in die Knie gesunken und hatte ihr tränenüberströmtes Gesicht gegen seine Hände gepreßt. Eine jähe Bewegung hatte die Greisin, die für alle irdischen Empfindungen von Schmerz, Rührung und Glück sich abgestorben gewähnt und sich dagegen geschirmt hatte, weil sie genug und mehr als genug davon erfahren, übermannt. »Mein Cenzerl,« flüsterte sie, »mein Cenzerl!«

Innocenz war erschüttert von dem gleich einem lange versiegt gewesenen Quell wieder ausbrechenden menschlichen und mütterlichen Gefühl bei der Greisin. Der neu erwachende Schmerz um den längst verlorenen, einst vor allen geliebten Sohn vermischte sich ihr seltsam mit der erstaunten Freude über dessen wiedergefundenes Ebenbild. Schrankenlos gab sie sich plötzlich dem Ausbruch ihrer Empfindungen hin. »Ach, du lieb's, lieb's Herrgöttel,« kam es zwischen Schluchzen und Lachen über ihre Lippen, »ist es denn möglich? Ist es denn bloß wirklich möglich? Dem Cenzerl sein Sohn! Ach, du grundgütiger Jesus, dem Cenzerl sein eigener Sohn!«

Sie konnte lange nicht wieder zu sich kommen, bis Innocenz sie in seinen Armen aufhob. »Ahne,« sagte er dann, »Ihr könntet mir etwas zu essen geben. Ich habe schon eine weite Talwanderung hinter mir und habe heute noch vieles auf mir, habe aber noch keinen Bissen über die Lippen gebracht. Ich bin hungrig.«

Nun trippelte die Alte eilfertig hin und her, trocknete sich mit dem Schürzenzipfel das Gesicht und, immerfort vor sich hinmurmelnd: »Ach, du Allmächtiger! Laß ich mein arm' Cenzerl hungern und dursten! Hat mein' arm' Cenzerl den ganzen Tag noch nichts 'gessen oder 'trunken! Oh, du lieb's Herrgöttel!« klapperte sie alsdann mit Gläsern und Schalen, sperrte Schranktüren auf, die knarrend wieder zuflogen, und brachte endlich aus dem dunklen Hintergrund des Nebenraumes Hartbrot, Käse, Eier und Wein zum Vorschein, die sie vor ihn hinstellte. »Wenn ich's besser hätt',« murmelte sie mit verlegen-zärtlichem Lächeln, »nachher möcht' ich dir's schon geben, Cenzerl –« Dann unterbrach sie sich, während er ihr freundlich dankend zunickte, unter einem erschrockenen Ausruf und schlug sich beide Hände vor's Gesicht. »Jesses, Jesses, jetzt sag' ich schon du und Cenzerl zu Euch. Bring's halt nicht mehr auseinander, daß Ihr nur der Sohn von mei'm Cenzerl seid. Seht ihm halt gar so gleich, – seid halt gar so ganz, wie er g'west ist.«

Innocenz nahm ihr die beiden Hände herab. »Ihr sollt mich auch so nennen, Ahne,« sagte er. »Ich bin Eures Sohnes Sohn und hab' die gleichen Rechte an Euch wie mein Vater, der nicht mehr lebt. Kommt, setzt Euch her zu mir und haltet mit! Und dann erzählt mir noch mehr von meinem Vater und Eurer Tochter Anastasia, die Mutterstelle an mir vertreten hat.«

Nach einigem Zureden ließ sich die Alte auch wirklich dazu bewegen. Sie saß neben Innocenz an dem kleinen Tische, den sie für ihn gedeckt hatte, trank ein Glas Wein, in das sie hin und wieder einen Bissen Graubrot tauchte, um ihn aufzuweichen, und sah ihn mit ihren feucht schimmernden Augen lächelnd und nickend an, halb liebevoll, halb verschämt. Sie war ganz wie außer Fassung geraten und konnte sich in das Ungeheuerliche noch immer nicht finden, sondern wirrte die Vergangenheit und die Gegenwart unterschiedslos durcheinander. Innocenz wurde zu ihrem Sohne und Filomena zu ihrer Tochter, der Stasi, und daß die beiden Mann und Weib werden wollten, begriff sie nicht, aber immer strahlte ihr Gesicht auf, wenn ihre Blicke das seine überflogen, als wenn das zum ersten Male im Leben geschähe und Innocenz vorher unerkannt und unkenntlich an ihr vorübergegangen sei. Dazwischen erzählte sie auch in abgebrochenen Sätzen manches von ihrem Sohn, dem Cenzerl, um dann dazwischen plötzlich zu fragen: »Wirst's ja noch wissen, Büberl, nicht wahr? Wirst's ja noch wissen?« Und er nickte ihr dann jedesmal freundlich bestätigend zu.

Plötzlich fragte sie, wie in auftauchendem Verständnis über die wirkliche Sachlage: »Ja, was willst denn nun eigentlich tun, Cenzerl, wann kein Priester mehr bist? Leben mußt doch können. Und gar, wenn du eine Frau hast!«

»Ein Maler möcht' ich werden, Großmutter,« sagte er.

»Jesses!« rief sie und lachte. »Gar ein Maler! Der Cenzerl, weißt, hat's halt auch verstanden, zu malen. Hat's von sei'm Großvater selig g'habt, der war halt so einer, der auf die Hauswänd' g'malt hat, Heiligenbilder und Engel und fromme Sprüch', und was so dergleichen ist, und ist berühmt g'west im ganzen Gebirg, bis weit ins Ampezzo und ins Pustertal 'nunter, so gut hat er sein' Sach' verstanden. Und der Cenzerl hat immer g'sagt: ›Mutterl‹, hat er g'sagt, ›hätt'st mich soll' lass'n ein' Maler werden. Und wann ich ein schlechter Maler g'worden war', wär's halt immer noch besser, als ein schlechter Priester, wie ich's nun bin.‹ So hat er g'sagt.

Und nun willst auch ein Maler werden? Ach, du lieb's Herrgöttl! Geht gar verwunderlich zu in derer Welt, gar verwunderlich.« Und nach einer Weile fügte sie hinzu: »Hast 'leicht Geld im Sack, Cenzerl? Wann kein Geld hast, – die Filomena hat auch keins, – also: Wie wollt Ihr leben? Wird ein' Weil' hingeh'n, mein' ich, bis ein Geld verdienst mit dei'm Malen. Wirst erst müssen in die Lehr' gehen, nicht?«

»Freilich, freilich,« erwiderte er, und eine Wolke überschattete seine Stirn.

»Geben sie dir Geld im Schloß, Cenzerl?«

»Im Schloß?« Seine Mienen hatten sich finster zusammengezogen. »Und Ihr meint, wenn sie es täten, ich würd' es nehmen, Ahne, – ich könnt' es nehmen?«

Sie blinzelte ihn listig an und kicherte dann behaglich in sich hinein. »Muß dir halt die Wurzin Geld geben, mein Büberl. Geld braucht man in derer Welt. Und wann der Sohn von mein'm Cenzerl bist und willst heiraten. – Und müßt'st 's ja doch einmal bekommen, weil ich kein' anderen Erben nicht hab' auf derer Welt. Und die alt' Wurzin braucht's nimmer – du lieber Gott – die braucht's nimmer, und wann's noch hundert Jahr' leben möcht' auf Erden.«

»Ihr? Habt Ihr denn Geld?« fragte Innocenz verwundert, und seine Blicke schweiften durch das armselige Gelaß.

Die Alte lachte meckernd, in sichtlicher Schadenfreude, und rieb ihre knochigen Hände übereinander. »Freilich, freilich, mein Büberl. Man sollt's nicht meinen, nicht wahr? Man sollt' nicht meinen von der alten Wurzin. Aber weißt, halt, als sie uns den Hof vergantet haben, ist doch noch ein und das andere Guldenzetterl übrig'blieben. Und dann: die Enzerlbrenner zahlen auch gut, und soviel Wurzeln, wie die alt' Afingerin, find't leicht keiner. Daneben gibt's aber noch andere Kräuterl im G'birg, die helfen zu viel gute Ding', und man gibt's auch nicht her ohne Geld, verstehst? So kommt halt eins zum anderen. Und die alt' Wurzin braucht nicht gar viel für sich selbst.«

»Für wen habt Ihr das Geld denn aber gesammelt, Ahne, wenn Ihr doch keine Erben hattet?« fragte Innocenz.

»Hab' halt meine eigene Freud' daran gehabt,« kicherte die Wurzin, »meine eig'ne Freud'. Und nun ist's ein Segen Gottes worden, Büberl, recht ein Segen Gottes. Die Leut' haben immer 'dacht, die alt' Wurzin ist gar so arm, Gott im Himmel, wie ist die alt' Wurzin arm! Und haben mir mehr 'geben, als ich g'fordert hab'. Hab' ich mir halt 'dacht: Augen sollt Ihr machen, wann ich einmal hin bin, und was für Augen! Ich hätt's Geld verschrieben zu lauter Seelenmessen für mein Cenzerl und ein gar großmächtig und prächtig Marmordenkmal hätt' man ihm bauen sollen an derselbigen Stellen, wo er abg'stürzt ist. Das hätt' sie 'giftet, die Leut', die immer davon reden, in der Höll' tät er brennen in aller Ewigkeit, mein Cenzerl. Nuh! Ist auch gut, wann das Geld an den Buben vom Cenzerl kommt, ist auch gut. Sollst es haben, mein Büberl, sollst es haben bis aufs letzte Kreuzerl!«

Sie wollte geschäftig aufspringen, um das Geld zu holen, aber Innocenz wehrte ab. »Laßt's,« sagte er, »nicht jetzt, Ahne! Aber ich komme noch einmal wieder, und dann nehme ich von Euch, was Ihr mir geben wollt, als Darlehn, bis ich es Euch selber von meiner Hände Arbeit einmal zurückgeben kann. Habt Dank! Und jetzt will ich gehen.«

Er stand auf und bot ihr die beiden Hände zum Abschied, mit denen er die ihren drückte. Dann ging er. Draußen rauschte der Regen in gleichmäßigem Tropfenfall nieder, und durch das brauende Nebelgewoge, welches das ganze Hochtal erfüllte und ihm mit stickiger, dumpfer Schwere die Brust beklemmte, schritt er gegen Schloß Peutelstein zu.

Sein Antlitz hatte sich aufgehellt, und wenn auch immer noch ein trüber Ernst darauf lagerte, war doch der Ausdruck düsteren Trotzes und heißen Seelenschmerzes daraus verschwunden. Zwar waren die letzten Zipfel des dunklen Bahrtuches, das über seiner Vergangenheit gebreitet lag, noch immer nicht gelüftet, aber ein entschlossener Wille lebte in ihm, es jetzt vollends aufzuheben und damit den Rest von bangen Zweifeln zu zerstreuen, der in seiner Seele zurückgeblieben war. In dieser Stunde noch wollte er erfahren, ob die Greisin, der Vergangenes und Gegenwärtiges seltsam durcheinander zu wogen schien, wahr gesprochen hatte, wollte er wissen, ob seine eigenen Ahnungen ihn nicht täuschten, und wollte er seine Mutter kennenlernen. Seine Mutter! Diese Frau, die ihm seit der ersten Stunde, wo er in ihre Nähe gekommen, nur Grauen und Abneigung eingeflößt hatte, die ihm als eine Verkörperung starren Eigenwillens und unerbittlicher, grausam-rücksichtsloser Herrschsucht erschienen war, deren Religion ihn abstieß und entsetzte, weil kein Mittel sie zu schlecht und zu niedrig dünkte, um ihre Zwecke »zur höheren Ehre Gottes« zu erreichen, diese Frau, die von jener Toten beschuldigt worden war, um eben dieser Zwecke willen erbarmungslos das Leben ihres Enkelkindes aufs Spiel gesetzt, hingeopfert zu haben, – diese Frau seine Mutter! Konnte das wirklich sein? Sollte er seiner Mutter Namen nur erfahren, um ihn mit Schaudern aussprechen zu müssen? Und doch deutete alles, alles darauf hin. Hatte nicht auch der greise Pater Pius davon geredet, daß die starre, fanatische Frömmigkeit der Gräfin Theodora auf dem Untergrunde einer sündigen Jugend aufgewachsen sei, welche sie dadurch zu sühnen vermeinte? Und sie mußte einst schön gewesen sein und hatte wohl auch eine jener Ehen der großen Welt geschlossen, nach deren Grund und sittlichem Zweck man nicht fragen durfte, wie sie selber ihm einst gesagt, und der Priester Innocentius Afinger hatte heißes Blut in seinen Adern gehabt, so heißes, wie es heute in denen seines Sohnes rollte. Da war denn die Sünde geschehen.

Aber es war eine feige, schwache Sünde gewesen, keine mutige; und das Weib, das sie begangen, hatte sich ihrer geschämt, hatte sie klüglich vor aller Welt verborgen in ihrer grausamen Selbstsucht und kläglichen Angst darum, unbekümmert, daß eine andere, Unschuldige, unter dem falschen Verdacht, den sie auf sich genommen, litt und von der unverdienten Schande erdrückt wurde, welche sie traf. Und als es dann gegolten hatte, frei vor aller Welt durch eine kühne, entschlossene Tat sich als das Weib des Mannes zu bekennen, dem sie ein Kind geboren, und mit ihm und diesem Kinde in eine neue Welt, in ein neues Leben hinauszugehen, da hatte die große Stunde sie klein und feig gefunden, sie war vor dem Ungeheuerlichen zurückgeschreckt und hatte den Mann, der ihres Kindes Vater war, in den Tod gehen, ihr Kind bei der Fremden, die seine Mutter hieß, aufwachsen lassen, nur damit sie selber die Gräfin Theodora Karditsch blieb, vor der die Menschen sich beugten und bückten, und an der kein Makel und keine Sünde zu finden war. O der Schmach! der Schmach!

Und um Buße zu tun, hatte die schöne Sünderin sich in die strenggläubige, fanatische Beterin verwandelt. Buße! Wenn das, was sie getan, hätte Buße heißen können! Neue Sünde war es gewesen, vielleicht noch schwerere, als die sie zuvor begangen, und wie hätte die alte Sünde überhaupt gebüßt werden können, da sie doch fortdauerte, solange die Mutter ihr Kind verleugnete und von sich verbannte, Tag um Tag und Stunde um Stunde?

Innocenz hatte das Schloß erreicht. Als aus den grauen Nebelschleiern die wuchtigen Massen desselben dunkel und drohend vor ihm auftauchten, durchrüttelte ihn ein Schauer. Mit welch anderen Empfindungen und Gedanken war er einst hierher gekommen! Nun lagen nur Wochen zwischen dem letztenmal und heute, und was alles war in ihnen geschehen! Als fremder Mann schritt er über diese Schwelle. Er gedachte der Toten, die man von hier aus fortgetragen, um sie neben ihrem Kinde in der gräflichen Erbgruft zu Karditsch zu bestatten. Für ihn war sie gestorben, – um seinetwillen! Wie ein Gräberhauch wehte es ihn an aus den hallenden Korridoren, die er durchschritt. Alles erschien ihm wie ausgestorben. Kein Kinderlachen mehr hinter diesen verschlossenen Türen, keine hohe, jugendschöne Frauengestalt mehr, die in diesen Gemächern gleich einer Verkörperung von Anmut und Hoheit wandelte! Sogar das Willkommensgebell des Hundes war verstummt. Innocenz sah ihn nirgends. Er würde geglaubt haben, daß die Gräfin Theodora selber nicht mehr in den verödeten Räumen des Jagdschlosses verweile, zumal der Sommer nun vorüber war, und für ihr Bleiben überdies kein Anlaß mehr vorzuliegen schien, aber der Diener, welcher ihn empfing, hatte ihm bestätigt, daß sie noch in Peutelstein hause, jedoch so leidend sei, daß er bezweifle, ob sie einen Besuch empfangen könne. Immerhin wolle er anfragen.

Er führte Innocenz, den er nur mit einem scheuen Blick gestreift hatte, wie wenn ihm Zweifel auftauchten, ob er den Mönch auch in solchem Aufzuge und solcher Verfassung der Gräfin melden dürfe, wieder in den Salon, dessen Wand das Tizianbild schmückte. Und wieder stand Innocenz in tiefer Versunkenheit, in andächtigem Schauer davor. Sie hatte ihm nicht umsonst gepredigt in ihrer sieghaften, bezwingenden Sprache, die holdselige Verkörperung der irdischen Liebe dort; ihre Lehre, die Donata ihm ausgedeutet, war nicht spurlos in seiner Seele verhallt, sondern hatte ein mächtiges Echo gefunden, und er hatte die Arme begehrend ausgestreckt, um all das Wonnige und all das Beseligende, das sie verhieß, an seine ungestüm klopfende Brust zu pressen. Sie hatte voll und ganz von seinem Innersten Besitz ergriffen, die irdische Liebe, nur daß er wußte, er sei um deswillen der himmlischen nicht entfremdet worden, sondern sie lebe in jener weiter, aber sie sei keine weltabgwandte und weltentsagende Liebe mehr, vielmehr eine, die Himmel und Erde mit all ihren Schauern des Glücks und mit allen ihren Schrecken gleicherweise in sich schloß. Vor ihm lag heute die Welt, in sich trug er den Himmel, – seinen Himmel.

»Frau Gräfin lassen bitten.«

Der Diener mußte seine Meldung wiederholen, ehe Innocenz aus seiner Versunkenheit auffuhr. Sekundenlang wußte er kaum, wo er sich befand, und um was es sich handelte. Dann folgte er mit verstörten Zügen dem Diener wie ein Traumwandler. Er wurde in das obere Stockwerk hinaufgeführt, durchschritt mehrere Gemächer und trat endlich durch eine zurückgeschlagene Portiere in einen halb verfinsterten Raum, in welchem eine weibliche Gestalt, deren Umrisse nur schwach zu erkennen waren, auf einem Ruhelager in ihren Kissen lehnte. Neben demselben stand die ganz in sich zusammengesunkene Figur des Pater Pius, dessen schneeweißes Haar den einzigen hellen Punkt in diesem dunklen Gemach bildete.

Innocenz war kaum eingetreten, als die Gräfin, von ihrem Lager aus sich halb aufrichtend, einen heiseren Schrei ausstieß. Dann klang es stöhnend hintennach: »Alle Heiligen! Stehen die Toten wieder auf aus ihren Gräbern?«

Ächzend sank sie zurück, beide Hände vors Gesicht geschlagen. Innocenz mußte denken: »So ist mein Vater dereinst wohl bei ihr eingetreten, als er nach langen und harten inneren Kämpfen sich endlich entschlossen hatte, sie als sein Weib zu sich zu fordern oder zugrunde zu gehen, falls sie sich ihm verweigere, – verstört und düster, und gar wenig einem Priester ähnelnd, wie heute ich!« Über seine Lippen aber kam nur der übliche Gruß: »Gelobt sei Jesus Christus!«

Pater Pius murmelte den Gegengruß, während er sich besorgt zu der Gräfin herabbeugte, deren Glieder in ein krampfhaftes Zucken verfallen waren. Er flüsterte ihr mit leiser, ängstlicher Stimme zu, sie möge sich fassen, es sei Pater Innocenz, der gekommen, und er würde nicht begreifen können, weshalb sie so erschrocken sei. Innocenz selber stand hochaufgerichtet in der Mitte des Gemaches da, sein dunkles Auge brannte in verzehrendem Feuer, seine Lippen waren fest aufeinandergepreßt. Unbeweglich, die Arme über der Brust gekreuzt, in der Haltung eines Richters verharrte er.

Die Gräfin hatte sich endlich beruhigt. Aber noch immer stierten ihre großen, blutunterlaufenen Augen aus einem aschfahlen, eingefallenen Gesicht ihn an wie die Erscheinung aus einer anderen Welt. »Was bringen Sie?« murmelte sie mit kurzem, röchelndem Atem.

»Ich habe eine Frage an Sie zu richten, Gräfin.«

Seine Stimme klang ihr ganz anders als früher im Ohr. War das noch der jugendliche Priester, den sie beherrscht, der sich vor ihrem ehernen Willen gebeugt und gedemütigt hatte? Heute redete er zu ihr, als ob sie die Rollen getauscht hätten. Etwas wie eine unbehagliche Empfindung, wie die Vorahnung von etwas Peinvollem lebte in ihrer Brust auf. »Reden Sie,« sagte sie matt. »Aber machen Sie es kurz, ich bin noch sehr angegriffen von einer schweren Krankheit, die ich kaum überstanden habe.«

»Es verträgt keinen Zeugen, was ich Ihnen zu sagen habe, Gräfin.«

»Pater Pius darf alles hören, was nur für mich bestimmt ist. Es gibt kein Geheimnis, das ich vor ihm zu bewahren hätte.«

»Wie Sie wünschen, Gräfin.« Er trat einen Schritt näher an ihr Ruhelager heran, ohne aber im übrigen seine Haltung zu verändern. »Sie erinnern sich des Priesters Innocentius Afinger, Gräfin?«

Ein halb unterdrückter Schrei kam von ihren blutlosen Lippen. »Ich? Warum? Wie kommen Sie –? Ich verstehe nicht – Dieser Priester – Ein Bauernsohn aus Moosbrunn war's.«

»Eben dieser. Sie erinnern sich seiner, Gräfin?«

»Derselbe, der droben vom Pfaffensprung –« Sie hatte unwillkürlich, wie magnetisch von seinem Gedankengange angezogen, diese Worte halb im Traum vor sich hingesprochen, ohne sie aber zu vollenden. Sie starrte ihm entsetzt ins Gesicht.

Da vollendete er ruhig: »Der sich in die Tiefe hinabstürzte, weil er sein verfehltes Leben nicht mehr zu ertragen vermochte, nachdem das Weib, das ihm sein bisheriges Dasein vernichtet und ihn in Schuld und Sünde verstrickt hatte, in entscheidender Stunde nicht den Mut besaß, ihm nun ein neues wieder aufbauen zu helfen, nicht erkannte, daß es ihre Pflicht sei und die einzige Sühne gewesen wäre, die es auf Erden noch für sie gab für das, was sie getan. Dieser Priester ist's, von dem ich rede, Gräfin. Und wissen Sie auch, wer jenes Weib war?«

Gräfin Theodora hatte sich unruhig in ihren Kissen hin- und hergeworfen. Jetzt stöhnte sie schmerzlich auf. »Weshalb fragen Sie mich das?«

»Weil ich ein geheiligtes Recht habe, es zu fragen, Gräfin. Denn ich bin der Sohn jenes Priesters und jenes Weibes.«

»Sie?« Die Gräfin war kerzengerade mit ihrem Oberleibe aus den Kissen emporgefahren, ihre zitternden Hände fingerten in der Luft umher, ihre Augen stierten blöde ins Leere. Dann sank sie mit einem Aufschrei wieder zurück, und ein Krampf rüttelte an ihrem hageren, abgezehrten Leibe. »Heiliger Gott im Himmel! Sie? Ich hätt' es ahnen können. Sie sind sein Ebenbild. Aber ich wollte nicht – wollt' es nicht glauben. Barmherziger Gott! Auch das noch!«

Die Glieder flogen ihr, ihre Zähne schlugen gegeneinander. Innocenz aber wiederholte erbarmungslos seine Frage: »Kennen Sie jenes Weib, Gräfin? Kennen Sie meine Mutter?«

Pater Pius, der sich bald besorgt über die Gräfin herabgebeugt, bald ängstliche Gebärden gegen Innocenz gemacht hatte, der nicht darauf achtete, streckte jetzt flehend seine beiden Arme gegen den Sprecher aus und murmelte mit demütig-gebrochener Stimme: »Schonen Sie sie, lieber Bruder! Um der Barmherzigkeit unseres Gottes willen: Schonen Sie sie! Sie ist sehr leidend. Der Himmel hat sie schwer heimgesucht. Ihr Leben könnte auf dem Spiele stehen, lieber Bruder, – schonen Sie sie!«

Da brach ein heiseres, mißtöniges Lachen von Innocenz' Lippen. »Schonen, Pater Pius? Schonen sollt' ich sie? Und hat sie meinen Vater geschont, als er wie ein todwunder Mann sich zu ihr schlich, um ihr zu sagen, daß sie sein Leben vernichtet habe, um von ihr zu fordern, daß sie ein neues mit ihm beginnen solle? Nein, sie hatte wohl den Mut gehabt, zu sündigen und einem Geweihten des Herrn sich in ehebrecherischer Leidenschaft hinzugeben, aber den Mut, ihre Tat zu sühnen, hatte sie nicht. Und als der Mann, dem sie Liebe geheuchelt und dem sie ein Kind geboren hatte, welches sie verleugnete, ihr sein zerbrochenes und zertrümmertes Leben vor die Füße warf wie ein wertlos gewordenes Gut – wo war da die Schonung, die sie ihm angedeihen ließ? Sie atmete nur erlöst auf, daß der, dessen Leben eine stete Mahnung an ihr Verbrechen gewesen wäre, der zum furchtbaren Ankläger hätte an ihr werden können, nun für immer verstummt war. Und als man den Selbstmörder an der Friedhofsmauer eingescharrt hatte, da wußte von dem Ungeheuerlichen niemand mehr Zeugnis abzulegen als das unglückliche Mädchen, die Schwester des Toten, die aus Liebe zu ihrem unseligen Bruder das Kind, das von seiner Mutter verleugnet worden, als das ihre angenommen und um deswillen Schmach und Schande und Verachtung geduldig zu ertragen gewillt war. Wo war da die Schonung, welche die unnatürliche Mutter für jene opferwillige Pflegerin empfand? Und als auch dieser Mund, der das furchtbare Geheimnis hätte in die Welt hinausschreien können, verstummt war für immer, und man das elternlose Kind hinter Klostermauern verbarg, um es abzuschließen von allem, was das Leben Köstliches und Wertvolles birgt, ohne zu wissen, ob es selber auch darauf zu verzichten bereit war, – wo war damals die Schonung, welche die Mutter ihrem Sohne gewährte? Schonung, Pater Pius? Schonung? Die Frau, welche das alles über sich vermochte, nur damit vor der Welt ihr Name unangetastet bleibe, nur damit sie vor der Welt nach wie vor die Rolle der unbemakelten Gräfin Karditsch in allem Glanz und Prunk ihres Lebens zu spielen imstande war, diese Frau hätte ein Anrecht auf Schonung? Und von mir? Ich weiß von solcher Schonung nichts. Die Stunde des Gerichts ist gekommen, Pater Pius, und ich stehe hier nicht, um Milde zu üben, sondern um schonungslos zu verdammen!«

Die Stimme des Sprechers hatte sich bis zu einem Ton heiß entflammter Leidenschaft gesteigert, und die Gräfin warf sich ächzend, wie wenn jedes seiner Worte wie ein glühender Pfeil sich ihr ins Fleisch bohre, in ihren Kissen hin und her. Sie krümmte sich, wie wenn sie getreten worden wäre. Pater Pius aber, der einmal über das andere ein Kreuz geschlagen hatte, murmelte jetzt mit gefalteten Händen, die er gegen Innocenz aufhob: »Und wenn das alles so wäre, wie Sie sagen, wenn alles wirklich so wäre, lieber Bruder, glauben Sie denn nicht, daß es gesühnt worden ist, – zu sühnen versucht wurde?«

Wieder lachte Innocenz kurz und rauh auf. »Gesühnt?« rief er. »Wodurch? Wodurch, Pater Pius? Durch Beten und Kasteien? Oder durch blinden Bekehrungseifer und einen bis zum Verbrechen sich steigernden Wunsch, die Pläne ehrgeiziger Priester und eines geldlüsternen Klosters zu verwirklichen? Nennen Sie das Sühne, Pater Pius? Ich sage Ihnen, das Blut jenes erschossenen Weibes, das sie dem Schoße der alleinseligmachenden Kirche entgegenführen wollte um jeden, jeden Preis, und das des Kindes, das diesem gleichen heiligen Zwecke hingeopfert wurde, schreit wider die Frau und ihre Helfershelfer zum Himmel auf. Und das, was Sie ihre Sühne nennen, was sie selber in ihrer wahnwitzigen Verblendung so nennen mag, um ihre Selbstanklagen zu betäuben, das ist keine Sühne für begangenes Verbrechen, sondern nur eine neues Verbrechen, das um nichts leichter wiegt als jene früheren! Und Sie verlangen Schonung, Pater Pius? Hat diese Frau die Gattin ihres Sohnes und sein Kind geschont? Erbarmen? Hat sie Erbarmen mit mir gehabt oder mit ihr? Erbarmen mit meinem Vater? Oder mit der, die sich als meine Mutter ausgab? Sprechen Sie mir dieser Frau gegenüber nicht von Erbarmen, nicht von Schonung und nicht von Sühne, Pater Pius!«

Der kleine, alte Priester rang in stummer, ratloser Verzweiflung seine Hände. Innocenz war während seiner letzten Worte noch näher an das Ruhebett der Gräfin herangetreten, und erst jetzt gewahrte er die furchtbare Veränderung, die mit der Frau vorgegangen war, der er das Leben verdankte. Eine sieche Greisin lag da vor ihm in den Kissen. Alle Spannkraft, aller herber Lebenstrotz, alle Willensmacht schienen aus diesem Körper, der sich so starr aufrechterhalten hatte und nur von einem einzigen Gedanken beherrscht gewesen war, gewichen zu sein. Nur noch bleiche Angst und hilflose Qual wohnten in diesen Zügen, nur noch stieres Entsetzen malte sich in diesen Blicken. Aber keine Regung des Mitleids wollte in Innocenz erwachen, auch jetzt betrachtete er sie mit kalter Ruhe, nur mit einem Anflug von Grauen.

»Gräfin,« sagte er, »ich bin nicht gekommen, um über Sie zu richten, denn ich bin ein sündiger Mensch, und mir steht das Richteramt nicht zu über meinesgleichen. Ein Höherer wird Sie dereinst richten. Ich bin hierher gekommen einzig und allein, um von Ihnen Antwort zu erhalten auf meine Frage: Kennen Sie das Weib, das dem Priester Innocentius Afinger einen Sohn geboren hat? Antworten Sie mir, als ständen Sie vor dem Angesicht des allmächtigen Gottes, Gräfin! Waren Sie dies Weib?«

Er donnerte ihr die letzten Worte ins Gesicht, und seine Augen flammten sie an. Mit einem wimmernden Ton fuhr sie auf und hob die gefalteten Hände ihm entgegen. »Ja und tausendmal ja, – ich – ich war es!« Sie sank zurück, ihre Augen hatten sich geschlossen, ihre Brust hob sich unter einem heißen Aufschluchzen wie im Krampf. »Herr, mein Gott,« murmelte sie, »vergib mir, – vergib mir, – vergib mir!«

Pater Pius war in die Knie gesunken und beugte in stummem Gebet sein Haupt. Innocenz verharrte ein paar Augenblicke hindurch in dumpfem Schweigen. Dann sagte er düster: »Dies endliche, offene Geständnis wird Ihnen von Gott höher angerechnet werden als das, was Sie bis zu dieser Stunde ein Leben hindurch zu seiner vermeintlichen Ehre getan haben. Sei unser aller Richter Ihnen gnädig!«

Er wandte sich und wollte das Gemach verlassen, da gellte ihm ihr verzweiflungsvoller Schrei nach: »Innocenz!«

Langsam, widerwillig drehte er sich zurück. »Was wollen Sie, Gräfin Karditsch?«

»Innocenz!« schrie sie jammernd noch einmal. »Geh' so nicht von mir, – so nicht!«

Seine Stirn blieb düster umwölkt, und seine Stimme fragte mit eisiger Kälte: »Was könnten Sie mir noch zu sagen haben, Frau Gräfin Karditsch? Was ich Ihnen?«

Sie hatte sich mit gewaltiger Willensanstrengung wieder in ihren Kissen aufgerichtet und streckte ihre beiden Arme gegen ihn aus. Es war ein so milder und weicher Klang in ihrer Stimme, wie ihn Innocenz noch nie von diesen herb-stolzen Lippen vernommen hatte, wie er ihn nie ihnen zugetraut hätte, als sie sprach: »Innocenz! Vergiß nicht ganz, daß du mein Sohn bist! Wenn ich dir keine Mutter war, vergilt es nicht damit, daß auch du mir nun kein Sohn sein willst. Sei ein wahrer Priester des Evangeliums der Liebe und vergib, vergib! Es ist deines heiligen Amtes, Innocenz!«

Er stand unbeweglich, keine Muskel in seinem Gesicht zuckte. »Sie irren, Gräfin Karditsch,« sagte er mit abweisender Ruhe, »ich habe kein Amt mehr auf Erden, und wenn ich es hätte, ich könnte, dürfte ihm in dieser Stunde nicht gerecht werden, denn auch ich bin nur ein Mensch. Und was verlangen Sie von mir, Gräfin? Glauben Sie, ich könnte Ihnen heute noch den heiligsten Namen geben, den ein Menschenmund auszusprechen vermag, nachdem Sie fast ein Menschenalter hindurch ihn mir verboten haben? Denken Sie, das Geschehene könnte plötzlich ausgelöscht und vergessen werden, und Sie dürften die schmählich aufgegebenen Rechte eines Tages beliebig gegen mich geltend machen, ohne jemals Ihre Pflichten gegen mich erfüllt zu haben, ja, nachdem Sie eben diese Pflichten hohnlachend in den Staub getreten? Sie sind in einer schweren Täuschung befangen, Gräfin Karditsch. Was Sie getan haben, war widernatürlich, war gegen alles menschliche und göttliche Recht; wie können Sie glauben, daß die Stimme der Natur, die Sie in mir zu ersticken bestrebt waren, plötzlich wieder erwachen und für Sie zeugen sollte, sobald es Ihnen gefiel, sie vernehmen zu wollen? Ich habe keinen Teil an Ihnen gehabt, wie könnten Sie an mir einen haben? Unsere Wege führen für immer auseinander, und nie hätten sie sich kreuzen sollen!«

Wieder wollte er gehen und wieder hielt ihn ihr angstvoll aufwimmernder Ruf zurück. »Innocenz, ich bin ganz einsam geworden – meine Lebenstage sind gezählt, glaub' ich, – ich lasse keinen Menschen auf Erden zurück, der an mir gehangen, der mir Liebe geboten hätte, denn auch mein Sohn Alexander fürchtet mich nur, ohne mich zu lieben, und nicht in Liebe hab' ich ihn einem Manne geboren, den man mir aufgezwungen hatte. – Willst du meine letzten Tage mir nicht noch hell und sonnig machen, mich jetzt noch ein verspätetes Mutterglück genießen lassen, Innocenz? Ich habe viel gelitten, und es ist ganz dunkel und trostlos um mich geworden. – Hast du keine Regung des Mitleids in dir?«

»Mitleid?« wiederholte er schneidenden Tones, und seine Blicke ruhten mit fremdem, kühlem Ausdruck auf ihr, »Mitleid, Gräfin Karditsch? Ist das ein Wort, das in Ihrer Seele noch Klang hat? Und wo war denn das Mitleid, das Sie damals mit dem unseligen Manne im Priesterrock hätten empfinden müssen, für den von Ihrer Entscheidung Leben und Tod abhing? Und wo war es, als er seinem verfehlten Dasein ein gewaltsames Ende bereitete, weil er sein Alles hingegeben hatte für ein Nichts, und das Kind, das Sie ihm geboren hatten, bei einer anderen zurückblieb, die um deswillen aus den Reihen der ehrbaren Weiber des Dorfes verstoßen ward und keines ehrlichen Burschen Werbung mehr wert erschien, sondern nun wirklich in die Schande verfiel, die sie bis dahin in den Augen der Welt schuldlos getragen? Sie war freilich bloß eine Bauerndirne von der Lahn, und Sie waren die Gräfin Karditsch! Und wo war Ihr Mitleid, als Sie das Kind, dessen Mutter Sie hießen, ohne es zu sein, hinter Klostermauern vor der Welt verbergen ließen, ohne es nach seinem Willen zu fragen, als ob es keine lebendige Seele in sich getragen hätte, nur damit Ihr kompromittierendes Geheimnis für immer versteckt und begraben blieb? So gut ward es begraben, so sicher wähnten Sie es begraben, Gräfin, daß der Mönch Innocenz auserwählt werden konnte, in die alte Heimat seiner Kindheit gesandt zu werden, als es galt, dort eine Ungläubige durch sittlich verwerfliche, wenn auch kirchlich genehmigte Mittel dem katholischen Glauben zuzuführen – zur Ehre Gottes und zur Bereicherung des Klosters! Man hatte die alten Geschichten längst vergessen und abgetan gewähnt. Aber Gott – der Gott, in dessen Namen so viele Verbrechen von denen begangen werden, die allein ihm in der rechten Art zu dienen glauben – Gott läßt seiner nicht spotten. Und wenn Sie je an ihm gezweifelt haben oder zweifeln möchten, Gräfin, dann gedenken Sie nicht des dumpfen Gewissenszwanges, den die Priester in seinem Namen ausüben, und nicht der Frevel, die ihm zum Ruhme begangen werden, sondern gedenken Sie des Priesters, den man hierher sandte als eines der vielen blinden Werkzeuge der kirchlichen Hierarchie, und der hier statt dessen seinem Amt und seinem Glauben entfremdet ward und als ein furchtbarer Ankläger auferstand gegen die, welche sich an ihm, an seinem Menschentum unsühnbar versündigt haben. Aber sprechen Sie nicht zu mir von Mitleid, Gräfin Karditsch! Sie haben sich jedes Anrechts darauf für immer beraubt und dürfen nicht fordern, wo Sie nie gewährten!«

»Innocenz!« schrie sie auf, »du verdammst mich – du kannst mir nie vergeben?«

»Was Sie an mir gesündigt haben, Gräfin, das will ich Ihnen vergeben, das kann ich Ihnen vergeben, weil ich noch die Kraft und die Fähigkeit in mir fühle, ein neues Leben anzufangen. Aber was Sie an jenen beiden Toten getan haben, das nie wieder Gutzumachende – das verzeihe Ihnen Gott – ich vermag es nicht! Leben Sie wohl!«

Er gewahrte es nicht mehr, daß die Gestalt der Gräfin kraftlos in die Kissen zurücksank, und eine Ohnmacht ihre Sinne gefangennahm. Die Tür war hinter ihm ins Schloß gefallen, und wenige Minuten später hatte er das Freie wieder erreicht. Seine Brust atmete erleichtert auf. Es war etwas von ihm abgefallen, das ihn wie mit Eisengewichten zu Boden gezogen hatte. Er fühlte sich, wie wenn er einem Gefängnisse entronnen wäre. Jetzt war er frei – frei! Auch das lag nun hinter ihm, was er hier noch zu tun gehabt hatte. Und jetzt weiter, weiter vorwärts in das neue Leben!

Immer noch gleichmäßigen Tropfenfalls ging der Regen nieder, und die grauen Nebelwolken schoben sich an den Felshöhen entlang. Innocenz schlug den Weg nach St. Ulrich ein. Er war heute zu müde geworden, um noch bis zur Anderetalp oder gar bis zur einsamen Wildhütte nach der Forcheralm hinaufzusteigen, wollte vielmehr im Pfarrhause übernachten, um von seinem Wirt, dem Pfarrer Aloys Antholzer, morgen früh für immer Abschied zu nehmen und dann nach einem letzten Besuche bei der Wurzin von Moosbrunn mit Filomena gemeinsam die Wanderung übers Gebirg' anzutreten – nach Welschland hinab, einem neuen Schicksal entgegen.

Als er das Pfarrhaus erreicht hatte, sah er drüben aus der Sägemühle ein paar Gendarmen treten, die einen gefesselten Mann in ihrer Mitte führten. Ein Blick auf denselben überzeugte ihn davon, daß es der Hamerl war. Der Großknecht sah blaß aus, seine Lippen waren trotzig zusammengekniffen. Als er Innocenz gewahrte, warf er ihm einen tückisch-feindseligen Blick zu. Dann senkte er wie in frommer Andacht die Stirn, und seine Lippen begannen Gebete zu murmeln. So schritt er zwischen den Gendarmen hin talab.

Als Innocenz dem Zuge, der merkwürdigerweise wenig Beachtung im Dorfe gefunden zu haben schien, noch eine Weile betroffen nachschaute, trat der Jäger-Barthel aus der Tür der Sägemühle. Innocenz ging auf ihn zu und fragte, was die Verhaftung des Hamerl zu bedeuten habe. Er ahnte freilich, wie die Antwort lauten würde.

Und er hatte sich nicht getäuscht. »Der fromme Hamerl, den sie immer in der ganzen Gemeind' als ein Muster von Gottseligkeit dargestellt haben,« sagte der Jäger mit spöttischem Lachen, »der ist halt ein Mordgesell, und sie werden ihn um einen Kopf kürzer machen, wann's noch Recht und Gerechtigkeit in der Welt gibt.«

»Er hat den Windischen Sepp erschossen?« fragte Innocenz.

»Wißt Ihr's auch schon? Freilich, freilich. Und wenn er's jetzt auch tausendmal wegleugnen und wegbeten möcht', wird ihm doch alles nichts mehr helfen, denk' ich. – Und wenn's auch nur ein Haderlump war, den er aus der Welt g'schafft hat – wer Blut vergießt, dess' Blut soll wieder vergossen werden. Wenn's dem arm'n Lenzl an den Kragen geht, dem frommen Hamerl gebührt erst g'wiß Galgen und Rad.«

»Wie ist es ans Tageslicht gekommen?« fragte Innocenz.

Der Barthel strich sich mit einer gewissen Überlegenheit den blonden Schnurrbart. »In Verdacht g'habt hab' ich ihn schon lang', den frommen Hamerl. Denn daß der Sepp sollt' abg'stürzt sein, das mocht' er ei'm andern weißmachen, bloß mir nicht. Bin öfters mit dem verlumpten Kerl im Gebirg z'samm'g'troffen, der hat sich auskennt; wie ein Hirsch ist er über die Felsspalten wegg'setzt, und von schwindlig werden war schon gar kei' Red' bei ihm. War mir also schon lang nimmer geheuer mit dem sein' Tod. Und weil der Hamerl jetzt immer im Gebirg herumg'strichen ist, was sonst nie sein' Art war, und hat gar ein Steinmannl aufg'richt, wo kein Mensch sich eins verlangen konnt', ist mir die Sach' immer verdächtiger 'worden. Willst ihn doch einmal auf die Prob' stellen, denk' ich. Geh' also letzten Sonntagabend in den ›Cold'nen Ochsen‹ zum Poldl Rohracher. Richtig: sitzt mein Hamerl da. Sonntags ein' Schoppen, das ist nicht gegen die Frömmigkeit. Ich werf mein Hut auf den Tisch und ruf': ›Wißt ihr's Neueste, Leut'? Der Windische Sepp ist endlich aufg'funden!‹ Hei! wie ist da mein Hamerl aufg'sprungen! Kreidig weiß ist er im G'sicht g'wesen, und der Mund war ihm offen stehen g'blieben, und die Augen waren ganz verglast. Mit den Händen hat er nur so an der Tischplatten herumg'fingert, als wollt' er sich wo festhalten. Ich hab' ihn immerfort scharf im Aug' g'habt. Währendess' rufen die anderen: ›Tot oder lebendig? Wie ist er g'funden?‹ ›Ruh!‹ sag' ich, ›tot schon, aber abg'stürzt ist er nicht. Und richtig haben wir ihn jetzt.‹ Auf weiter 'was lass' ich mich nicht ein und hab' nur immer den Hamerl im Aug'. Der aber sagt kein Wörtel, trinkt sein Glas leer und geht 'naus. Ist gut, denk' ich, wart' noch ein Weilchen und mach' mich ebenfalls davon. Wie ich auf der Gass' bin, seh' ich den Hamerl, der aus der Sägemühl' kommt; hat Spaten und Hacke auf der Schulter und die Büchse über dem Rücken hängen. Hei, denk' ich, will der in der Nacht noch wildern geh'n, oder was gibt's sonst? Also mach' ich mich hinter ihm her und schleich' ihm nach, ohne daß er's ahnt. Steigt der Hamerl geradewegs in die Berg' 'nauf bis da, wo der Windische Sepp abg'stürzt sein soll, geht zum Steinmannl, das er selber aufg'richt' hat, und fängt an, die Stein' herabzureißen und herumzustreuen. Als er damit fertig ist, haut er mit der Hacken das Erdreich auf, daß die Felsbrocken nur so fliegen. Hätt' nicht viel gefehlt, so traf mich selber einer, während ich in der Näh' hinter einem Baum steh'. Plötzlich lacht der Hamerl laut auf, ordentlich schauerlich war's in der stillen Nacht da heroben im einsamen Gebirg. Lehnt sich hintenüber auf seine Hacken und lacht aus vollem Halse. Der ist wahnsinnig 'worden! denk' ich. Da hör' ich ihn mitten in sei'm Lachen auch noch schreien: ›Jetzt sagt der, den Windischen Sepp haben's aufg'funden, und der Windische Sepp liegt noch da, wo er immer g'legen hat. Möcht' ich doch wissen, was jetzt das wieder für ein dummer Spaß ist, oder weshalb die Leut' ein'n anlügen!‹ Und lacht richtig noch weiter und reibt sich die Händ' in purem Vergnügtsein. Da ist mir's zu toll g'worden. Ich geh' heraus, ruf ihn an und frag': ›Was machst denn da, Hamerl?‹ Jetzt ist er zu Tode erschrocken, reißt seinen Stutzen herunter und will auf mich anlegen. Aber da halt' ich ihn schon am Arm fest.

›Mach' kein' Dummheiten,‹ sag' ich und schüttele ihn so ein paarmal hin und her. Dabei blick' ich zugleich in die Gruben, die unter dem Steinmannl g'wesen ist und – richtig: da liegt ein halb verwester Leichnam drinnen, und ein schauerlicher Anblick war's, meiner Treu. Gleich hat's mich g'packt, hab' mir aber nichts merken lassen, hab' mich ang'stellt, als wär's nichts Merkwürdiges weiter, was ich da unten seh', und sag' ganz gleichmütig: ›Hast wohl den Windischen Sepp begraben wollen, Hamerl, den sie aufg'funden haben. Ist recht, hätten dem landfremden Strolch ja doch auf dem Gottesacker kein ehrlich Begräbnis vergönnt! Ist also eine christliche Tat und macht dem frommen Hamerl alle Ehr'.‹ Und so verstellt hab' ich mich, daß er mich bloß eine Weil' von der Seiten anschaut und sagt dann ganz ohne Argwohn: ›Ja, b'grab'n hab' ich ihn woll'n, da hast recht, Barthel, bloß b'grab'n, daß ihn über Nacht die Aasvögel nicht anfressen, und eilen muß ich mich halt, daß ich fertig werd'. Wann mir 'leicht helfen willst?‹ ›Nein,‹ sag' ich, ›helfen kann ich dir nicht, hab' noch anderes zu tun über Nacht. Wünsch' aber gute Verrichtung, und ein christliches Werk bleibt's.‹ Damit sag' ich ›B'hüt' Gott‹ so ruhig, als wär' nichts Ungewöhnliches g'scheh'n und geh' meiner Wege. Und die Schläge von seiner Hacken hör' ich noch ein hundert Schritt weit beim Talabgeh'n. Daraufhin hab' ich mich nicht mehr lang' b'sonnen, sondern bin die gleiche Nacht hinunter ans Bezirksgericht und hab' alles genau an'geben, was ich g'seh'n und g'hört hab'. Und da haben sie ihn halt abholen lassen heut', den frommen Hamerl von der Sägmühl'.«

Der Jäger hatte das alles mit sichtlicher Genugtuung erzählt, während er mit Innocenz unter dem Vordach der Sägemühle stand und der Regen draußen vor ihnen gleichmäßig niederrauschte. »Hat der Hamerl gestanden?« fragte Innocenz, den der Bericht schwer erschüttert hatte.

Der Jäger lachte. »Nuh, was sollte er sonst wohl tun? Leugnen hätt' da nicht mehr g'holfen, mein' ich. Schließlich hat er sich sogar in die Brust g'worfen und hat g'sagt, der liebe Gott selber oder irgendein Heiliger wär' ihm in Person erschienen und hätt' ihm g'sagt, er müßt's tun, der Windisch' Sepp müßt' aus der Welt g'schafft werden, damit er nicht mehr Unheil anrichten könnt', und damit die Sündenangst von der Sägmüllerin g'nommen würd', die sonst noch gar ihr eigenes Kind tat umbringen wollen, um sich beim lieben Herrgott losbitten zu lassen. Also wär's ein frommes, christliches Werk g'wesen, und er hätt' gar nicht anders gekonnt, müßt' also Lohn und Dank dafür beanspruchen, aber keine Straf erhalten. Und wann er doch bestraft sollt' werden, würd' 's ihn nur freuen, weil er's dann im Himmel um so besser haben müßt' zur Entschädigung dafür. Nuh, darauf haben die Gendarmen natürlich nur g'lacht und haben ihn halt mitg'nommen, den armen Märtyrer. Möglich ist's aber schon, daß sie ihn ins Narrenhaus einsperren, statt ins Zuchthaus. Mir wär's freilich leid.«

»Und wie hat man es drinnen aufgenommen?« fragte Innocenz mit einer Deutung nach rückwärts.

Der Barthel zuckte die Achseln. »Der Sägmüller flucht und die Sägmüllerin weint. Die begreift's ganz gut, daß der Hamerl es bloß um sie g'tan hat. Mit der ihrem Verstand steht's besser als mit manch' anderem seinen. Aber im Gericht haben sie ja g'sagt, sie könnt' nichts dafür, daß sie ihr Kind umg'bracht hat, sie war' halt nicht bei Sinnen, und so ist sie frei aus'gangen. Und der Sägmüller ist rasend vor Zorn. Ich mein' halt, Ihr solltet ihm nicht vor die Augen kommen, Hochwürden, denn er leit't all das Unglück in seinem Haus bloß davon her, daß Ihr der Sägmüllerin g'sagt habt, sie tat' zum Windischen Sepp g'hören und nicht zu ihm; davon ist sie ganz wirr g'worden, sagt er, von wegen der Kinder, und da ist's dann so weiter 'gangen. Freilich, wenn man denkt, wie das ein glückliches Haus war, die Sägmühle! Und jetzt das Kind auf dem Gott'sacker, und die Frau g'stört im Kopf, und der Hamerl, auf den sie immer gar so gewaltige Stück' g'halten hab'n in der Sägmühle, ein Mörder! Und wann die Frau auch jetzt wieder bei ihrem Manne ist und braucht nicht ins Narrenhaus, und der schwere Kerker ist ihr auch erlassen word'n, so wie früher kann's ja halt doch nimmer mehr zwischen den beiden werden, mein' ich. Denn daß sie das Kind umg'bracht hat, das kann der Sägmüller doch nicht vergessen, und das wird immer zwischen ihnen sein bis an ihr Lebensend'. Und der Sägmüller sitzt jetzt schon weit öfter beim Rohracher als früher, und kann keine vollen Gläser mehr leiden. Bei seiner Frau graust's ihm, sagt er, und nachts schließt er sich in seiner Kammer ein, weil sie sonst auch einmal kommen könnt' und ihn umbringen. Ist halt ein Unglück, ein schweres Unglück im Haus. Und früher –«

Er schwieg und horchte nach dem Innern des Hauses, aus dem jetzt das mit Jammern und Wehklagen untermischte Beten des ganzen Hausgesindes erscholl, welches die Sägemüllerin um sich versammelt haben mochte. Ihre eigene Stimme war deutlich als die der Vorbeterin vernehmbar, und der Chor fiel mit Schluchzen jedesmal ein. Nur der Sägemüller selber schien sich nicht unter den Andächtigen zu befinden.

Als Innocenz es eben dachte, wurde die Tür der Stube aufgerissen und Anton Pyrker stand auf der Schwelle. Er hatte seinen Lodenmantel umgeworfen und den Hut tief in die Stirn gedrückt. Seine Augen blickten finster, ein Zug von Wildheit und Verbissenheit lag in seinem Gesicht. Ohne Innocenz zu beachten, als sähe er ihn gar nicht, kam er auf den Jäger zu und sagte: »Kommt mit, Barthel! Der Poldl hat ein' guten Spezial bekommen, und ich zahl' Euch ein Flaschel. Wenn man erst nicht mehr trinken könnt', so wär's halt nicht mehr auszuhalten in derer Welt. Also –!«

»Laß ich mir halt nicht zweimal sagen,« lachte der Jäger, nickte Innocenz halb vertraulich, halb geringschätzig zu und ging mit dem Sägemüller zusammen davon.

Der letztere verschmähte es, Innocenz einen Gruß zu gönnen. So schritt dieser dem Pfarrhause zu. Noch immer hallte das Beten aus der Sägemühle hinter ihm drein.


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