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II

Der nächste Tag lag mit der gleichen wolkenfreien Klarheit über der bergumfriedeten Lahn, mit welcher der vorhergegangene geschieden war. Als Innocenz an das Fenster seiner Kammer trat und die Felskolosse vor sich in den morgendlich-glanzvollen Äther ragen sah, schwoll ihm die Seele wieder von freudigem Staunen. Wie in unberührter Jungfräulichkeit lag diese Welt vor ihm da, und er wähnte, den Odem des Göttlichen niemals fühlbarer um sich gespürt zu haben, als da er zu ihr emporblickte. Das Wehen dieser gletscherkühlen Luft nahm ihm die Schwüle banger und verzagter Gedanken vollends von der Brust.

Als er den aus gebranntem Roggen bereiteten Morgentrank, welchen ihm Resi mit trockenem Schwarzbrot zusammen zur Frühmahlzeit gebracht, verzehrt hatte, saß er lange Zeit am Fenster, um sich wieder und wieder in die leuchtenden Wunder dieses eigenartigsten aller Hochlande der Erde zu versenken. Er hegte das Vorgefühl, daß er nirgends als hier Trost und Stärkung finden werde, sooft er danach lechzen möge, und er zweifelte auch nicht mehr daran, daß solch Verlangen und Bedürfen häufig an ihn herantreten werde, viel häufiger, als er es gestern noch auf seiner Alpenwanderung gewähnt hatte, und viel häufiger als im Bann des Klosterfriedens von Greifenburg.

Er verglich nun auch mit einer kleinen Karte, welche er aus der Klosterbibliothek mit sich genommen hatte, die Bergrunde der tirolischen Alpen, die vor seinen Blicken dalag, und nannte die Namen der grauen Steinriesen, die neben der ragenden Königin dieser Felsenwelt, der hohen Zinne, als ihre Trabanten und Paladine das einsame Hochtal umgürteten. Da war zu ihrer Rechten der Arzenkopf, der in mächtigen Linien die Umrisse eines phantastischen Greisenhauptes aufwies, dessen struppiges Haar ein halb von Wildwassern und Stürmen verwüsteter, halb von Menschenhand zerstörter Lärchenwald bildete; dann der Rotkopf mit seinem wie von stetiger Morgenröte überschimmerten Zackengewirr, und weiter die Weißbachhörner, schneeumglitzerte Nadeln und Zinken, die der große Weltbaumeister wie ewige Weiser aufgerichtet zu haben schien, die zu seinen Höhen empordeuteten. Zur Linken der hohen Zinne aber lagerte sich der Schwalbenkofel, durch einen grün-lockenden Grat mit ihr verbunden, der von der Tiefe aus wie eine Brücke erschien, auf welcher die Berggeister hinüber- und herüberwanderten; und neben diesem begrenzte der breithin gestreckte Roßkamm das Halbrund des vor dem Fenster sich ausdehnenden Gebirgsstockes. Der letztere übertraf fast an bizarrer Formation noch seine Nachbarn. Wer sich länger in seine Linien vertiefte, mochte die wehende, weißgraue Gletschermähne eines dahinstürmenden Rosses zu erkennen glauben, dessen Rücken von einem dunklen Sattel überdeckt wurde, während die emporgehobenen Nüstern des langgestreckten Halses sich zornig blähten. Die seltsamen Risse und dunkel aufgähnenden Klüfte in dem verwitterten Gestein des Kalkgefelses im Verein mit den hier und da wie angeklebt herabhangenden Nadelwaldstreifen brachten alle diese Gebilde, an welche die schöpferische Phantasie des Volksgeistes bei der Namengebung angeknüpft haben mochte, zuwege und regte so die Phantasie dessen, der zu ihnen aufschaute, aufs neue an.

Über den Mönch kam ein sonderbares Wanderverlangen, das er früher niemals gekannt. Es dünkte ihn unsäglich verlockend, von hier aus höher und höher in die wolkennahen Regionen des ewigen Schnees emporzuklimmen und von dort oben, in einsamer Weltenferne, all diesen steinernen Sphinxen in das Riesenantlitz zu blicken. Dort oben mußte man erst wahrhaft beten lernen können, jeder Herzschlag, jeder Atemzug, – dort mußten sie zum Gebet werden. Und doch mischte sich in dieses stürmische Begehren, hinauf und immer hinauf zu gelangen, um dem Himmel näherzukommen, zugleich ein Gefühl der Angst, das ihn mit zaghafter Scheu zu all diesen Schroffen und Graten emporstarren ließ. Wie unendlich verlassen mußte der Mensch sich dort oben inmitten der Alleinherrschaft einer erbarmungslosen, übergewaltigen Natur erscheinen! Wenn nicht dort, wo sonst sollte er die Eitelkeiten der Welt verachten lernen und seinen Gott finden?

Mit solchen Gedanken trat der Mönch heute wiederum vor den Pfarrer Aloys Antholzer hin. Er fand ihn in seinem Zimmer an einer dort aufgestellten Hobelbank beschäftigt, einen Holzklotz zwischen den Knien, das Eisen mit kräftigen Händen führend. Die Späne flogen und wirbelten um ihn her. Auch auf den wenigen Möbeln des unwirtlich ausgestatteten Raumes lagen sie ebenso wie auf den zum größeren Teil arg verstaubten Büchern und Skripturen verstreut, von denen ein kleines Häuflein ein an der Wand festgeklammertes Bord bedeckte. Das Zimmer, in dem sich auch das noch nicht wieder hergerichtete Bett von grobem, blaugewürfeltem Leinenzeug befand, erregte, wie alles im Pfarrhause, den Eindruck der Verwahrlosung, der durch ein elfenbeinernes Kruzifix über einem altmodischen, wackeligen Schreibtisch und ein paar verblichene Heiligenkupfer sowie einen schlechten Öldruck des Papstbildes nicht verwischt wurde. Auch hier atmete derselbe Geist der Gleichgültigkeit gegen allen äußeren Schmuck des Lebens, gegen allen Brauch und alle Gesittung der Welt, welcher im Wesen wie in der Handlungsweise der beiden Bewohner des Pfarrhauses überhaupt hervortrat.

Der Pfarrer, der ohne seinen Priesterrock, mit weit über die Ellenbogen heraufgestreiften, unsauberen Hemdärmeln bei seiner Arbeit saß, unterbrach dieselbe sichtlich ungern, erwiderte den Gruß des Mönches mit einem undeutlichen Gemurmel und fragte dann, sich mit dem Oberarm über die tropfende Stirn hinfahrend: »Wünscht Ihr etwas? Ich dachte, die Resi hätte Euch –«

»Betreibt Ihr diese Beschäftigung aus Gesundheitsrücksichten, lieber Bruder?« fragte der Mönch, als der Sprecher die weiteren Worte unterdrückte.

Aloys Antholzer sah ihn halb blöde an. Erst nach einer Weile schien ihm die Berechtigung einer derartigen Frage einzufallen, und er erwiderte mit gleichmütigem Achselzucken: »Irgendetwas muß man ja doch wohl betreiben. Und man braucht's in der Wirtschaft. Wer hier oben in den Hochalpen Pfarrer sein will, muß auch zugleich ein Bauer sein. Das werdet Ihr noch lernen.«

Er machte Miene, das Hobeleisen wieder mit den Händen zu packen, als Innocenz einfiel: »Aber doch keinesfalls nur ein Bauer, lieber Bruder. Übrigens bin ich nicht hierher gesandt, um mit Euch über Eure Tagesbeschäftigung und Euren Lebenswandel zu rechten, so wenig wie mir's zusteht, Euch einen Rat zu erteilen, den ich ja vielmehr von Euch erbitten will. Mich dünkt, Ihr müßt in dieser Weltabgeschiedenheit und angesichts all der leuchtenden Wunder des schaffenden Gottes, welche uns hier umgeben, ein so reiches Feld erquicklicher seelsorgerischer Tätigkeit finden, wie es auf der Welt nicht leicht zum anderen Male zu entdecken ist. Mancher unserer Brüder, der sich drunten inmitten der Reize und Verlockungen des gleißnerischen Weltlebens vergeblich bemüht, die ihm anvertrauten Seelen zu Gott zurückzuführen, möchte Euch um Eures Amtes willen beneiden.«

Der Pfarrer stierte zu dem Sprecher, der vor ihm stehengeblieben war, hinüber, als wenn er nicht begriffen habe, ob dessen Worte Spott enthielten oder nur eingelernt seien und ohne jede Nebenabsicht wie mechanisch weitergesprochen würden. Sein Mund war dabei halb offen stehengeblieben, und in den stumpfsinnigen Ausdruck seines Gesichtes mischte sich etwas wie schüchterne Wehmut.

Sekundenlang stieg ein Gefühl des Mitleids mit diesem Greise, der da so hilflos an seiner Hobelbank saß, in dem Mönche auf, und er bereute fast die letzten Worte, die er gesprochen. Dann sagte Aloys Antholzer ruhig: »Die Menschen brauchen hier keine Seelsorge und wollen auch keine. Sie kommen zur Messe und zur Beichte, sie beten und halten die Feiertage, und im übrigen tun und lassen sie, was ihnen beliebt.«

»Doch nichts, was gegen die heiligen Gebote unserer Kirche verstößt?« fragte Innocenz erschreckt.

Der Pfarrer murmelte etwas Unverständliches zwischen den welken Lippen. Es schien bedeuten zu sollen, er wisse es selber nicht, vielleicht weil er selber sich über diese heiligen Gebote nicht in allen Punkten mehr im klaren befand, oder weil er sich um das Tun und Treiben seiner kleinen, weit zerstreuten Gemeinde nicht mehr bekümmerte und nicht mehr bekümmern konnte, sondern sich zufrieden gab, wenn die äußerlichen Vorschriften der Religion nur immer gewahrt blieben. Innocenz aber schüttelte traurig und unbefriedigt den Kopf.

»Hier muß Wandel eintreten,« sagte er. »Ihr seid alt und kränklich, lieber Bruder, deshalb neigt Ihr zu mildem Verzeihen und zur Nachsicht. Wie ich denke, war es gut, daß man Euch eine frische Kraft zur Unterstützung sandte.«

Nun nickte Aloys Antholzer, den Hobel wieder ansetzend, kurz mit dem Kopfe. »Versucht's« raunte er gleichmütig.

Die krausen, gelben Späne flogen um ihn her, das Eisen kreischte und knirschte in dem harten Holze. Stumpfe Müdigkeit lag wieder in seinem gelben, faltigen Gesicht. Der Mönch kam allmählich zu der Erkenntnis, daß er hier schwerlich liebevolle Fingerzeige oder vorsichtige Ratschläge werde erhalten können, die ihn auf seinem Pflichtwege unterstützen würden, sondern daß er denselben ganz aus eigener Kraft unter dem göttlichen Beistande und mit seiner heiligen Überzeugung werde antreten müssen. »Laßt Ihr mir völlig freie Hand, lieber Bruder?« fragte er.

Und der Pfarrer murmelte mitten unter dem Gekreisch des Hobels: »Freilich – freilich – freilich.«

»Ich will heute gleich nach Moosbrunn hinübergehen,« fuhr Innocenz fort, »um auch bei dem hochwürdigen Bruder Josef Ladurner einzukehren und mir seinen Rat zu erholen; vielleicht entläßt er mich mit froheren Hoffnungen für ein gedeihliches Wirken hier, als Ihr mir sie zu geben vermögt. Habt Ihr an unseren Bruder in Moosbrunn etwas auszurichten?«

Aloys Antholzer hatte in seiner Beschäftigung mit einem kurzen Aufblick innegehalten, und etwas wie ein heimliches Spottlächeln umglitt schattenhaft seine Mundwinkel, dann sagte er, während das Hobeleisen wiederum einsetzte: »Daß ich nicht wüßte – nichts.«

»So gehabt Euch wohl,« warf der Mönch hin, »vor dem Abend werde ich nicht zurück sein. Bis dahin Gott mit Euch!«

»Gott mit Euch!«

Innocenz schritt in trübem Sinnen hinaus. War das der einzige Erfolg einer mehr als dreißigjährigen seelsorgerischen Tätigkeit hier oben unter den Bergen, bis wohin alle die widrigen Leidenschaften und Lüste der Welt nicht hinaufzudringen vermochten, wo man sich dem Himmel doch um so viel näher fühlen und in der Umgebung einer großen, reinen und freien Natur selbst groß, rein und frei werden mußte, – daß man mit stumpfem Gleichmut dem zusehen lernte, was die Menschen, deren Herzen man lenken und deren Geister man zügeln sollte, nach eigener Willkür wirkten und taten, wenn sie nur mechanisch die äußerlichen Vorschriften der Kirche erfüllten? Daß man selber nur noch mechanisch die Amtshandlungen eines verordneten Dieners eben dieser Kirche vornahm, ohne sie mit dem Geiste zu erfüllen, der da allein doch lebendig machen konnte, was sonst leere Form und toter Buchstabe blieb? Wie ganz anders hatte Innocenz sich das Priesteramt hier, angesichts der steinernen Riesenwunder des allmächtigen Gottes vorgestellt! Dieser greise Pfarrer da drinnen an seiner Hobelbank war ein schlechter Priester geworden, und der Herr mochte ihm vergeben, daß er mit dem ihm anvertrauten Pfunde so übel gewuchert hatte. Für ihn selber aber lag in dieser Erkenntnis eine doppelt dringliche Mahnung, mit heiligem Eifer seines Amtes zu walten, und halblaut sprach er abermals vor sich hin, was er dem Pfarrer Aloys Antholzer bereits zugerufen hatte: »Hier muß Wandel eintreten!«

Unter solchen Gedanken hatte der Mönch sich auf die Wanderung nach Moosbrunn begeben. Die Häuser von St. Ulrich, an denen er vorüberkam, schienen heute wie ausgestorben. Die Leute mochten zu den Almwiesen hinaufgezogen sein, um das Heu einzubringen oder im Bergwald Holz zu fällen, welches der Villgrattenbach mit seinen Wassern dann sausend talab in die Lahn trug. Nur die Sägemühle war im Betriebe. Aber der Mann, den Innocenz auf der schmalen Holzbrücke über dem sich schwingenden Rade stehen sah, – eine kurze, gedrungene Gestalt mit grauem Stoppelbart, stechenden Augen und selbstbewußter, breitspuriger Haltung, – rückte nicht einmal an seiner Mütze, als er zu dem Mönch herabblickte, sondern behielt seine beiden Hände in den Taschen seiner abgescheuerten, glänzenden Lederhose. Auch die Kinder auf der Dorfgasse grüßten ihn nicht, sondern glotzten ihn nur scheu an, und als er einen flachsköpfigen Burschen zu sich heranrief, um ihn nach dem Wege zu fragen, antwortete ihm der zwar mit einer deutenden Handbewegung, während er die Finger der anderen Hand verlegen in den Mund steckte, konnte aber auf Innocenz' weitere Frage, ob er das Gewand nicht kenne, das er trug, und nicht wisse, wie man sich einem Priester gegenüber zu benehmen habe, mit nichts anderem erwidern als mit einem dummverwunderten Kopfschütteln. Da ließ der Mönch ihn los und ging weiter.

Er hatte den steinigen Weg eingeschlagen, der zwischen dem Arzenkopf und dem Rotkofel, immer nahe dem Fuße des letzteren, sich in südwestlicher Richtung hinwand und über die »Mauern«, eine Anzahl riesenhafter Felstrümmer, führte, die, vermutlich dereinst vom Arzenkopf niedergestürzt, jetzt von Moos und Flechten übersponnen, friedlich auf dem grünen Grunde lagen. Auf dem größten von ihnen hatte sogar eine Tanne sich eingenistet. Ihre Wurzeln, die fast völlig bloß ans Licht traten, hatten sich fest um das graue Gestein geklammert, und sie mußten aus dem in den Rissen und Fugen desselben allmählich angesammelten Erdreich wohl Nahrung genug für sich einsaugen können, denn der junge, schlanke Baum wuchs und gedieh sichtlich. Über den »Mauern« lag zwischen den ansteigenden Felsen des Rotkofels die Anderetalp eingebettet, von der das Glockengetön weidenden Jungviehs melodisch durch die Hochlandsstille zu dem Wandrer herabklang. Das stimmte ihn wieder friedvoller.

Als er dann weiter in die immer einsamere Felsenwildnis vordrang und manchmal über sich zwischen den gigantischen, grauen Zacken nur noch ein schmales Stück blauen Himmels gewahrte, fiel ihm die Weltabgeschiedenheit, in der er nun heimisch werden sollte, abermals ein, und er konnte sich nicht verhehlen, daß er jetzt gern einem Menschen begegnet wäre, einen Ton aus Menschenmund vernommen hätte. Aber er gewahrte nichts, was in der weiten Runde an Menschen auch nur erinnert hätte. Das enge Tal erschien in der Ferne von einem scharf vortretenden Felsriegel abgegrenzt, zu dem sich mächtige Schutthalden emporzogen, und es sah aus, als gäbe es dahinter überhaupt keine Welt mehr. Die Sonne stand noch nicht hoch genug, um über die ragenden Wände herüberzudringen, und über der kühl anschauernden Schattenfülle brütete lautlose Einsamkeit. Innocenz ließ sich am Fuße eines grün umwachsenen Felshügels, der zu seiner Rechten sich wie ein von ihr losgelöstes Stück an die mütterliche Brust des Rotkofels wieder zurücklehnte, nieder, um zu rasten. Er hatte den breiten, schwarzen Hut vom Kopfe genommen und die Stirn in die Hand gestützt. Da spürte er plötzlich, wie wenn ihn Schneeflocken getroffen hätten, nur daß sie nicht kühl und feucht waren, sondern warm, leicht und duftig, als hätte ein blühender Apfelbaum sich über ihm geschüttelt. Und wirklich waren es auch Blütenblätter, die wie ein lauer Regen über ihn herabgerieselt waren, ihm Kopf, Nacken und Schultern überdeckten und sogar in seinem Schoß lagen.

Verwundert schüttelte er sie von sich ab und sah auf. Aber er gewahrte oben wohl Nadelgestrüpp und verwuchertes Gekraut, jedoch keinen Blütenbaum, für den in dieser starren Steinwelt auch wohl kein Platz gewesen wäre. So konnte sich denn nur jemand einen unziemlichen Scherz erlaubt haben, und die Stirn des Mönchs krauste sich finster bei diesem Gedanken. Er erhob sich unmutig, drückte sich den Hut auf die Stirn und umschritt den Felshügel, um etwa einen Aufgang zu ihm zu entdecken. Wirklich sah er auch an einer Seite desselben ein Dutzend schmaler, roh in den Stein gehauener, moosübersponnener Stufen, die zwar nicht leicht zu erklettern waren, die er aber nun doch ohne Besinnen hinanstieg. Als er die oberste glücklich erreicht hatte, freilich nicht, ohne sich an Wurzeln und Strauchwerk dabei festzuhalten, blieb er überrascht stehen. Der Anblick, der sich ihm bot, war von fesselndem Liebreiz.

Auf der Höhe des Hügels stand ein altes, arg verwittertes Heiligenbild, von einem morschen, schrägen Holzdächlein überschirmt und von einem sich müde zur Seite neigenden Pfosten getragen. Und vor demselben kniete ein junges Mädchen, dem tiefschwarzes Haar aufgelöst in breiter Welle über den Nacken herabfloß; aber sie betete nicht, sondern umwand nur den Stamm des Bildnisses mit grünem Gerank, das sie zwischen den Fingern hielt, wie denn auch das Holzdach desselben schon grün eingesponnen und von bunten Blumen übernickt war, so daß es wie aus einem blumigen Rahmen hervorblickte. Der Unmut des Mönchs war rasch verflogen und, die letzte Stufe hinanschreitend, rief er: »Gelobt sei Jesus Christus!«

Das Mädchen mußte auf sein Kommen wohl vorbereitet sein, denn sie erschrak nicht, sondern erwiderte mit einer Stirnneigung: »In Ewigkeit, Amen!« Sie sah ihn aber nicht dabei an, sondern blieb bei ihrer anmutigen Beschäftigung. Ihr aufgesteckter Kleidrock schien noch voll von Blumen und Ranken.

Der Mönch trat näher heran, um sie zu betrachten. Sie war ein auffallend feines, zierliches Geschöpf, das den Dirnen des Hochgebirges in nichts glich, wenn sie auch ebenso gekleidet war wie diese. Ihr großer Strohhut lag neben ihr auf der Erde. Das Antlitz mit den tiefschwarzen, für das schmale Gesicht fast zu großen Augen und dem kleinen Mund unter einer zierlichen, aber energisch geschwungenen Nase erschien merkwürdig weiß neben den sonnenverbrannten Gesichtern der übrigen Gebirgsbewohner, und ein verträumter Ausdruck lag darin. Ihre Züge wiesen einen fremdländischen Typus auf, den Innocenz nicht kannte, der sie aber mit dem seltsamen Kontrast zwischen Haut- und Haarfarbe, sowie mit ihrer ganzen Erscheinung überhaupt für ihn zu einem Wesen machte, mit dem es sich wohl verlohnte, ein paar Worte zu wechseln. Er hatte sich ja ohnehin vor kurzem nach einem menschlichen Geschöpf gesehnt. »Was treibt Ihr da?« fragte er.

»Ihr seht's ja,« klang es mit einer sonderbar tiefen, warmtönigen Stimme zurück.

»Und weshalb bekränzt Ihr das Heiligenbild?«

»Ich mein' halt, es ist sonst gar so verlassen und weiß gar nichts davon, daß wieder Sommer ist.«

»Kommt denn kein Mensch sonst hierher?«

»Nein, ich glaub' niemals. Und ich sitz' nirgends lieber als hier. Schaut einmal dort hinüber.«

Sie wies mit der kleinen Hand nach der Richtung, in welcher Moosbrunn liegen mußte, und nun sah Innocenz, daß man von hier aus die Turmspitze der Dorfkirche daselbst gewahren konnte, deren goldiger Knauf in der mittägigen, hier unsichtbaren Sonne blitzte und funkelte. Über sie hinweg traf der Blick auf einen weiß flimmernden Punkt an der grauen Felswand, der einem lichten Schwalbennest glich, das dort zu kleben schien in einer für Menschen unzugänglichen Höhe. »Was ist das?« fragte Innocenz, darauf weisend.

»Das ist die Kapelle des heiligen Ulrich, welcher der Schutzpatron der Lahn ist und uns vor Bergstürzen und Schneelawinen behütet. Vor Wildwassern kann er uns nicht behüten,« setzte sie nachdenklich hinzu.

»Warum nicht auch vor Wildwassern?«

»Die kommen häufig im Herbst oder Frühjahr und richten großen Schaden an. Da hilft alles Beten nichts. Es ist auch schon einmal eine große Prozession darum gewesen. Aber es wurde doch nicht besser.«

»Vielleicht hat man nur nicht recht gebetet,« versetzte der Mönch hart.

Darauf erwiderte das Mädchen nichts mehr. Sie hatte ihr Werk nun beendet, stand auf, bekreuzigte sich und betrachtete es. Dann nahm sie von den Blüten und Ranken, die ihr Kleidrock noch barg, einige heraus, um sie sich vorn an ihrem Mieder und in ihrem Haar zu befestigen. Sie tat das, ohne sich um den Mönch zu bekümmern, und als sei es das natürlichste Ding von der Welt, sich so vor ihm zu schmücken, ohne alle Gefallsucht und mit vollkommener Anmut aller ihrer Bewegungen. Dann behielt sie noch ein paar blaue Gentianen übrig. Die reichte sie ihm dar und fragte ohne alle Scheu und Verlegenheit: »Mögt Ihr sie?«

Innocenz hatte die Blumen zurückweisen wollen, brachte es nun aber doch nicht über sich, sondern nahm sie entgegen und sagte mit leichtem Lächeln: »Ihr habt mich ja ohnedies schon mit Blumen überschüttet.«

Nun flog ihr eine helle Röte über Stirn und Schläfen hin. »Seid Ihr mir böse?« fragte sie. »Ich könnte ja sagen, es sei gar nicht meine Absicht gewesen, Euch mit den Blumen zu treffen, und ich hätte Euch gar nicht gesehen. Aber das wär' eine Lüge, und lügen kann ich nicht. Ich hatt' Euch schon eine Strecke weit den Weg heraufkommen sehen, und als Ihr nun da unten, gerade zu meinen Füßen Euch niederließet, kam es so über mich. Es war gewiß recht töricht und unbedacht, aber schlimm hab' ich's ja nicht gemeint.«

Sie sah ihn mit so rührend-kindlichem, flehendem Ausdruck an, daß er nur entgegnete: »Es ist etwas Großes, daß Ihr nicht lügen könnt. Betet zur heiligen Jungfrau, daß sie Euch zeitlebens davor bewahren möge!« Und als sie dazu ernst nickte und ihm mit ihren großen, klaren Augen, die ihn wie der Spiegel eines tiefen, kristallenen Bergsees anmuteten, ins Gesicht blickte, als ob sie noch gern Weiteres von ihm hören würde, fragte er: »Wie heißt Ihr?«

»Filomena.«

Er wartete, daß sie auch ihren weiteren Namen nennen sollte, aber sie tat es nicht, gerade als wollte sie ihm. sagen, daß es damit genug sei, wenn man sie »Filomena« nenne. »Seid Ihr aus Moosbrunn?« fragte er weiter, und als sie das bejahte: »Ihr seht aus, als wäret Ihr dort aus dem Süden heraufgekommen.«

»Ja,« erwiderte sie mit dem sinnend-träumerischen Ausdruck, der ihrem feinen, stillen Gesicht eigen war, »sie nennen mich auch die welsche Filomena. Aber ich bin ein Moosbrunner Kind.«

»Und Eure Eltern leben noch?«

Sie schüttelte traurig den Kopf. »Meinen Vater hab' ich nie gekannt, und kein Mensch kann mir von ihm erzählen. Er mag wohl ein Welscher gewesen sein, und in Moosbrunn hat man die Welschen nicht gern. Und meine Mutter ist auch schon lange tot. Sie ist sehr schön gewesen, meine Mutter, sagen sie.«

»Schönheit ist oft eine gefährliche Mitgift,« versetzte der Mönch strenge. »Hoffentlich habt Ihr andere Tugenden und Vorzüge an ihr zu rühmen. Bei wem lebt Ihr jetzt?«

»Beim Meßner. Er heißt Bartholomäus Innerkofler und ist auch der Schulmeister im Dorf.« Sie sagte das wie etwas Auswendiggelerntes, und ein unfroher Zug prägte sich dabei um ihre Lippen und in den Augenwinkeln aus.

Innocenz schickte sich zum Gehen an. »Wir könnten die letzte Strecke bis ins Dorf zusammen gehen,« sagte er.

»Wollt Ihr denn nach Moosbrunn?« fragte sie verwundert.

»Wohin sollt' ich sonst wollen?«

»Ich dächte, Ihr zöget nach Welschland hinab.«

»Nein. Ich bleibe in St. Ulrich. Und heute will ich den Pfarrer Ladurner in Moosbrunn besuchen.«

Sie sagte nichts mehr darauf, sondern begann die Stufen hinabzuklettern mit dem behenden und anmutigen Geschick, das ihr eigen war. Die sorglose Leichtigkeit ihrer Bewegungen bewies, wie oft sie schon hier den gleichen Weg gemacht hatte. Als sie dann neben ihm drunten hinwanderte, sagte er: »Ihr meint wohl auch, daß ich zu bedauern sei, weil ich auf der Lahn bleiben muß?«

Doch sie verneinte erstaunt. »Weshalb solltet Ihr zu bedauern sein? Es ist ja so schön hier, daß man schwerlich Schöneres auf der Welt finden kann. Ich kann mir eine andere Welt auch gar nicht vorstellen. Sie sagen, in Welschland sei's sonnig und blühend, aber ich meine, unsere Berge haben sie dort doch nicht. Und unsere Gletscher und Wildwasser, unsere Lärchenwälder und unsere Hochalmen! Ich möchte nicht tauschen.«

Das helle Entzücken leuchtete aus ihren Augen, während sie sich mit einer raschen Bewegung das Haar in den Nacken zurückwarf. Ihre wilde Schönheit hatte jetzt etwas, das zu der großen und wilden Natur paßte, welche sie umgab. »Es muß Euch doch oft einsam hier werden,« sagte der Mönch.

Das schien sie kaum zu verstehen. Sie sagte ihm, daß sie viel in Büchern lese, daß sie fast alle Bücher schon kenne, die der Pfarrer in seinem Studierzimmer stehen habe. Und draußen sei es immer wieder in neuer Art schön, man hätte eigentlich jeden Tag etwas anzustaunen und sehe stets etwas Fremdartig-Überraschendes; man lerne die Welt hier niemals ganz auskennen. Im Winter sei's freilich oft traurig, man sei wochenlang völlig begraben im Schnee und höre dann nichts als das Donnern der Lawinen. Das sei der einzige Ton des Lebens und sonst alles umher tot. Aber dann sitze man am prasselnden Holzfeuer des Ofens und könne lesen; das sei auch schön.

Sie sprach ohne alle Befangenheit, immer mit dem strahlenden Blick ihrer tiefen Augen, und ein seltsamer Zauber strömte von ihr aus. Der Mönch wußte aus diesem wunderlichen Mädchen nicht klug zu werden. Neben ihrer wilden Anmut sprach doch oft etwas Versonnenes aus ihren Worten, das darauf schließen ließ, sie habe draußen unter den ragenden Berghäuptern und in der herrlichen Hochlandswildnis, von der sie mit so stürmischem Entzücken redete, über vieles nachgedacht, was sonst Mädchenköpfen fremd blieb; dann kam etwas sonderbar Bestimmtes und Festes in den Ton ihrer Worte, als ob sie daran nicht rütteln lassen wolle. Der Mönch mußte sie immer wieder mit Erstaunen betrachten. Dies seltsame Geschöpf, das er hier in der Einsamkeit des weltfernen Hochgebirges am wenigsten gesucht hätte, beschäftigte ihn lebhaft.

»Wißt Ihr,« sagte sie plötzlich, »weshalb es mir eigentlich in den Sinn kam, Euch Blumen zuzuwerfen? Denkt Euch: ich habe einen Bruder, der auch Mönch ist. Den hab' ich aber nie in meinem Leben gesehen und weiß nichts von ihm, nur die Leute haben es mir gesagt. Und als ich Euch nun plötzlich unten zwischen den Bergen des Weges ziehen sah, dacht' ich, so würde mein Bruder, der von seiner Schwester nichts weiß, jetzt vielleicht auch aussehen, und da war's mir, als müßt' ich ihm zum Willkommen die Blumen hinabwerfen. Es war also doch kein ganz so mutwilliger Streich, wie Ihr denken mögt.«

Innocenz war aufmerksam geworden. »Wie heißt Ihr mit Eurem weiteren Namen, Filomena?« fragte er.

»Filomena Afinger bin ich ins Kirchenbuch eingetragen.«

»Afinger?« wiederholte er. »So nannte sich ja die alte Wurzelgräberin, mit der ich gestern ein Stück Weges ging.«

Das Mädchen hatte die vorigen Worte schon mit gesenkten Lidern gesprochen, jetzt blickte es vollends traurig vor sich hin. »Das ist meine Großmutter,« sagte sie nach einer kleinen Weile, und es kostete sie sichtliche Mühe, so zu sprechen, »aber sie mag von mir nichts wissen. Sie hat auch von meiner armen Mutter nichts wissen wollen bis zu ihrem Tode.«

Die Worte kamen ganz leise, wie ein trübes Geheimnis, zwischen ihren Lippen hervor, und ihre Brust arbeitete heftig dabei. Sie hob die Augen nicht wieder zu ihm auf und zerpflückte mit leicht zitternden Fingern eine grüne Ranke, die sie in der Hand trug. Auch der Mönch sagte nichts mehr. »Also ein Kind' der Sünde,« dachte er. »Auch hier in den Bergen gibt es also sündige Weiber und ehrvergessene Männer. Aber wie darf man dieses Kind die Sünde seiner Eltern entgelten lassen?« Er nahm sich im stillen vor, mit der alten Wurzin über Filomena zu reden; bei ihr selber mochte er mit keinem Worte mehr auf das Gehörte zurückkommen.

Sie hatten im langsamen Weiterschreiten nunmehr den Schluchtausgang erreicht und sahen Moosbrunn vor sich liegen. Die Häuser, aus denen das Dorf bestand, waren noch armseliger und ihrer noch weniger als in St. Ulrich. Sie lagen noch weiter verstreut und klommen zum Teil schon an den Hängen empor, da die Talsohle hier noch schmaler sich hinstreckte als drüben. Dennoch gewährte die Siedelung im vollen Sonnenglanz des Mittags, der die Luft zwischen den schimmernden Bergwänden zittern und flirren ließ und weißliche Wölkchen auf die phantastischen Säulen und Zacken der Dolomiten zauberte, einen freudvoll anmutenden Anblick. Hier also war Filomenas Heimat! Während Innocenz es dachte, sagte das Mädchen: »Vielleicht findet Ihr den Herrn Pfarrer gar nicht daheim. In dieser Zeit ist er fleißig auf der Jagd.«

Der Mönch glaubte nicht recht verstanden zu haben. »Auf der Jagd?« fragte er.

»Freilich. Mit dem Jäger-Lenzl. Das ist der Forstwart des Grafen von Peutelstein drüben, wenn Ihr's nicht wißt. Und der Herr Pfarrer ist ein großer Jäger. Sie sagen, er trifft besser als der Lenzl. Und unermüdlich ist er im Aufspüren und Hinterdreinsteigen. Er ist immer noch ein kräftiger Herr trotz seiner grauen Haare.« Sie mochte das unmutige Kopfschütteln bemerkt haben, mit dem Innocenz ihre Mitteilung aufnahm, denn sie setzte hinzu: »Es ist halt seine Passion.«

Der Mönch sagte nichts mehr. So legten sie schweigend den Rest des Weges bis zum Pfarrhause zurück, neben dem sich auch die Wohnung des Meßners im Schulgebäude des Dorfes befand. Aus den Vorstaffeln des Dolomitstockes flossen hier in unmittelbarer Nähe zweier Fichtenwurzeln allerlei Quellen aus der Felswand. An ihrem Grunde wuchs schillerndes Moos, das die raschen, klaren Wasser überkämmten, um selber nun in grünlichem Farbenglanz zu leuchten. Sie hatten dem Dorfe den Namen gegeben, und das Fenster, welches Filomena dem Mönch als das ihrer Kammer bezeichnete, blickte gerade darüber hin und dann weiter zu den schneeumschimmerten Zinken der Dolomiten empor, die hier die Welt zu verriegeln schienen. Das war der Monte Valdena, wie sie ihm sagte. »Und dahinter, tief unten ist Welschland,« setzte sie hinzu.

Der Mönch begegnete, als er das Pfarrhaus betreten wollte, dem Meßner, der eben im Begriff war, den Turm hinanzusteigen, um die Mittagsglocke zu läuten. Nun rief er durch einen Pfiff einen halbwüchsigen Burschen heran, der auf der Gasse herumlungerte und gab ihm den Auftrag, den Glockenstrick zu ziehen, während er selber mit kriechender Höflichkeit den Gast bewillkommnete und sich gar nicht genug tun konnte in Versicherungen der hohen Ehre und des seltenen Glücks, einen hochwürdigen Bruder vom Orden des heiligen Benediktus hier begrüßen zu dürfen. Dem Mönch war dieser sich demütig krümmende, die listigen kleinen Augen von rötlicher Farbe heuchlerisch verdrehende Mann gleich in der ersten Minute, da er ihm gegenübertrat, zuwider. Scheinheiligkeit war ihm von jeher ein Greuel gewesen, und diesem hier leuchtete sie aus Bücken und Mienen. Es war ihm peinvoll, denken zu müssen, daß dieser kleine, hagere Mann, der da in seinem unsauberen Gewande so unterwürfig und katzenfreundlich sich vor ihm bückte, als ob er einen Heiligen in leibhaftiger Gestalt vor sich habe, Filomenas Pflegevater sei. In wenig freundlichem Ton fragte er nach dem Pfarrer.

Bartholomäus Innerkofler hielt immer noch sein schmieriges, schwarzes Käppchen in der Hand, das er von seinem mit rötlichen Borsten überdeckten, tonsurierten Kopfe gezogen hatte, und sein verwittertes, häßliches Gesicht verzerrte sich zu einem süßlichen Lächeln. »Wenn der hochwürdige Herr Bruder nur einstweilen eintreten wollten,« sagte er mit einer merkwürdig schnalzenden Stimme, »der Herr Pfarrer Hochwürden müssen ja jeden Augenblick wieder da sein. Der Herr Pfarrer haben das Mittagessen nicht abbestellt, was unbedingt geschehen wäre, wenn der Herr Pfarrer nicht heimkommen wollten. Und der hoch würdige Herr Bruder nehmen doch gewiß einen Löffel Suppe beim Herrn Pfarrer. Freilich, wie wir's bieten können, recht und schlecht. Hier oben in der Schneeregion. – Der Hochwürdige wird schon wissen, was das bedeutet. Filomena, was stehst du so untätig da? Lauf zur Moidel hinein und bestell', was der Herr Pfarrer heut für einen Gast haben wird! Der Hochwürdige sind mit dem Dirndel zusammen gekommen? Ja, die treibt sich den ganzen Tag in den Bergen umher, – du lieber Gott, was soll man mit dem jungen Blut beginnen? Zur harten Arbeit, wie unser Volk hier in den Bergen sie betreiben muß, ist das zarte, zerbrechliche Ding ja nicht zu gebrauchen. Und höher hinaus kann sie ja auch nicht. Da läßt man sie eben wild herumlaufen. – Aber der Hochwürdige müssen ja müde sein. Beliebt es denn dem Hochwürdigen nicht, einzutreten?«

»Wenn Ihr wirklich sicher seid, daß der Pfarrer Ladurner alsbald heimkommt,« versetzte Innocenz zögernd, »möcht' ich ihn freilich erwarten.«

»Aber ganz sicher – aber ganz sicher,« beteuerte der Meßner, die Hand aufs Herz legend. »Belieben Hochwürden doch nur –, der Herr Pfarrer würden es nie verschmerzen –«

Er hatte die Tür der Pfarrwohnung aufgestoßen und geleitete den Mönch in ein sauber und wohnlich ausgestattetes Gemach, dessen Wände mit allerlei Jagdflinten und Waidmannstrophäen geschmückt waren, das aber in nichts auf einen Angehörigen des geistlichen Standes als Bewohner hindeutete. Eben, als sie eintraten, begann draußen das Mittagsgeläut, und die beiden Männer falteten die Hände, um ihr Gebet zu murmeln. Dann fragte Innocenz, sich am Fenster in einen Sessel niederlassend, während der Meßner in gekrümmter Haltung, mit schief auf die Schulter gelegtem Kopf und erwartungsvoll schielenden Augen vor ihm stehenblieb: »Ihr seid der Pflegevater dieses Mädchens?«

»Freilich wohl,« war die seufzend gegebene Erwiderung, und die Augen des Sprechers richteten sich wieder zur Decke empor, »was sollte man tun, Hochwürden? Die Mutter in Armut und Schande zugrunde gegangen, der Vater unbekannt und niemand sonst mehr von Angehörigen am Leben als eine alte, hartherzige Großmutter, die von dem Sündkind nichts wissen will und überhaupt kein christliches Herz in der Brust trägt, sondern eine wahre Heidin und abscheuliche Kräuterhex' ist, – wer hat da die Pflicht, sich so eines armseligen, schon bei seiner Geburt verdammten Wurms in christlicher Barmherzigkeit anzunehmen, damit es nicht vollends verkommt und an Leib und Seele Schaden nimmt? Der Herr Pfarrer Hochwürden hat das bildsaubere, junge Ding doch nicht wohl zu sich ins Haus nehmen können. Denn der Herr Pfarrer sind zwar ein alter Mann, aber das Gerede hätt' doch nicht geschwiegen. Gibt ja heutzutage noch immer Leut', denen die Moidel zu jung scheint zur Pfarrköchin für den beinahe sechzigjährigen Herrn. Möge die heilige Jungfrau ihnen die Schandmäuler stopfen! Und da hat sich wohl der armselige Meßner von Moosbrunn des unglückseligen Würmchens annehmen müssen. Heiliger Gott, ja, sie hat mir mancherlei Not gemacht. Aber wenn der gütige Vater im Himmel dereinst unsere Vergehungen und unsere guten Werke gegeneinander abwägen wird –, da hör' ich den Herrn Pfarrer!« unterbrach er sich plötzlich, aufhorchend, »da will ich doch gleich hinaus und ihm melden, welch' eine Ehre –«

Aber er fand keine Zeit mehr, sein Vorhaben auszuführen, denn die Türe wurde schon aufgerissen und der Pfarrer von Moosbrunn trat über die Schwelle. Er war nicht in geistlicher Gewandung, sondern trug die verschlissene, arg von Wetterunbill wie von häufigem Gebrauch zerschundene Kleidung eines Hochgebirgsschützen; den Büchsenkolben stieß er wuchtig auf den gedielten Boden nieder, als er hereintrat. Dennoch sah man ihm seinen geistlichen Stand an, wenn er auch eine andere Gattung des Priesters verkörperte, als der Pfarrer Aloys Antholzer in St. Ulrich. Josef Ladurner war ein hochgewachsener, stämmiger Mann, der dem Mönch an Leibesgröße gleichkam, ihn an Schulterbreite und Muskelstärke aber um ein bedeutendes überragte. Alles an ihm war derbe Kraft und sehnige Gedrungenheit. Auf den ersten Blick schon verriet er seine bäuerliche Herkunft, einer von jenen Priestern, die überall im Land Tirol zu finden sind. Sie gehen aus den Bauernhäusern des Hochgebirges hervor, deren Bewohner es als ihren höchsten Stolz betrachten, einen ihrer Söhne »geistlich« werden zu lassen, denen auch kein Opfer zu groß erscheint, um dies hochbegehrte Ziel zu erreichen. Der Kopf des Moosbrunner Pfarrers zeigte den groben, eckigen Knochenbau des Alpenbauers. Sein straffes, graugesprenkeltes Haar stand über einer niedrigen, vorgewölbten Stirn, unter der helle, selbstbewußt blickende, unfrohe Augen lagen. Die breite, gerade Nase, die hervorstehenden Backenknochen und der energische Mund mit großen, weißen, vortretenden Wolfszähnen machten das Gesicht wenig anziehend. Es lag abweisender Trotz, vielleicht sogar starre Bitterkeit darin ausgeprägt; von weicheren Empfindungen las man nichts darin. Wenn er lachte, nahm das Gesicht des Pfarrers einen wild triumphierenden Ausdruck an.

Innocenz hatte Muße gehabt, den Eintretenden zu betrachten, der Büchse und Jagdtasche an die Wand hängte, ehe er seinen Gast begrüßte. Er tat das mit kühler Freundlichkeit ohne alles Zeremoniell, und seine derbspurige Art stach auffallend von der kriechenden Höflichkeit des Meßners ab, der rasch zum Zimmer hinausgeschlüpft war. »Wenn Euch der Anzug da genieren sollt', will ich ihn wechseln,« sagte Josef Ladurner rauhkehlig, als der Mönch ihn mit zweifelhaften Blicken musterte. »Für heut' ist die Jagd zu Ende.«

»Um meinetwillen legt Euch keinen Zwang auf,« versetzte Innocenz kalt, »aber ich verhehle Euch nicht, daß es mich überrascht, Euch so zu sehen.«

»Warum?« lachte der Pfarrer herb. »Meint Ihr, es widerstreite unserem heiligen Amt, den Tieren des Waldes nachzustellen? Oder erregt Euch nur das Joppel da Anstoß? In der Soutane kann man dem Hirsch im Bergforst nicht nachsteigen. Und wenn es schon überhaupt keine Sünde, sondern göttliche Willensbestimmung ist, das Wild zu töten, damit es uns überlegenen Geschöpfen Gottes zur Nahrung dient, weshalb sollt' es dem Priester versagt sein? Nimrod war ja in all seiner Frömmigkeit ein großer Jäger vor dem Herrn!«

Er hatte sich bei diesen Worten auf einen Holzsessel geworfen, der unter ihm erkrachte. Innocenz bückte finster vor sich hin. »Das ist eine üble Verteidigung,« sagte er; »denn es ist auch jedem Manne gestattet, ein Weib zu nehmen, nur dem Priester nicht.«

Josef Ladurner war unwillkürlich aufgefahren. Er schien zu überlegen, ob der Mönch seine Worte mit bestimmter Beziehung gesprochen oder nur zufällig so gewählt habe. Eine dicke Falte stand über seiner Nasenwurzel. Dann sagte er achselzuckend: »Nehmt's, wie Ihr wollt, ich denke darüber, wie ich will. Wenn Ihr zwanzig Jahre in dieser gottverdammten Einöde stecktet wie ich, wer weiß, wozu Ihr gegriffen hättet in Eurer Verzweiflung! Jeder rettet sich eben, wie er kann, versteht Ihr? Was wißt Ihr mit Euren schwarzen Haaren schon davon, wie es tut, wenn man in seinem besten Mannesalter hierher verbannt wird, um bis zu grauen Haaren in derselben Schnee- und Eiswüste, unter diesem wortkargen, stumpfsinnigen Volk der Berge Tag um Tag mit der gleichen leeren Traurigkeit, in derselben einförmigen Öde verstreichen zu sehen, fern von allem, was Leben und Welt sonst dem bieten, der für sie geschaffen und gebildet worden? Denn das ist's ja allein, was diese Menschen hier oben ihr Dasein ertragen läßt, was sie vor Wahnsinn oder Berserkerwut schützt, in die sie sonst unrettbar verfallen müßten: sie kennen kein anderes Leben, sie wollen kein anderes, sie sind an das gewöhnt, das sie führen, und trotten so im ewigen Kreislauf ihrer Tretmühle fort, bis es zu Ende ist, ohne je darüber nachzudenken, ob das so sein mußte und warum das so sein mußte. Aber wir, die wir alles sehen und wissen, die wir's fühlen in jedem Nerv, in jeder Gehirnzelle, in jedem Herzschlag, was wir entbehren, um was man uns bestiehlt –, wie sollen wir es ertragen? Und doch sind die alle hier freie Menschen, die jeden Tag das Joch von ihrem Nacken abschütteln und in die weite Welt hinausgehen und ein anderes Leben aus eigener Kraft beginnen könnten, während wir hier festgeschmiedet sind mit ehernen, unzerreißbaren Ketten. Und wir fühlen sie in jeder Stunde unseres Lebens, wir hören sie hinter uns dreinklirren, wohin wir den Fuß auch setzen mögen. Ein Schrei der Empörung geht durch die gebildete Welt, wenn von den Verschickungen russischer Verbrecher nach Sibirien die Rede ist. Wenn aber die kirchlichen Oberen einen von uns in diese Hochgebirgswüste senden, damit wir hier langsam geistig zugrunde gehen sollen, erhebt sich keine einzige Stimme des Widerspruchs oder der Anklage. Und doch ist es ein Seelenmord, der an uns begangen wird!«

Der heftig-wilde Ausbruch, zu dem der Sprecher sich wider seinen Willen hatte hinreißen lassen, schien ihn jetzt selber zu erschrecken, vielleicht hatte er auch die fragendentsetzten Augen des Mönches gewahrt, die auf ihn gerichtet waren. Er hielt inne, zuckte dann aber mit den Schultern und lachte grell auf. »Wundert's Euch, mich so reden zu hören? Ein Wagnis, das mir teuer zu stehen kommen kann, wenn Ihr nicht reinen Mund haltet, nicht wahr? Widersetzlichkeit gegen die Oberen, Unbotmäßigkeit und üble Nachrede, statt daß ich nach zwanzig Jahren doch gelernt haben sollte, den Nacken zu beugen und in widerspruchsloser Ergebenheit mich in alles zu fügen, was doch nur verdientermaßen, ja, noch nicht einmal voll nach Verdienst über mich verhängt worden ist! Ihr vergeßt nur eins: daß ich nicht allzuviel mehr aufs Spiel zu setzen habe, hochwürdiger Bruder! Gelüstet's Euch also, mich zu denunzieren, so seh' ich den Folgen ziemlich beruhigt entgegen. Was kann mir noch viel widerfahren? Bei der letzten Kirchen Visitation durch die hochlöbliche Kommission unseres Herrn Erzbischofs hab' ich in allen Ehren bestanden; man fand, daß ich ein guter Hirt meiner Gemeinde sei. Freilich hatte man es ein wenig eilig gehabt, von hier wieder fortzukommen. Die Herren waren das ortsübliche Essen hier nicht gewohnt, und der Wein des Pfarrhauses wollte ihnen nicht sonderlich schmecken. Auch fing es draußen zu schneien an, – mitten im Sommer! Da fürchteten sie, es könnte ihrer für das Heil der Kirche und aller Gläubigen so wertvollen Gesundheit schaden, wenn sie noch länger hier blieben, um dem Seelenheil dieser versprengten Schäflein hier oben nachzuspüren, und zogen mit vielen frommen Wünschen für meinen Wandel und meine Lehre eiligst von dannen. Seither steh' ich in gutem Geruch bei ihnen. Und ich glaube, sie würden mir meinen sündhaften Widerspruchsgeist sogar noch einmal in Gnaden verzeihen. Wenn sie mich aber vor ihr Gericht forderten und selbst den großen Kirchenbann über mich verhängen wollten, – hochwürdiger Bruder, ich habe zwanzig Jahre in dieser Einöde gelebt, einem Tiere ähnlicher als einem Menschen, mich schreckt auch das nicht mehr! Ich schrei' es endlich doch einmal hinaus, was ich denke, und muß es, oder es zersprengt mir die Brust. Und heucheln hab' ich hier immer noch nicht gelernt. Ihr sollt wissen, wen Ihr vor Euch habt!«

Er war aufgestanden und hatte mit großen Schritten das Zimmer durchmessen. Die Bodendielen erkrachten unter den wuchtigen Tritten seiner eisenbeschlagenen Bergstiefel. Auch der Mönch war von seinem Sessel emporgefahren. Seine Stirn war düster gefurcht, und seine Augen blickten zu Boden. In seiner Brust kämpften fassungsloses Erschrecken, Zorn und heimliches Erbarmen heftig miteinander, er war in heißer Erregung, noch kaum fähig, alles Gehörte seiner ganzen Tragweite nach zu begreifen. »Ich wußte nicht, daß dies ein Verbannungsort für Priester ist,« murmelte er. »Nun erst beginne ich, manches zu verstehen.«

»Man heißt es auch den ›geistlichen Tod‹,« warf der Pfarrer ein, immer in dem gleichen bitter-hohnvollen Ton, der alle seine Worte durchklang. »Und christliches Erbarmen hat diese Strafe für unbotmäßige Verkündiger unseres heiligen Glaubens ersonnen. Aus Aloys Antholzer haben sie einen stumpfsinnigen, vertierten Greis gemacht, – ich suche mich vor einem ähnlichen Schicksal zu retten durch die Pirsch im Bergwald und bin ein echter und rechter Bauer geworden, wie ich's hätte bleiben sollen und geblieben wäre, hätte man mich um meinen Willen gefragt. Und es sind ihrer noch manche, die gleich uns im hohen Gebirg den ›geistlichen Tod‹ erleiden, – alles zur höheren Ehre Gottes! Und Ihr? Was habt Ihr verbrochen, daß man diese teuflisch ersonnene Strafe über Euch verhängt hat?«

»Ich?« Innocenz schüttelte den Kopf. »Ich bin mir keiner Schuld bewußt und bin nur hierhergesandt, um dem Pfarrer Antholzer in St. Ulrich in seinem schweren Berufe, dem er nicht mehr gewachsen ist, beizustehen.«

Josef Ladurner lachte spöttisch auf. »Aus dem Grunde senden sie keinen Mönch die Lahn herauf! Aber was kümmert's mich, worin Euer Vergehen besteht? Ich hab' Euch ja auch von dem meinigen nicht gesprochen. Um das Seelenheil der weltfernen, kleinen Christengemeinde hier oben sind sie nicht gar so ängstlich besorgt.«

»Wollt Ihr, daß sie ohne Hirten bleiben sollten?« fragte der Mönch in anklagendem Ton.

»Nicht doch. Aber man sollte die Geistlichen hier oben in den einsamen Hochgebirgstälern, in denen der Winter neun Monate währt, ablösen, wie man die Offiziere in den tropischen Garnisonen, deren Klima auf die Dauer todbringend wirkt, alle paar Jahre heimruft. Oder ist der geistige Tod minder furchtbar als der leibliche? Eine Verbannung auf Lebenszeit wird nur schweren Verbrechern zuteil. Was haben wir begangen, daß man sie über uns verhängt? – Aber was schwatzen wir da viel! Ich bin hungrig und durstig; wahrscheinlich seid Ihr's auch. Kommt hinüber! Das Essen wird fertig sein.«

Innocenz folgte ihm schweigend, als er die Türe aufriß und mit dröhnender Stimme schrie, man solle das Essen bringen. Ihm selber war nicht danach zumute, jetzt zu Tische zu gehen, er wußte, daß er keinen Bissen würde hinunterbringen können. Das Herz war ihm schwer geworden, und die Gedanken wühlten und bohrten in seinem Kopfe. Hierher war er gekommen, um sich Trost und Rat zu erholen, die er in St. Ulrich nicht fand. Es war auch gerade der rechte Ort gewesen! Mit bitter-traurigen Empfindungen betrat er das Zimmer, in welchem der Tisch gedeckt war.

An der Mahlzeit nahmen auch der Meßner und Filomena, sowie die Haushälterin des Pfarrhauses teil, die Josef Ladurner dem Mönch schlechthin als »die Moidel« nannte. Sie war sichtlich noch in den dreißiger Jahren, wenn auch nach Art der Gebirgsbewohner früh gealtert und zeigte Spuren großer Schönheit, die aber in das Derbe und Bäuerische hineingeartet war. Obgleich ihr Äußeres dem Mönch um deswillen nicht sonderlich reizvoll erschien, gefiel ihm ihre Anwesenheit im Pfarrhause doch wenig, zumal der vertrauliche Ton, der zwischen ihr und Josef Ladurner angeschlagen wurde, ihn peinlich berührte. Er mußte an die Worte Bartholomäus Innerkoflers denken, daß manche sogar an der noch zu jugendlichen Pfarrersköchin Anstoß nähmen. Wenn er nur Filomena wenigstens hier nicht heimisch gewußt hätte! Der Hauch von keuscher Unberührtheit, der ihre herbe, wilde Anmut umgab, konnte hier nur allzuleicht von ihr abgestreift werden. Wenn sie freilich unter der Obhut dieses heuchlerischen Schleichers so geworden war, wie er sie gefunden hatte, mußte sie wohl gegen alle äußeren Einwirkungen gefeit sein. Dennoch war ihm bange um sie, und seine Augen glitten manchmal besorgt zu ihr hinüber; sie aber erwiderte seine Blicke nicht, sondern blieb still und teilnahmlos, als ob sie sich ganz allein hier befände.

Um so lauter und lebhafter führte Josef Ladurner das Wort. Es war, als ob er sich nach den stattgehabten Gemütserschütterungen gewaltsam wieder in eine andere Stimmung hinüberretten wollte, und zwar in die gleiche, die ihn das Leben hier überhaupt allein ertragen ließ. Er erzählte von der heutigen Jagd, kam dann auf frühere Jagdabenteuer zu sprechen und gab schließlich allerlei Erlebnisse aus dem Jäger- und Wildschützendasein des Hochgebirges zum besten; alles das mit dröhnender Stimme und unter Anwendung aller Kraft- und Kunstausdrücke, die seine innige Vertrautheit mit dem waidmännischen Handwerk bewiesen. Dazwischen scholl sein schütterndes Lachen, wenn er, unbekümmert um seine Zuhörer, ein derbes Wort gebraucht hatte, und Messer und Gabel kamen nicht zur Ruhe. Er aß rasch und viel und sprach daneben fleißig dem Wein zu, einem herben, säuerlichen Tiroler, der das Blut erhitzte. Als er sah, daß Innocenz sein Glas noch nicht einmal geleert hatte, rief er: »Der Rote schmeckt Euch nicht, nicht wahr? Man muß ihn gewöhnt sein. Ich hab' auch was Beßres im Keller. Echten Conegliano. Der ist nicht zu verachten, lieber Bruder,« – er schnalzte mit den Lippen, – »ist freilich gepaschte Ware. Sie schmuggeln uns da so allerlei aus Italien herauf; das muß man doch zum wenigsten von der Nähe haben können. Wollt Ihr ihn versuchen?«

Als Innocenz ablehnte, zuckte er die Achseln. »Wie Ihr wollt. Schlechter schmeckt er uns deshalb nicht, daß die kaiserlich-königliche Finanz um die Steuer geprellt worden ist.« Und er trank weiter und sprach weiter, als wäre nichts Auffälliges bei dem, was er gesagt. Es ergab sich aus seinen Worten, daß er auch mit seinen Bauern wacker zu trinken pflegte, wenn es darauf ankam, und weder das landesübliche »Pfeifl« noch sonst eine bäuerliche Gewohnheit oder die Beteiligung an einem dörflichen Vergnügen verschmähte. Innocenz war froh, als die Mahlzeit vorüber war und er aufstehen konnte. Josef Ladurner aber zündete sich eine lange, schwarze Zigarre an, die eigentlich durch einen Strohhalm geraucht werden mußte, die er jedoch lieber in der Länge eines Fingergliedes abbiß, um ihr dann graue Wolken zu entlocken, die einen scharfen, beißenden Geruch hatten. So trat er mit dem Mönch vor die Türe hinaus, da dieser erklärt hatte, wieder gehen zu wollen. Auf das, was er hier hatte erreichen wollen, durfte er sich keine Hoffnungen mehr machen.

»Euer heiliger Beruf muß Euch trotz allem auch hier Trost und Kraft verleihen können, lieber Bruder,« sagte der Mönch, als sie draußen standen und zu den glanzumstrahlten Dolomiten aufblickten, »es ist ein gottesfürchtiger Menschenschlag hier in den Bergen. Die vielen Heiligenbilder, Kapellen und Stationen, denen man begegnet, beweisen das deutlich.«

Der Pfarrer gab, die Zigarre von einem Mundwinkel in den anderen hinüberspielend, einen grunzenden Ton von sich. Dann sagte er: »Gottesfürchtig? Wie man's verstehen will. Sie haben hart zu arbeiten hier oben und ringen sich das tägliche Brot mit Gefahr ihres Lebens ab. Mit dem Steigeisen an den Schuhen mähen sie das karge Gras von den Berghalden; stürzende Stämme, Wildwasser, Felstrümmer und Lawinen bedrohen sie an jedem Tage. Solch Dasein hielten sie nicht aus, wenn sie nicht alle zwanzig Schritt ein Kruzifix oder ein Madonnenbild vor sich sähen. Daran richten sie sich immer auf, weil sie an den ewigen Lohn im Himmelreich denken für alle ihre Mühen. Und wie sie beten können! So betet wohl kein Volk der Erde, wie unsere Leute hier in den Bergen. Wie auf Kommando geht's, scharf und laut. Aber es ist kein Flehen, ein trotziges Ringen ist's, eine harte, unerbittliche Pflichterfüllung. Sie tun ihre Schuldigkeit und verlangen dafür ihren Lohn. Und wenn die Heiligen dann ihre Pflicht nicht auch erfüllen, dann knirschen diese Beter mit den Zähnen oder verfallen in finstere, dumpfe Apathie. Das ist ihre Gottesfurcht. Nirgends werden die kirchlichen Vorschriften strenger innegehalten bis aufs kleinste als hier, nirgends sind die Leute fanatischer im Festhalten an dem heiligen Brauch, und der Priester hat wahrscheinlich keinen schweren Stand bei ihnen. Aber mit ihrem Leben hat ihre Gottesfurcht nichts zu tun, darauf wirkt es nicht ein. Das sind ihnen zwei ganz verschiedene Dinge: ihr Tun und Treiben und ihre Frömmigkeit. Und doch heucheln sie nicht. Sie geben Gott, was Gottes ist, und richten sich ihr Dasein daneben ein, wie ihr harter Kopf und das harte Leben es ihnen gebieten.«

»Und Ihr glaubt nicht, daß hier Wandel geschafft werden kann?« fragte Innocenz düster.

»So lang Ihr aus jenen knorrig-verwetterten Zirben da oben nicht blühende Linden umschaffen könnt, Bruder Innocenz, nein, so lange nicht!« Der Pfarrer lachte schneidend auf und blies dann eine mächtige, grauschwarze Wolke vor sich hinaus. »Und da unten,« setzte er plötzlich mit starrem Blick heiser hinzu, »da unten ist Italien, – die Sonne, das Licht und die Farbe!«

Der Mönch blickte ihn halb verwundert, halb feindselig an. Da fuhr Josef Ladurner fort: »Ich weiß, was Ihr mich jetzt fragen möchtet. Nur daß Ihr's nicht wagt. Aber ich will es Euch ohne das beantworten. Aus Feigheit, Bruder Innocenz, aus schwacher, elender Feigheit tu ich's nicht, hab' ich's bis heut nicht getan. – Und nun lebt wohl! Ich würd' Euch gern eine Strecke weit begleiten, aber sie begraben heute einen, den sie neulich droben in der Gaisklamm gefunden haben, – dreißig Meter tief ist er beim Holzabfahren hinuntergestürzt und läßt fünf Kinder und ein Weib zurück, das ein halber Trottel ist. Wenn Ihr einen anderen Heimweg einschlagen wollt, der nur um weniges weiter und dafür schöner ist, geht über den Dürrensee, – dort links an der Schutthalde hinauf und dann immer geradeaus. Und wenn Ihr einmal Lust habt zu einer Hochalpenwanderung, findet Ihr mich allezeit bereit. Die Frist ist kurz und man muß sie nützen. Im übrigen werdet Ihr mich wohl ein wenig brauchen können, denk' ich. Und so behüt' Euch Gott! Lebt wohl!«

Es lag in all seiner derben Bitterkeit doch ein ehrlicher und herzlicher Ton, der auf den Mönch nicht ohne Eindruck blieb. Innocenz schüttelte ihm kräftig die Hand, ehe er weiterschritt, und blickte an der Wegbiegung, die ihm eine letzte Rückschau auf das Alpendörfchen gewährte, noch einmal zu der mächtigen Gestalt hinüber, die unbeweglich an der Tür des Pfarrhauses lehnte und auf die nackte Felswand des Monte Valdena zu starren schien, hinter der »die Sonne, das Licht und die Farbe« wohnen sollten. In schwerem Sinnen verfolgte der Mönch seinen Weg. Mehr und mehr drängten sich die Bergsteilen vor ihm aneinander, in jähen Abbrüchen erhob sich graues, rötliches und ockergelbes Dolomitengewände, von dürftigem Gestrüpp umlagert, drohend über der dunklen Schlucht herniederhängend. Innocenz fiel ein, daß er die alte Wurzin hatte aufsuchen wollen, um mit ihr über Filomena zu sprechen. Über all dem Neuen, was sich belastend in seine Seele drängte, hatte er es vergessen, auch dem Mädchen nicht einmal Lebewohl gesagt.

Er hatte das kaum gedacht, als er zu seinem jähen Erstaunen plötzlich ihre Stimme vernahm und ihre Gestalt hinter einem Felsvorsprung dicht vor ihm auftauchte. »Filomena!« rief er erstaunt, »wo kommt Ihr her?«

Sie war mit roten Wangen und gesenkten Lidern vor ihm stehengeblieben. »Ich hab' Euch doch ›Behüt' Gott!‹ sagen wollen.«

»Und woher wußtet Ihr, wo ich gehen würde?« fragte er.

»Hab' es mir halt eingebildet. Und ich bin näher gegangen als Ihr. Aber es ist ein halsbrecherischer Weg, und wer ihn nicht kennt, geht ihn nicht. Behüt' Gott, also!«

Sie bot ihm ihre Hand. Er hielt sie eine kleine Weile in der seinen und sagte: »Ich hoffe, Euch bald und oft wiederzusehen, Filomena. Der Herr sei mit Euch!«

Sie beugte sich nieder, um seine Hand zu küssen, aber er duldete es nicht, sondern legte sie nur wie zum Segen auf ihr weiches seidiges Haar. Dann war sie davongehuscht, ohne daß er zu sagen gewußt hätte, wohin sie sich gewandt. Wie eine Lazerte war sie durch das zerklüftete Gestein geschlüpft. Innocenz schritt rasch weiter. Er kam über eine schlanke Holzbrücke, unter der in der Tiefe ein blaßgrüner Wildbach strudelte, und nun lag in düsterer Reizlosigkeit die starre Bergwildnis um ihn her. Er aber dachte nicht ihrer, sondern der finsteren Wildnis des Lebens, in die er verschlagen worden war, und sein Haupt war voll irrer, schweifender Gedanken. Wie ein düsteres Verhängnis blickte jetzt in seinem Trotz der Roßkamm hinüber, von Bergföhren spärlich umwachsen, von weißen Schotterfurchen durchzogen. Zur Rechten stiegen schweigsame Wälder, dunkel und ernst, die Höhen hinan, linksseitig lagerten sich kurze, schmale Halden, von einem dünnen Wasserfall mit staubartig sprühendem Schleier benetzt. Kein Vogel schoß durch die Luft, kein Herdengeläut war vernehmbar. In unermeßlichem Schweigen lag die Bergwelt.

Nach einiger Zeit wandelte den Mönch die Besorgnis an, daß er irre gegangen sei. Der Dürrensee wollte sich nicht zeigen, und einen Ausweg schien das enge Tal nicht zu haben. Dabei mußte er schon Stunden unterwegs sein. Und immer, wenn er an einer Wegebiegung einen Ausblick zu gewinnen hoffte, schoben sich neue Felswände kulissenartig davor und veränderten das Bild, das sich nur in seiner trostlosen Großartigkeit gleichblieb, so vollständig, daß Innocenz nur noch weniger sich Rats wußte, wohin er sich wenden müsse. Hatte er eins von den »Steinmannln«, die er unterwegs getroffen, doch übersehen oder die Richtung, die es deuten wollte, nicht richtig aufgefaßt? Einen Augenblick kam ihn das Verlangen an, wieder umzukehren, aber er schämte sich der Furcht, die ihn heimsuchen wollte. Und wenn er heute aus diesem Labyrinth aus grauen Steinwänden gar nicht wieder herausfand, so würde er auch hier in Gottes Hand sein, und Gottes Wille allein wäre es, wenn er überhaupt nie mehr an das Licht des Tager herauftauchen, sondern hier elend zugrunde gehen sollte. Und dennoch klopfte sein Herz wild und stürmisch, und sein Blut begann zu fiebern, als die Felsenge immer düsterer und trauriger um ihn her wurde. Dies ungeheure Schweigen der Hochlandseinsamkeit erdrückte ihn geradezu. Eine stumpfe Hilflosigkeit überkam ihn plötzlich. Er setzte sich todmüde auf einen Stein am Wege nieder und blickte um sich. Es kam ihm vor, als sei er hier vor einer Stunde schon einmal gewesen und nun im Kreise gegangen, um an die gleiche Stelle zurückzugelangen. Das warf seinen letzten Rest von Vertrauen vollends über den Haufen. Er mochte nicht weiter gehen. Mit leerem Blick und dumpfem Kopf saß er da, kaum fähig, etwas zu denken, geschweige denn einen Entschluß zu fassen.

Da hörte er mit einem Male einen Ton, ein Geräusch des Lebens, das erste, das er vernahm, seit Filomena ihn verlassen hatte. Er schrak empor, er konnte es nicht verhindern, daß ein wohliges Beben ihn durchfuhr, er zitterte in wieder erwachender Daseinslust. Das Bellen eines Hundes drang drüben aus den tannendurchwachsenen Bergtrümmern, und nun schoß auch schon eine große, silbergraue Dogge in mächtigen Sprüngen zwischen einer aufklaffenden Spalte hervor, hatte den Mönch ausgespürt und blieb knurrend und ihr mächtiges Gebiß zeigend in drohender Haltung vor ihm stehen. Innocenz gewahrte, daß sich ein breiter, silberschuppiger Reif um den Hals des schönen Tieres schlang, der auf einem kleinen Schilde in der Mitte ein eingraviertes Wappen trug. Während er den Hund vergebens zu besänftigen suchte, scholl eine helle Frauenstimme zu seinem Platz hinüber: »Hierher, Hektor! Hierher!« Der Hund gehorchte sichtlich ungern. Er wandte sich mit zornigem Knurren langsam ab und fing schon wieder wütend zu bellen an, als der Mönch nun aufstand und Miene machte, ihm zu folgen. Nochmals erklang die Stimme seiner Herrin befehlend zu ihm hinüber, diesmal noch gebieterischer als vorher, und jetzt klemmte er, offenbar beschämt, den Schwanz zwischen die Beine und trottete gesenkten Kopfes unter fortwährendem dumpfem Knurren davon.

Innocenz mühte sich, ihm nachzukommen, um bei der Herrin des schönen Tieres sich nach der Wegrichtung zu erkundigen, die er einzuschlagen hatte, um St. Ulrich zu erreichen. Er mußte dabei zwischen Felsgeröll weglos aufwärts klimmen, stand nach einigen Minuten atemlos auf einem kleinen, von Gebüsch umwucherten Grasfleck einer dort auf einem umgestürzten Baumstamme sitzenden Dame gegenüber, zu deren Füßen die Dogge sich schmeichelnd wand, und stammelte seinen Gruß, der mit einem leichten Kopfneigen erwidert wurde. Dann sahen sich die beiden sekundenlang an, ohne ein weiteres Wort zu finden, und es war, als flammten ihre Augen wie magnetisch angezogen und dennoch mit einem feindseligen Blick gegeneinander. Innocenz schaute auf das schlanke, blonde, schöne Weib, das da in lässig-vornehmer Haltung seine herrlichen Glieder vor ihm dehnte, wie auf ein Wunder der Schöpfung, das er niemals zuvor gesehen. In ihren Augen dagegen, die dem Mönch die Farbe des Himmels über ihren Häuptern zu weisen schienen, lag eine instinktmäßige Abwehr, ein unmutiger Widerstand.

Endlich war sie es, die dies seltsame Schweigen brach. »Der Hund hat Sie belästigt?« fragte sie in nachlässigem Ton. »Ich bedaure.«

Innocenz war rot geworden, weil er sich erst jetzt seines auffälligen Benehmens bewußt ward. Er stotterte: »Im Gegenteil, ich muß sehr dankbar sein. – Ich habe den Weg verloren und hätte gar nicht gewußt – nun kam mir der Hund geradezu wie ein Retter in der Not. – Ich sehnte mich sehr nach einem Menschen.«

Es kam ihm vor, als ob sie irgendeine bitter-spöttische Bemerkung auf der Zunge habe, die sie nun doch unterdrückte. »Wohin führt Sie Ihr Weg?«

»Nach St. Ulrich.«

»Und Sie kommen von Moosbrunn? Dann sind Sie nach dem Überschreiten der Klammbrücke den unteren Weg gegangen, statt bis zum Dürrensee hinaufzusteigen, und wären freilich so niemals an Ihr Ziel gekommen. Ich kann Sie aber einen Pfad führen, der Sie bald dorthin bringt, ohne daß Sie bis an jenen Kreuzpunkt zurück müßten. Er ist allerdings steil und beschwerlich, auch ohne Ortskenntnis nicht zu finden, spart Ihnen jedoch eine Stunde Weges, die Sie anderenfalls zum zweiten Male machen müßten.«

»Ich wäre Ihnen in der Tat sehr dankbar – wenn ich dadurch nur nicht Sie selber – Ihr Weg ist vermutlich ein ganz anderer, – denn in St. Ulrich –«

»Mein Weg ist eine Zeitlang der gleiche – oder kann es wenigstens sein, da ich an keinen bestimmten gebunden bin.« Sie sagte das alles in dem nämlichen, kühlen, ruhig-überlegenen Ton, den sie von Anfang an ihm gegenüber angeschlagen hatte. Sie blickte auch jetzt gleichmütig zur Seite, als sie fortfuhr: »Eine Weile werden Sie sich aber hier noch gedulden müssen. Die Wand des Monte Valdena drüben wird jetzt bald im Feuerschein aufflammen, und das ist ein Schauspiel, um dessentwillen ich hierher kam. Es verlohnt sich. Wenn Sie rasten wollen, – der Stamm bietet Platz für ihrer mehrere.«

Auch aus diesen Worten sprach eine nachlässige Unbekümmertheit. Er sollte nicht denken, daß sie um seinetwillen einen Schritt Weges anders machen würde, als es mit ihren Absichten übereinstimmte, und es verstand sich von selbst, daß er hier warten mußte, bis es ihr beliebte, zu gehen. Ob er Zeit dazu übrig hatte, danach fragte sie ebensowenig, wie es sie kümmerte, ob er das Schauspiel gleichfalls betrachten würde, auf das sie wartete. Innocenz fühlte das alles deutlich genug heraus, und sein geistlicher Stolz bäumte sich dieser Frau der großen Welt gegenüber auf; er schämte sich seiner vorherigen Demut und Verwirrung. Wer war sie, daß sie ihn so herablassend wie einen ihrer Diener behandeln durfte? Kannte sie das Kleid nicht, das er trug?

Dennoch ließ er sich neben ihr nieder, aber er sprach nichts mehr. Eine feindselige Empfindung gegen diese Frau, die da von ihm abgewandt in die Ferne starrte, als hätte sie seine Gegenwart überhaupt vergessen, wallte in ihm auf. Übrigens sah er nun erst, wie schön der Platz war, den sie sich ausgesucht hatte. Über den dunklen Waldmassen, die an den Hängen unter den bleichen Felsen klebten, stieg hoheitsvoll in wilder Zerklüftung, in wirrem Spitzen- und Kuppelgebilde das Dolomitengebirge herauf, und gerade gegenüber hob sich, steil abstürzend, einer machtvollen gotischen Domfassade ähnelnd, der Monte Valdena daraus in die vertiefte Bläue des Firmaments hinauf. Und nun traf ihn die scheidende Sonne. Wie eine breite Flamme schlug es plötzlich empor. Die Wälder schienen sich in noch undurchdringlicheres Düster zu hüllen, die grünlich schillernden Gletscher nahmen eine blauschwarze Farbe an, die schneeumhängten Mulden glühten. Nur Sekunden hindurch währte das feenhafte Bild. Dann kroch langsam die Glut hinauf, immer weiter hinauf und war mit einem Schlage zerronnen. Kalt, fast geisterhaft bleich lag der gewaltige Hochlandsriese in seiner düsteren Umrahmung da, und ein fröstelnder Schauer durchstrich die Bergwelt.

Innocenz hatte, wie in einem Bann gefangen, das Niegesehene geschaut. Sein Herz schlug laut. Er mußte sich erst besinnen, wo er war und was vorgegangen sei, so ganz hatte er sich in eine andere Welt entrückt gefühlt. Nun stand er auf; er meinte, es müsse ihm die Brust zersprengen, so voll war sie von dem Wunder dieser Stunde. Er holte tief Atem. Da hörte er auch schon die Stimme der Dame neben sich: »Nun können wir gehen.«

Es klang kühl und herrisch, wie sie es sagte. Und ohne seine Antwort abzuwarten, schritt sie ihm voraus. Mit freudigem Gebell, das in der schweigenden Hochlandseinsamkeit das Echo weckte, sprang der Hund vor ihr her. Der Pfad war schmal und schlängelte sich, immer aufwärts führend, durch wirr geschichtetes Felsgetrümmer, manchmal kaum für das Auge erkennbar. Da man nicht nebeneinander gehen konnte, verbot sich das Sprechen von selbst; auch erforderte der mühselige Kletterweg die Aufmerksamkeit aller Sinne und die Atemkraft der Lungen. Erst als sie nach etwa halbstündigem Aufstieg die Höhe erreicht hatten, blieb die vorangeschrittene Führerin stehen, wandte sich kurz und sagte, als sie den Mönch dicht hinter sich erblickte: »Noch zehn Minuten, dann trennen sich unsere Wege. Der Ihrige ist dann nicht mehr zu fehlen und ohne weitere Beschwer.«

Innocenz verneigte sich kurz. Er wollte ein paar Worte hinzusetzen, aber seine Aufmerksamkeit wurde in diesem Augenblick durch ein Geräusch abgelenkt, das sich zu seiner Rechten auf einem umbuschten Bergabhang vernehmen ließ. Es klang, wie wenn sich dort ein lebendes Wesen heimlich durchs Gestrüpp wand und ihnen nachschlich. Innocenz glaubte, daß es ein Wild sei, gewahrte aber plötzlich durch eine Lücke im Gezweig den bärtigen Kopf eines Mannes und gleich danach die breitschulterige Gestalt desselben in Bergjägerkleidung, den Stutzen unterm Arm. Es war ein Gesicht, das ihm nicht gefiel. Es sah aus wie von Leidenschaften verwüstet, finster und trotzig. Dabei spähten die Augen scharf in die Tiefe hinab und schienen der Frauengestalt dort unten zu folgen, ohne gleich den Mönch gewahr zu werden. Als dies dann doch geschah, verschwand der Mann plötzlich wieder in den Gebüschen, und alles war still. Innocenz hätte das Ganze für eine Vision halten können, wenn er nicht den lauernden Blick der scharfen hellen Augen da oben ganz deutlich in der Erinnerung behalten hätte. Er zweifelte, ob er der Dame, der sichtlich der Späher da oben aufgepaßt hatte, nicht Mitteilung von dem ihm unheimlich erscheinenden Begebnis machen müsse, von dem sie selber offenbar nichts gewahrt hatte; aber sie war bereits stehengeblieben; da die Wegkreuzung, von der sie gesprochen, nunmehr erreicht war, und ehe er hätte zu Worte kommen können, sagte sie: »Hier geht's links hinab nach St. Ulrich.«

Es klang, als ob sie ihrer Zufriedenheit darüber Ausdruck geben wollte, daß er ihrer Führerschaft nun nicht mehr bedurfte. Da schwieg er von dem, was er gesehen, in verbissenem Ingrimm. Nur, den Hut in der Hand, sagte er: »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen meinen Dank dafür aussprechen darf, gnädige Frau, daß Sie einen verirrten Wandrer so gütig geleitet haben.«

Sie nickte gleichmütig, und er setzte hinzu: »Ich bin der Benediktinerpater Innocenz aus Kloster Greifenburg, zur Zeit Vikar des Pfarrers zu St. Ulrich.«

Alles das nahm sie ohne jedes Interesse auf und erwiderte nur gelassen: »Gräfin Karditsch-Peutelstein.«

Es überraschte ihn kaum. »Gnädigste Gräfin können von hier aus ganz allein gehen? Es wird Abend –«

»Bitte, seien Sie unbesorgt! Ich habe Hektor bei mir und bedarf keines Führers.«

Es klang stolz und abweisend; etwas wie Spott lag sogar darin, daß sie die Begleitung eines Mönches ausschlug, oder er faßte es doch so auf. Nach nochmaligem Gruß und einer tiefen, stummen Verneigung schritt er auf dem Wege, den sie ihn gewiesen, davon. Noch eine Weile hörte er über sich das Gebell des Hundes, dann verklang es. Durch die Abendstille, deren Schatten das Tal umlagerten und langsam zu den bleichen Felshäuptern hinankrochen, wanderte er dem Dorfe zu.


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