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XII

Es war Herbst geworden und die Stürme gingen. Auf der Anderetalp dachte man schon an den Heimtrieb des Viehes, denn der Winter drohte in diesem Jahr früher hereinzubrechen als je, und man konnte leicht eines Tages damit überrascht werden, daß der Abstieg verschneite. Denn fortwährend war schon Schnee gefallen. Auf der Lahn erinnerte man sich nicht, ihn einmal schon so früh im Jahre erlebt zu haben. Nicht nur, daß alle hohen Zacken, Kuppen und Pfeiler der Dolomiten sich in ein blendendes Weiß gekleidet hatten und der königliche Hermelinmantel ihnen bis zu den Flanken herabwallte, auch die Vorberge lagen bereits im Schnee begraben, und die Nadelwälder hoben sich schimmernd überstäubt in einen jetzt kristallklaren Herbsthimmel hinauf, der sich einer blauen Riesenglocke ähnelnd über der gewaltigwundersamen Bergwelt wölbte. Eine leuchtende Winterlandschaft unter einem noch sommerlichen Firmament war's, die das staunende Auge überschweifte. Und nun gingen die Stürme rastlos über die Hochfläche der Lahn.

Die taube Lisi mahnte zum Abtrieb, aber der wilde Xaverl wollte noch immer nichts davon hören. »Solang' der Wind von Nord' steht, gibt's kein' Schnee mehr,« blieb seine Antwort, »und nichts ist z' fürcht'n. Schlagt der Wind um, nachher treib'n wir ab. Schlagt er nach Westen zu, dann soll der lieb' Himmel uns gnädig sein.«

Die Lisi fügte sich brummend, denn der Xaverl war der Herr in der Almhütte. Aber sie glaubte ihm nicht, daß er mit dem Abtrieb des Viehes bloß auf das Umschlagen des Windes warten wollte. Er wollte bloß deshalb warten, weil der Gast, den die Almhütte seit ein paar Wochen barg, noch immer keine Anstalten traf, die Anderetalp zu verlassen. Wenn nun das so gewesen wäre, weil er zu schwach und hinfällig war, so hätte die Lisi sicherlich kein Wort dagegen geredet. Aber das war nicht mehr der Fall. Denn der Gast der Almhütte war schon wieder ein rüstiger Bergwanderer geworden und streifte seit den letzten Tagen, wo die frisch-kühle Luft und die greifbar klaren Fernblicke ihn in die Welt der Dolomiten hinauslockten, den ganzen Tag einsam im Gebirg umher. Deshalb hätte der Xaverl auf ihn keine Rücksicht mehr zu nehmen brauchen.

Freilich: der Xaverl hatte ja nun einmal an dem Bruder Innocenz von jeher einen Narren gefressen gehabt, und da ließ sich nichts dreinreden, in dem Punkt war er noch viel störrischer als in allen anderen Dingen. Das war eigentlich seltsam genug; denn der Xaverl war sonst keineswegs der beste Christ und hatte mit den Schwarzröcken und Kuttenträgern niemals viel im Sinn gehabt. Aber der Bruder Innocenz von den Benediktinern, der hatte es ihm angetan. Der Frömmste war der allerdings selber nicht. Denn sein Zeichnen und Pinseln war sicherlich kein Gott wohlgefälliges Tun, sondern verruchtes Heidenwesen, das einem Priester und Mönche wenig anstand. Und sein Verkehr mit Filomena, wenn sie, die Lisi, auch wahrlich nichts Übles denken wollte und nichts Anstößiges dabei wahrgenommen hatte, – für einen Mönch, wenn er ein so junger und schöner Mönch war wie Bruder Innocenz – ziemte sich der wenig. Denn schließlich war ein Klosterbruder und Ordensgeistlicher doch immer auch nur ein Mann, und man hatte in der Beziehung schon gar verwunderliche und abscheuliche Dinge erleben müssen hier auf der Lahn, ganz abgesehen davon, daß die Lisi überhaupt von den Mannsleuten nicht viel hielt und ihre traurigen Erfahrungen mit ihnen gemacht hatte.

Merkwürdig war es übrigens genug, daß der Xaverl zum Lebensretter des Bruders Innocenz geworden war, und ein halbes Wunder könnt' man's wohl heißen. War er doch damals des Abends spät noch ins Pfarrhaus von St. Ulrich gegangen, um den Mönch zu bitten, daß er doch zu der Sägemüllerin hinüberkäm' und mit ihr redete, weil sie jetzt, nachdem sie ihr Kind umgebracht, gar so stumpf und fühllos geworden wär' und kein Mensch mehr aus ihr klug werden könnt'. Und da hatte er den Mönch nicht gefunden, sondern gehört, er sei noch gar nicht wieder heimgekommen. Da war's dem Xaverl wunderlich angst zu Sinne geworden, und er war nach Schloß Peutelstein hinübergelaufen, ganz auf eigene Faust, um zu fragen, ob der Mönch dort wär'. Denn wenn nicht dort, wo hätt' er etwa sonst sein sollen?

Und da hatte er Gräßliches erfahren: der Jäger-Lenzl war wahnsinnig geworden und hatte die Gräfin Karditsch totgeschossen und ihre furchtbar verunstaltete Leiche selber nach dem Schlosse gebracht, als müßte es so sein, und als hätte er gar nichts Verwunderliches getan. Die Leute im Schlosse hatten dann auf den Befehl der alten Gräfin den Wahnsinnigen sofort gebunden und in ein Verwahrsam geschleppt, wo er fürchterlich zu toben und wie ein reißendes Tier zu brüllen begonnen hatte. Der Xaverl aber hatte gleich nach dem Mönch gefragt, weil er des festen Glaubens gewesen, daß in dieses schreckliche Vorkommnis auch der Mönch irgendwie verstrickt worden sei. Und weil der Jäger-Barthel ausgesagt hatte, der Lenzl sei diesen Nachmittag gegen die Teufelskanzel gestiegen, hatte der Xaverl gleich dorthin gewollt, um nach dem Bruder Innocenz zu suchen. Und die alte Gräfin hatte befohlen, daß der Barthel und noch ein paar andere Männer mit ihm gingen, und daß sie Laternen mit sich nähmen und allerlei Gerätschaften und eine Bahre auch. Und so waren sie aufgebrochen, der Xaverl immer voran, denn trotz seines Kropfes und seines kurzen Atems stieg doch keiner so rasch bergauf wie er.

Und keiner hatte auch, als sie auf der Teufelskanzel angelangt waren, ohne dort etwas anderes zu finden als die Büchse des Lenzl, und als die anderen schon hatten umkehren wollen, weil man denn hier doch keine Spur von dem Vermißten entdecken könne, das leise, schmerzliche Stöhnen vernommen, das aus der Höhe herabdrang, gleich dem Ächzen eines weidwund geschossenen Hirsches. Er war's dann gewesen, der trotz des Abmahnens der anderen auf dem schwindeligen, steilen Felspfad in der nächtigen Finsternis weiter emporgeklommen war, bis er droben wirklich den Mönch gefunden hatte, der in halber Besinnungslosigkeit, vor Schmerzen und Blutverlust zu schwach, um sich zu regen, dalag und seinen Retter nicht mehr erkannte und wohl unweigerlich dort oben in der Felsenwüstenei einsam zugrunde gegangen wäre ohne den Xaverl. So aber hatte er noch mit ersterbender Stimme, nur halb bewußt, gemurmelt: »Auf die Anderetalp, – bringt mich auf die Anderetalp –«

Oder hatte der Senn sich das nur eingebildet, weil er selber es so wollte? Jedenfalls hatte er es den anderen zugerufen, der Mönch wolle auf die Anderetalp gebracht werden, und da der Weg dorthin der kürzere gewesen, waren sie gern darauf eingegangen. Schwierig genug war es schon ohnehin gewesen, den verwundeten und besinnungslosen Mann auf den schmalen Kletterpfaden der Gemsjäger bei Nacht durch das wilde Gebirg fortzuführen, und wenn der Xaverl den Mönch nicht manchmal auf seinen eigenen Armen über die gefährlichsten Stellen getragen hätte, wären sie wohl nimmer vom Fleck gekommen. So aber waren sie endlich angelangt, als der Morgen schon gegraut hatte, und die taube Lisi gedachte noch gar wohl des Schrecks, der ihr in alle Glieder gefahren war, als sie, eben vor die Hütte hinaustretend und nach dem Xaverl ausschauend, der wider seine Gewohnheit über Nacht unten in St. Ulrich geblieben sein mußte, den traurigen Zug gewahrt hatte. Dann aber hatte der Xaverl sein eigen Bett dem verwundeten Mönch eingeräumt, und von dieser Stunde an war er dessen sorglichster und unermüdlichster Pfleger geworden.

Nun, sie, die Lisi, hatte freilich auch getan, was sie gekonnt hatte, und was ihre Christenpflicht gewesen war. Und an dem, was eine Almhütte eben bieten konnte, hatte es wahrlich nicht gefehlt. Der Xaverl aber verstand sich aufs Arzten wie ein gelernter Chirurg. »Hab's bislang zwar nur an den Geißen und Kalben ausg'übt, das Handwerk,« hatte er gemeint, »wenn die sich verstiegen haben und ein Bein brechen oder das Rückgrat beschädigen. Denk' aber halt, wird bei Menschen auch von Nutzen sein.« Und zur alten Wurzin war er nach Moosbrunn hinübergegangen, damit sie ihm ein Heilkraut für die Wunde des Mönchs geben sollte und einen beruhigenden Trank, weil er gar so sehr von der Hitze geplagt wurde und in der Fieberverwirrung lauter schreckliche Dinge redete, die man gar nicht mit anhören konnte, und die auch wohl furchtbar sündhaft gewesen wären, wenn er sie bei klarem Verstände gesprochen hätte. Sie, die Lisi, hatte zum Glück wenig davon gehört, weil der Kranke zu leise gesprochen hatte, aber die Wurzin, die selber einmal gekommen war, um nach ihm zu sehen, hatte sich unablässig bekreuzigt, so mußte das wüste Reden sie entsetzt haben.

Allmählich war es dann auch besser geworden, und zwar ohne daß man den Doktor aus Ampezzo hatte rufen lassen, obgleich die Gräfin Theodora Karditsch über diese Versäumnis in hohem Grade aufgebracht gewesen war und immer wieder den Pater Pius auf die Anderetalp geschickt hatte, damit dieser den unverständigen und eigensinnigen Almleuten ins Gewissen reden und ihnen das Verwerfliche und Verantwortungslose ihrer Unterlassungssünde vor Augen führen solle. Von dem Doktor hatte der Xaverl nun einmal gar nichts hören wollen. Die Gräfin war freilich ohnehin schon aufgebracht darüber gewesen, daß man den Verwundeten damals nicht nach Peutelstein geschafft hatte, wie sie doch ausdrücklich angeordnet gehabt. Daß man ihn statt dessen auf eine entlegene Sennhütte übergeführt, wo er weder genügende Pflege noch angemessene Behandlung finden könne, war ihr leichtfertig, wenn nicht gar verbrecherisch erschienen. Und anfangs hatten die Tatsachen scheinbar allen ihren Befürchtungen auch recht gegeben; es hatte wirklich sehr übel um den Mönch gestanden, und sie, die Lisi, hätte keinen Kreuzer mehr für sein Leben gegeben. Aber die Mittel des Xaverl und das Heilkraut der Wurzin hatten endlich doch ihre Wirkung getan. Der Mönch war wieder von seinem Krankenlager erstanden, sein Wundfieber, das wohl eigentlich ein Nervenfieber gewesen, war von ihm gewichen, und er hatte eines Tages plötzlich wieder ganz vernünftig reden können. Wie er freilich ausgesehen hatte, das war ein Jammer gewesen, ein wirklicher Jammer, der einem ans Herz ging. Aber der Xaverl hatte gesagt: »Jetzt ist's erst gut, daß er da heroben bei uns ist. Jetzt wird sich's ausweisen. In derer Luft hier bei uns, da wird er bald wieder anders ausschauen. Wirst's schon sehen, Lisi!«

Und der Xaverl hatte wirklich abermals recht gehabt. Nach ein paar Tagen schon hatte der Mönch wieder herumgehen können wie ein Gesunder. Und da das Wetter jetzt hell und sonnig geworden war – während des Krankenlagers hatte es fortwährend um die Hütte getobt, und der Regen war niedergeflossen, und der Schnee hatte alle Berghöhen bis tief herab eingehüllt –, hatte Innocenz alsbald begonnen, einsam im Gebirge umherzustreifen, und von jeder solchen Wanderung war er gestärkter heimgekommen, und sein Antlitz bräunte sich mehr und mehr. Freilich sah er trotzdem noch so ernst und düster aus wie nie vorher, und ein Lächeln wollte nicht über seine Lippen kommen. Aber nach dem Grausigen, was er hatte erleben müssen, war das wohl nicht zu verwundern. Das hätte den Lustigsten still und in sich gekehrt machen können, und lustig war Bruder Innocenz niemals gewesen.

Von der Alm schien er nicht mehr fortgehen zu wollen. Jedesmal, wenn er gegangen war, hatte die Lisi geglaubt, er werde nicht mehr zurückkommen, sondern in das Pfarrhaus von St. Ulrich heimkehren, aber jedesmal kam er wieder. Und der Xaverl zuckte nur mit seinem verschmitzten Grinsen die Achseln, wenn sie ihn darum fragte. Der Xaverl war überhaupt so ein Hinterhaltiger. Der war nur froh, wenn er den Schwarzrock immer bei sich hatte, und würd' ihn am liebsten nimmer von der Alm fortgelassen haben. Nun schob er den Abtrieb gar auf, bloß weil der Mönch noch in der Hütte bleiben wollte, und ließ es darauf ankommen, daß man eines schönen Tages hier einschneite.

So viel Besuch wie in diesen Wochen hatte die Sennhütte auf der Anderetalp nicht gehabt in all den Jahren zusammengenommen, wo die Lisi sommers hier gehaust hatte. Außer dem Pater Pius, der im Auftrage und mit allerlei Anordnungen der Gräfin Karditsch gekommen war, auch manchmal einen Träger mit sich gehabt hatte, durch den die Gräfin starke Weine für den Kranken und sonst allerlei Labemittel schickte – lauter Dinge, die in der Almhütte früher nie gesehen worden waren, und welche die Lisi nicht einmal dem Namen nach, geschweige denn von Ansehen kannte –, war auch der Pfarrer Aloys Antholzer von St. Ulrich dort eines Tages erschienen, was in fünfzehn Jahren gewiß nicht mehr geschehen war, und hatte ein Schreiben überbracht, das vom Kloster Greifenburg her eingelaufen war, sich auch sonst über den Zustand und die Verpflegung des Kranken vergewissert, weil er – so hatte er gesagt – an den hochwürdigen Herrn Abt zu Greifenburg darüber Bericht erstatten müsse. Der Lisi hatte das einen gewaltigen Schreck eingejagt. Man würde also von ihr und all ihrem Tun in der weiten Welt erfahren, und die hohen Herren vom Klerus würden zu Gericht darüber sitzen, ob sie ihre Pflicht gegen einen Geweihten des Herrn, den man ihr todwund in die Hütte getragen, auch erfülle, wie es einem guten, christkatholischen Weibe gezieme oder nicht. Von da an war sie noch sorglicher und aufmerksamer gegen den Verwundeten gewesen als zuvor, hatte er sogar drei Tage lang hintereinander unterlassen, über seine Anwesenheit in der Hütte zu brummen.

Am auffälligsten aber war ein Besuch gewesen, bei dessen Erscheinen selbst der wilde Xaverl seinen sonstigen Gleichmut eingebüßt hatte. Die Filomena war eines Tages in der Almhütte erschienen. Ganz verängstigt und verstört hatte sie ausgesehen und vor Aufregung und Ermattung nichts sagen können als: »Lebt er noch?« Und als man ihr das bejaht hatte, war es wie ein heller Schein über ihr verhärmtes Gesicht hingezuckt, und sie hatte, die Hände faltend, geflüstert: »Heiliger Gott, ich danke dir!« Und dann, als sie sich nur erst ein weniges erholt hatte, war sie an das Krankenlager geeilt und hatte sich durch keine Vorwürfe und keine Warnungen der tauben Lisi davon abhalten lassen, von nun an selber die Pflege des Verwundeten zu übernehmen, wenigstens so lange, bis das Schlimmste vorüber war. Das hatte nun einen harten Kampf gegeben, denn die Lisi hatte sich es nicht wollen nehmen lassen, den Mönch selber zu pflegen, und ihre Ehre darein gesetzt, zumal seit sie wußte, daß der hohe Klerus sich dafür interessierte und ihre Wohltaten ihr beim Sündenablaß ganz besonders zugute kommen würden. Aber die Filomena hatte nicht nachgegeben mit Bitten und Betteln, und es sei ihr Recht, hatte sie sogar gesagt, und zum wenigsten müsse die taube Lisi sich mit ihr in die Pflege teilen, denn allein werde sie es doch auf die Dauer nicht aushalten, während sie, die Filomena, stark und jung sei und den besten Willen habe. Und hinter den Xaverl hatte sich die Dirne schließlich gesteckt, daß er ihr helfen sollte. Und der Xaverl – du lieber Gott! –, dem waren, so alt und häßlich er auch sein mochte, die jungen und hübschen Dirnen immer noch um vieles lieber als die alten und garstigen, und daß der der Filomena recht gab, war also wirklich kein Wunder.

Schließlich war's denn auch so gekommen, daß die Filomena eigentlich die Pflege des Verwundeten ganz allein in Händen hatte, und sie, die Lisi, nur noch für ihn kochen durfte. Davon erfuhr aber natürlich der Herr Pfarrer, Hochwürden, von St. Ulrich nichts, und wenn es dem Kloster zu Greifenburg wäre berichtet worden, wer weiß, ob die ehrwürdigen Patres darüber ein Wohlgefallen hätten äußern mögen? Und der Pater Innocenz selber war damals noch nicht bei klarem Bewußtsein gewesen, so daß man ihn hätte um seinen Willen befragen können – nun, er würde ja auch wohl beigestimmt haben; wenn man an die Zeiten dachte, wo er alleweil mit der Dirne oben auf dem Sandbühel gesessen hatte, gab es gar keinen Zweifel darüber –, und als er seine Besinnung endlich wieder erlangt hatte und keine Besorgnis mehr bestand, daß seine Krankheit ein übles Ende nehmen könne, da war Filomena am selben Tage ebenso plötzlich wieder davongegangen, wie sie damals aufgetaucht war, kein Mensch wußte, von wo sie gekommen war, und wohin sie wieder verschwand. Und am Ende war es noch ein günstiges Zeichen für ihr weibliches Schamgefühl, denn zu billigen war es doch gewiß bei aller christlichen Nächstenliebe nicht, daß das junge, bildsaubere Ding durchaus den jungen Mönch hatte pflegen wollen, und das stand ihr, der Lisi, denn doch wohl besser an.

Pater Innocenz mußte übrigens trotz seiner Bewußtlosigkeit doch die Nähe des Mädchens empfunden haben, denn als sie nun nicht mehr vor seinem Bette erschienen war, hatte er ganz traurig gefragt: »Und die andere? Wo ist denn die andere?« Und als sie, die Lisi, ihm nun hat ausreden wollen, daß überhaupt je eine andere hier gewesen sei, er habe das nur geträumt, da hatte er sich mit der Hand über die Stirn hingestrichen und nichts mehr erwidert, aber ganz seltsam hatte er dabei gelächelt, so traurig und zugleich so ungläubig. Gefragt hatte er dann nie mehr nach der Filomena.

Sie, die Lisi, hätte aber gar zu gern gewußt, woher sie eigentlich gekommen, und wohin sie gegangen sei, auch wie das Gerücht von des Mönches Verwundung – von der freilich das ganze Land zu wissen schien – überhaupt bis zu ihr gedrungen war; aber Neugierde war ihre Sache nun einmal nicht, und wenn ihr das junge Ding gar zur Antwort auf solche Fragen entgegnet hätte, das alles kümmere die Fragerin gar nichts, so hätte sie, die Lisi, vor Scham und Zorn ja in die Erde versinken müssen. Nur den Xaverl, den fragte sie jetzt doch nach Filomenas Fortgang um das alles aus. Aber der Xaverl – du allgütiger Himmel! – man wußte ja, wie der's machte: die Hälfte von allem, was der sagte, war Fopperei, und wie's mit der anderen stand, wußte auch nie ein Mensch. Und diesmal hatte er sie so recht verschmitzt von der Seite angeblinzelt, als sie ihm ihr Anliegen vorgetragen, hatte ihr dann ein geheimnisvolles Zeichen gemacht und ihr endlich ins Ohr geschrien: »Wo die Filomena wohnt, willst wissen, Lisi? Aufm Arzenkopf oben wohnt's – bei meiner Seelen Seligkeit: ist richtig wahr, mein' liebe Lisi!«

Solch ein Haderlump, wie dieser Xaverl war! Totärgern hätt' man sich können über ihn, wenn er's nur wert gewesen wär'. Und dabei wußte er's doch ganz gewiß, wo die Dirn' wohnte, und sie, die Lisi, hätt' auch darauf schwören mögen, daß er's dem Mönch verraten hatte, denn was hätten die zwei sonst alleweil zu flüstern gehabt, als der Verwundete erst wieder bei Verstand gewesen war? Die wußten ohnehin, daß die Lisi nichts davon hörte und hätten gar nicht einmal so geheimnisvoll zu tun brauchen. Im Grunde: was scherte sie auch die Dirne? Sie hatte wahrhaftig an anderes zu denken. Und wenn der geistliche Herr meinte, es vertrüge sich mit seinem Kleide und mit den heiligen Weihen, daß er mit der hübschen Dirne schöntat, die noch dazu ein Kind der Sünde war – was kümmerte das die taube Lisi? Nur leid konnte es ihr tun um das saubere Ding, das des blonden Jäger-Barthel rechtmäßiges Eheweib hätt' werden können, und um den Klosterbruder, der doch auch ein schöner und stattlicher Mensch war und den Weibern wohl hätte gefallen können, wenn er nur nicht die Tonsur gehabt hätte. Von der freilich gewahrte man jetzt kaum mehr etwas, so üppig hatte das Kopfhaar sie während des Krankenlagers überwuchert, und der schwarze Bart, der ihm in eben dieser Zeit gewachsen war und so gut zu seinem blassen Gesicht und den dunklen, feurigen Augen stand, wurde gar nicht einmal abgeschnitten, als Bruder Innocenz nun wieder auf seinen Füßen stand. »Er wird halt sein Rasierzeug nicht hier haben,« hatte Xaverl achselzuckend gemeint, als die Lisi ihn gefragt hatte, was denn das um Gottes willen zu bedeuten habe, und was daraus werden solle. Und der hinterhaltige Mensch hatte noch dazu gelacht. Und richtig lief der geistliche Herr mit der überwachsenen Tonsur und dem Bart nun gar in die Berge hinaus, als könne es gar nicht anders sein, und als werde kein Mensch Anstoß daran nehmen. Hätte nur noch gefehlt, daß er statt der Kutte jetzt eine Lodenjoppe anzog, wie der Pfarrer Ladurner zu Moosbrunn, und einen Stutzen über den Rücken hing, nachher war's fertig.

Was aber die hochwürdigen Herren drunten in der Greifenburger Abtei zu solchem sagen würden, das war denn freilich eine andere Frage. Wer wußte, ob nicht der Bruder Innocenz bloß deshalb jetzt Tag für Tag ins Gebirge wanderte und bloß deshalb die Anderetalp nicht verlassen wollte, weil er es so am bequemsten hatte, mit der Filomena unbemerkt irgendwo zusammenzutreffen? Wahrscheinlich wieder nur, um sie zu malen – sein Skizzenbuch wenigstens führte er immer mit sich, wenn er fortging; aber schon das war ja ein heidnisches Wesen und gefiel der Lisi unter den jetzigen Umständen noch viel weniger als früher hier auf der Alm.

Die taube Lisi von der Anderetalp hatte mit ihren Vermutungen das Rechte getroffen. Innocenz weilte in der Tat nur noch in der Sennhütte des wilden Xaverl, um von hier aus zu Filomena zu gehen. Er hatte nicht eher geruht, seit er wieder Herr seiner Sinne geworden, bis der Senn ihm verriet, wo das Mädchen weilte, welches er so deutlich während der klaren Augenblicke in seinen Fieberphantasien neben sich am Bette gesehen, daß jedes Ableugnen umsonst war. Übrigens hatte Filomena auch dem Xaverl nicht einmal eingestanden, wo sie sich verborgen halte; er aber glaubte aus allerlei Anzeichen wohl schließen zu dürfen, daß sie die verlassene Hütte eines Wildheuers mitten in der Felsenwildnis des Arzenkopfes bewohnte und daß die Sennen des nur eine Viertelstunde davon gelegenen Almhauses auf der Forcher, denen sie sich anvertraut, und die ihr Schweigen gelobt hatten, sie mit Speise und Trank versorgten, wofür sie der Sennerin in der Milchwirtschaft zur Hand ging und den verlorenen Geißen in die gefahrvollen Schründe nachstieg.

Dort freilich hatte sie niemand gesucht. Denn die Gegend war schaurig einsam und wild, dazu verrufen im ganzen Bergland. Kaum ein Mann würde sich getraut haben, allein hier zu hausen, und selbst wenn er wegen eines schweren Verbrechens, das er begangen, hierher vor seinen Verfolgern geflüchtet wäre, würde er es nicht lange ausgehalten, sondern lieber den Häschern als der Gefahr getrotzt haben, hier in der grauenhaften Öde dem Wahnsinn anheimzufallen. Filomena aber hatte sich den Platz ausgesucht, um unentdeckt zu bleiben, und das war ihr gelungen. Während man auf der Lahn glaubte, daß sie längst in Welschland sei und niemals zurückkommen werde, weilte sie unter den Dolomiten mitten im wildesten Felsgebirg, und die wenigen, die darum wußten, schwiegen darüber.

Der Xaverl aber hatte es sich zusammengereimt, weil er selber dem Sennbuben von der Forcheralm, mit dem er auf einem seiner Talgänge zusammengetroffen, die Geschichte von dem Tode der Gräfin Karditsch und der Verwundung und Krankheit des Mönches erzählt hatte und am nächsten Tage die Filomena auf der Anderetalp erschienen war. Und dann hatte sie ihm eines Tages gesagt, als von den Heilkräutern die Rede war, welche die Wurzin für Bruder Innocenz' Kopfwunde hergegeben hatte: »Die hat sie droben bei uns gegraben.« Und der Xaverl wußte, die Kräuter wuchsen nirgends als unterm Arzenkopf, nahe der Forcheralm.

Sonst hatte ihm die Filomena mit keinem Wort von ihrem Aufenthalt geredet, und der Senn hatte nicht danach gefragt, das war seine Art nicht. Nicht einmal, als sie wieder gegangen war, hatte sie etwas darüber verlauten lassen. Nichts hatte sie gesagt als: »B'hüt' Gott, Xaverl, ich muß wieder fort.« Und: »B'hüt' Gott, Dirndl!« hatte er erwidert, sonst nichts. Deshalb hatte der Xaverl aber auch keinen Grund, dem Mönch seine Mutmaßungen vorzuenthalten, als dieser in ihn drang, ihm zu verraten, wo das Mädchen weile. Er müsse es wissen, hatte Innocenz gesagt, und es hänge sein Seelenheil davon ab. Und dazu hatte er noch ernster und trauriger ausgesehen als all die Zeit, und man hätte ihm schon aus Mitleid nichts abschlagen können, selbst wenn es ein großes Unrecht gewesen wäre. »Ich mein' halt,« hatte er gesagt, »auf der Forcheralm wird sie sein, und wenn nicht in der Alphütten selber, dann weiter drüben in der Wildheuerhütten unterm Gletscher, wo der Villgrattenbach zum Vorschein kommt. Ist sie dort nicht, so weiß ich's g'wiß und wahrhaftig nicht.«

Als Innocenz seine Kräfte zurückkehren gefühlt hatte, war er zur Forcheralm hinaufgestiegen. Es war kein weiter, aber ein beschwerlicher Weg. Von der Anderetalp aus hatten nur Hirten oder Gemsjäger ihn betreten, und das bröckelnde Felsgeröll hatte ihn an manchen Stellen schier bis zur Unzugänglichkeit überschüttet; auch der geschwollene Villgrattenbach machte das Weiterkommen manchmal schwierig. Dennoch war Innocenz endlich bis auf die Höhe gelangt, wo er das steinbeschwerte Schindeldach des Almhauses auf der sanften Abdachung des Berges gewahrte. Er fand es aber verschlossen, und da auf sein Pochen niemand öffnete, mußte er annehmen, daß die Almleute zu Tal gestiegen waren oder weiter droben im Gebirge verirrtem Vieh nachforschten. Er wandte sich also, um die Hütte des Wildheuers zu suchen, von der der wilde Xaverl ihm gesprochen hatte.

Lange fand er sie nicht, denn das wilde Gelände, das hier die Alm von allen Seiten, schroff abstürzend, umschirmte, schien keinen Durchgang freizulassen. Endlich entdeckte er sie doch. Sie war klein und altersmorsch, und die Felsen hingen so jäh und steil über ihr, daß man hätte meinen sollen, sie würden sie erdrücken. Schier angstvoll schweifte der Blick an diesen nackten, lichtgrauen Wänden empor, die sich in die Unendlichkeit emporreckten. Es war ein schauerlich öder Platz, an dem die Holzhütte klebte; nirgends war ein Hälmchen Grün zu gewahren, und die Einsamkeit des Hochgebirges war furchtbar in all ihrer Erhabenheit. Man war hier wie ganz aus der Welt geschieden und den wilden Gewalten der Natur erbarmungslos preisgegeben. Das Todesschweigen in dieser Felsöde unterbrach nichts als ein gurgelndes Glucksen unterirdischer Wasser, die dem Gletscherfeld des Arzenkopfes entströmten, dessen in grünlichem Blau schillernde Eisfurchen man zu einem kleinen Teil von hier zu überschauen vermochte, oder das Abrollen eines Felsgetrümmers und das Dröhnen und Krachen in der geheimnisvollen Tiefe des ewigen Eises. Höchstens daß einmal ein Bergadler über dem Felsspalt schreiend seine mächtigen Schwingen klafterte oder ein Gemsrudel die steilen Schroffen emporstürmte, um Steine und Sand unter den flüchtigen Hufen herabzuschleudern. Nachts pfiffen die Murmeltiere vor ihren Felslöchern im unzugänglichen Geschründe, und bei Sonnenaufgang hallte manchmal von fernher das wilde, drohende Gedonner einer stürzenden Schneelawine. In die einsame Wildnis selber fiel nur während der zwei Stunden des hohen Mittags die Sonne, sonst lag sie in ewigem Schatten, kühl und traurig.

Und hier hauste Filomena. Als Innocenz der Hütte nahe gekommen war und ihn ein banges Erschauern um ihretwillen überfiel, daß sie, die doch ein Kind des Lichts und der Freude war, hier wie in einem lichtlosen Kerker schmachten sollte, gewahrte er sie auf einer Bank vor der Hütte, wie sie sich aus Herbstzeitlosen, mit denen die Forcheralm überblüht war, einen Kranz flocht. Sie war so ganz in ihre Arbeit vertieft, daß sie sein Kommen nicht bemerkte. Er aber mußte der ersten Begegnung mit ihr gedenken, wo sie das einsame Heiligenbildnis auf dem Felshügel bekränzt und ihn mit Blumen überschüttet hatte. Da schwoll ein heißes und süßes Begehren in ihm auf, wie er es bis zur Stunde nicht gekannt hatte, wie er nicht einmal gewußt, daß es in eines Menschen Brust wohnen könne. »Filomena!« rief er.

Sie erschrak heftig, als sie ihn sah und erkannte. Sie machte sogar Miene, davonzulaufen und hielt ihre beiden Hände gegen die Brust gepreßt, als ob sie das mächtige Schlagen ihres Herzens niederdrücken wollte. Dann aber mochte sie wohl vor allem Mitleid mit ihm anwandeln, daß er, der vor kurzem noch so schwer krank und dem Tode nahe gewesen, auch heute noch bleich und matt aussah, den mühevollen Weg zurückgelegt hatte, und sie sprang eilfertig auf, um ihm Milch aus der Hütte zu holen, damit er wenigstens sich erfrischen konnte. Dabei nahm er durch die offengebliebene Tür wahr, wie sauber und freundlich drinnen alles aussah, und daß sie auch hier mit Grün und Blüten die schlichten, kahlen Holzwände sich geschmückt hatte.

Dann saß er auf der Bank vor dem Hüttchen neben ihr und trank die Milch, die sie ihm geholt hatte, und sie setzte sich an seine Seite, und beide sahen sich an, sprachen aber lange kein Wort. Es war, als hätten sie sich zuviel zu sagen, und wüßten nun nicht, womit sie beginnen sollten. Endlich, als das ungeheure Schweigen der Bergöde sie zu bedrücken schien, fragte Innocenz: »Weshalb seid Ihr hierhergegangen, Filomena?«

»Ich mußte fliehen,« erwiderte sie, die Augen gesenkt haltend.

»Weil man Euch zwingen wollte, zu heiraten?«

»Zu heiraten oder schlecht zu werden – eine andere Wahl hat man mir nicht lassen wollen.«

»Schlecht zu werden?« wiederholte er mit gerunzelten Brauen.

»Ja. Der Graf sollte im Herbst nach Peutelstein kommen und dann – vielleicht war's auch nur eine Drohung, damit ich den Barthel nehmen sollte. Aber der Meßner sagte, so ginge es nicht weiter, daß ich von seinem kärglichen Brot mitäße und mich wie eine Prinzessin benähme; jetzt müßte ich für mich allein sorgen und ihm etwas einbringen, bloß um Gotteslohn hätt' er mich nicht an Kindesstatt angenommen und sich bis jetzt dazu mit mir herumgeplagt. Da bin ich auf und davongegangen. Er hatte mich eingesperrt und wollte mich nicht eher wieder herauslassen, als bis ich ihm zugesagt hätte, daß es so werden solle, wie er's bestimmen würde. Er war schrecklich in seiner Wut, und ich habe mich vor ihm gefürchtet. Lieb gehabt hab' ich ihn ja nie – das mag mir Gott verzeihen – aber damals hab' ich gedacht, er wär' auch schlecht, sehr schlecht. Und dann bin ich bei Nacht aus dem Fenster gesprungen und bin in die Berge gelaufen. Ich wußt' gar nicht, wohin ich gehen sollte; bloß daß ich fort müßt', wußt' ich. Und wie ich den halben Tag herumgeirrt war und Hunger und Durst hatte, hab' ich an die Forcheralp gedacht. Die war mir von allen Hochalmen immer die liebste gewesen, und die Almleute hatten mich gern. Also bin ich hinaufgestiegen und hab' gefragt, ob ich bleiben könne, und hab' ihnen kurz erzählt, wie es gewesen ist. Sie haben mich auch gern dabehalten wollen, haben aber gemeint, es würd' bald auskommen, und wenn man mich hier oben suchte, könnten sie mich nicht verleugnen. Deshalb haben sie mir die verlassene Hütte hier im Engtal zum Aufenthalt vorgeschlagen, nur daß sie zu jedermann sagen könnten, bei ihnen auf der Alm war' ich nicht, und für mich sorgen wollten sie schon trotzdem. Anfangs war mir's wohl ein schrecklicher Gedanke, hier ganz einsam zu hausen und ich hab' mich manche Nacht so gefürchtet, daß ich kein Auge hab' schließen können; aber allmählich ist's mir g'rad' recht so gewesen, und jetzt mein' ich schon, es gibt nichts Schöneres auf der ganzen Welt, und der liebe Gott hat mich so gut geführt, wie ich's mir nur hätte von ihm erbeten können. Euch kommt es hier gewiß recht wild und öde vor, aber mir ist es so traulich wie eine Heimat.«

Sie sagte das alles, ohne ihn anzublicken, mit einem träumerischen Ton, der ihm sonderbar in der Bergstille ans Herz griff. »Und was soll nun weiter werden?« fragte er nach einer kleinen Weile. »Der Herbst ist da, man wird bald abtreiben, und Ihr könnt hier nicht mehr bleiben. Was wollt Ihr dann tun?«

Sie hatte die Hände im Schoß ineinandergefaltet, und ihre Augen gingen an den schroffen, kahlen Felsen entlang, an denen nur hier und da ein Schneerest hatte in einer durch vorspringende Felszacken gebildeten Mulde haften bleiben können. »Ihr habt recht,« sagte sie, »es ist bald zu Ende. Und was dann werden soll? Auf die Lahn kann ich nicht zurück. Also werd' ich nach Welschland hinabgehen müssen. Ich weiß sonst nichts Besseres.«

»Ist es Euch denn etwas so Schreckliches, des Barthel Frau zu werden?«

»Wie kann ich denn seine Frau werden? Ich habe ihn ja nicht lieb.«

Einen Augenblick schwieg Innocenz, dann fragte er: »Habt Ihr einen anderen lieb, Filomena?«

Darauf gab sie keine Antwort, aber er sah, wie heiß ihr Antlitz erglüht war. Es lag in ihrer Hilflosigkeit etwas, das ihn rührte und das ihn gleichzeitig doch auch mit einem warmen Schauer durchströmte. »Das könnt' ich Euch nur im Beichtstuhl sagen,« brachte sie nach einer Weile mühsam hervor.

»Mir?« Er blickte düster vor sich hin. »Mir nicht. Ich bin kein Mönch und kein Priester mehr.«

Nun wandte sie sich ihm mit einem Ausdruck schreckhaften Erstaunens zu, und ihre Augen überflogen ihn verwundert, angstvoll und hoffnungsbange – alles auf einmal. Wie ein Blitz war es durch sie hingefahren. »Kein Priester mehr?« stammelte sie. »Und doch – und was wollt Ihr nun tun?«

»Was ich muß,« erwiderte er mit ruhiger Festigkeit.

»O mein Gott!« stieß sie aus. »Weiß man es denn schon? Sie werden Euch ja zwingen, es zu bleiben – sie werden Euch in Ketten legen und im Gefängnis halten, bis Ihr alles wieder abschwört!«

Er sah sie lange mit einem halb traurigen, halb liebevollen Blick an. »Filomena,« sagte er, »graut Euch vor mir, daß ich kein Priester mehr sein will?«

»Nein, nein, nein!« brachte sie hervor, »aber Ihr müßt fliehen – Ihr dürft nicht mehr zurück, und Ihr dürft auch nicht mehr auf der Lahn bleiben – um Gottes willen nicht! Ihr müßt fort! Ich will Euch selber über die Grenze bringen – heute nacht noch – kein Mensch soll Euch sehen – Ihr wäret ja sonst verloren! Glaubt Ihr denn, sie ließen es geschehen? Sie ließen Euch los? Ich fleh' Euch an: hört auf mich! Bei allem, was Euch heilig und teuer ist, hört auf mich! Geht fort!«

Je angstvoller und dringlicher sie ihn beschwor, ein desto helleres Leuchten hatte sein verdüstertes und verhärmtes Antlitz überflogen. Seine Augen strahlten sie in wildem Feuer an. »Filomena,« sagte er, »mich wundert's, daß Ihr kein Wort von der großen Sünde sprecht, die ich zu begehen im Begriffe stehe. Weshalb tut Ihr's nicht?«

Da schlug sie die Augen nieder und schüttelte leise den Kopf. »Ich glaube, Ihr werdet nicht anders können. Und dann wäre es eine Sünde, wenn Ihr trotzdem ein Priester bliebet, bloß, weil man Euch einmal dafür bestimmt hat. Man darf über keinen Menschen bestimmen für sein ganzes Leben lang. Und was könnt' ein Priester noch nützen, wenn er es nicht mehr aus freiem Willen ist und mit ganzer Seele? Das wär' Lüge und Heuchelei. Darum glaub' ich nicht, daß Ihr Sünde tun wollt, wenn Ihr den Priesterrock von Euch werft, sondern daß Ihr so tun müßt – zur Ehre Gottes.«

Es klang ganz schlicht und einfach«, wie sie es sagte, aber für Innocenz war es wie ein Evangelium, das ihm hier in der Bergeinsamkeit unter den Schauern einer gewaltigen Natur gepredigt ward. »Ihr habt recht,« sagte er. »Und fürchtet nichts für mich! Ich werde mich ihnen nicht ausliefern, damit ihr blinder, grausamer Fanatismus und ihre starre Unerbittlichkeit ein Opfer erhalten. Das bin ich der Wahrheit, der ich fortan dienen will, nicht' schuldig. Noch weiß man nichts von dem, was ich beschlossen habe. Noch gibt es etwas anderes, das mich hier hält. Bin ich auch damit zu Ende gekommen, dann erst will ich handeln.«

Sein Gesicht hatte sich gerötet, seine Augen flammten. Sie entgegnete nichts mehr, sondern blickte in ihren Schoß nieder. Das Gurgeln der unsichtbaren Wasser allein durchscholl die Hochgebirgsruhe, und nun dröhnte und krachte es hohl im Gletschereis droben, und ein paar Steine rollten kollernd darüber hin in die Tiefe. »Filomena,« sagte Innocenz, »denkt Ihr noch an die Stunde, wo wir zum letztenmal beisammen waren? Am Pfaffensprung war's. Damals wußtet Ihr noch nicht, daß ich eines Tages vor Euch hintreten würde, um Euch zu sagen, ich sei kein Mönch mehr und kein Priester mehr.«

Sie blieb stumm, nur ihre Brust wogte stürmisch. »Filomena,« fing er nach einer Weile ganz leise wieder an, »da Ihr es mir im Beichtstuhl nun nicht mehr gestehen könnt, wollt Ihr es mir nicht Auge in Auge sagen, ob Ihr einen anderen lieb habt?«

Sie zitterte heftig, sprechen konnte sie immer noch nicht. Da griff er nach ihrer Hand, die sie ihm auch ließ, die aber eiskalt war, und fragte, seine Stirn nahe an ihre Schläfe drängend: »Habt Ihr mich lieb, Filomena?«

Ihre Stirn sank noch tiefer herab. »Ja,« murmelte sie, »und deshalb – deshalb mußt' ich fort.«

»Und deshalb kamt Ihr auf die Anderetalp, als Ihr hörtet, ich sei verwundet und krank, nicht wahr?« fuhr er fort. Und als sie nickte, setzte er hinzu: »Für das alles, was Ihr an mir getan habt, hab' ich Euch noch nicht einmal gedankt, Filomena.«

»O nein,« wehrte sie ab, »ich mußt' es ja tun.«

»Wißt Ihr auch, wie alles gekommen ist, Filomena?« fragte er nach einer Weile mit trübem Ernst, ihre Hand noch immer in der seinen haltend.

Sie nickte. »Der Lenzl hat Euch erschießen wollen, weil er gemeint hat, die Gräfin hielte es mit Euch, und er selbst ist doch wie toll und wild in sie vernarrt gewesen und hat auch den alten Haß noch gegen jeden gehabt, der ein Priestergewand trägt. Und dann hat die Gräfin sich vor Euch gestellt, um Euch zu beschützen, und da hat seine Kugel sie getroffen statt Euch. Die Almleute sagen, so hätt' es der Lenzl selber angegeben, als er nach ein paar Tagen wieder leidlich zu Verstande gekommen war' und die Gendarmen ihn fortgebracht hätten nach Ampezzo hinab ins Bezirksgefängnis. Bis dahin hat er getobt wie ein Wahnsinniger.«

»Und wißt Ihr denn, ob ich's nicht wirklich mit der Gräfin gehalten habe?« fragte er düster.

Sie schüttelte den Kopf. »Sagt so etwas nicht,« bat sie. »Wenn es so gewesen wäre, dann würdet Ihr mich doch jetzt nicht fragen, ob ich Euch lieb habe. Die Gräfin war gewiß eine schöne und gute Frau, und sie wird Euch vielleicht auch geliebt haben – weil es so schwer ist, Euch nicht lieb zu haben – aber Ihr – Ihr habt sie ja nur zu Eurer Religion bekehren wollen, weil man Euch um deswillen hierher geschickt hatte.«

Ihr blindes Vertrauen zu ihm und die kindliche Offenheit in ihrem Wesen, die sich mit einer anmutigen Schüchternheit seltsam vermischte, rührten ihn tief. »Ja,« sagte er, »es war so. Und die Gräfin war eine sehr unglückliche Frau, die nichts mehr in der Welt hatte, was ihr von Wert war und woran sie sich hätte halten können. Als dann ihr Kind gestorben war, glaubte sie sich aller Fesseln ledig und sah den in mir, der sie erretten und der sie in ein neues Leben führen sollte. Sie hätte um deswillen auch ihre Religion abgeschworen – gerade wie es diejenigen vorausgesehen hatten, die mich hierher schickten. Ich aber wollte nicht, daß sie ihren Glauben wechselte wie ein Gewand, und ich wollte auch nicht ihr Erlöser sein aus einem sonnenlosen und liebeleeren Dasein; ich durfte es nicht, weder das eine, noch das andere. Denn ich war kein Priester meiner Religion mehr und war von ihr, ohne daß sie es gewollt hatte, bekehrt worden, statt daß ich sie bekehrt hätte. Und das war der Zauber gewesen, der mich immer in ihre Nähe gebannt hatte; aber ich liebte sie nicht. Als ihr das klar ward, und so der letzte Rettungsanker vor ihren Augen in Stücke brach – selbst aus Mitleid hätt' ich ja nicht vor ihr lügen dürfen – wollte sie vor meinen Blicken in die Tiefe hinab, und als ich sie hielt, traf sie die Kugel, die mir gegolten hatte. So war's, Filomena, so und nicht anders. Und seit ich wieder Herr meiner Sinne bin, frag' ich mich unablässig, ob eine Schuld auf meiner Seele liegt und welche. Ich finde keine. Mein Herz spricht mich frei. Die Schuld, die Verantwortung für das Geschehene wälz' ich allein auf die, die mich hierher schickten, auf die klugen Rechner, denen auch Menschenherzen nichts sind als Zahlen und leere Begriffe für ihre höheren Zwecke. Ich habe nichts getan, als was ich mußte, solange ich ein Priester war. Und eben deshalb, weil ich es gewußt, hab' ich es nicht länger sein können und wollen. Das Blut dieser Frau komme wie das ihres Kindes über die, in deren Händen ich ein willenloses Werkzeug gewesen bin – ich wasche die meinen. Ihr aber ist wohl jetzt, und auf Erden wäre es ihr schwerlich je mehr geworden.«

Er atmete tief auf, als er auch dies letzte dem Mädchen gesagt hatte, dessen Hand noch immer in der seinen lag, und sie hatte ihm schweigend zugehört, nur manchmal das Ohr wie in die Bergweite hinausgerichtet, aus der jetzt das Gurgeln der Wasser lauter und drohender herüberzuhallen schien. Jetzt sagte sie nach einer kleinen Weile: »Ich will für sie beten. Aber ich glaube, Ihr müßt jetzt gehen, Innocenz, es könnte sonst zu spät werden für Euren Heimweg.«

Er blickte um sich, nickte dann und stand auf. »Ja, ich muß fort,« erwiderte er. »Aber ich komme wieder, Filomena. Und Ihr werdet auf mich warten, nicht wahr? Denn Ihr sollt nicht allein nach Welschland hinabziehen – ich gehe mit Euch.«

Sie standen Hand in Hand, Auge in Auge eine Weile unter den ragenden Steilwänden, in der öden Wildnis des Hochgebirges beieinander. Dann sagte Innocenz: »Nenne mich von Stund' an 'Du', Filomena. Willst du?«

Sie nickte. »Du warst mir ja gleich in der ersten Stunde, als ich dich sah, vertraut wie ein Bruder.«

Sie war heiß bei ihren träumerischen Tons vorgebrachten Worten errötet, über Innocenz' Antlitz aber lief ein Zucken hin, und seine Augen starrten düster ins Leere. »Es wäre furchtbar, wenn ich dir nichts anderes sein dürfte,« murmelte er vor sich hin. Dann preßte er ihre beiden Hände so fest in den seinen, daß sie meinte, er werde sie ihr zerdrücken, beugte sich rasch, um mit seinen Lippen ihre Stirn zu berühren, und ging, ihr mit der Hand zuwinkend, sie möge zurückbleiben, eiligen Schrittes den Felsensteig hinab.


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