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I

Der Wandrer, der aus dem dunklen Lärchenwalde auf die freie Höhe emporgetaucht war, hielt, auf seinen Stab gestützt, Umschau. Er tat es weniger, um seine Augen an dem großartigen Landschaftsbilde zu weiden, das hier sich vor ihm auftat, als weil das Steigen ihm beschwerlich gefallen war und er rasten mußte. Denn obgleich er jung und von gedrungenem, kraftvollem Gliederbau war, ja als ein Bild blühender und gesunder Männlichkeit gelten mochte, wie er da oben auf der Schutthalde mitten im wilden Hochgebirge stand, war er des Steigens doch völlig ungewohnt, und das Gewand, welches er trug, zeugte davon. Es war die dunkle Kutte eines Benediktinermönchs. Auch dem Gesichte des Wandrers war es unschwer anzusehen, daß es bisher fast ausschließlich sich über Bücher herabgebückt habe; ein ernster, herber, weltabgewandter Zug lag darin ausgeprägt. Die Augen waren des Sehens in die Weite nicht kundig, und die Hochlandswelt, in die der Mönch sich plötzlich hier versetzt sah, schien sie mit der Mannigfaltigkeit ihrer Farben und Formen schier zu blenden.

Das zwischen den beeisten Tauern im Norden und dem Kalkgebirge im Süden eingesprengte Pustertal, das er heute morgen verlassen hatte, weil der Befehl seiner Oberen ihn in die Einöde des hohen Gebirges sandte, lag mit all seinen bestrickenden landschaftlichen Kontrasten in weiter Ferne zu seinen Füßen. Die sanften, welligen Formen desselben wechselten mit den steil aufragenden Felshörnern darüber, und dunkel bewaldete Höhen umrandeten das üppige Mattengrün, aus dem hier und da das Helmdach eines Kirchturmes sich grüßend emporhob und an den Berghängen die Kapellen gleich weißen Pünktchen in der nachmittägigen Sommersonne flimmerten. Vor ihm aber und um ihn her in weitem Halbrund lag die Welt der Dolomiten. Die nachtenden Forsten, die er bisher, an reißenden Wildwassern entlang, durchpilgert, erklommen von hier aus nur noch in einzelnen lichteren Streifen die Höhen; kahl und nackt reckten die Felszinnen sich in das glanzvolle Blau des Himmels.

Der Mönch konnte sich nun doch eines leisen Schauers nicht erwehren. Die Dolomiten! Das war das Wort gewesen, das ihm aus den fernen, märchenhaft verdämmernden Tagen seiner Kindheit noch allein in der Erinnerung geblieben war und manchmal wie eine Verkörperung derselben in seiner einsamen Zelle unter seinen Büchern vor ihm aufstieg. Er war als Kind in das Kloster gekommen, er wußte nicht einmal, aus welchem Orte er stammte, so wenig, wie er von seinen Eltern oder von irgendwelchen Blutsverwandten etwas wußte. Was hätte auch daran gelegen? Er war für das Kloster bestimmt worden und dort aufgewachsen, er hatte keine Heimat als das Kloster, keine Verwandten als die Mönche, die seine Brüder waren, und den Abt, der sein Vater war. Damit hatte Bruder Innocenz sich von jeher zufrieden gegeben, schon als er noch der jüngste unter den Klosterschülern in der Abtei gewesen. Nur irgendwann hatte einmal einer von den älteren Brüdern ihm gesagt, daß er aus einem Dorfe unter den Dolomiten gebürtig sei und keine Angehörigen mehr auf der Welt habe. Damit war jenes Wort zum ersten Male an sein Ohr geschlagen, und seitdem hatte er daran festgehalten. Mit ihm hatte sich kein bestimmter Begriff, sondern nur die unklare Vorstellung von etwas unsagbar Großem, Schönem und Erhabenem für ihn verbunden, was für andere Jugend und Freiheit bedeutet hätte.

In dem großen, mauerumschlossenen Garten der Benediktinerabtei zu Greifenburg an der Drau hatte es einen Ruheplatz auf einem umbuschten Hügel gegeben, von dem man, an besonders klaren Abenden durch einen Taleinschnitt in weiter Ferne die dämmernden Umrisse wunderlich gezackter, gelbbrauner Felsberge gewahren konnte. Dort hatte Bruder Innocenz manchmal gesessen, und dort hatte er die Dolomiten gesehen. Weiter wußte er nichts von ihnen, und daß er sie je in unmittelbarer Nähe würde bestaunen und mitten an ihnen emporklimmen dürfen, hatte er niemals gedacht. Er hatte sich auch nicht danach gesehnt, denn, wie die Jahre gegangen waren, hatte er immer seltener ein Verlangen gespürt, den Bann des Klosters auch nur für Stunden zu verlassen, und gerade weil er nie die Möglichkeit vor sich gesehen, einmal selbst zu jenen Bergen zu kommen, die da wie Märchengebilde am fernen Horizont auftauchten, hatte er sie wie etwas Liebes und Vertrautes in seinem Innern gehegt, vielleicht auch nur wie ein müßiges Spielwerk seiner Phantasie betrachtet, die manchmal nach dem ernsten Arbeiten des Kopfes und dem heißen Ringen der Seele ein bescheidenes Recht begehrte.

So war es geschehen, daß er bei dem ihm unvermutet gewordenen Befehl seiner Oberen, in das Dorf St. Ulrich hinaufzuziehen, um den kränkelnden, greisen Pfarrer daselbst in der Seelsorge zu unterstützen, in dem Gedanken, nun in das Herz der Dolomitenwelt versetzt zu werden, nichts Verlockendes gefunden, sondern im Gegenteil gefürchtet hatte, durch die Wirklichkeit, der er so plötzlich gegenübergestellt werden sollte, eines köstlichen Traumes oder eines wohltuenden Phantasiegebildes beraubt zu werden. Auch sonst war er nicht gerne gegangen. Das Kloster war seine Welt, und das Wirken an der Klosterschule, zu dem er während der letzten Jahre berufen gewesen, befriedigte ihn und nahm alle seine geistigen Kräfte vollauf in Anspruch. Aber der Wille des Abtes hatte es so über ihn verhängt, und schweigend hatte er seine Befehle entgegengenommen.

Er war von Greifenburg fortgezogen mit dem heiligen Vorsatz, strenge seine Pflichten zu üben, nun er draußen in der Welt seines Amtes walten sollte, und des Abtes Lehren und Mahnungen klangen in seiner Seele wider. Für die Reize der Landschaft, die er erst durchfuhr und dann durchwanderte, hatte er kaum ein Auge. Er bewunderte und verehrte in dem, was er sah, nur die Werke des Allmächtigen. Sein Inneres aber war erfüllt von den Aufgaben, die seiner warteten, und er fühlte, daß er stiller Sammlung bedürfe, sich auf sie vorzubereiten. Nun packte es ihn zum ersten Male doch seltsam, da er hier oben stand. Er hatte eben sein Brevier hervorziehen wollen, um eine Weile rastend sich darein zu vertiefen, aber er vermochte es nicht. Diese Welt voll wilder Erhabenheit, in die er sich plötzlich versetzt sah, zwang ihn zu schweigendem Staunen.

Da hoben sich um ihn her empor all die gewaltigen Riesen dieses Hochlandes, diese Hörner und Zacken, diese Zähne und Nadeln, die Kegel und Türme, all die bizarren Formen des Dolomitgebirges, wie keine andere Bergwelt der Erde sie aufweist, die lotrechten Steilwände, die jähen Abstürze, die endlosen Geröllhalden. Zwischen den einzelnen Zinken schnitten, gleich Breschen, die in diese ungeheuren Steinmauern eingebrochen worden, die Joche ein, noch bis zur Wasserscheide hinauf von Gras- und Pflanzenwuchs überdeckt. Oben aber wand sich schimmernder Schnee wie ein Hermelinmantel um die Flanken und Schultern der Felskolosse. In allen Farben schienen sie zu leuchten. Nach dem Wechsel der über sie hingleitenden Sonnenlichter, bei dem Vorübersegeln einer weißen Glanzwolke im Azur und dem Weiterrücken des Strahlenkranzes flammten sie bald in brennendem Gelb, bald grau oder rot auf oder verblaßten gar nach kurzem Emporglühen ganz und hüllten sich in ein schwärzliches Dämmern. Das Sonnenlicht, das auf ihnen lag und diese ragenden Säulen überglutete, erschien als ein anderes als das, welches drunten im Tale die Saatfelder reifen ließ. Innocenz mußte daran denken, daß er sich hier nahe der Grenzmarken Italiens befinde und daß die Dolomiten auf ihren weiten Flächen drei Völkern ihre Wohnsitze umschirmten.

Der Mönch konnte sich lange von dem Anblick nicht losreißen, der ihn gefesselt hielt. Es zog ihn plötzlich auf die Knie nieder, und inmitten dieser gewaltigen Einsamkeit, unter dem erhabenen Schweigen der Hochlandswelt stammelte er seine Gebete. Nachdenken konnte er nicht, die Worte stürzten ihm ungesucht von den Lippen, aber seine Seele fühlte sich nicht mehr bedrückt und geängstigt, sondern erhoben und beglückt; das Göttliche, dessen Walten er unter den Schauern des Niegesehenen und Niegeahnten um ihn her anbetete, ließ ihm neue Lebenskraft durch alle Adern strömen. Er hatte eine Zeitlang die Augen schließen müssen, weil die Fülle von Farben und Formen für ihn nicht mehr mit Blicken zu umfassen war; jetzt öffnete er sie wieder, schaute wie in demütiger Dankbarkeit empor, griff zu seinem Stabe und schritt weiter.

Der Weg, den er sich von dem ortskundigen Bruder Benedikt auf dessen Karten genau hatte weisen und heute morgen noch unten im Tale bestätigen lassen, führte von der Halde, auf der er gerastet, jetzt noch steiler empor. Wie eine Arterie in dem Gliederbau dieses felsigen Riesenleibes durchfurchte zur Seite ein tiefes Rinnsal das Gestein, in welchem das durchsichtig-klare Wasser tosend dahinschoß. Den trübwogigen Gletscherbächen, welche Innocenz weiter drunten hatte über die Talsohlen sich wälzen sehen, ähnelte es in keiner Weise; hier oben schien alles licht und rein zu werden. Hoch über dem Schlunde auf sonnigem Bergpfad, den nur dann und wann noch eine Zirbe mit windzerwühlter Nadelkrone umschattete, zog er weiter. Immer vor sich gewahrte er, gleich den Strebepfeilern des Himmelsgewölbes, die steilen Wände der Felsen lotrecht emporsteigen, zahllose Hochgipfel, scheinbar regellos von Gigantenhand durcheinandergeworfen, und von einer der gelbbraunen Zinnen zur anderen spannte sich hier und da tief an ihrem Fußgestell eine grüne Einsattelung, die wie eine Oase in dieser ungeheuren Steinwüste herübergrüßte. Wenn sie verschwanden und gleichzeitig die Sonne von einer ziehenden Wolke verdeckt ward oder hinter einer steilragenden Felszinke niedertauchte, lag die tote Einsamkeit der Dolomitenwelt düster drohend vor dem Wandrer. Dann schien sie sich, einer feindseligen Macht gleich, ihm entgegenzustemmen und sein Vordringen bis zu ihren geheimnisvollen Rätseln und Wundern hindern zu wollen. Unter dem funkelnden Strahlenmantel der Sonne aber lockte und gleißte das alles, als schirmten die Steinsäulen droben einen Paradiesesgarten, welcher der in den Niederungen hausenden Menschheit längst entrückt worden war.

Der Mönch schritt immer langsamer aufwärts. Der schwere Ranzen, den er auf seinem Rücken trug, drückte ihn fast nieder. Die reine Luft des Hochgebirges, die ihm um die Stirn wehte, durchfröstelte ihn und schien ihm das Atmen durch ihre kalte, scharfe Frische eher zu erschweren als zu erleichtern. Er mußte jetzt immer häufiger stehenbleiben. Seine Füße vermochten sich auf dem Geröll, das unter ihnen abglitt und polternd zur Tiefe stürzte, kaum mehr weiterzuarbeiten. Als er endlich wieder einmal eine sanft abgedachte Halde erreicht hatte, warf er sich müde auf einen moosüberwachsenen Stein nieder, seine Brust keuchte, und die hellen Tropfen standen ihm auf der Stirn. Dabei mahnte ihn das zwitternde Licht hier zwischen den Felswänden, daß er sich eilen müsse, um vor Anbruch der Dämmerung noch das Alpendorf zu erreichen, da diese ihn nicht auf unbekannten und mühselig zu erklimmenden Gebirgspfaden überraschen dürfe. Die lautlose Stille um ihn her, in die nur einmal der scharftönige Schrei eines zu Horst ziehenden unsichtbaren Bergadlers gellte, hatte jetzt etwas Schreckenerregendes für Innocenz. Er fühlte sich wie abgeschieden von der Welt, wie ausgeschlossen von allem Lebendigen. Nicht mehr die Schönheit der Erhabenheit, nur noch die wilden Schauer dieser toten, übergewaltigen Natur wirkten auf ihn ein, er sah nur noch ihre Schrecknisse, er ahnte ihre tausend unsichtbaren Gefahren, ohne sie zu kennen. Furcht und Verzagtheit wandelten ihn an statt andächtiger Bewunderung. Er kam sich vor, als sei er einer feindseligen Macht entgegengestellt, die er bekämpfen sollte und der er nicht gewachsen, der gegenüber er feige und schwach war.

Wieder flüchtete er sich zum Gebet. Jetzt aber war es kein Stammeln der Rührung und des Entzückens, wie es vorher über seine Lippen gebrochen war, sondern ein angstvoll-inbrünstiges Flehen, wie es eine verlassene Menschenseele im Gefühl ihrer Ausgestoßenheit emporschickt zu dem einzigen Helfer, den sie kennt. Der Mönch ward sich erst, während er so betete, voll bewußt, daß er von Stund an ein Leben führen sollte, bei dem er der steten Hilfe des Allmächtigen bedürfen würde wie der Luft zum Atmen. Er hatte von der Welt, in die man ihn hinaussandte, nichts gewußt, er hatte sie sich so nicht vorzustellen vermocht. Nun war er wie das Blatt eines vollbelaubten Baumes, das der Wind losgerissen hatte und haltlos umhertrieb.

Als Innocenz sich wieder von den Knien erhob, sich das schwarze Haar, das ihm um die Stirn klebte, zurückstrich und zum Weiterwandern anschickte, gewahrte er, daß er auf der Halde nicht mehr allein war. Kaum zwanzig Schritte von ihm trat aus einer grünüberwucherten Felssattelung, die auch von verkrüppeltem Zirben- und Lärchengestrüpp überschattet wurde, eine seltsame Gestalt, die der Mönch erst nach schärferem Hinsehen als ein menschliches Wesen erkannte. Es war ein steinaltes Weib mit gekrümmtem Rückgrat, das unter einem riesigen, verwaschenen, flachen Filzhut, der von ihrem Gesicht nichts gewahren ließ, in einem groben, kurzen Wollenrock sich an ihrem eisenbeschlagenen Krückstock fortbewegte, einen großen Korb am Arm, einen Sack auf dem Rücken. Es war mehr ein Kriechen und Humpeln als ein Gehen zu nennen. So kam sie, sich hin und wieder vollends zur Erde bückend und mit einem kleinen eisernen Spaten in dem bröckeligen Gestein grabend, allmählich näher, und der Mönch rief ihr mit lauter Stimme ein »Gelobt sei Jesus Christus!« zu.

Die Alte erwiderte, sich bekreuzigend, kurzatmig: »In Ewigkeit, Amen!« Sie tat dies mechanisch und ohne sich nach dem umzusehen, der ihr den Gruß zugerufen hatte. Erst nach einer Weile mochte ihr zum Bewußtsein gekommen sein, daß es eine fremde Stimme gewesen war, die sie vernommen hatte, und als sie sich an ihrem Stock wieder aufrichtete und das eiserne Gerät in den Korb geworfen hatte, drehte sie sich der Richtung zu, aus welcher dieselbe gekommen war. Da gewahrte sie das geistliche Gewand. Nun schlurfte sie heran, ergriff die Hand des Mönches und küßte sie. Auch das wie aus fest eingelernter Gewohnheit, ohne die geringste innere Anteilnahme dabei zu zeigen. Ihr Mund war völlig zahnlos, ihre Hand, mit der sie die seine gefaßt hielt, braun, welk und verrunzelt, wie Bruder Innocenz noch niemals eine Menschenhand gesehen. Er schämte sich fast der eigenen, die weiß und schmal zwischen diesen verarbeiteten und verkrümmten Fingern der Greisin lag.

Von ihrem Gesichte unterschied er auch jetzt noch wenig. Es war so von Falten und Furchen durchrissen, daß er hätte glauben können, die Alte zähle weit mehr Jahre, als der Psalmist sie dem Menschenleben zuschreibe, wenn nicht ein einziges Mal unter der dunklen Filzkrempe des Hutes hervor ihn ein Blick aus den Augen der Greisin getroffen hätte, deren dunkle Sterne sonderbar hell und scharf unter dünnen, weißlichen Brauen in dem gelbbraunen, verhutzelten und verschrumpften Antlitz standen. In diesen Augen brannte noch immer ein merkwürdiges Leben. Und die Alte mußte gleichfalls bei ihrem jähen Aufblick, der wohl kaum aus Neugierde, sondern ganz unwillkürlich ihrem Handkusse gefolgt war, irgend etwas an dem Mönch entdeckt haben, was ihre Aufmerksamkeit erregte. Denn obgleich es ihr sichtlich große Mühe machte, ihre kleine, arg verkrümmte Gestalt so weit aufzurichten, daß sie dem hochgewachsenen Manne, der vor ihr stand, ins Gesicht blicken konnte, tat sie es doch zum zweiten Male, und wieder flogen ihre Augen über ihn hin, jetzt mit einer Art von schreckhafter Verwunderung. Dann sank die Alte aufs neue völlig in sich zusammen, ihr schon immer hörbarer Atem wurde nach der gehabten Anstrengung zu einem Ächzen, und sie wandte sich, um davonzuhumpeln.

Nun aber rief der Mönch: »Wie weit ist's noch bis Sankt Ulrich auf der Lahn?«

Sie blieb stehen, die beiden Hände über der Krücke ihres Stockes ineinander gefaltet. »Wollt Ihr dorthin?«

»Ja.«

»Eine kleine Stunde wohl noch. Wie man's geht. Immer da aufwärts.«

»Geht Ihr denselben Weg?«

»Ein Stück wohl.«

Innocenz wurde es nicht leicht, ihre Worte, die sie in einem ihm fremden, wunderlichen Dialekt mit ihren welken Lippen und ihrem kurzen Atem vorbrachte, zu verstehen. Sie bezeigte auch keine Lust, neben ihm herzugehen, er aber sagte: »So gehen wir also zusammen, bis unsere Wege sich trennen,« und hielt sich, langsam weiterschreitend, an ihrer Seite. Als sie darauf nichts erwiderte und nur die Eisenspitze ihres Stockes auf die Steine stieß, die den Felspfad überstreut hatten, fragte er weiter: »Wo seid Ihr zu Hause?«

»In Moosbrunn.«

»Das ist auch auf der Lahn. Zwei gute Stunden von Sankt Ulrich, nicht wahr? Es sind die zwei einzigen Dörfer da oben und die höchstgelegenen in den Dolomiten?«

»Wird wohl so sein.« Sie sagte das in demselben gleichmütigen Ton, den sie von Anfang an angeschlagen hatte, und machte keine Miene, das Gespräch fortzusetzen.

Innocenz aber ließ es sich nicht verdrießen, von dem ersten Menschenkinde, dem er hier oben in der neuen Welt, in welche man ihn gesandt, begegnete, über dieselbe etwas in Erfahrung zu bringen. Diese Welt sollte ja nun seine Welt werden, und mit Menschen dieses Schlages sollte er leben, unter ihnen wirken, sich durch die höchsten Gnadengüter mit ihnen verbunden und als einen der ihrigen fühlen. »Was treibt Ihr da eigentlich?« fragte er, auf den Korb der Alten deutend.

»Ich bin halt die Wurzin.«

»Und was sind das für Wurzeln, die Ihr da ausgrabt und sammelt?«

»Gelber Enzian.«

»Wozu gebraucht man den?«

»Wird halt der Enzeler draus gebrannt.«

»Der Enzeler? Was ist das?«

Die Wurzin blieb stehen, als ob sie sich den, der so fragen konnte, näher betrachten wollte. Dann schien sie sich aber zu besinnen, wer da neben ihr bergauf schritt und erwiderte: »Müßt halt nicht aus der Gegend sein, daß Ihr's nicht wißt. Ein Branntwein ist's. Hier heroben trinken wir ihn gern, und er muß halt sein. Ist eine gute Medizin, die einzige, die wir haben können. Tut wohl gegen Hitze und Kälte, bei jung und alt.«

Sie sagte das, wie wenn sie die Fragen, die er auf den Lippen hatte, mit ihren Worten gleich abschneiden wollte. Über das Gesicht des Mönchs flog ein dunkler Schatten, aber er fragte nur ablenkend: »Sucht Ihr sonst keine Wurzeln? Es sollen mancherlei heilende Kräuter hier in den Bergen wachsen. Ich habe davon gelesen.«

»Wohl, wohl,« machte die Alte kopfnickend. »Mancherlei. Wenn man's nur versteht, sie zu finden. Die Augen wollen noch, aber die Füße nicht mehr.«

»Wie alt seid Ihr jetzt?« fragte Innocenz.

»Weiß nicht. Bin schon lang' auf der Welt, mein' ich.«

»Und habt immer dies mühsame Gewerbe betrieben?«

»Glaub's schon. Es erhält kräftig und gesund. Immer im Wald und auf den hohen Jöchern, bei Wetter und Wind. Freilich: ewig kann's auch nicht währen.«

»Seid Ihr denn ganz allein auf der Welt?«

»Weiß nicht, was ich sagen soll. Bin schon allein, mein' ich. Aber früher sind andere bei mir gewesen. Weiß nicht, wie lang's her ist. Liegen nun alle unterm Stein. Mein' aber doch, sind schon manchmal wieder da.«

Es klang etwas aus den abgebrochen, gleichgültig hervorgestoßenen Worten, was auf Innocenz eine seltsam rührende Wirkung ausübte. Er mochte nicht weiterfragen. Der steile Weg machte der Alten ohnehin das Sprechen doppelt mühselig, und sie selber schien kein Verlangen danach zu tragen. Keuchend stapfte sie neben ihm her. Nach einer Weile gabelte sich der Pfad, den sie bisher verfolgt hatten, und ein kegelförmig zusammengeschichteter Steinplattenhaufen ragte an der Kreuzung auf, von dem ein daran befestigter Lärchenzweig in südlicher Richtung gegen die graue Felswand hinaufwies. »Was bedeutet das?« fragte der Mönch.

»Ein Steinmannl ist's,« erklärte die Wurzin. »Die deuten da heroben bei uns im Hochgebirg den Weg, daß sich keines versteigt. Dortzu ist Sankt Ulrich.«

Sie schritten weiter. »Und wenn einer den andern Weg gegangen wär'?« fragte Innocenz.

»Hätt' bei Nacht leicht können abstürzen,« erwiderte die Alte gleichgültig.

Nach einer weiteren Strecke kamen sie bis dicht an den Wildbach, dessen Tosen sie schon seit längerer Zeit vernommen hatten und der ihnen nun den Weg zu versperren schien. Innocenz hatte eine Frage auf der Zunge, aber die Alte hatte bereits den Fuß auf einen der großen, in das reißende Wasser geworfenen Steinblöcke gesetzt, die sichtlich an Stelle einer Brücke hier lagen, und humpelte, den Stock vor sich hin in den Boden stoßend, geschickt zu dem zweiten und so weiter bis ans jenseitige Ufer hinüber. Dabei konnte es nicht ausbleiben, daß sowohl der Saum ihres grobwollenen, runden, dunklen Kleiderrocks als auch ihr plumpes, nägelbeschlagenes Schuhwerk durchnäßt wurde, aber sie gab nicht acht darauf, sondern rastete nur drüben, um wieder zu Atem zu kommen. Als auch Innocenz den Übergang vollbracht hatte, fragte er mehr überrascht als unwillig: »Weshalb ist hier keine Brücke gebaut?«

»War schon oft eine da,« gab die Wurzin zur Antwort, »aber 's Wasser verträgt sie immer wieder. Ist nicht längst ein schlimm Wetter g'wesen. Das hat sie fortg'rissen. Wenn noch immer Stein' da sind, kann man's zufrieden sein. War schon oft ärger.«

»Die Leute sind wohl recht arm da oben auf der Lahn?« fragte der Mönch.

Diese Frage schien für die Alte nicht leicht zu beantworten. Sie besann sich eine kleine Weile und sagte dann: »Der Pyrker wär' schon reich, mein' ich. Sonst – man lebt halt.«

Der Weg hörte jetzt plötzlich auf zu steigen. Er lief in sanfter Windung neben der schimmernden Steilwand her, die noch von der hier nicht mehr sichtbaren Sonne geküßt wurde, und eröffnete plötzlich einen Durchblick, der den Mönch zum Stillstehen zwang. Zwischen zwei ragenden Zinken schaute man wie durch ein natürliches Felsentor auf eine im mittelalterlichen Feudalstil errichtete Burg, die mit Turm und Zinnen, ein trotzig-gewaltiger Quaderbau, in dieser Felseneinsamkeit aufragte, als ob sie den Bergkolossen um sie her die Stirn zu bieten gesonnen sei. »Was ist das?« fragte der Mönch verwundert.

»Schloß Peutelstein,« war die Antwort der Wurzin, die ihre Augen gar nicht aufgehoben hatte»

Innocenz hatte mancherlei Unterweisungen über Land und Leute, zu denen man ihn sandte, im Kloster erhalten, auch in der Bücherei die Werke durchblättert, die darüber abhandelten, aber der Name dieses Schlosses war dabei nicht vor ihm genannt worden oder ihm vor Augen gekommen. Und doch erregte es mit seinen unverschlossenen Fenstern, die eben jetzt wie vergoldet aufflimmerten, und mit der vom Turme wehenden Standarte den Eindruck, als sei es die Behausung eines lebenden Geschlechts und nicht die steinerne Erinnerung an ein vergangenes. »Wer wohnt dort?« fragte er.

»Das Schloß gehört halt dem Grafen von Karditsch. Ein Jagdschloß ist's. Weiß nicht, ob die Herrschaften dort sind. Hat Jahr und Jahr leergestanden. Hat dann geheißen, die Gräfin wollt' kommen. Wegen der guten Luft, wie sie's nennen. Gibt auch halt Hirschjagd da herum. Und Gemsen haben wir viel.«

Sie waren vorübergeschritten, die Alte immer auf dem schmalen Bergpfade voraus, die eisenbewehrte Spitze ihres Stockes in kurzen, regelmäßigen Zwischenräumen aufstoßend. Dann war's wieder an einer Wegkreuzung, wo sie stehenblieb, und nun sagte sie, gerade vor sich hindeutend: »Hier geht's nach Moosbrunn,« und mit einer Kopfwendung zur Linken: »Da ist Sankt Ulrich.«

Man sah von den beiden Orten hier noch nichts, nicht einmal den Turmknauf ihrer Kirchen; rundum starrte nur die schweigsame Felsenwildnis, um welche die Dämmerung ihre Schleier zu weben begann. Aber Innocenz mußte annehmen, daß er sein Ziel nun bald erreicht haben werde. Er bot der Greisin die Hand. »Ich dank' Euch für Euer Weggeleit. Wie nennt Ihr Euch?«

»Ich bin halt eben nur die Wurzin von Moosbrunn.«

»Ihr müßt doch einen christlichen Namen haben, wie andere Menschenkinder.«

»Danach fragt hier niemand. Hab' ihn fast selber vergessen. Sind halt nicht mehr viele am Leben, die mich gekannt haben, eh' ich die Wurzin worden bin. Aber wenn Ihr's durchaus wissen müßt: Creszentia Afinger heiß' ich und die »schwarze Cenz« haben sie mich einmal auf der Lahn gerufen. Ist ein paar Jährle her, mein' ich.« Sie lachte in einem eigentümlich meckernden Ton auf. »Also, b'hüt Gott!«

»Behüt Gott! Und auf Wiedersehen!« sagte der Mönch.

Die Alte hatte sich schon zum Gehen gewendet, drehte sich aber bei seinem letzten Wort noch einmal um und fragte: »Bleibt Ihr denn in der Gegend?«

Es war das erstemal, daß sie eine Frage an ihn richtete und überhaupt für irgend etwas Teilnahme oder Interesse bezeigte. »Ja,« erwiderte Innocenz, »ich bleibe in St. Ulrich, und wir werden uns also öfter sehen. Nochmals: Gott mit Euch!«

Die Wurzin murmelte etwas zwischen den zahnlosen Lippen, was der Mönch nicht mehr recht verstand, was aber zu heißen schien, er hätte sich auch besser eine andere Gegend zum längeren Bleiben aussuchen können, und humpelte davon. Der Mönch mußte ihr noch eine kleine Weile nachblicken, ehe er die ihm gedeutete Richtung einschlug. In der letzteren gelangte er nach wenigen Minuten bis an eine Stelle, wo sich das Hochtal plötzlich vor ihm öffnete. Und nun sah er auf einer von karger Grasnarbe überwachsenen, sich allmählich gegen die Kalkschroffen hinaufziehenden Halde die weit verstreut liegenden Häuser eines Dorfes vor sich, ihrer vielleicht ein halbes Hundert, wenn er auch die Dächer mitzählte, die nur Stallungen und Heustadel überdecken mochten. Die Kirche stand auf einer mäßigen Bodenerhöhung mitten darunter, ein weißes, schmuckloses Gebäude mit niedrigem, helmbedachtem Turm, umgeben von den schiefstehenden, halb verschütteten Holzkreuzen des Gottesackers, der sich den Hügel hinabzog. An die Kirche lehnte sich ein gleichfalls weißgetünchtes Haus, das die Pfarrwohnung darstellen mochte, einstöckig und mit seinem von Feldsteinen beschwerten Schindeldach kaum von den übrigen des Weilers unterschieden. Der letzte bot mit seinen eben jetzt vom abendlichen Herdrauch überblauten Wohnstätten, in der umschirmenden Rundmauer der Dolomiten und unter dem gerade einsetzenden Abendgeläut der Turmglocke einen friedvollen und anheimelnden Eindruck. Die Schrecknisse der Bergwildnis schienen hier überwunden zu sein, die Felsriesen, welche die Lahn eingürteten, hatten jetzt nichts Drohendes mehr für den Wandrer. Er warf sich vor einem Kruzifix, das unter einem schmalen, grauverwitterten Holzdach hier am Taleingang ragte, nieder und betete um einen gesegneten Einzug und daß er dereinst mit dem Bewußtsein, treu seine heiligen Pflichten erfüllt und Gutes gewirkt zu haben, hier wieder hinausziehen möge.

Seine Seele war voll von den großen Eindrücken dieses Tages, und sein Auge leuchtete von dem Widerglanz erhabener Empfindungen, die in seiner Seele wogten, als er das erste Haus auf der Lahn erreichte. Es war dem Mönch seltsam, wie still es in dem Dorfe zuging. Hier und da saßen die Leute vor den Haustüren, die Weiber am Spinnrade, die Männer rauchend; geredet wurde nichts. Auch die Kinder, die sich auf der Gasse umhertrieben, lärmten nicht dabei, sondern starrten den Mönch nur, als er vorüberkam, wie eine Erscheinung mit offenem Munde an, ohne seinen Gruß zu erwidern. Selbst von den älteren Leuten ward ihm eine solche Erwiderung nicht immer zuteil; gleichgültige, verdrossene, sogar feindselige Blicke trafen ihn manchmal. Das Leben auf dieser einsamen, weltfernen Höhe und die harte Fron der Arbeit, in der sie um ihr tägliches Brot rangen, mochte die Menschen hier unzugänglich, wortkarg und mißtrauisch gemacht haben.

Auch die Sägemühle, an der Innocenz vorbeischritt, stand bereits still, nur das Wildwasser – wohl das gleiche, das er drunten hatte mit der alten Wurzin überschreiten müssen – toste mit schaumigem Geflock über das Wehr. Das mußte der Villgrattenbach sein, der aus den Schneefeldern der »hohen Zinne« dort drüben gespeist ward, durch den Lärchenwald brausend in die grüne Lahn niederging und sich mit vielen anderen Bächen und Rinnsalen drunten in die Drau ergoß. An die Sägemühle stieß ein stattliches Wohnhaus, das größte im Dorf, mit braungedunkeltem Gebälk. Auf den Simsen der niederen Fenster standen brennend rote Geranien. Hier mochte der einzige wohnen, von dem die Wurzin gesagt hatte: »Der wär' schon reich, mein' ich.« Als der Mönch am Hause entlang schritt, hörte er drinnen die Stimme eines Vorbeters, der die eines Chores Antwort zu geben schien; aber es klang alles sonderbar hart und scharf, nicht eigentlich wie ein Gebet, mit dem man der höchsten Macht etwas abringen will, sondern eher wie ein Befehl oder doch wie eine Aufgabe, die man mit finsterem Ernst, ohne Freudigkeit und inneren Antrieb erfüllt.

Innocenz hatte den Fuß des Hügels nun erreicht und schritt zwischen den eingesunkenen, überwucherten Gräbern des kleinen Friedhofes auf das Pfarrhaus zu. Es lag gerade der hohen Zinne gegenüber, deren graue, wild zerrissene und zerklüftete Wand aus dem Dunkel des Nadelwaldes aufstieg und hier und da in den Schrunden und Mulden eine glitzernde Schneeschicht barg, während sie sich nach oben zu in ein phantastisches Felsgebilde auflöste, das halb einem gotischen Kirchturm, halb einer sich verjüngenden, zinnengekränzten Säule glich. Noch immer lag gelbes Abendlicht dort oben, während das Tal längst von grauer Dämmerung erfüllt war und auch die anderen Riesen des Hochlandes, die sich in abenteuerlich wechselnden Gebilden zu beiden Seiten an die hohe Zinne reihten, jetzt farblos aufragten in einen wolkenfreien Himmel, welcher sich kuppelgleich über der Lahn wölbte.

Der Mönch überschweifte das alles kurz mit seinen Blicken, während seine Hand den eisernen Türklopfer gegen das braune Holz der Eingangspforte fallen ließ. Nach einer Weile ließen sich von drinnen schlurfende Tritte auf dem steinernen Fliesenboden vernehmen, und die Tür wurde zur Hälfte geöffnet. Das finster blickende Gesicht einer etwa fünfzigjährigen Frau, das unter einer unsauberen, schief sitzenden Haube faltig und mit einem unfreundlich-verbissenen Ausdruck zum Vorschein kam, beugte sich heraus, um den draußen Stehenden argwöhnisch zu betrachten.

»Was soll's?« fragte sie abwehrend. »Wir sind nicht eingerichtet für Nachtquartier.«

»Ich bin Bruder Innocenz vom Kloster des heiligen Benedikt zu Greifenburg,« versetzte der Mönch. »Pfarrer Antholzer, mein hochwürdiger Bruder, erwartet mich, denn der Prior hat mich ihm gemeldet.«

Die Frau war mit einem unvernehmlichen Gemurmel, das aber schwerlich einen Segenswunsch enthielt, zurückgetreten und hatte die Tür freigegeben. »Gelobt sei Jesus Christus!« sprach der Mönch beim Überschreiten der Hausschwelle.

Er hörte nicht, ob das Weib den Begrüßungsspruch vollendete, denn in diesem Augenblick wurde die Stubentür geöffnet, und der, dessen Gast Innocenz für die nächste Zeit sein sollte, stand im Rahmen derselben. Der Pfarrer Aloys Antholzer von St. Ulrich war ein alter Mann, dem die Last der Jahre, vielleicht auch Krankheit, den Rücken gebeugt hatte. Spärliches, schneeweißes Haar umrahmte ein gelbes, eingefallenes Gesicht, das den Eindruck vollster Stumpfheit erregte. Die Augen blickten teilnahmlos und blöde vor sich hinaus, dicke Tränensäcke lagen darunter. Auf dem Rücken der Hand, welche der Pfarrer jetzt dem Ankömmling entgegenstreckte, hob sich das Geäder wie ein dichtes, grünliches Geflecht ab. Innocenz hatte auf ein Wort des Willkommens aus seinem Munde gewartet, dasselbe erfolgte jedoch nicht. »Ich hatte Euch noch nicht erwartet,« murmelte der Pfarrer, um dann zu dem immer noch argwöhnisch nach dem Mönch schielenden Weibe gewendet hinzuzusetzen: »Richte dem hochwürdigen Bruder ein Bett, Resi, und die Abendsuppe muß reichlich sein.«

Damit schlurrte er, die eine Körperhälfte mit schief abstehender Schulter vorschiebend, in die Stube zurück, während der Mönch dem vor sich hinbrummenden Weibe in ein am Ende des Hausganges befindliches Gelaß folgte, wo er sich seines Ranzens entledigen und auf einem Holzstuhl am Fenster niederlassen konnte, um zu rasten. Der niedrige Raum war im übrigen fast kahl. Nur ein Bettgestell und ein Tisch aus rohem Tannenholz befanden sich darin, die weiß gekalkten Wände hatten hier und da ihren Bewurf verloren. Aber vor dem gardinenlosen Fenster ragte die hohe Zinne mit ihren Nachbarn zur urgewaltigen Majestät auf, und den Mönch dünkte es um deswillen doch eine gastliche Zelle, in der man ihn wollte herbergen lassen; er hätte sich keine bessere wünschen mögen.

Ein Gespräch, das er mit dem Weibe anknüpfen wollte, welches ihm, immer murmelnd, jetzt sein Lager zurüstete, hatte keinen rechten Fortgang. Sie antwortete mit »Ja« und »Nein«, um alles, was darauf folgte, in einem unverständlichen Gebrumme untergehen zu lassen. Sichtlich war sie mit seinem Hiersein wenig zufrieden. Das aber schien überhaupt jeder zu sein, dem er bisher begegnet war, und es mochte im Charakter dieses von aller Welt abgeschlossenen Gebirgsvolkes liegen, daß man den Fremdling, der nicht zu ihnen gehörte, gleichviel wer er sein mochte, als einen Eindringling betrachtete, vor dem man auf seiner Hut sein müßte und dem man den Willkomm verweigerte. Er würde sich ein Vertrauen, das man ihm nirgends entgegenbrachte, also erst mühsam zu erwerben haben und mochte auf ein ernstes Ringen danach gefaßt sein.

Auf den Pfarrer, den Innocenz beim Abendessen, welches in einer derben Mehlsuppe, Brot und Speck bestand, wiedersah, war offenbar hierbei als auf einen Helfer und Berater nicht zu rechnen. Dieser stumpf vor sich hinblickende Greis, der in dem kahlen Zimmerchen an seinem von keinem Leinentuch überspreiteten, mit grobem, schadhaftem irdenen Geschirr bedeckten Tische saß und sich die bürgerliche Kost schmecken ließ, erregte nicht den Eindruck, als ob ihm an einem gedeihlichen, seelsorgerischen Wirken seines Gastes in der Gemeinde gelegen sei, oder als ob er dessen Wünschen und Plänen Verständnis und Teilnahme entgegentrage. Vom Sprechen schien er überhaupt so wenig ein Freund zu sein, wie die Menschen hier oben in den Bergen alle, sondern er gab sich schweigend mit desto größerem Eifer der Tätigkeit des Essens hin, die er aber in einer Art betrieb, welche von den Gewohnheiten der Gebildeten abwich und den Sitten des Klosters, aus welchem Innocenz kam, wenig entsprach. Auch hier zeigten sich die bäuerlichen Manieren, welche er angenommen.

Gleichzeitig glaubte der Mönch zu entdecken, woher die unfreundliche Stimmung der Haushälterin des Pfarrers gegen ihn stamme. Dieselbe war offenbar gewohnt gewesen, mit ihrem Dienstherrn die Mahlzeiten am gleichen Tische zu teilen, und getraute sich jetzt nicht in seiner Anwesenheit von solcher Erlaubnis weiter Gebrauch zu machen oder war von dem Pfarrer ausdrücklich angewiesen worden, darauf zu verzichten. Ihrem Unwillen darüber, daß die Suppe beinahe kalt geworden, ehe sie dieselbe in die Küche für sich hinaustragen durfte, gab sie ziemlich unzweideutig Ausdruck, und ihr ganzes Gebaren ließ darauf schließen, daß sie sich aus ihren wohlerworbenen Rechten verdrängt sah. Innocenz nahm deshalb Veranlassung, dem Pfarrer gegenüber zu äußern, daß er die Haushälterin nicht etwa um seinetwillen vom Tische verbannen möge, falls er sie bisher daran habe teilnehmen lassen, was der Angesprochene nur mit einem gleichgültigen: »Wie Ihr meint« aufnahm.

Als die Mahlzeit vorüber war und die Resi das Geschirr abgetragen hatte, hoffte Innocenz den Pfarrer endlich in der Stimmung zu finden, ihm über die mancherlei Fragen, welche ihn beschäftigten, Aufschluß zu geben. Dieser aber bezeigte auch jetzt keine Lust dazu, sondern trat an einen unverschlossenen Wandschrank, dem er eine breitbauchige Flasche von dunkelgrünem Glase und ein paar kleine, verstaubte und abgestoßene Gläser entnahm. »Mögt Ihr einen Enzeler?« fragte er.

Innocenz verneinte mit gekrauster Stirn. Der Pfarrer füllte sich darauf sein Glas, leerte es, füllte es noch einmal und sagte dann achselzuckend: »Man wird's hier gewohnt. Und man braucht's.«

Der Mönch sagte nichts, aber alle Lust, mit dem Pfarrherrn sich in ein Gespräch über sein geistliches Wirken auf der Lahn einzulassen, war ihm vergangen. Dagegen fragte der letztere, der inzwischen auch das zweite Glas ausgetrunken und die zitterigen Finger schon wieder nach der Flasche ausgestreckt hatte, wie in plötzlich erwachter Neugierde oder auftauchendem Mitleid: »Was habt Ihr eigentlich begangen, Bruder Innocenz?«

Die wasserblauen, glasig verschwommenen Augen des Sprechers richteten sich dabei mit einem kurzen Auffunkeln des Interesses zu dem Mönch hinüber, der erstaunt erwiderte: »Begangen? Weshalb soll ich etwas begangen haben?«

Etwas wie der Schatten eines Lächelns huschte jetzt um die eingefallenen Lippen des Priesters. In dieser Minute sah er plötzlich verehrungswürdig aus in einer erbarmenden Milde, die wie aus der Erinnerung an eine ferne, ganz ferne Zeit sich über das ausdruckslos gewordene, verrunzelte Gesicht verbreitete. Dann fiel es wiederum wie eine graue Aschenschicht darauf nieder, unter der das aufzuckende Fünkchen verlosch, und, den Kopf leise wiegend, raunte Aloys Antholzer müde und gleichgültig: »Man hätte Euch sonst doch nicht hierher geschickt.«

»Man hat mich hierher geschickt, um Euch in der Ausübung Eures Seelsorgeramtes beizustehen. Dünkt Euch dieser Grund nicht vollwichtig genug, lieber Bruder?«

Die in leicht erregtem Tone gegebene Antwort des Mönches schien auf den Priester keinen Eindruck zu machen, oder er hatte sie gar nicht gehört. »Ihr braucht's mir ja auch nicht zu bekennen,« sagte er, »ich bin nicht neugierig. Man verlernt's.«

Es klang so schläfrig, wie er es murmelte, daß Innocenz eine Mahnung darin sah, sich zurückzuziehen, obgleich es noch nicht spät sein konnte. Eine Verständigung schien hier ohnehin ausgeschlossen. Dennoch konnte der Mönch es nicht unterdrücken, zu sagen: »Ich begreife es nicht, weshalb Ihr meine Sendung hierher durchaus als eine mir gewordene Bestrafung auffassen zu müssen glaubt, lieber Bruder. Dieses Hochtal mit seinen unerschöpflichen Naturwundern ist doch schwerlich ein Verbannungsort für Frevler. Eher könnte man es für ein Paradies halten.«

Der Pfarrer nickte mehrmals vor sich hin, ehe er, ohne eine Miene zu verändern, erwiderte: »Wart Ihr je im Winter hier oben, Bruder Innocenz? Einen Winter nach dem anderen, – Jahr um Jahr? Der Winter währt lange hier oben unter den Dolomiten. Aber Ihr habt gewiß recht, es ist ein Paradies zu nennen.«

Er sagte das ohne alle Bitterkeit oder Ironie, in dem gleichen müd-schläfrigen Ton von vorher, als hätte er weder die Lust noch das Recht und die Fähigkeit, irgendeine Einwendung gegen die Worte des Mönches zu erheben. Eine stumpfe Hoffnungslosigkeit lag in seiner Erwiderung, aus der es Innocenz wie mit einem plötzlichen Eiseshauch anwehte. Als er dann den Pfarrer abermals zum Glase greifen sah, stand er auf, bot ihm die Hand und sagte: »Ich bin müde von der langen Bergwanderung, an die ich nicht gewöhnt war, und möchte zur Ruhe gehen. Auch Ihr werdet's wohl wie die Älpler halten, die früh den Tag beenden, um ihn früh wieder anzufangen. Haltet Ihr morgens eine Hausandacht, lieber Bruder?«

»Wenn Ihr's wünscht –«

»Nicht doch. Ich sagte Euch schon, daß Ihr in Eurer Hausordnung völlig ungestört bleiben müßt, wenn ich mich nicht als fremder Eindringling hier fühlen soll. Ich hoffe, wir werden uns gut miteinander einleben. Morgen will ich Euch bitten, mich in den Pflichten unseres Amtes zu unterweisen, in denen ich Euch unterstützen darf. Ihr sollt in allem frei über meine Arbeitskräfte schalten, und ich möchte Euch in nichts zu nahe treten oder Euch gar berauben, wo Ihr selber noch Eures Amtes walten zu können gedenkt. Nur wo Eure Kräfte nicht mehr ausreichen, will ich für Euch mit meinen jüngeren eintreten, damit die heilige Sache etwa nicht Schaden erleidet. Euch aber zu verdrängen, bin ich wahrlich nicht gesonnen und bedarf dringend Eures väterlichen Rats in allem, wie ich denn auch ganz in Euren Bahnen hier wandeln möchte. Betrachtet mich, bitte, als Euren willigen Schüler. Und damit wünsche ich Euch eine friedsame Nacht, lieber Bruder!«

Innocenz hatte diese Worte gesprochen, um jedes etwaige Mißtrauen, das bei dem Priester gegen ihn, als Neuerer und Besserwisser, hätte aufkeimen können und aus dem sich vielleicht dessen wortkarges und gleichgültiges Wesen gegen ihn selber erklären ließ, zu ersticken. Es war ihm heiliger Ernst mit dem, was er gesagt. Aber Aloys Antholzer blickte ihn so verständnislos daraufhin an, als wenn er nicht wisse, ob er einen ausgemachten Heuchler oder aber den Bewohner einer anderen Welt vor sich habe, mit der ihn keinerlei Gemeinsamkeit des Fühlens und Denkens mehr verknüpfte. Dann sagte er nichts als: »Gute Nacht, Bruder Innocenz.« Und der Mönch verließ das Gemach.

Es waren keine freudigen und lichten Gedanken, mit denen Innocenz sein Ruhelager in dem Kämmerchen aufsuchte, zu dessen unfreundlicher Kahlheit seine Klosterzelle zu Greifenburg in wohltuendem Gegensatz gestanden hatte. Er betete lange und heiß um Erleuchtung und Kraft, ehe er sich zum Schlafen anschickte. Dann aber forderte seine jugendlich-gesunde Natur ihr Recht, und er entschlummerte fest und friedlich.


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