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X

Die Leiche des gräflichen Kindes, das auf Schloß Peutelstein eines so raschen Todes gestorben, war auf die telegraphischen Anordnungen des Vaters hin einbalsamiert worden, um in einem Zinksarge in das Tal hinabgetragen und von dort mit der Eisenbahn weiter bis auf das krainische Erbgut der Familie befördert zu werden, wo die Beisetzung mit allem üblichen Trauergepränge stattfinden sollte. Vorher hatte an dem offenen Sarge in dem großen Saale des Jagdschlosses eine kirchliche Feierlichkeit stattgefunden, bei welcher Pater Pius als der langjährige, erprobte Seelsorger des gräflichen Hauses das Totenamt gehalten und Innocenz ihm zur Seite gestanden hatte.

Aber die Gräfin Donata war zu der Leichenfeier ihres Kindes nicht erschienen. Seit sie am hohen Mittag des Tages, welcher der Sterbenacht gefolgt war, aus dem Gemache, in dem ihr totes Kind lag, hinausgeschritten war, hochaufgerichtet, blaß, mit großen, starren, glanzlosen Augen und reglos-versteinerten Zügen, selbst eher einer Toten als einer Lebendigen gleich, hatte sie die Leiche widerspruchslos anderen Händen überantwortet und schweigend alles geschehen lassen, was man darüber beschloß. Offenbar hatte sie selber ihren letzten Abschied von dem Kinde bereits genommen und wollte es, nachdem andere schon den erkalteten Körper berührt hatten, nicht mehr wiedersehen, denn sie lehnte jede Aufforderung, sich an der Aufbahrung zu beteiligen oder das Zimmer, in dem diese statthatte, überhaupt zu betreten, mit kalter Entschiedenheit ab. Sie wollte sich das letzte Bild, das sie von ihrem Knaben in der Seele trug, durch kein anderes mehr verdrängen lassen. Auch zur Teilnahme an der Totenmesse war sie nicht zu bewegen gewesen, hatte es sogar abgelehnt, die Gräfin Theodora, die ihr den ausdrücklichen, dahin zielenden Wunsch des Grafen Alexander hatte mitteilen und ihre eigenen Vorstellungen daran knüpfen wollen, überhaupt zu empfangen. Außer dem Pater Pius, der einmal für eine kurze Weile bei ihr hatte eintreten dürfen, – über ein Händeschütteln war es dabei kaum hinausgekommen, – hatte Donata niemand sehen wollen, und nur die alte Mirz, die sie bediente, ging bei ihr ein und aus. Sonst verschloß sich die Gräfin in ihren Zimmern, und die Alte konnte nichts berichten, als daß Donata immer gleich starr und teilnahmlos in ihrem Schmerze verharre, sie scheine aber niemals zu weinen, da ihre Augen niemals gerötet seien, nur bete sie viel, denn man sehe sie oft auf den Knien liegen.

So hatte Innocenz Donata seit dem Vorabend des Todes ihres Kindes noch nicht wiedergesehen, da auch für ihn ihre Tür verschlossen blieb. Und doch meinte er, während das Totenamt für Ronald zelebriert wurde, er sähe sie dauernd vor sich. Denn ihm gerade gegenüber an der Wand des Saales, in dem der Katafalk, unter Blumen und Blattpflanzen fast begraben, aufgestellt war, hing die Kopie der Tizianschen Magdalena, die er aber bis dahin noch nie gesehen hatte, nun sah er sie hier zum ersten Male, und die Ähnlichkeit des Bildes mit Donata erschien ihm beinahe schreckhaft. Während der ganzen kirchlichen Zeremonie konnte er seine Augen von dem Bilde nicht abwenden, und immer war es ihm, als blickten ihm die Donatas aus dem breiten Goldrahmen entgegen, und ihre Hand sei es, welche die wallende, goldene Haarflut schämig über dem herrlichen Busen zusammenhielt. Es war Sünde, daß er jetzt und hier daran dachte, – er wußte es –, und doch konnte er nicht anders.

Am Tage nach der Totenfeier, als der Sarg schon aus dem Schlosse getragen war, hatte Innocenz noch einmal versucht, bei der Gräfin Donata vorgelassen zu werden, aber wiederum war ihm trotz der Vermittlung der Gräfin-Mutter ein abschlägiger Bescheid zuteil geworden. Donata wollte ihn nicht sehen.

Gräfin Theodora zuckte gleichmütig die Achseln, als dieser Bescheid zurückkam. »Sie muß Zeit haben, sich zu besinnen,« sagte sie zu dem Mönch, der ihr stumm in dem Gemache mit dem Bilde der ›himmlischen und irdischen Liebe‹ gegenübersaß. »Deshalb dürfen Sie nicht verzagen, ich kenne sie, sie wird sich jetzt bekehren. Nur ihr Trotz ringt noch eine Weile gegen die sich ihr aufdrängende Notwendigkeit an, in Gott ihre Zuflucht, im alleinseligmachenden Glauben ihren Trost und ihre Aufrichtung zu suchen. Glauben Sie mir, Pater Innocenz: sie wird nicht von hier scheiden, ohne in den Schoß unserer Kirche aufgenommen zu sein. Gott hat es wohl gemacht. Um diese stolze, trotzige Frauenseele zu brechen, bedurfte er gewaltsamer Mittel, die in das innerste Leben griffen. Nun wird es herrlich vollendet werden.«

Innocenz suchte auch diesmal wieder die Gelegenheit, das Schloß sobald als möglich zu verlassen. In der Nähe dieser Frau begann es ihm zu grausen. Ihre fühllose Starrheit empörte sein Innerstes, und er konnte nicht glauben, daß diese kalte Berechnung, die aus ihr sprach, Frömmigkeit sei. Frömmigkeit konnte nicht in schroffen Widerspruch treten zu allem, was menschlich war. Er hatte das schon wieder und wieder dem gegenüber empfunden, was hier das Leben ihm nahegebracht hatte, wie wenn es ihn hätte prüfen wollen in Herz und Nieren, ob er auch ein echter Priester sei, ohne darüber zu vergessen, ein Mensch zu sein.

In den Tagen, die diesem folgten, irrte Innocenz unablässig im wilden Gebirge umher. Er ging nicht wieder in das Schloß. Wenn Donata ihn sehen wollte, würde sie ihn rufen lassen, sagte er sich. Ihm stand der Sinn nach Einsamkeit und nach dem erhabenen Schweigen der Bergwelt. Häufig gedachte er an irgendeiner abgelegenen Stelle der Felsenwildnis, auf einer Hochalm, in einer Schutzhütte, die von Jägern oder Holzfällern errichtet worden war, eine Spur der Anwesenheit Filomenas oder gar sie selbst zu finden. Denn er glaubte nicht daran, daß sie nach Italien geflüchtet war, sondern hielt fest daran, daß sie irgendwo im Gebirge, das sie von Kindheit auf liebte und kannte wie wenige, eine Zuflucht gefunden habe, um so der Verbindung mit dem ungeliebten Manne, zu der man sie zwingen wollte, zu entgehen. Daß sie das Reich der Dolomiten verlassen haben sollte, erschien ihm undenkbar.

Auch der wilde Xaverl, zu dem Innocenz hinaufgestiegen war, um ihn zu fragen, ob er nichts von Filomena wisse, war seiner Meinung gewesen. Zwar konnte auch er den Aufenthaltsort des Mädchens nicht, aber er meinte gleichfalls, daß sie in einer Sennhütte der Hochalpen leben, und daß man sie im Spätherbst, wenn man droben nicht mehr hausen könne, schon wiedersehen werde. »Bis dahin wird sich der Barthel leicht eine andere gesucht haben,« sagte er in seiner gemütsruhigen Art.

Innocenz' Sehnsucht nach Filomena suchte einen Ausdruck darin, daß er jetzt manchmal wieder auf der Anderetalp an seinem Bilde malte, auf dem sie in ihrem ganzen Liebreiz eine Stelle gefunden hatte, noch öfter aber, weil er es dort, wo er so oft mit ihr zusammengesessen, nie lange allein aushielt, nach dem Gedächtnisse sie in seinem Skizzenbuche in allen möglichen Stellungen zu zeichnen versuchte. Er fand eine schmerzliche Genugtuung darin, wenn ihm das gelang, und er sich ihre Züge so selber durch den Stift wieder vor die Augen zauberte.

Dann war's an einem sonnenhellen Spätsommertage, daß er den Platz in der Felsöde wieder aufgesucht hatte, wo er zum ersten Male die Gräfin Donata gefunden, ohne sie noch zu kennen. Der Zufall hatte ihn heute in die Nähe desselben geführt, und er sagte sich, daß sich hier gut werde in der Einsamkeit rasten lassen, und daß es schön sein müsse, um Sonnenuntergang hier noch einmal das großartig-farbenreiche Schauspiel am Monte Valdena zu betrachten, welches damals die Gräfin hierher gelockt hatte. Dann zog er sein Skizzenbuch hervor und begann die mächtige Felswand drüben, wie sie aus dem dunklen Vordergrunde des Tannenwaldes gigantisch emporstieg und die phantastischen Zacken und Gipfel der bleichen Dolomiten majestätisch überragte, auf einem der noch leeren Blätter desselben zu zeichnen. Die tiefe Stille um ihn her ließ ihn sich andachtsvoll in seine Arbeit versenken. Nur manchmal stützte er den Kopf, eine Weile ausruhend, in die Hand, und dann gewahrten seine Augen nicht die landschaftliche Szenerie, die vor ihnen sich aufbaute, sondern sahen etwas ganz anderes, was in Wirklichkeit nicht da war und doch hell und leuchtend wie eine Glanzerscheinung aus der blauen, flimmernden Luft sich abhob.

Der Zeichnende hatte bei seiner Beschäftigung sogar das Geräusch nahender Schritte in seinem Rücken überhört, und erst das kurze Aufbellen eines Hundes schreckte ihn empor. War das nicht Hektors Stimme gewesen? Gerade so wie damals klang sie ihm, da er sie zum ersten Male hier vernommen. Sein Herz schlug plötzlich rasch. Er wollte jäh auffahren, als er auch schon Donata zwischen den Felstrümmern hervortreten sah. Da blieb er wie gebannt sitzen, und auch sie schien zu zaudern, ob sie wieder umkehren solle. Dann aber kam sie gerade auf ihn zugeschritten.

Sie trug ein dunkles, schlichtes Gewand, das jedoch kein eigentliches Trauerkleid war, auch sonst nirgends ein vordringliches, der Sitte entsprechendes, äußeres Zeichen dafür, daß ihr ein naher Angehöriger gestorben sei. Sie mochte inmitten einer großen und einsamen, noch jungfräulichen Natur jedes Einhalten konventioneller Vorschriften verschmähen, vielleicht hätten sie auch ohnehin in ihren Augen ihren Schmerz nur herabgewürdigt. Ihr Antlitz war sehr bleich und ihr Blick starr vor sich hingerichtet, etwas seltsam Lebloses lag in ihren Zügen. Innocenz mußte daran denken, daß Pater Pius ihm gesagt hatte, die Gräfin habe ihn an eine Statue der Mutter der Niobiden erinnert; in der Tat war etwas Versteinertes in diesem herrlichen Frauenantlitz.

Er war emporgefahren; dies Wiedersehen, so unvermutet und gerade an dieser Stelle, regte ihn nun doch mächtig auf. Er war im Begriffe, sich nach einem Gruße zu entfernen, um ihr hier die Einsamkeit und Ruhe zu gönnen, um derentwillen sie doch wohl gekommen war. Aber Donata, die seine Absicht begriff, rief ihm zu: »Nein, nein, bleiben Sie! Ich bitte Sie darum. Ich suchte Sie.«

Ihre Worte klangen ihm seltsam in den Ohren, so daß er unwillkürlich verwunderten Tones wiederholte: »Sie suchten mich, gnädige Gräfin?«

»Ja. Ich bin nun Tag für Tag durch diese ungeheure Einsamkeit gewandert, ich ertrug es nicht länger. Ich sehnte mich so nach einem Menschen, daß ich mein Verlangen hätte hinausschreien mögen, bis die Bergwände es mir zurückwarfen. Wissen Sie, daß ich Ihnen früher einmal sagte, die Felsmassen könnten uns mit der Zeit zu ungeheuren Leichensteinen werden in ihrer Kahlheit und Öde, eine neben der anderen, ohne Ausweg, drohend und düster, wie sie da ragen? Nie hab' ich das empfunden, wie in diesen Tagen. Mir war's immer, als würden sie herabstürzen und mich unter ihren Trümmern begraben. Das wäre vielleicht ja nun gut, sogar das beste gewesen. Nur daß die Einsamkeit uns furchtsam und also auch feige macht. Ich wollte nicht umkommen, mir bangte davor. Die Einsamkeit trägt ein merkwürdiges Doppelgesicht. Sie lockt uns mit tausend geheimnisvollen Stimmen, und dann macht sie uns wieder todestraurig und läßt uns verzweifeln; sie rührt alles Große und Wahre und Gute in uns auf, reizt uns zu edlen Taten, läßt das Kleine und Niedrige von uns abfallen, und dann wieder jagt sie uns dem Wahnsinn in die Arme. Sie ist die Mutter alles hehren und alles erbärmlichen Tuns. Den ganzen Tag such' ich nach einem Menschen, und irgend etwas in mir rief mir zu, hier würd' ich einen – hier würd' ich Sie finden. Und als sich meine Ahnung nun bewahrheitete, wär' ich am liebsten wieder geflohen. In diesem Augenblick schien mir's unmöglich, mit einem Menschen zusammen zu sein, mit einem Menschen zu sprechen.«

Sie sagte das alles halb wie zu sich selber und ohne ihn anzublicken, hatte dabei aber sich neben ihm niedergelassen, auf dem gleichen Platze, wo sie damals gesessen, als er sie zum ersten Male gesehen. Nun starrte sie, die Hände im Schoß gefaltet, mit großen, glanzlosen Augen vor sich hin zu der ragenden Felswand hinüber, an deren grauen Wandungen die Sonnenlichter spielten, während den Nadelwald immer düsterer und undurchdringlicher die schwarzen Schatten erfüllten.

»Ich begreife das alles,« sagte der Mönch gedämpften Tones. »Sie haben furchtbare Tage verlebt, Frau Gräfin, und Ihr Nervensystem ist schwer überreizt. Ich verstehe, daß Sie die Einsamkeit suchen, weil Ihnen das Zusammensein mit Menschen Pein bereitet, und ich verstehe auch, daß die traurige Öde des Alleinseins dann wieder plötzlich wie mit körperlicher Schwere auf Sie drückt. Ich hätte Ihnen in dieser schwersten Zeit gern zur Seite gestanden, gnädige Gräfin, wenn ich gedurft hätte.«

Es sprach keine Bitterkeit, nur Trauer aus seinen Worten, und sie entgegnete mit Wehmut, so weich, wie sie noch nie zu ihm geredet hatte: »Hätten Sie mir helfen können, Pater Innocenz?«

»Wenn das Wort Gottes einen Trost für Sie enthält, Gräfin –«

Sie gab eine Zeitlang keine Antwort. Dann sagte sie: »Sie sehen ja, daß ich noch hier bin. Ich hätte das nicht gebraucht. Graf Alexander zeigte milde Regungen und stellte mir – diesmal sogar dem Rate seiner Mutter entgegen – frei, nach Karditsch zurückzukehren, wenn mir das längere Verweilen auf Peutelstein jetzt zu schmerzlich sei. Ich habe von seiner Erlaubnis keinen Gebrauch gemacht. Ich hatte Ihnen versprochen, mich noch einmal zu prüfen, um Ihnen sagen zu können, ob es eine Möglichkeit für mich gäbe, dem Wunsche meines Gatten zu entsprechen, ob je Ihr Gott auch mein Gott werden könne. Was inzwischen geschehen ist, entbindet mich von meiner Zusage nicht. Ehe Sie eine letzte, entscheidende Antwort von mir haben, die durch nichts mehr umgestoßen werden kann, werde ich die Lahn nicht verlassen. Und dann werden Sie auch wissen, ob es einen Trost für mich in Ihrer Religion gibt oder nicht.«

Ein leises Zittern hatte den Mönch bei ihren Worten überlaufen. Sein Blick streifte sie, aber sie hatte ihm auch ihre Augen nicht zugewandt, die immer vor sich hin ins Leere blickten. Nun fragte er stockend: »Und Sie haben sich noch nicht entschieden?«

»Nein,« sagte sie, wieder erst nach einer Weile.

»Ich habe geglaubt, daß gerade diese Zeit, die Ihnen das Schwerste gebracht, Ihren Sinn auf die einzige Hilfe lenken würde, Frau Gräfin, die Menschen werden kann, wenn Gram und Verzweiflung sich in ihren Herzen einnisten und sie zerbrechen wollen.«

»Ich habe in dieser Zeit nicht denken können,« versetzte sie, »nicht darüber und über nichts. Es ist alles tot in mir gewesen, tot und begraben. Was man mit meinem Kinde für mich begraben hat, Pater Innocenz, das war mehr als dieses Kindes Liebe und seine rührende Zärtlichkeit, seine Schönheit und Güte und alles das, was es für die Zukunft versprach und was es mir war: mein Halt, meine Hoffnung, das Band, das mich ans Leben – an dies Leben knüpfte, welches ich führe. Mehr, viel mehr. Soviel ist ein Kind nie für seine Mutter gewesen und konnte es nicht sein. Ein Stück meiner selbst ist mit ihm gestorben und bestattet und kann nie wieder auferstehen. Und der Rest, der geblieben ist – denn es war das beste, das einzig gute Stück meines Ichs, das mit Ronald in die Grube versenkt worden ist –, was soll dieser Rest? Ich fühle mich losgelöst von allem, was mir bisher als fest und unumstößlich gegolten hat, der Boden selber, auf dem ich gestanden habe, schwankt unter meinen Füßen. Alles um mich her ist ins Wanken geraten, ich finde keine Stütze mehr. Ich bin wie in eine neue Welt versetzt worden, wo ich keinen Menschen kenne, wo ich keinen Fußbreit Erde mehr kenne, auf der ich wandle. Ich bin ein Fremdling geworden und taste mit den Händen in der Luft umher, um nach einem Halt zu suchen, damit ich nicht stürze. Es bricht und fällt alles vor mir und hinter mir. Ich bin allein und bin als ein neuer Mensch aus den Mauern hervorgegangen, aus denen man den Sarg meines Knaben getragen hat. Wie können Sie von mir verlangen, daß ich mich in der neuen Welt, in die ich so jäh versetzt worden bin, schon so schnell zurechtfinden sollte? Daß ich schon wissen sollte, welchen Weg ich darin einzuschlagen habe, und ob es darin überhaupt noch einen Weg für mich gibt? Mich hat die Welle an ein unbekanntes Land verschlagen. Werde ich einmal darin heimisch werden? Gibt es da eine Rast und gibt es da Frieden für mich? Ich weiß es nicht. Wie sollt' ich es jetzt schon wissen?«

Innocenz hatte ihr mit steigender seelischer Erregung zugehört. Bisher hatte er an das nicht geglaubt, was Gräfin Theodora ihm gesagt hatte, jetzt plötzlich stieg es mit einer Hoffnung, die ihn fast blendete, vor ihm auf. »Gnädige Gräfin,« rief er ausbrechend, »jetzt sind Sie auf dem wahren Wege zum Heil, jetzt glaube ich, daß Sie Gott finden und daß Ihnen Trost werden wird. So hat es kommen müssen!«

Darauf gab sie keine Antwort mehr. Nur zwischen ihren Brauen hatte sich mitten auf der Stirn eine Falte gebildet und ihre Lippen zuckten. Dann sagte sie plötzlich: »Sprechen wir jetzt nicht davon! Rühren Sie nicht daran! Ich kann nicht – jetzt nicht –« Sie atmete schwer. Und mit einer plötzlichen Wendung sich ihm zudrehend, setzte sie rasch hinzu: »Sie haben vorher gezeichnet, nicht wahr? Lassen Sie es mich doch selten. Ich möchte wissen, wie Sie diese Welt hier um uns auffassen, mit welchen Augen Sie sie betrachten!«

Es war etwas Nervös-Hastiges in ihren Bewegungen, mit denen sie das Buch aus seinen Händen entgegennahm und es aufblätterte. Er hatte es ihr nur zögernd gereicht. Sichtlich wollte sie von dem bisherigen Gespräch ablenken, sich selber von dem Gedankengang befreien, den sie fast wider Willen eingeschlagen. Sie betrachtete das Blatt, an dem er heute und hier gearbeitet hatte, mit Aufmerksamkeit. Dann sagte sie: »Eine überraschend sichere Linienführung. Man begreift nicht, daß Sie ganz ohne Schule sind, wenn auch einiges den Anfänger verrät. Und eine Eigenart der Auffassung in diesen flüchtigen und doch so sicheren Strichen, die das Charakteristische der Szenerie geradezu frappant wiedergeben. – Wissen Sie auch, daß Sie ein großes, ein ungewöhnliches Talent besitzen, Pater Innocenz? Wenn das ausgebildet würde, Sie könnten –«

Sie brach, wie sich besinnend, mitten im Satze ab, und er entgegnete mit rotüberloderter Stirn in halber Verlegenheit: »Ich bin ein Mönch, Gräfin.«

Sie nickte antwortlos und blätterte weiter. Nun traf sie auf eine Skizze Filomenas, betrachtete sie eine Weile halb erstaunt, halb gefesselt und sagte endlich, ohne aufzublicken: »Vortrefflich! Ganz vortrefflich! Wer ist das Mädchen?«

»Filomena Afinger aus Moosbrunn.« Es klang gepreßt von seinen Lippen.

»Seltsam,« sagte sie, immer noch das Bild betrachtend, »ich finde eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den Zügen dieses Mädchens und Ihren eigenen. Ich hätte denken können, daß es eine Schwester von Ihnen sei, die Sie hier gezeichnet haben. Wahrhaft seltsam!«

Er erwiderte nichts, ihm war in der Erinnerung an das, was die alte Wurzin ihm neulich erzählt hatte, plötzlich sehr beklommen zumute geworden. Wie mit Bergeslasten lag es auf seiner Brust. Manchmal war ihm schon selber der Gedanke aufgestiegen, daß er ein Kind dieses Tales sein könne, da ja die Dolomiten in seine Kinderheimat hineingeblickt hatten. Jetzt fiel ihm schwer wuchtend der Gedanke auf die Seele: »Wenn Filomena meine Schwester wäre!«

Die Gräfin fragte währenddessen: »Ein Mädchen von der Lahn? Aber so sehen doch unsere Dirnen hier nicht aus. Das ist keine Bauerndirne.«

»Sie ist die Pflegetochter des Meßners von Moosbrunn.«

Donata blickte unverwandt auf die Zeichnung. »Welch ein feines und gutes Gesicht! Welch eine Verträumtheit in diesen Zügen! Das ist in der Tat ein Mädchenkopf von seltenem Liebreiz, und man kann sich nicht satt daran sehen. Wie viele große Meister würden Sie um solch ein Modell beneiden! Es zeugt schon von viel künstlerischem Verständnis, daß Sie es zu finden wußten.«

Sie blätterte weiter, während er schwieg, und traf auf eine zweite Skizze Filomenas. Erstaunt blickte sie auf, und ein unruhiger Blick streifte ihn. Ihre Finger zitterten, als sie weiter die Seiten des Buches umschlug. Und immer wieder fand sie die Bilder Filomenas, das ganze Skizzenbuch schien damit gefüllt zu sein. Nervös schlug sie es zu. Dann stieß sie ein kurzes, spöttisches Lachen aus. »Dies Mädchen scheint Ihnen nahezustehen, Pater Innocenz,« sagte sie unruhig, in mühsam verhaltener Aufregung und mit unverkennbar höhnischer Bitterkeit, »sie ist offenbar das einzige Modell, das Sie hier fanden, und Sie haben es trefflich zu nutzen gewußt, – Sie müssen sich wochenlang mit nichts anderem beschäftigt haben. – Man könnte glauben, daß Ihnen dies Mädchen mehr sei als ein Modell.«

»Frau Gräfin!« stieß er halb erschrocken, halb zornig aus, »ich bin ein Mönch!«

Er war unwillkürlich in die Höhe gefahren, und auch sie hatte ihren Sitz verlassen. »Ja, ja,« murmelte sie, vor sich hinnickend, »Sie sagten es mir heute schon einmal. Man könnte es manchmal vergessen. Und es hat schon Mönche gegeben, Pater Innocenz, die es auch vergaßen, als die Stunde gekommen war.«

Sie hatte ihn während ihrer Worte nicht angesehen und konnte also die flammende Röte auch nicht gewahren, die über sein Antlitz geloht war. Er hatte die Lippen fest zusammengepreßt und die Augen gesenkt. Als Donata ihm das Skizzenbuch zurückgab, hatte sie ihre Fassung wiedergewonnen. Aber sie war noch blasser als vorher, und manchmal erschütterte ein Nervenschauer ihren schlanken Leib. Es litt sie an dem Platze nicht mehr, wo sie gesessen hatten, das Atmen schien ihr hier schwer zu werden. »Lassen Sie uns gehen,« brachte sie mühsam hervor.

Und sie gingen.

Innocenz war es zufrieden, daß der schmale, geröllüberschüttete Bergsteig, den sie einschlug, kein Nebeneinanderschreiten duldete. Er hätte jetzt nicht mit ihr reden können, er mochte sie nicht ansehen, sich nicht dem Blick ihrer Augen aussetzen. Unablässig hallte es ihm in den Ohren: »Es hat schon Mönche gegeben, die es vergaßen, als die Stunde gekommen war!« Vergaßen – was? Daß sie Mönche waren? Und weshalb hatten sie es vergessen? Weil die Versuchung in Gestalt eines schönen, bestrickenden Weibes zu ihnen getreten war, um ihnen die gleißenden Herrlichkeiten der Welt zu zeigen, die ihr eigen sein würden, so sie nur niederfielen, um die Sünde anzubeten und Gott zu verleugnen? Bedurfte es dessen noch für ihn? War ihm nicht damals am Pfaffensprung schon widerfahren, wovon Donata gesprochen hatte? Und die Versuchung hatte wirklich die Züge des jungen Weibes angenommen gehabt, dessen Züge er wieder und wieder in seinem Skizzenbuche gezeichnet hatte. Aber er hatte es damals nicht vergessen, daß er ein Mönch sei. Würde er es je vergessen? Dann, wenn die Versuchung einmal andere Gestalt annahm? Nein, nein, nein! Auch dann nicht, dann am wenigsten.

Höher und höher klomm Donata empor. Es war, als ob sie zum ersten Male wieder ihre Kräfte erproben und zeigen wollte, daß die frische Kühle der Bergluft ihre Brust weite und den rastlosen Drang in ihr wecke, zu den lockenden und schimmernden Höhen emporzusteigen, die mit ihren mächtigen Zacken in die kristallene Himmelsklarheit hinaufgriffen. Innocenz hatte Mühe, ihr zu folgen. Sie waren so bis an den oberen Rand einer wilden Felskluft gelangt, die fast senkrecht schroff vor ihren Füßen abstürzte. Hier stießen sie plötzlich auf eine Anzahl von Männern, die sich neben ihren Gerätschaften, Stricken, Äxten und Eisenwerkzeugen zwischen den Steinen gelagert hatten, um dort mit Brot und Wein ihre Pause zu halten.

Innocenz erkannte den Sägemüller Anton Pyrker nebst mehreren seiner Knechte und noch ein paar jüngere Männer von St. Ulrich. Sie grüßten, ohne sich im übrigen bei ihrer Mahlzeit stören zu lassen. Innocenz begriff, was sie hierhergeführt hatte, klärte die Gräfin mit einigen Worten auf und fragte den Sägemüller dann, ob die Nachsuchungen einen Erfolg gehabt hätten.

Anton Pyrker zuckte die Achseln, ohne sich zu erheben, und erwiderte kauend: »Weiß nicht, wie ich's sagen soll. Tot ist der Sepp, das steht fest. Seinen Mantel haben sie unten g'funden, der ist über und über voll Blut. Aber der Leichnam ist nicht zu finden. Wird halt von Aasvögeln vertragen sein oder liegt, wo niemand hinkann. Wir geben's Suchen jetzt auf, weil's die Leut' nur selber in Gefahr bringt und nichts nutzt. Beweisstück' haben wir jetzt g'nug, denk' ich, und Geld und Arbeit hat's auch g'nug gekost't. Soll noch einer daherkommen und sagen, ich hätt' mein' Pflicht und Schuldigkeit nicht 'tan! Beim Poldl Rohracher hat der Sepp sein' Uhr und sein' paar Gulden in Verwahrung geben und hat g'sagt, er holt's wieder ab, wann er weggeht, droben in seiner Höhlen ist's ihm nicht sicher g'nug. Er ist nicht 'kommen, aber verschwunden ist er, und sein' Hut und Tuch und Mantel haben wir jetzt, und der Mantel ist blutig g'färbt, und wer da herunter abg'stürzt ist, der kommt nimmer wieder herauf. Mein' ich halt, nun steht's fest, daß der Lump tot ist und könnt' gern ein paar Seelenmessen für ihn lesen lassen, daß er's in den höllischen Flammen nicht gar so schlimm hat.«

Innocenz erwiderte nichts darauf. Seine Blicke suchten unwillkürlich nach dem Hamerl, aber der war nicht unter den Männern. Dann fragte er nach Aloysia.

Da verfinsterte sich Anton Pyrkers Gesicht. Er trank erst einen mächtigen Schluck aus seiner Flasche, dann sagte er, sie absetzend: »Muß sie halt gebunden halten wie ein Stück Vieh. Ihre fixe Idee wird s' nicht los. Nach dem kleinen Dirndl schielt's in einemfort hin, als ob's den Moment bloß ablauern wollt', wo sie ihm an den Hals kann. Ist ein grausiges Unglück mit dem armen Weib. Stiert dumpf und stumpf in die blaue Luft oder betet ihre Rosenkränz' ab, – das ist ihr ganzes Leben. Der wär's besser, sie wär' tot. Jetzt – wozu lebt's noch? Das ist kein menschliches Leben mehr.«

»Was hat der Doktor Euch gesagt?« fragte Innocenz.

Der Sägemüller lachte kurz auf. »Der? 's würd' halt einmal wieder anders werden, hat er g'sagt. Glaub's schon. Am Nimmermehrstag. Für die ist der Sepp zu spät g'storben. Was ist da zu tun?«

Er zuckte die Achseln und schnitt mit dem Messer wieder in das Roggenbrot. – »Fleißig beten müßt Ihr, Sägemüller,« warf der Mönch ein, »fleißig beten! Es ist eine Strafe, die der Himmel Euch geschickt hat.«

»Die Aloysia betet ja schon selber g'nug,« brummte Anton Pyrker kauend und warf dem Mönch einen finsteren Blick zu. »Verhext ist sie. Das ist's.«

Innocenz sah Donata an, die es veranlaßt hatte, daß sie hier stehengeblieben waren, und sie gab ihm ein Zeichen, daß sie jetzt gehen wollten. So schieden sie mit einem Gruße, den die Männer schweigend mit einem Rücken ihrer Hüte erwiderten, und stiegen weiter bergauf. Nach einer Weile, als der Weg breiter geworden war und sie nebeneinander hergehen konnten, erzählte er ihr, was sie zur Aufklärung des Vernommenen wissen mußte, und sie hörte ihm stumm zu.

Als er geendet hatte, blieb sie stehen und sagte: »Ich erinnere mich des wilden, scheuen Menschen noch sehr gut, der damals an uns vorüberstob, als ob er sich gehetzt glaubte. Ihm ist's gut geworden, daß er Ruhe gefunden hat, und dem armen Weibe wäre es auch gut, wenn sie diese Ruhe fände. Daß der Tod uns so oft Grauen und Entsetzen einflößt! Und doch ist er meist ein milder Erlöser, der alles ausgleicht und vieles wieder gutmacht, was Menschenwitz nie zu lösen und zu entwirren imstande wäre – vieles, vieles. – Man läßt es sich oft lange Zeit selber nicht träumen, wie vieles!«

Innocenz schwieg, und sie stiegen weiter. Jetzt gelangten sie auf eine schmale Abdachung des Gebirgsstocks, durchwanderten ein kleines Zirbengehölz und standen plötzlich auf einer Felsplatte, die ihnen eine freie Schau mitten in das Reich der kulissenartig durcheinander geschobenen Dolomitenwände mit ihren Zinken und Kuppen, ihren Geröllhalden und Gletscherfeldern gewährte. Es war, als ob sich mit einem Schlage diese eigenartige Welt mit all ihren Zauberreizen und all ihren Todesschrecken vor ihnen auftun wollte. Innocenz war wie gebannt, er konnte nicht einmal einen Ruf der Bewunderung ausstoßen; diese gewaltige Öde und Größe der Natur schnürte ihm die Brust zusammen. Donata aber stand hart am Rande des furchtbaren Abgrundes, ohne mit einer Wimper zu zucken, mit einem Lächeln um die Lippen, das ihm Grauen einflößte.

»Frau Gräfin,« brachte er endlich mühevoll hervor, »seien Sie auf Ihrer Hut! Das Gestein könnte unter der Wucht Ihres Körpers dort bröckeln, oder Sie könnten schwindelig werden.«

Sie drehte ihm langsam zur Hälfte ihren herrlichen Kopf zu, und ein Blick voll lächelnder Verachtung des Lebens lag in ihren Augen. »Nun?« fragte sie gedehnt. »Und dann? Was dann? Für wen war' es ein Verlust? Was bindet mich an das Leben? Ich kenne nichts mehr, – nichts, – nichts.«

»Gräfin!«

»Entsetzt Sie das? Warum? Wir stehen hier so hoch über dem, was da unten an Lüge und Selbstbetrug wuchert, um sie alle wechselseitig zu verblenden und zu betören, wir stehen der großen, reinen, furchtbaren Natur so nahe Auge in Auge, daß der Phrasendunst, der uns da drunten alle umnebelt, verfliegt und wir das Kleinliche und Erbärmliche von uns abfallen lassen müssen, ob wir wollen oder nicht, um der Wahrheit in das steinerne Riesenantlitz zu blicken und Wahrheit zu geben, – uns und allen. Die Natur hat etwas so Bezwingendes in ihrer Großheit, wir schämen uns der Lüge vor ihr. Und sie hat auch etwas von der Meduse an sich; denn wir erstarren allmählich ihrer unnahbaren Furchtbarkeit gegenüber, und unsere Lippen verlernen das Lachen, – wir können uns nicht mehr tändelnd über die klaffenden Abgründe des Daseins hinwegscherzen wie vorher. Und ich sage Ihnen, Pater Innocenz, es kommt mir vor, als sei es das beste für mich, wenn nicht das einzige, was mir bleibt: die Tiefe da unten. Es gibt sonst keinen Frieden für mich mehr.«

Sie brach mit einem kurzen Aufstöhnen ab, ohne im übrigen ihre Stellung zu verändern. Hoheitsvoll hob sich ihre herrliche Gestalt von dem lichtblauen Himmel ab, in dem rundum die Schroffen der Dolomiten sich in ihren wirr gezackten Formen emporreckten. Innocenz trat einen Schritt näher auf sie zu, und in dem ungeheuren Schweigen, das über dem Bergrund lag wie in fühlbarer Schwere, sagte er feierlich: »Wenn Sie Frieden suchen, gnädige Gräfin, ich kann Ihnen Frieden geben.«

Nun flog ihr Antlitz vollends zu ihm herum, und ihre Augen loderten ihn an wie mit einem heiß aufzuckenden Hoffnungsstrahl, der aus ihrer Seele hervorbrach. »Sie? Wirklich? Endlich?« Sie stammelte es hervor wie berauscht, wie fassungslos, ihr Körper erbebte, ihre Arme lösten sich, es sah aus, als wollte sie in der nächsten Minute sie ihm entgegenstrecken. Ein schier überirdisches Leuchten lag auf ihrem Antlitz, und wie eine Verkörperung alles Holdesten und Köstlichsten, was die Erde bietet, stand sie vor dem Mönch da, und als brauchte er nur seine Hände zu erheben, so sei es sein eigen.

Wie geblendet schloß er sekundenlang die Augen. Was war das? Er begriff es nicht, er wollte es nicht begreifen, ein Grausen packte ihn, eine furchtbare Angst, ein jähes Entsetzen. Hatte diese Frau nicht verstanden, was er sagen gewollt? Hatte sie den Mann sprechen hören, wo nur der Priester gesprochen hatte? Aber sie war ja eines anderen Mannes Gattin, und sie wußte, weshalb allein er sich in ihre Nähe gedrängt hatte, immer wieder drängen mußte! »Gräfin,« stotterte er in hilfloser Verwirrung, und seine Hände erhoben sich wie abwehrend, indessen ein fahles Blaß sein Antlitz überzog, »warum fragen Sie? Sie kennen den Frieden ja, den ich Ihnen spenden darf. Und ich sehne mich seit langem danach, daß die Stunde kommen möge, wo wir beide Gott in der gleichen Form anbeten dürfen. Dann erst wird der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, über Sie kommen!«

Es war wie etwas Auswendiggelerntes, das er mit tonloser Stimme vor sich hinsprach, und noch immer bebte das Erschrecken vor dem Ungeheuerlichen, das er zu sehen, zu erkennen geglaubt, in ihm nach, zugleich mit einem herzzerpressenden Gefühl der Scham vor sich selbst darüber, daß er es geglaubt hatte. Mit Donata aber war eine jähe Wandlung vorgegangen. Sie starrte ihn an, während jeder Blutstropfen aus ihrem Gesicht gewichen zu sein schien, wie wenn sie eben einen Fremden sprechen gehört habe und nun darüber nachdenke, wie er hierher und an ihre Seite gekommen sei. Dann nickte sie vor sich hin, lächelte wie irr und sagte: »Ja, ja, freilich, freilich – ich vergaß. Das ist Ihr Frieden.« Dann wandte sie sich ganz langsam von ihm ab und blickte wieder schweigend und regungslos in die Bergweite hinaus.

Es war Abend geworden; die Glut der sinkenden Sonne schimmerte nur noch auf den riesigen steinernen Pfeilern der Dolomiten, während drunten die Schluchten und Täler in abendschwarzen Schatten sich breiteten. Vom dunklen Grunde zogen die steilen Wände sich zu den sanft geneigten Almen hinein, die smaragdfarbig zwischen ihnen eingebettet lagen. Und darüber in gewaltiger Erhabenheit reckten sich die Kolosse, welche die Welt zu ihren Füßen zu beherrschen schienen; am majestätischsten trat unter ihnen die hohe Zinne hervor. Über den bewaldeten, schroffen Vorstufen, dem wirren Spitzen- und Kuppelgebilde der wild zerklüfteten Nachbarn, die bald grau, bald braunrot, bald grünlich schillernd, schneeumhängt oder kahl aufgerichtet sich zu ihnen emporhoben, in steilen Abstürzen oder in machtvoll hingelagerter Breite, riesigen Domen ähnelnd, erschienen die Zinken dieses Königs der Berge gleich flammenden Säulen, und die starren Felsmassen züngelten unter dem warmen Scheidekuß der Sonne wie Feuerbrände zum Himmel empor. Langsam, höher und höher, klomm die Schattenlinie die Berge hinan. Und nun begann ein unbeschreibliches Farbenspiel. Hier flammte eine Kuppe in feurigem Rot mitten unter lichtgelben Zacken, dort blinkten blendende Schneefurchen im Geklüft der orangefarbig glühenden Schroffen; schwarze Linien durchzogen das brennende Gefunkel hoher Felsspitzen, der Schatten wuchs gigantisch an aus der Tiefe, und endlich zeugten nur noch rötlich flammende Wölkchen um die höchsten Firnhäupter von dem Widerschein des sinkenden Tages. Schimmerlos standen plötzlich die kahlen Berge, in düsterer Blässe das graue Geschroff, leichenhaft fahl die Gletscherfelder und die Schneeflächen. Es war, als schämten sich die eben noch leuchtend prangenden Riesen jetzt ihrer armseligen Nacktheit, als schaure die ganze Natur fröstelnd zusammen.

Stumm, ohne sich zu rühren, hatten die beiden dies Schauspiel sich vor ihren Augen abspielen lassen wie ein großes Erlebnis. Nun war es Innocenz plötzlich, als habe er eine Stunde unbenutzt vorübergehen lassen, in der er Bedeutsames hätte wirken und erreichen können, und als sei sie unwiederbringlich dahin und verloren. Denn als er etwas sprechen wollte, wandte ihm Donata ihr Antlitz zu, das ganz wieder das versteinerte Antlitz der Niobe geworden war, und dessen Augen nicht ihn und nichts Wirkliches zu gewahren schienen. »Lassen Sie uns gehen!« sagte sie mit der Stimme einer Fremden, »es ist alles vorüber.«

Und sie gingen. Der Abend sank tiefer, kühl schauerte es aus den Gründen auf. Die beiden schritten rascher und rascher talab; es war, als ob sie vor etwas auf der Flucht wären. Gesprochen wurde nichts zwischen ihnen; das Schweigen, welches über dem bleich und geisterhaft aufragenden Gewirr der Dolomitzacken rings um sie her lag, wurde durch nichts unterbrochen als durch das dröhnende Kollern eines irgendwo abrollenden Felsgetrümmers, das Krächzen einer Zirbenkrähe oder den heiseren Beuteschrei des Bergfalken, der an den Schroffen entlang zu Horste strich. Und einmal setzte gerade vor ihnen ein mächtiger Hirsch über den Weg, warf sein ragendes Gehörn in den Nacken und verschwand unter den Tannen an der Bergschlucht.

Plötzlich fiel es Innocenz schwer auf die Seele, daß er jetzt so nicht von der Frau gehen dürfe, die ihm heute selber gestanden, daß sie nach Frieden verlange; ihr diesen Frieden zu geben, war er unter die Dolomiten gesandt worden, und bis heute hatte er seine Aufgabe nicht gelöst, sein Ziel nicht erreicht. »Wann werden Sie mir sagen, wann Sie sich entschieden haben, gnädige Gräfin?« fragte er plötzlich.

In ihrem Blicke, mit dem sie ihn ansah, lag etwas Verständnisloses, wie wenn seine Worte sie aus einer völlig anders gearteten Welt abberufen hätten, und als schritte sie nur wie eine Traumwandlerin ihm zur Seite. Dann begriff sie ihn aber doch, nickte vor sich hin und erwiderte: »Morgen! Morgen!« Es war, als ob sie etwas von sich abwehren wollte.

»So soll ich morgen Ihre Antwort hören? Soll ich ins Schloß kommen, sie mir zu holen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Dort!« Sie deutete mit der Hand in die Berge hinauf.

»Wo wir heute standen?« fragte er, leise erbebend.

»Das wäre ein Platz von übler Vorbedeutung,« versetzte sie sinnend, und ein sonderbares Lächeln umglitt ihre Lippen.

Er verstand sie nicht. »Warum?«

»Die Stelle heißt im Volke die Teufelskanzel.«

Innocenz schwieg eine Weile betroffen. Dann sagte er mit ruhiger Entschiedenheit: »Allüberall auf Erden ist der Boden, den unsere Füße treten, Gott geweiht und Gottes eigen, Gräfin. Ihm verantwortlich sind wir auf jedem Fleck dieser Welt, wo wir stehen. Warum sollten wir nicht auch dort droben, angesichts seiner Wunder und seiner Schrecken, zusammen beten können?«

»Sie haben recht,« erwiderte Donata, die das Haupt gesenkt hielt, »und doch – aber es sei darum! Wir wollen uns morgen um die dritte Nachmittagsstunde dort zusammenfinden. Es gibt von da einen Weg weiter hinauf bis an einen Platz vor der Steilwand, wo man nichts um sich her mehr gewahr wird von der Bergwelt, die da drunten vor uns aufgerollt liegt, sondern sich so völlig weltfern und weltabgeschieden vorkommt, als gäbe es niemals einen Weg mehr unter die Menschen zurück. Dort wird es gut sein.«

Innocenz nickte zustimmend, während sein Herz rasch zu schlagen anhob, da er des morgigen Tages gedachte. Eine Zeitlang wanderten sie wieder stumm nebeneinander her, als Donata plötzlich fragte: »Glauben Sie an Vorahnungen, Pater Innocenz? Aber natürlich glauben Sie nicht daran. Es ist ein Überrest heidnischen Wesens, daran zu glauben, denn unser Geschick liegt in Gottes Hand, und Gott hält uns die Zukunft verschleiert. Nicht wahr?«

»Weshalb fragen Sie das?« warf er überrascht ein.

»Es ist seltsam,« fuhr sie in dem gleichen, nachdenklich-träumerischen Tone fort, ohne ihre Augen aufzuheben, und als spräche sie wider ihren Willen, einem geheimnisvollen Zwange gehorchend. »Als ich das erstemal in meinem Leben auf die Teufelskanzel kam – es sind nun fünf Jahre her, und Graf Alexander hatte mich dorthin geführt –, überlief es mich mit einem eisigen Schauer mitten in der hellen, heißen Sonne des Sommertages, und ich mußte unwillkürlich daran denken, daß der Volksmund sagte, in solchem Augenblick schreite einer über unser Grab. Und doch war die Welt damals heiterer als jetzt, und der Fernblick berauschte mich, da ich damals Ähnliches noch nie gesehen hatte, hier überhaupt zum ersten Male dieser eigenartigsten aller Alpenwelten ins Antlitz schaute. Und dann war ich vor zwei oder drei Jahren wiederum dort. Ich dachte an jenen ersten Eindruck gar nicht mehr, ein Zufall hatte mich hinaufgebracht. Und da – es war am hohen Mittag, und man hätte sagen können, das Mittagsgespenst gehe um durch das große Schweigen – sah ich mich plötzlich selber lang ausgestreckt auf der Felsplatte der Teufelskanzel liegen, ganz weißen Gesichts, starr und tot, – so deutlich, daß ich noch heute meine, ich könnte den Anzug beschreiben, den ich dabei trug. Dann hatte ich ein Grauen vor dem Platze, und seit ich damals wie einer, der einer großen Gefahr entronnen ist, von ihm geflohen war, mochte ich ihn nicht mehr betreten. Ich war nicht feig, ich bin auch sonst im Leben nie abergläubisch oder furchtsam gewesen, aber doch hielt mich ein geheimes Bangen immer davon zurück, wieder hinaufzugehen. Ich liebte das Leben – trotz allem. Ich hatte mein Kind, das mich mit ihm verknüpfte. Die ganze Todesbangigkeit der Kreatur war in mir. Heute kam mir's plötzlich, ich könne wieder hinaufgehen. Heute vermocht' ich's, und heute kam mir droben keinerlei Vision wieder. Es ist seltsam. Nur ein jähes, grundloses, sinnloses Glücksgefühl durchschauerte mich sekundenlang dort oben und war wieder erstorben. – Was sagen Sie zu dem allen, Pater Innocenz?«

»Daß man keinerlei Gewicht auf dergleichen Ausgeburten unserer überreizten Nerven legen darf, Frau Gräfin! Die Schrecken der stummen Bergwelt, die sich dort oben so überwältigend auftun, spiegelten sich Ihnen, ohne daß Sie es wußten, in einer grausigen Vision wider, während Ihre Augen nur die Wunder gewahrten und Ihre Seele sich allein mit diesen beschäftigen wollte. So allein läßt sich erklären, was Ihnen unerklärlich erscheint.« Er sagte dies mit einer gewissen Hast und fügte noch lächelnd hinzu: »Und Sie sind heute trotz Ihrer Waghalsigkeit unversehrt von der Teufelskanzel herabgestiegen, haben sogar den Mut gefunden, morgen das gleiche tun zu wollen.«

»Sie glauben also nicht an ein Hineinragen des Übernatürlichen in unsere Sinnenwelt, Pater Innocenz?«

»Ich glaube, daß wir an jedem Orte und zu jeder Stunde in Gottes Hand sind, Frau Gräfin.«

Schweigend legten sie den Rest ihres Weges zurück, bis ihre Pfade sich trennten. Die Nacht war hereingebrochen, als sie Abschied nahmen.


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