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III

Innocenz nahm es ernst mit der Aufgabe, um derentwillen er auf die Lahn gesandt worden war. Darin hatte ihn nichts von allem irremachen können, was er vernommen und erfahren. Es gab nach wenigen Tagen kein Haus mehr in der Runde, in das er nicht eingetreten wäre und kein Menschenherz unter dessen Dache, in das er sich nicht Eingang zu verschaffen gesucht hätte mit dem Worte Gottes, das seine Kraft und seine Macht war. Selbst zu den einsamen Sennhütten der Hochalmen war der des Bergsteigens Unkundige auf mühseligen Felspfaden emporgeklommen, um denen, die dort weltab sommerlang unter den schweigenden Bergriesen gleich Einsiedlern hausten, den Trost des Evangeliums zu bringen und ihnen die Nähe ihres Gottes zu verkündigen, die sie sonst nur aus dem Heulen des Sturmwindes und dem Donnern der Lawinen vernahmen. Ein heiliger Eifer flammte in dem Mönch, und er war nicht müde in der Begeisterung seines Berufes. Hier und jetzt erst fühlte er sich wahrhaft als Priester.

Er mußte freilich bald erkennen, daß es ein steiniger Boden war, in den er den Samen des göttlichen Wortes streuen wollte, und die Schilderung, welche ihm der Pfarrer Josef Ladurner von der Sinnesart und Denkweise dieser Hochgebirgsbewohner entworfen, traf in jeder Beziehung zu. Innocenz fand einen wetterharten, wortkargen und finsteren Menschenschlag hier oben, der in harten Entbehrungen um des Lebens Notdurft rang und im steten Kampfe gegen die feindseligen Elemente das Lachen und den Frohsinn verlernt hatte. Auf diesen Almen wurde nicht gejodelt und in diesen Hütten nicht gesungen; Zither und Hackbrett ließen sich selten hier vernehmen, und wenn es geschah, so wurden sie zu einer schwermütigen Volksweise angestimmt. Bei der Arbeit fehlte es an ermunterndem Zuruf, und kein heller Juchzer weckte je das Echo in den Bergen. Die Männer waren breitschultrige, derbe Gestalten mit scharfkantigen Stirnen, unter denen düstere, ruhige, trotzige Augen lagen; die Weiber erschienen meist unschön, früh verwelkt und verarbeitet, mit flacher Brust und verrunzelter, braungelber Haut; in den Kindern war etwas Unfreudiges und Wildes. Dazu fehlte es nicht an mancherlei Mißgestalten; die Weiber hatten von einem gewissen Alter an fast sämtlich den Kropf, und zahlreiche Trottel fristeten in den Hütten des Dorfes ihr halb tierisches Dasein.

Dem Mönch, der sich, entgegen der jahrzehntelangen Gewohnheit des bisherigen Seelsorgers, in ihre Häuser eindrängte und in alle ihre Angelegenheiten einen Einblick verlangte, kamen diese Menschen mißtrauisch entgegen oder zeigten ihm sogar offenen Widerstand. In das, was sie selber, ihre Familie, ihr Gewerbe, ihre Lebensweise, anging, sollte ihnen niemand dreinzureden haben, am wenigsten ein jugendlicher Mönch, der plötzlich als ein Fremdling zwischen ihnen erschienen war, ohne von ihren Freuden und Leiden, ihren Sorgen und Nöten etwas zu wissen; dafür standen sie allein schon ein. An Frömmigkeit und streng kirchlichem Leben ließen sie es nicht fehlen, aber weiter sollte die Macht auch nicht gehen, die sie dem Worte Gottes und seinem Verkündiger einräumten. Das war bei den Reicheren kaum anders als bei denen, die am Abend kaum wußten, wovon sie am nächsten Morgen ihren Hunger würden stillen können, bei den Gesunden nicht anders als bei den Bresthaften. Es lebte ein trotziger Stolz in diesen Menschen, der sie trieb, starr an dem festzuhalten, was sie selber wollten, und das zurückzuweisen, was ihnen ein anderer an Rat und Hilfe entgegenbrachte. Dieser zähen Unzugänglichkeit gegenüber hatte Innocenz einen schweren Stand. Manchmal wollte er schon verzagen, und nicht selten kam es zu hartem Wortkampf zwischen ihm und denen, die zwar das Gebot Gottes demütig anerkannten und andächtig verehrten, aber nicht danach leben, nicht ihr ganzes Dasein von ihm wollten durchdringen lassen.

In solchen Herzensnöten floh der Mönch dann immer wieder in die Bergwildnis hinaus, um dort einsam zu seinem Gotte zu beten und in heißem Flehen nach Erleuchtung zu ringen. Manchmal meinte er, er sei von den Oberen seines Ordens nur hierher geschickt worden, damit er sich selber prüfe und die Versuchung, in die seine Glaubensfestigkeit hier geführt werden solle, siegreich bestehe. Bisher hatte er innerhalb der stillen Klostermauern, die ihn als Kind schon aufgenommen, keinerlei Anfechtung erfahren. Was aber frommte ein Glaube, der sich nicht durch Zweifel und Kampf zum Siege durchgerungen, und wie konnte man ein ganzes Dasein darauf aufbauen? Wenn er zum Priester des allgewaltigen Gottes geweiht worden war, so mußte er sich für solch erhabenen Beruf in anderer Art würdig erweisen, als durch Unterricht in der Klosterschule zu Greifenburg und durch die vorgeschriebenen Gebetsübungen und Andachten. Es war ein träger Friede gewesen, den er bisher genossen, und in dem sein heiliger Kampfesmut für den Glauben, dessen Verkündiger er war, leicht hätte versiegen können, um in der Stunde der Gefahr, die selten einem erspart bleibt, ihn feige im Stiche zu lassen. So war es sichtlich weise und wohlbedacht gewesen, ihn aus der Friedensstille des Klosters hier mitten in den Kampf und die Herzensbedrängnisse zu stellen, deren er aus eigener Kraft Herr werden sollte, um sich für allen künftigen Streit des Lebens zu feien, und er mußte Gott inbrünstig danken für die Gelegenheit, die ihm hierzu geboten worden, und ihn anflehen um Sieg und Stärke.

So war dem Mönch das Amt, dessen er hier walten sollte, gleichzeitig zu einer vorbestimmten Prüfungszeit geworden, deren Ende zu einem Triumph für die alleinseligmachende Kirche sich gestalten mußte, wenn anders er ein echter und rechter Priester derselben war. Dennoch mußte er sich bald bekennen, daß die Ausübung dieses Amtes bei all seinem Pflichteifer, den er ihm entgegenbrachte, nur einen Teil seiner Zeit in Anspruch nehmen konnte. Die Gemeinde war klein, die Leute gingen tagsüber ihrer Arbeit nach, und ihm blieben lange, unausgefüllte Stunden übrig. Da er körperliche Arbeit, wie sie der Pfarrer Aloys Antholzer betrieb, weder gewohnt war, noch einem Priester ziemlich erachten konnte, mußte er auf eine andere Betätigung seiner Kräfte in den Mußestunden denken. Die armselige Bücherei des Pfarrhauses zu St. Ulrich bot ihm wenig Anregung; auch meinte er das Bücherstudium bis auf die rauhe Jahreszeit hinausschieben zu sollen, wenn er in der einsamen Zelle der tiefverschneiten Pfarrei sitzen würde. Jetzt trieb es ihn Tag und Nacht noch mit unwiderstehlichem Verlangen in die Bergwelt hinaus, die ihm immer neue Wunder erschloß und immer verlockendere Geheimnisse offenbarte. Er fühlte sich nun vertrauter mit ihr, und ihre düstre Größe hatte die Schrecken für ihn verloren. Dabei hatte er sich seiner Kunstfertigkeit erinnert, schöne Linien und Formen, die ihm entgegentraten, mit dem Stift nachzuzeichnen, eine Gabe, wegen deren er schon als Klosterschüler in Greifenburg bei seinen Lehrern Aufsehen erregt und die er später je nach Muße und Laune weiter betrieben hatte, ohne ihr sonderlichen Wert beizulegen. Jetzt und hier mochte sie ihm zustatten kommen. Pater Polykarpus hatte ihm zu Greifenburg einst gesagt, wenn er nur um ein paar hundert Jahre früher zur Welt gekommen wäre, würde er ein berühmter Miniaturenmaler geworden sein, dessen Meßbücher man jetzt den Touristen als größte Sehenswürdigkeiten zeigen könnte, vielleicht ein Fra Bartolomeo oder Fra Angelico; jetzt aber sei das Malen in den Klöstern nicht mehr an der Tagesordnung, wie einst zur Zeit der farbenfreudigen Renaissance, und Heiligenbilder seien ja überhaupt in unseren Tagen nicht mehr recht in der Mode. Natürlich hatte er das nur in gutmütigem Spott gesprochen, und Innocenz hatte bei seinen Büchern nicht viel an die Gabe gedacht, die ihm verliehen worden war. Nun, angesichts der Berglinien und des wechselnden Farbenspiels, welches das Tageslicht an den phantastischen Zacken der Dolomiten hervorrief, wandelte ihn wieder das brennende Verlangen an, sich in seiner Kunst zu üben, soweit deren Grenzen eben reichen mochten. Die Fülle dessen, was er als ein unnachahmliches Kunstwerk der Schöpfung um sich her sah, zwang ihn fast gebieterisch, seine eigenen schwachen Fähigkeiten daran zu erproben, wie wenn er so erst hoffen durfte, sie voll zu begreifen und ganz zu würdigen.

So kam's, daß der Mönch jetzt manchmal in die Berge hinaufstieg und sich einen verborgenen Platz unter Fels und Hochlandszirben auswählte, um mit dem Stift eines der zahlreichen und wundersamen malerischen Motive, die sich ihm überall in der einsamen Wildnis aufdrängten, auf das Papier zu werfen, sei es eine düstre, wasserdurchrauschte und waldumrandete Bergschlucht, eine verfallene Hütte auf weltentlegener Alm oder das wildzerklüftete Kuppen- und Zackengewirr ragender Kalkschrofen. Er war anfangs zaghaft an die Arbeit gegangen, weil er gefürchtet hatte, sie übersteige seine schwachen Kräfte; dann aber dünkte es ihn ohne Selbstüberhebung, daß er der Natur manches ihrer reizvollen Geheimnisse wirklich abzulauschen vermocht habe, und das drängte ihn zu weiterem Tun. Da er es niemand zu Dank machen, sondern nur für sich selber damit einem heißen, inneren Drange genügen wollte und mußte, konnte keine kleinliche Eitelkeit dabei im Spiele sein und ihn über den Wert dessen täuschen, was er zustande brachte. Durfte er doch glauben, auch so Gott zu dienen, wenn er die Herrlichkeiten seiner Schöpfung bewundernd betrachtete und sich nachbildend in ihre Reize versenkte.

Das Herz war ihm so voll von dem, was er betrieb, daß er manchmal seinem freudigen Schaffenseifer Zügel anlegte, nur um sich selber zu kasteien. Zuweilen fürchtete er dennoch, seinem heiligen Amte hier sich zu entfremden. Aber die Zeit kam, wo er sich mit Papier und Stift nicht mehr begnügen mochte, sondern nach Leinwand und Farbe verlangte. Die letztere erschien ihm bald unerläßlich. Das wundersame Spiel der wechselnden Beleuchtung auf den zerklüfteten, in allen erdenkbaren Formen aufragenden Dolomiten, sowie die Farbenabstufungen der letzteren selber reizten ihn unwiderstehlich, sich in ihrer Nachbildung zu versuchen; obgleich er niemals die geringste Unterweisung in solcher Kunst erhalten hatte, lebte doch ein merkwürdiges Vertrauen in ihm, er werde sie auszuüben imstande sein. Nicht in der Weise erfahrener Jünger der Malkunst und nicht so, daß er sich mit Ehren vor den Meistern derselben hätte sehen lassen können, aber doch sich selber zur Befriedigung. Sein Sinn für Form und Farbe hatte sich wunderbar im steten Anschauen dieser eigenartigen Welt geschärft.

Um seine Wünsche, die sich auf den Besitz verschiedentlicher Malutensilien richteten, in Erfüllung gehen zu sehen, mußte Innocenz sich an den wilden Xaverl wenden. Mit dem hatte er seit langem Freundschaft geschlossen, und er war einer der wenigen, die ihm von vornherein mit einer Art von Ergebenheit anhingen. Sie hießen ihn den wilden Xaverl, weil er als ein halber Kretin galt und mit seinem mächtigen Kropf, seinem struppigen, bis auf die Schultern ihm herabhängenden Schwarzhaar und seinen kleinen, tiefliegenden, glimmernden Augen in der Tat den Anblick eines Halbwilden bot, der nicht unter ihresgleichen gehörte. Und darauf erhob Xaverl auch durchaus keinen Anspruch. Er hauste im Gegenteil immer allein und wegab, wenn es sich nur irgend so einrichten ließ. Im Sommer zog er als Senn des reichen Sägemüllers Anton Pyrker auf die Anderetalp. Dort war außer ihm noch die taube Lisi, mit der man sich nur durch lautes Schreien oder durch Zeichen verständigen konnte, bedienstet, und der wilde Xaverl konnte ihr hin und wieder die Sorge für das Vieh allein anvertrauen und dann mit dem Kraxen voll übereinandergehäufter Käslaibe zu Tal ziehen. Trotz seiner krummen Beine und seines Kropfes war er ein ausgezeichneter Bergsteiger; er konnte, wenn er mit schwerbepacktem Rucksack an seinem Alpenstock bergan klomm, noch jodeln und singen, wenn ihm danach zumute war. Xaverl kam auf diese Art öfter einmal in das Tal hinab, als die übrigen Bewohner der Lahn zusammengenommen. Er mußte dann ins Hochpustertal wandern, nach Sillian oder nach Innichen hin und weiter sogar bis Bruneck. Er konnte dann immer erst am nächsten Tage zurück sein, obgleich es ihm nicht darauf ankam, die ganze Nacht hindurch zu gehen; Müdigkeit kannte er nicht. Aber er hatte, wenn er seine Käslaibe drunten abgeliefert hatte, stets eine Fülle von Aufträgen zu erledigen, die ihm nicht nur vom Sägemüller, sondern von allen Seiten zuteil wurden, und kam oft schwerer beladen heimwärts, als er talab gezogen war.

Für den wilden Xaverl fühlte Innocenz von dem ersten Tage an, da er zu der Anderetalp hinaufgestiegen war, eine lebhafte Sympathie. Er war ganz anders als die übrigen Sennen, die dem Mönch rauh und schroff gegenübergetreten waren und sein Erscheinen auf ihrer weltabgeschiedenen Höhe als aufdringlichen Bekehrungseifer argwöhnisch zurückgewiesen hatten. Xaverl hatte eine ganz eigenartige Weltanschauung und Lebensauffassung. In der stummen Bergwildnis, in der er seit früher Jugend gehaust, war sie ihm aufgegangen, und manches, was er in seiner einsamen, verwilderten Seele hegte und nur schwerfällig in unzusammenhängende Worte umzusetzen verstand, stimmte den Mönch nachdenklich und reizte ihn, mehr zu hören. Wenn Innocenz auf dem Sandhügel oberhalb der Alm des wilden Xaverl mit diesem angesichts der wilden Hochgebirgslandschaft zusammensaß und zeichnete, während der Senn ihm allerlei Geschichten und Sagen der Gegend erzählte, in denen er zu Hause war wie kein anderer, oder in seiner rauhen, kindisch-fesselnden Art von den höchsten Dingen sprach, wie er sie sich auf seine besondere Weise zurechtgelegt und klargemacht hatte, waren das für den Mönch, wie er sich manchmal gestand, die genußreichsten Stunden seines hiesigen Lebens. Hin und wieder mußte er sich freilich mit aufsteigender Bedenklichkeit nachher fragen, ob der wilde Xaverl denn auch wohl ein guter Christ sei, und sein Glaube sich genau mit allem decke, was die Kirche lehre; aber während er dem Sennen zuhörte, kam ihm solch ein Zweifel niemals, und nachher beschwichtigte er denselben immer damit, daß er sich sagte, Xaverl sei ein so gutherziges und der Sünde abholdes Menschenkind, dazu eine so elend erschaffene und gebliebene Kreatur, die niemals etwas von den Freuden des Lebens erfahren, meine es auch so ernst und ehrlich mit allem, was er denke und angreife, daß ihm der himmlische Vater in seiner Barmherzigkeit wohl schwerlich kleine Abweichungen von den Dogmen oder einen bescheidenen skeptischen Zug in seiner etwas pantheistischen Weltanschauung allzu hart anrechnen werde.

Xaverl war es gewesen, der Innocenz zuerst mit Kohle und Zeichenpapier versehen hatte, und Xaverl mußte nun wieder Hilfe schaffen, da es sich darum handelte, Farben und Leinwand zu erhalten. Der Senn nahm auch diesen Auftrag, wie jeden, der ihm wurde, ohne alle Bedenklichkeit entgegen. Er wußte in Innichen drunten einen Maler, der gerade eben dabei war, das Portal der uralten romanischen Stiftskirche auf die Leinwand zu bringen, der würde ihm schon helfen, alles zu besorgen, was für solch ein Gewerbe vonnöten war. Und zwei Tage, nachdem Innocenz sich dem wilden Xaverl anvertraut hatte, konnte er auch bereits oben auf dem Sandbühel zum ersten Male in seinem Leben die Farben auf einer kleinen Palette mischen. Der Senn sah ihm schweigend zu, wie er sich unbeholfen damit abmühte und endlich das, was er als Farbenskizze fertiggebracht hatte, kopfschüttelnd mit dem verglich, was er vor sich in Wirklichkeit erblickte. Die Glocken des unten auf der Alm weidenden Viehs klangen dabei durch die klare Luft herauf, und aus der Almhütte stieg der blaue Herdrauch auf; die taube Lisi sollte heute einmal einen Schmarren bereiten, weil Bruder Innocenz über die Mittagszeit dablieb. So hatte es der wilde Xaverl angeordnet, und die taube Lisi tat alles, was er verlangte, wenn sie auch halblaut dabei vor sich hinschalt über seine maßlose Verschwendung.

»Wie gefällt dir's, Xaverl?« fragte der Mönch, ihm die Farbenskizze weisend. »Ich selbst bin wenig zufrieden. Die Schatten da unten in der Geyerschlucht sollten blauschwarz sein und das Weißbachhorn ockergelb, statt so gespensterhaft bleich dreinzuschauen wie hier. Aber das male nur auch gleich einer! Ich glaube, Xaverl, ich habe mir doch viel mehr zugetraut, als ich je werde leisten können.«

Er seufzte leicht, und der Schweiß perlte ihm auf der Stirn, obgleich die Luft kühl über die Höhen strich und sie im Schatten der überhangenden Hügelkuppe saßen. Der Senn betrachtete das Blatt aufmerksam. Dann sagte er bedächtig: »Müßtet halt doch einen Lehrer haben, Bruder Innocenz, mein' ich. Was drin steckt, muß heraus. Von selbst findet's aber den Weg nicht. Der Vogel hat von Geburt an seine Flügel, aber darum kann er doch nicht eher fliegen, als bis die Alten es ihm gezeigt haben. Und er probiert's erst lange, eh' er's wagt.«

»Hast recht,« sagte der Mönch. »Aber wo sollt' ich hier einen Lehrer finden? Ich müßt schon nach Welschland hinunterwandern. Dazu hat's Weile.«

Der Senn wiegte seinen großen Kopf mit der wilden Haarmähne hin und her. »Wer weiß, ob es ein lebendiger Lehrer sein müßt, Bruder Innocenz?«

»Wie verstehst du das, Xaverl?«

»Ich mein' halt so: wenn Ihr die Bilder seht, die von einem gemalt sind, der's verstanden hat, da lerntet Ihr vielleicht, wie man's machen muß.«

»Es gibt aber keine solche Bilder hier.«

»Wart Ihr schon in der Kapelle vom heiligen Ulrich über Moosbrunn bei den due croci?« Der Mönch verneinte. »Nun, seht, da sind alte Bilder, von denen sie sagen: von den größten Malern, die je in Welschland gelebt haben, hätt' einer sie gemalt. Ein Venezianer soll er gewesen sein und ist ganz nahe der Tiroler Grenze im Venetischen geboren, in dem kleinen Flecken Pieve di Cadore. Wie er geheißen hat, weiß ich nicht, weiß auch nicht, ob es wahr ist, daß er die Bilder gemalt hat. Aber vor manchem Jahr hab' ich einmal einen Maler, der hier im Gebirg' umhergezogen ist, dorthin geführt, und da hat der die Augen weit aufgerissen und hat gesagt, das wären Schätze, und man wüßte in der Welt gar nichts davon, und hier könnte kein Mensch das würdigen, was da an die Wand gemalt wäre. In Wien würden sie viele tausend Gulden dafür hergeben, wenn man's herausnähme und hinschaffte, aber das würden die Leute hier natürlich nicht leiden, und es sei ein Jammer und eine Sünde. Und so dergleichen hat er mehr gesagt. Also mein' ich wohl, es müssen gute Bilder sein. Und vielleicht könnt Ihr von den Bildern etwas lernen, Bruder Innocenz, wenn Ihr doch keinen anderen Lehrer hier habt.«

Der Mönch hatte erstaunt zugehört. »Sind es Heiligenbilder?« fragte er.

»O nein, es sind auch andere darunter,« versicherte Xaverl, »und ich mein': die Berge und Täler, die dort zu sehen sind, die sind hier in der Wirklichkeit, das sind ganz die gleichen. Die Kapelle ist in ganz alten Zeiten eine Wallfahrtskapelle gewesen, müßt Ihr wissen. Da sind alle hinaufgepilgert, die von Welschland kamen und nach Welschland gingen. Den heiligen Ulrich haben sie erst viel später dort hineingebracht, und sein Bild, das über dem Altar steht, ist auch viel neuer und frischer, als die an den Wänden. Ich mein', Ihr solltet hingehen, Bruder Innocenz.«

»Ich will heute noch hinüber,« sagte der Mönch erregt.

Der Senn hatte Mühe, ihn zu bestimmen, daß er wenigstens erst einen Imbiß nehme, ehe er aufbreche. Als sie in der Hütte zusammensaßen und die taube Lisi ihnen den Schmarren auftrug, auch Käse und Hartbrot dazu brachte, fragte Xaverl plötzlich: »Weshalb malt Ihr keine Heiligenbilder, Bruder Innocenz?«

»Weil ich denke, das sollten nur große Künstler tun, und es sollte nur herrliche Heiligenbilder geben oder gar keine. Denn wenn sie nicht würdig und schön sind, können sie auch nicht zur Andacht stimmen und sind eigentlich trotz aller guten Absichten der Meister, die sie schufen, nur Lästerungen und bringen Gefahr.«

Dazu nickte der Senn. »Wohl, wohl,« sagte er mit seiner hellen Stimme, »das hab' ich selber auch schon gedacht. Wenn man zum Beispiel den heiligen Ulrich in seiner Kapelle da oben anschaut, – Ihr werdet's ja sehen, da könnt' einem das Beten vergehen. Ich mein' halt überhaupt, man sollt' sich kein Menschenbild machen vom Herrn Christus und der Jungfrau und von allen Heiligen, das ist das rechte nicht. Zu einem Menschen kann man nicht beten. Man muß sie wohl immer vor sich sehen, wenn man an sie denkt, aber mit Händen muß man sie nicht greifen können. Das ist alles Holz und bemalte Leinwand und kann morsch und brüchig werden und verwittern und absterben. Das sollt' nicht sein. Das, zu dem man betet, muß größer sein als alles, was man sieht, und nicht vergehen können.«

Er redete noch so eine Weile in seiner nachdenklichen Art weiter, und als der Mönch, der seine Zeichen- und Malapparate in der Sennhütte zurückließ, sich auf den Weg machte, begleitete er ihn eine Strecke weit durch das Gebirg, ihm den Pfad zu weisen, den er einschlagen mußte, um an die Ulrichskapelle zu gelangen, ohne erst ins Tal hinabzusteigen oder das Dorf Moosbrunn zu berühren. Dann trennten sie sich mit kräftigem Händedruck.

Innocenz schritt rasch aus. Er war allmählich des Bergsteigens gewohnter geworden, und die reine Luft der Höhe stärkte ihm Brust und Nerven. Als er so zwischen den Steilwänden hinwanderte, an denen sein Blick bewundernd emporschweifte, mußte er Filomenas gedenken. Er hätte sie gern wiedergesehen, aber es war zugleich eine Scheu in ihm, die ihn davon zurückhielt. Er dachte dessen, daß man ihn gelehrt hatte, die Begegnung mit dem Weibe zu meiden, um nicht in Anfechtung zu fallen. Dennoch beschäftigte ihn ihr Schicksal lebhaft, und er war mit sich uneins darüber, ob es nicht Schwäche und Feigheit sei, die Gefahr des Versuchtwerdens zu fliehen, statt ihr siegreich die Stirn zu bieten. Manchmal kam ihm sogar der Gedanke, daß sie seiner bedürfen könne, und das Verlangen, ihr zu helfen.

So war er bis an eine Felsecke gelangt, wo er die mächtige Wand des Monte Valdena wieder vor sich sah und die weiße Kapelle St. Ulrichs ihm von dem rötlichgrauen Gestein entgegenleuchtete. Hier stand eines jener Bildstöckel am Wegrand, wie er sie häufig auf seinen Wanderungen durch das wilde Gebirg fand. In der rührend-unbeholfenen Ausdrucksweise dieser Bergbewohner und in naiv-realistischem Bilde redeten sie gemeiniglich von einem Unglücksfall, der sich an eben der Stelle, wo sie errichtet worden, durch einen Felssturz, durch Wassersgefahr oder fallende Baumstämme zugetragen, und forderten zum Gebet für die Seelen derer auf, die dabei ihr Leben eingebüßt. Oft waren die Inschriften längst verwaschen und die Bildnisse zerstört bis zur Unkenntlichkeit, aber nie ging einer an ihnen vorüber, ohne sein Kreuz zu schlagen, und nicht selten hing zur Sommerzeit ein Kranz über dem schrägen, schmalen Holzdach, das sie gegen Regen und Schnee schützte, oder ein paar frische Alpenblumen lagen am morschen Holzsockel.

Das Bildstöckel hier an der Felsecke wies keinen derartigen Schmuck auf. Es sah verwahrlost und verwittert aus, wie Innocenz noch kein zweites gefunden hatte, und vielleicht beugte er sich gerade deshalb in einer wehmütigen Regung herab, um die verblaßte, halb verlöschte Inschrift zu entziffern. Das war jedoch schwieriger, als er gedacht, und erst nach längeren Versuchen konnte er den kaum mehr erkennbaren Buchstaben so viel entnehmen, daß hier ein Geistlicher seinen Tod gefunden hatte. Ein Bild war diesmal nicht beigefügt, und die Inschrift gab, soweit der Mönch sie verstand, auch keinen Aufschluß darüber, auf welche Art das Unglück stattgehabt hatte. Jedenfalls mußte es lange her sein, denn nur dann ließ sich die völlige Vergessenheit erklären, in die gerade dieses Bildstöckel geraten war, da der jähe Tod eines Priesters oder Mönches doch wohl allgemeinere Beachtung und Teilnahme gefunden haben mußte, als der irgendeines anderen Menschen. Und selbst so mußte es bei der bekannten Anhänglichkeit der Bergbewohner an ihre Geistlichen immer noch auffällig erscheinen, daß man heute des Platzes nicht mehr gedachte, an welchem vor noch so langer Zeit einer von ihnen sein Ende gefunden hatte. Voraussichtlich war es doch geschehen, während er sich in der Ausübung seines heiligen Berufes, vielleicht auf einem Versehgange zu einem abgelegenen Gehöft oder einer Almhütte befunden hatte, vielleicht mitten in rauher Jahreszeit oder bei gefahrvollem Unwetter. Dann war sein jäher Tod ein Opfertod gewesen, und man hätte dem grausam Hingerafften ein doppelt liebevolles und bewunderndes Gedenken bewahren müssen.

Innocenz trat bis an den Saum des schmalen Felssteges vor. Da sah er, daß hier das Gewände schroff in die gähnende Tiefe abfiel, und daß ein einziger Fehltritt den ahnungslosen Wandrer hinabreißen konnte. Einen Augenblick packte ihn ein Schwindel bei dem Gedanken, und er mußte sich geschlossenen Auges gegen die Felsmauer zurücklehnen. Dann bückte er sich nochmals zu dem Bildstöckel nieder. Er begriff selber nicht, warum es ihn so fesselte, daß er fast des Weitergehens und seines Wegziels darüber vergaß. Er wollte nach dem Namen des Abberufenen suchen, um vielleicht so einmal Weiteres über ihn und sein Schicksal in Erfahrung zu bringen. Und seltsamerweise gelang es ihm jetzt wirklich, diesen Namen zu entziffern, nicht den Vatersnamen, wenn sich ein solcher überhaupt auf der Inschrift befand, aber doch den Rufnamen, und dieser lautete unzweifelhaft: Innocentius. Es durchschauerte den Mönch wunderlich bei dieser Entdeckung. Als er nun endlich seinen Weg weiter verfolgte und seine Schritte sogar beschleunigte, wie um dem sonderbaren, geheimnisvollen Bann dieses Platzes zu entfliehen, blieben doch seine Gedanken bei dem vergessenen Todesmal eines Priesters, der auch Innocentius geheißen hatte und einsam in dieser schweigenden Felsenwüstenei einen schaurigen Tod gefunden haben mußte, zurück. Er konnte dies vergessene Bildstöckel am Rande des Abgrundes nicht mehr aus seiner Seele verbannen.

So hatte er den Kapellensteig, an dessen Biegungen jedesmal ein Stationshäuschen stand, erreicht und blickte, langsamer aufwärts klimmend, auf Moosbrunn hinab, dessen Dächer noch von der nachmittägigen Sonne beschienen wurden, welche schräg zwischen Arzenkopf und Rotkofel hereinfiel. Plötzlich blieb er stehen. Auf dem Friedhofe vor der Moosbrunner Kirche gewahrte er zwischen den verfallenen Kreuzen und eingesunkenen Gräbern zwei Gestalten beieinanderstehen, von denen er die eine augenblicks als die Filomenas erkannte. Die andere war ein junger Bursch in Jägerkleidung, der den Stutzen auf dem Rücken hatte und, seinen blonden Bart streichend, lebhaft auf das Mädchen einzusprechen schien, das ihm mit gesenktem Kopfe, eine Blume oder Ranke zwischen den Fingern zerzupfend, zuhörte. Innocenz mußte sich gewaltsam von dem Anblick losreißen, und er konnte sich einer Regung des Unmuts, die ihn dabei beschlich, nicht erwehren. Es wollte ihm zu dem Bilde dieses Mädchens, wie er es in der Seele trug, nicht passen, daß er sie da, wie alle ihresgleichen, mit einem Liebhaber zusammenstehen sah; sie war ihm eben anders erschienen, als alle. Nun stieß sie sich selber für ihn in die große Masse mit hinab und zerstörte ihm den Reiz des Eigenartigen, der sie umflossen hatte. Das war's, was ihn peinvoll berührte, wenn er sich auch sagen mußte, daß es töricht war.

Da lag die Kapelle vor ihm. Es war ein altes, gotisches Kirchlein, dessen Entstehung nach einer draußen angebrachten Inschrift in mittelalterlichem Mönchlatein in das dreizehnte Jahrhundert zurückgeleitet wurde und infolge eines Gelübdes stattgehabt haben sollte. Ursprünglich war es unzweifelhaft als Herberge für Wallfahrer oder als Hospiz für verirrte Gebirgswandrer errichtet worden und erst später zu einem Gotteshause umgebaut; die Außenwände waren überdies größtenteils neu übertüncht und nur schwache Spuren ehemaliger Fresken noch daran erkennbar, darunter das Bild eines Schiffes und zahlreicher Boote auf einem felsumkränzten Wasser, das eine Inschrift als die Darstellung eines von Kaiser Maximilian I. auf dem Toblacher See veranstalteten Festes bezeichnete. Das Innere war schmucklos; ein Madonnenbildnis auf einem der Seitenaltäre war von Votivtafeln und silbernen Herzen dicht überhängt, das Bildnis des heiligen Ulrich über dem Hauptaltar von den hohen Kandelabern mit ihren dicken Wachskerzen zum größeren Teile verdeckt. Immerhin blieb noch genug davon zu sehen, um zu erkennen, daß es sich hier um ein gutgemeintes Stümperwerk handelte, das weder andächtig stimmen, noch künstlerische Befriedigung erregen konnte. Der wilde Xaverl hatte recht gehabt: solche Bilder konnten nur Spott oder Unwillen herausfordern und dienten ihren heiligen Zwecken schlecht. Aber auch das Kloster Greifenburg enthielt ihrer mehrere in Kirche und Kapitelsaal von geringem Kunstwert, und Innocenz hatte noch nie den Blick von ihnen abgewandt oder sie mit den Augen eines Künstlers betrachtet, sondern sie gleich allen hingenommen als verehrungswürdige Heiligtümer, zu denen man beten konnte. Heute und hier war das zum ersten Male anders. Er erschrak selber in tiefster Seele darüber. Aber ein Gebet jetzt und an diesem Orte wäre ihm plötzlich als eine Heuchelei erschienen, zum mindesten als eine bloß äußerliche, rein mechanische Lippenübung.

Er drehte sich ab und betrachtete nun die beiden Fresken, die zur Rechten und Linken des Hauptaltars aus den hohen Nischen ihm entgegentraten. Sie waren nicht unwesentlich beschädigt und hatten hier und da auch durch den Weihrauchduft und schwelenden Kerzendampf gelitten, der durch Jahre und Jahre zu ihnen heraufgeschlagen war, aber doch entlockten sie dem Mönch einen unwillkürlichen Ausruf frohen Erstaunens. Was immer durch die Zeit, die Feuchtigkeit der Mauern und den sorglosen Unverstand der Menschen an ihnen gesündigt worden war, die leuchtende Schönheit dieser Kunstwerke hatte dadurch nicht zerstört werden können. Innocenz' Augen waren durch die Linien und Farben einer großen, eigenartigen Welt, in die er sich Tag um Tag versenkt, sowie durch die eigene Kunstübung jetzt geschärft genug, um zu erkennen, daß diese Bilder nur von der Hand eines der großen Meister herrühren konnten, deren Namen noch heute die Welt mit Andacht und Ehrfurcht nannte. Er kannte diesen Namen nicht und, wenn man ihn vor seinen Ohren genannt hätte, wäre er wohl auch nur Schall und Rauch für ihn gewesen, aber er beugte verehrend vor ihm sein Knie. Auch das war etwas Göttliches, was aus diesen Farbenwundern zu ihm sprach, und der sie geschaffen, war vom Himmel begnadet worden vor allen Lebendigen.

Und der wilde Xaverl hatte ganz recht gehabt: das waren da auf der Kapellenwand die gleichen Berglandschaften, über die draußen die Blicke des Mönchs hingingen, nur daß es eben eines Künstlerauges bedurfte, um sie so zu sehen, wie dort ein Pinsel sie in unvergänglicher Leuchtkraft hingezaubert. Auf diesen himmelanragenden, bleichen Bergzacken, auf diesen tief eingerissenen, walddüsteren Schluchten, auf diesen grün überwucherten Felsjochen und diesen stürzenden Wildwassern da draußen hatten also die Augen jenes Großen einst geruht, wie heute die seinigen, und die Natur hatte sich in den Jahrhunderten, die seitdem verronnen sein mochten, schwerlich gewandelt; er hatte ihr tief, mit liebevollem Verständnis in das steinerne Riesenantlitz geschaut, und ihre Rätsel hatten sich vor ihm entschleiert. Dann hatte er sie an die Mauer des Gotteshauses gemalt, um Gott zu ehren durch ein Abbild seiner Werke, in denen er seine Allmacht und Größe an den Tag gelegt. Und wenn man vor dem stümperhaften Abbild eines Heiligen dort nicht beten konnte, hier, vor diesen Bildern, aus denen der Odem des Göttlichen wehte für jeden, der Sinne und Seele ihm öffnen mochte, hier konnte man es.

Der Mönch erschrak nun doch, als er es dachte. War das nicht eine Blasphemie? Durfte man wirklich hier beten? Er schlug ein Kreuz. Hatte ihn die Begeisterung für das Kunstwerk nicht doch zu weit fortgerissen, weil er es mit den Augen des Kunstverständigen betrachtet hatte, statt mit denen des Christen und des Priesters, als welcher er hier in dem Gott geweihten Hause stand? Etwas wie Angst beschlich ihn, wie wenn eine drohende Gefahr näher und näher an ihn herankröche. Und noch einmal bekreuzigte er sich. Aber er konnte sich von dem Anschauen dieser Kunstwerke, der ersten, die er in seinem Leben sah, noch immer nicht losreißen. Es war, als ob ihm hier plötzlich eine ganz neue Welt aufginge. Das konnte doch keine höllische Versuchung sein, die ihn hier an heiliger Stätte heimsuchte. Sein Herz schlug laut und rasch. Er gewahrte erst jetzt, daß sich auf den Bildern auch Menschen befanden, die zu diesen wild-herrlichen Berglandschaften die Staffage bildeten. Sie waren nicht leicht mehr erkennbar, wie man denn überhaupt nur noch zu erraten vermochte, daß der Maler auf dem einen Bilde wohl die »Ruhe auf der Flucht«, auf dem anderen die »Wallfahrt der heiligen drei Könige nach Bethlehem« hatte zur Anschauung bringen wollen. Ohne Zweifel waren ihm überhaupt die landschaftlichen Darstellungen zur Hauptsache geworden, und er hatte ohne jedes Bedenken die biblischen Vorgänge in die ihm vertraute, heimische Landschaft hineinversetzt. Und darin lag auch für Innocenz nichts Befremdliches; was da vor nahezu neunzehnhundert Jahren in Palästina geschehen war, das war für alle Zeit und für alle Welt geschehen und an keinen Ort und keine Zeit gebunden, es war in diesen Bergen so gut geschehen wie im Morgenlande. Und diese Maria, die da auf der Rast ihr Kind stillte, während Josef, an den Esel gelehnt, daneben stand und ihr still-beseligt zuschaute, trug mit gutem Fug das Gewand eines jungen Weibes dieser Berge. Sie war überdies von großem Liebreiz, und Innocenz wurde nicht müde, sie anzublicken. Plötzlich erschrak er jedoch. Er sagte sich, daß die Gottesmutter eine seltsame Ähnlichkeit in ihren Zügen mit Filomena aufweise. Darin war im Grunde freilich nichts Verwunderliches. Denn die Frauen und Mädchen dieser Berglande mochten vor etlichen Jahrhunderten nicht um vieles anders ausgesehen haben als heute, und wenn jener große Maler wirklich ein Welscher gewesen war, und Filomenas Vater, dem sie in manchem nachgeartet sein mochte, gleichfalls aus dem nahen Welschland stammte, so war die überraschende Ähnlichkeit, die dem Mönch nun immer klarer vor die Seele trat, doppelt leicht erklärlich. Dennoch blieb ein heißes Erschrecken in seiner Seele zurück. Es war mit einem Male ein Wunsch in ihm aufgestiegen, den er wieder von sich verscheuchen wollte, und der doch immer zurückkam. Die Stirn brannte ihm, und seine Schläfen zuckten. Da bekreuzigte er sich abermals, beugte seine Knie vor dem Allerheiligsten auf dem Hochaltar und schritt hinaus.

Noch lag ein letzter Sonnenglanz des scheidenden Tages über den steinbeschwerten Schindeldächern von Moosbrunn, und doch hätte Innocenz glauben können, es seien Tage und Wochen vergangen, seit er die kühle Dämmerung des kleinen Gotteshauses betreten, denn er kam als ein Verwandelter aus ihm wieder in den hellen Tag, und verwandelt lag die Welt vor ihm. Er schirmte die Augen gegen die andrängenden Lichtstrahlen, die ihn blendeten, und sein Atem ging stürmisch; ein verklärtes Lächeln lag auf seinen Lippen. Was ihm eben da drinnen aufgegangen, war eine Offenbarung gewesen.

Innocenz war den Kapellensteig herabgeklommen und durchquerte nun die schmale Talsohle, um, ohne noch einmal zur Anderetalp zurückzukehren, auf dem nächsten Wege St. Ulrich wieder zu erreichen. Die Seele war ihm so voll, daß er des Alleinseins und einer rüstigen Wanderung bedurfte, um Klarheit in seine wogenden Gedanken zu bringen. Er hatte jedoch noch keine weite Strecke zurückgelegt, den Kopf gesenkt und die Augen nach innen gerichtet, als er einen leichten Schritt neben sich vernahm und eine warmtönige Stimme ihm den landesüblichen Gruß bot: »Gelobt sei Jesus Christus!«

»In Ewigkeit, Amen!« ergänzte der Mönch mechanisch, um erst dann mit traumumflorten Augen sich in die Wirklichkeit zurückzufinden und nun die neben ihm herschreitende Filomena zu gewahren. Da flog ihm eine heiße Röte über das Gesicht.

Sie aber sagte: »Ihr seid lange nicht hier gewesen, Bruder Innocenz.« Es klang traurig, und als er nicht gleich antwortete, setzte sie hinzu: »Darf ich eine Weile mit Euch gehen?«

»Wenn Euer Weg der gleiche ist,« versetzte er, und es war ein rauher Ton in seiner Stimme, über den er selber erstaunte.

Das Mädchen blickte schüchtern zu ihm auf. »Habe ich Euch mit etwas gekränkt oder Euren Unmut erregt, Bruder Innocenz?« fragte sie mit einem bittenden Blick, aus dem zugleich so viel rührende Unschuld sprach, daß dem Mönch das Herz schwoll.

»Nein,« sagte er, »ich dachte nur, Ihr hättet andere Begleitung, wenn Ihr einen Weg zu machen habt.«

Sie verstand ihn nicht gleich. »Andere Begleitung?«

»Ich sah Euch doch vorher mit einem jungen Burschen zusammen.«

»War das unrecht?« fragte sie ahnungslos.

»0 nein, nein. Weshalb sollt' es unrecht sein, wenn eine junge Dirne einen Burschen zum Schatz hat? Das ist so der Welt Lauf.«

»Er ist nicht mein Schatz,« sagte Filomena jetzt mit trotziger Entschiedenheit.

»Nicht? Man hätt' es denken sollen.«

»Es ist der Barthel gewesen. Er ist beim Jäger-Lenzl auf Peutelstein als Forstwart und kommt oft zum Pfarrer und zum Meßner herüber. Er ist ein braver Mensch, dem sich nur Gutes nachsagen läßt, und ganz anders als der Lenzl, der tückisch und hinterhaltig ist. Wir zwei kennen uns schon lang', und er schwatzt gern mit mir.«

»Und später wird er Euch einmal heiraten, nicht wahr? Das ist ja so ungefähr das, was ich mir selber gedacht hab'.«

»Heiraten wird er mich nicht.«

»Warum nicht?«

»Weil zum Heiraten zwei gehören.«

»Das heißt: Ihr wollt ihn nicht.«

»Nein, ich will ihn nicht.«

»Ihr sagt doch lauter Gutes von ihm.«

»Das muß ich auch, weil es wahr ist. Aber man heiratet doch nicht einen Burschen, bloß weil er brav ist und ein gutes Herz hat.«

»Er will Euch aber, nicht wahr?«

»Das mag schon sein. Aber es wär' mir leid, und ändern könnt' es auch nichts.«

»Ihr wollt also bloß einen heiraten, den Ihr wirklich lieb habt?«

»Ja.«

»Und habt keinen so lieb, daß Ihr ihn heiraten möchtet?«

Sie besann sich einen Augenblick, ehe sie »nein« sagte.

»Und wenn Ihr keinen findet?« fragte er weiter, als ob das ein unerschöpflicher Gegenstand für ihn sei, den sie da besprachen.

»So bleib' ich unverheiratet. Ich glaube schon heute, ich werde unverheiratet bleiben.«

»Und ins Kloster gehen.« Er sagte das plötzlich in scherzendem Ton, weil ihm seltsam leicht und frei zu Sinne geworden war, er wußte nicht weshalb?

»Nein, ins Kloster werd' ich nicht gehen,« sagte sie mit ruhiger Bestimmtheit.

»Fürchtet Ihr Euch vor dem Kloster, Filomena?«

»Ich muß die Sonne haben und das Licht und die Berge. Ich muß die Freiheit haben. Ich kann nur in der Freiheit beten, nur wenn es mir danach ums Herz ist und nicht, wenn die vorgeschriebene Stunde zum Gebet da ist. Ich kann auch nicht beten, wie ich es mir eingelernt habe oder wie es im Buche steht, ich kann nur beten, wie es mir über die Lippen kommt, ohne daß ich's will und weiß. Ins Kloster taug' ich nicht. Ist das sündhaft, Bruder Innocenz?«

Er murmelte etwas, das sie wie ein beruhigendes: »Nein« deuten mochte, aber weiter ließ er sich auf das nicht ein, was sie berührt hatte. Auch auf das andere, wovon sie vorher gesprochen, kam er nicht mehr zurück, und der leichte Gesprächston, den er angeschlagen gehabt, war plötzlich verflogen. Filomena streifte den neben ihr Schreitenden hin und wieder mit einem scheuen Seitenblick. Er war heute so ganz anders als neulich, und sie wußte nicht mehr, wovon sie zu ihm reden sollte.

Plötzlich fragte der Mönch: »Wohin geht Ihr eigentlich?«

»Zu meinem Heiligenbilde – Ihr wißt doch?«

Wieder trat eine Pause ein. Dann sagte der Mönch rasch, als ob er sich davon befreien müsse: »Ich wollt' Euch um einen Dienst bitten, Filomena.« Und als sie in freudiger Erwartung zu ihm aufsah, fragte er: »Kennt Ihr den wilden Xaverl von der Anderetalp?«

»Wie sollt' ich den nicht kennen! Den kennt jedes Kind auf der Lahn.«

»Wollt Ihr morgen früh zu seiner Hütte kommen? Ich – ich möcht' einmal versuchen, Euch zu zeichnen. Ich bin jetzt fast alle Tage droben und zeichne. Bisher hab' ich mich nur an die Landschaft gewagt. Nun möcht' ich auch Menschen zeichnen.«

Er stieß das hastig heraus und ohne sie dabei anzusehen, die ihn mit großen, verwunderten Augen betrachtete. »Ich will gern kommen,« sagte sie nach kurzem Zögern erstaunt.

Innocenz sprach ihr von den beiden Wandgemälden in der Ulrichskapelle, die von einem großen venezianischen Meister herrühren sollten, und bei deren Anschauen ihm der kühne Wunsch aufgestiegen sei, einmal etwas Ähnliches zu schaffen zur Ehre Gottes und der lieben Heiligen, falls sie ihn etwa begnaden sollten zu so großen Dingen, wie er sie träume. Seine Worte klangen etwas verwirrt, und ein heißes Rot war auf seinen Wangen aufgeflammt; auch seine Augen begegneten den ihrigen nicht, sondern gingen gerade vor sich hinaus in die dunkle Felsenge, durch die der Weg sich hinwand. Er selber konnte noch nicht die volle Klarheit in seine Gedanken bringen; ein chaotisches Gewirr von Plänen und Wünschen wogte in seiner Seele, seit er die Bilder gesehen, die seine Phantasie entzündet und einen brennenden Ehrgeiz in ihm geweckt hatten, dessen Ziele vor ihm selber noch in Dunkelheit gehüllt lagen.

Filomena hörte ihm in andächtigem Schweigen zu. Auch ihr war's, als ob etwas Großes, das sie noch nicht gekannt, plötzlich in ihr Leben eintrete, und ihr Herz war zugleich voll Bangen und seliger Erwartung. So trennten sie sich am Fuße des Hügels, den das alte, verfallene Heiligenbild krönte und von dessen Kuppe herab Filomena damals ihre Blumen auf den Mönch hatte niederrieseln lassen.


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