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VII

Durch das Gewirr der wild zerklüfteten Kalkschrofen stiegen Gräfin Donata und Innocenz steil bergan.

»Wir wollen Alpenrosen pflücken,« hatte sie ihm gesagt. Ihm war es gleich recht, wohin sie ihn führte. Er sehnte sich einzig danach, mit ihr in heißem Kampfe um seinen Glauben zu ringen, zu dem er sie bekehren wollte, und dem sie in starrer Entschiedenheit ihr Herz verschloß. Je öfter er sie sah, ein um so innigeres Verlangen hegte er danach, und je schärfere Widersprüche er bei seiner seelsorgerischen Tätigkeit in der weltabgelegenen Gemeinde des Alpendorfes zwischen seinem menschlichen Empfinden und dem Gebot seiner Religion entdeckte, um so ungestümer drängte es ihn nur danach, der letzteren zum Siege zu verhelfen über Zweifel und Unglauben, um durch solchen Sieg sich selber von seiner Gewissenspein zu befreien und über seine eigene Schwachheit und Lauheit zu triumphieren. Nie hatte er heißer gebetet als in dieser Zeit, nie war er starrer und unerbittlicher gewesen in seinen Forderungen gegen sich selbst und gegen andere. Ein fanatischer Eifer verzehrte ihn. Er wollte sich nicht nachgeben, er wollte sich nicht unterliegen sehen. Und die Entscheidung dieses Kampfes, in dem er mit Gräfin Donata rang, sollte für ihn ausschlaggebend werden auch für den Streit, der in seiner eigenen Seele entbrannt war. Siegte er hier, so war das ein Sieg für ihn selber über Zweifel, Not und Hilflosigkeit. Dann war die Prüfung bestanden, die der Himmel ihm auferlegt hatte, und die Versuchung mußte von ihm weichen. Hinter dem ungestümen Begehren nach Sieg in diesem Kampfe versteckten sich sein eigener Kleinmut und die Hoffnung auf ein entscheidendes Eingreifen der höheren Macht, ohne daß er sich jetzt schwach und verzagt fühlte.

Sie sprachen im Anfang ihrer Wanderung von den Büchern, die sie ihm zu lesen gegeben, von den Radierungen nach den Werken Tizians und der anderen großen venezianischen Meister, die er in ihrem Boudoir mit ihr durchgesehen hatte. In allen solchen Gesprächen fühlte er aber immer ihre Überlegenheit, und ihr ruhiges, klares Urteil beschämte ihn manchmal. Er sah erst dann vollends ein, wie einseitig sein Bildungsgang im Kloster gewesen war, und wie wenig er von jenen Dingen der Welt wußte, die im Grunde doch auch göttlichen Ursprungs waren, wie die Kunst, und bei deren Verehrung man Göttliches anbetete. Wenn Donata ihm sagte, daß sie vor einem profanen Bilde Tizians andächtiger gestimmt werde und frommer empfinde als vor einem jener schlechten Heiligenbilder, die in den Kirchen und Kapellen Tirols fast überall zu finden seien, so konnte er das ebenso begreifen, wie daß sie sich über die verzerrten »Herrgöttl« und die abstoßenden Darstellungen aus der Passionsgeschichte in den Stationshäuschen der Kalvarienberge beklagte, die ihr feineres Empfinden schwer verletzten und jede religiöse Regung, statt sie zu wecken, vielmehr gewaltsam erstickten. Und doch tat es ihm weh, daß er ihr nicht widersprechen konnte.

Dann redete sie plötzlich von ihrem protestantischen Glauben. Das hatte sie noch nie getan, und es war ihm wunderlich, einsehen zu müssen, wie wenig er von dem innersten Wesen des Protestantismus bisher gewußt, welche Verständnislosigkeit er ihm entgegengebracht hatte. Das alles, was sie ihm da erzählte, von der kleinen, schmucklosen Dorfkirche ihres Heimatsortes, in der sie getauft und eingesegnet worden war, von den Hausandachten im Schlosse, wo ihr Vater einen Bibelabschnitt vorgelesen, von dem guten, steinalten Pastor, der schließlich sein letztes Kleidungsstück an die Armen weggeschenkt hatte, so daß ihr Vater ihm hatte aushelfen müssen, damit er nur vom Bett aufstehen konnte, – das klang so schlicht und rührend, daß doch ein Kern echten Frommseins darin stecken mußte.

»Und doch haben Sie einen Katholiken geheiratet!« sagte er, »und ihm die Aussicht eröffnet, zu seinem Glauben überzutreten, wie konnten Sie das, wenn Sie von der Heilswahrheit des Ihrigen überzeugt waren?«

Donata war stehengeblieben und wandte ihm ihr klares, ruhiges Antlitz zu, das von den lebendig bewahrten Kindeserinnerungen, die sie eben wieder vor sich heraufgerufen, wie durchhellt war. »Ich war glücklich und befriedigt in meinem Glauben,« entgegnete sie, »aber daß es der alleinseligmachende sei und es keinen anderen, gleichberechtigten geben könne neben ihm, – davon war ich niemals durchdrungen.«

»Dann lebte also doch die unbestimmte, unklare Ahnung in Ihnen, daß es darüber hinaus noch ein Höheres geben könne, geben müsse? Und diese Ahnung hat Sie nicht getäuscht.«

»Sie irren,« versetzte Donata ohne Bitterkeit oder Spott, aber mit Bestimmtheit, »das war es nicht. Mir war nur immer die Form gleichgültig und der Inhalt allein entscheidend. Deshalb durfte ich auch annehmen, ohne meinem Glauben untreu zu werden, daß man auf anderem Wege an das gleiche Ziel gelangen könne, und daß der Alleinbesitz der Wahrheit nicht das Vorrecht einer einzelnen Konfession sei.«

»Wie kann man einem Glauben anhangen, ohne von seiner Alleinberechtigung fest überzeugt zu sein?« fragte er verständnislos.

»Und wenn man nun fest überzeugt davon ist, daß es einen solchen Glauben überhaupt nicht gibt, nicht geben kann?« fragte sie dagegen.

»In diesem Falle sind Sie, Frau Gräfin?«

»Setzt Sie das nach allem in Erstaunen?«

»Und deshalb – nur deshalb bleiben Sie dem Ihrigen treu?«

»Deshalb. Weil kein anderer mir mehr bieten könnte, – vielleicht nur weniger. Ich hänge auch nicht einmal den Dogmen des Protestantismus an, – meine Vernunft sträubt sich gegen einige von ihnen, – ich bekenne mich nur zum Wesen seiner Heilslehre, und mein religiöses Bedürfnis, das in mir wurzelt wie in jedem fühlenden und denkenden Menschen, wird durch dasselbe befriedigt. Ich dürste nach nichts anderem. Ich fühle kein Verlangen nach dem mystisch-bestrickenden Zauber Ihrer Religion, ich brauche eine, bei der ich mit meinem Denken nicht Schiffbruch erleide. Sagen Sie mir nicht, daß die Religion über alles Wissen und über alle Vernunft hinausgehe, daß das Reich des Gedankens und das des Glaubens miteinander nichts zu tun haben. Ich begreife, daß Tausende und aber Tausende daran halten, daß die Religion nur so und nur dann ihnen Trost und Frieden bietet, ich begreife die Anziehungskraft und die Macht des Katholizismus vollkommen; ich bekämpfe sie weder, noch verachte ich sie, ich glaube sogar, daß der Katholizismus, so wie er ist, unentbehrlich und von millionenfachem Segen für einzelne wie für ganze Völker bleibt: – nur für mich selbst weise ich ihn als Notwendigkeit wie als Bedürfnis von mir. Wir sind eben nicht alle gleichgeartet, und was Tausenden Herzenssache ist, würde bei mir Gewissenszwang und Heuchelei sein. Ich lasse den anderen ihren Glauben, ich würde nie wagen, ein allgemeingültiges Urteil über ihn fällen zu wollen oder gar meinen Witz daran zu üben, aber ich nehme auch das Recht in Anspruch, meiner Individualität gemäß mir meine Religion zu gestalten. Eben weil ich Gott – und das heißt für mich: der Wahrheit – dienen will, muß ich vor allem wahr bleiben gegen mich wie gegen andere. Ich habe Ehrfurcht vor Ihrem Glauben, Pater Innocenz, aber er kann deshalb doch der meine nicht sein. Weshalb wollen Sie dem meinen nicht die gleiche Duldung entgegenbringen, wie ich dem Ihren?«

Sie hatte sich auf einen rötlichen Lärchenstumpf niedergesetzt, der am Wege stand. Innocenz lehnte ihr gegenüber an einem Baumstamm, an den ein andächtiger Hirt im Vorüberziehen durch diese einsame Hochgebirgswildnis zwei brennende Herzen genagelt hatte. Er selbst sah sie nicht, aber Donatas Augen waren, während sie sprach, unausgesetzt darauf gerichtet. Jetzt deutete sie darauf und fügte hinzu: »Ich möchte sie zum Symbol nehmen, wenn sie auch in anderem Sinne gemeint sind. Sie brennen beide von einem göttlichen Feuer, das in ihnen glüht; wie dies Feuer geschürt wird, weiß keiner, und die Mächte über uns, denen dies Opferfeuer gilt, werden auch nicht danach fragen.«

»Es wäre aber doch schön, wenn die gleiche Flamme in Ihnen glühte,« murmelte Innocenz.

»Die gleiche Flamme ist es ja auch,« fiel sie ein, »sie wird nur verschieden genährt.«

»Sie lassen mir wenig Hoffnung,« sagte er trübe. »Ich wußte nicht, daß in Ihnen alles so klar und gefestet sei. Sie stehen auf so sicherem Boden, daß es wie eine Vermessenheit erscheint, Sie davon zu vertreiben, ihn unter Ihnen erschüttern zu wollen.«

»Ich habe mich zu meiner Weltanschauung durch schwere Kämpfe hindurchgerungen, das müssen wir ja alle,« sagte sie einfach.

Innocenz schnitten die schlichten Worte in die Seele. Er mußte unwillkürlich denken: alle? Also auch er? Was hatte denn er für Kämpfe zu bestehen gehabt, durch die er sich seinen Glauben errungen, an dem er festhielt, für den er kämpfte? Bis er hierher in das einsame Hochgebirg gekommen war, nicht einen einzigen. Man hatte ihm diesen Glauben anerzogen, und er hatte ihn hingenommen, ohne zu fragen, ohne zu grübeln. Ihn sich erkämpft hatte er bis heute nicht. Wie durfte er auf diesen Glauben also stolz sein, den er doch nicht als ein unantastbares Gut sich aus eigener Kraft erstritten, den vielmehr sorgliche Gärtner liebevoll in seiner Seele gepflanzt hatten?

Sie gingen weiter. Schweigsam starrte die Felsenwildnis um sie her. Nun gelangten sie an ein Gehölz von Zirben. Schwarze Zirbenkrähen umflatterten mit heiserem Krächzen hier die Nadelkronen, und hoch über ihnen in blau schimmernder Luft stand ein Falke, der auf Beute lauerte. Hier dehnte sich zwischen den jäh abstürzenden, unzugänglichen Felsmauern eine kesselartige Eintiefung, an der ein schmales Hochjoch hinlief. Das ›Joch Büllele‹ nannten es die Leute auf der Lahn. Hier zeigten sich plötzlich die Spuren eines ungeheuren Elementarereignisses, das die Gegend vor Jahren heimgesucht haben mußte. Gewaltige Steinmuhren zogen sich die Hänge der Schlucht hinunter, und man konnte den Weg noch verfolgen, den sie von den Höhen herab auf ihrem verderbenbereitenden Gange genommen hatten. Die Verwüstung des Waldes bezeichnete ihn. Die zahllosen Baumstümpfe sowie die Verwandlung des fruchtbar-üppigen Bodens in Schutthalden auf weite Strecken hinaus redeten davon, welche Kräfte hier entfesselt gewesen waren, mit welcher Wucht die Hochwasser aus den Gletscherregionen niedergegangen waren, um vor sich her alles niederzuwerfen und zu zertrümmern, was sich ihnen in den Weg drängte. Und gerade hier, zwischen diesen Malen einer gigantischen Naturschlacht, grünte und blühte es noch immer in solcher Pracht und Fülle, wie nirgends sonst unter den ragenden Zacken der Dolomiten. Blaue Gentianen nickten zwischen Moos und Adlerfarnen, als wollten sie all die Erinnerungen an das Grausige, das hier geschehen, mit Farbe und Duft überdecken und begraben. Und die mächtigen Steinblöcke, zwischen denen krüppeliges Nadelgesträuch sich mit zäh klammernden Wurzeln eingenistet, schienen auf ihrer Oberfläche zu brennen. So blendeten im Glanz der zwischen den zerwetterten Stämmen schräg hereinfallenden Sonne die blühenden Alpenrosen, die wie ein schimmernder, blutroter See sich hier ergossen hatten.

»Hierher hab' ich gewollt,« sagte Donata. »Wissen Sie, wie das Volk drunten im Krainischen die Alpenrosen nennt? Donarstauden. Denn sie sind einst ihrer Farbe wegen Donar, dem Gott der Blitze, heilig gewesen. Ist der Name nicht schön? Helfen Sie mir einen Strauß pflücken, Pater Innocenz! Ronald hat die Blumen so gern, und ich versprach ihm wieder einen Strauß. Er war heut' müder und schwächer als je. Ich habe darum an seinen Vater geschrieben, er solle das Kind von Peutelstein fortholen, wo es langsam zugrunde gehe; alles hab' ich ihm nochmals vorgestellt, habe mich herbeigelassen, es als eine Gunst von ihm zu erbitten, daß er mir mein Kind nimmt, wenn er mich selbst denn hier einkerkern will, – mehr konnte ich nicht tun. Ich hab' ihn beschworen, wenigstens selber zu kommen und sich zu überzeugen, daß ich nicht übertreibe, oder doch mir einen Arzt heraufzusenden, der ihm Bericht erstattet, wenn er selbst jetzt seine Jagden nicht aufgeben kann oder will. Es war das letzte, was mir blieb.«

Sie hatte das alles mit tonloser Stimme vor sich hingesprochen, während sie die blühenden Alpenrosen brach. Innocenz half ihr. Nun blieb er einen Augenblick vor ihr stehen und fragte; »Sie rechnen auf Gewährung Ihrer Bitte?«

»Nein,« erwiderte sie herb mit einem Kopfschütteln, »nein, ich hoffe nicht darauf.«

Innocenz wagte nicht, weiter zu fragen. Eine Weile pflückten sie schweigend nebeneinander die Blüten. Die Luft wurde allmählich merkwürdig schwül und drückend hier in der Gebirgssenkung, nicht das leiseste Rauschen der Nadelkronen ließ sich aus der Höhe vernehmen. Die Zirbenkrähen waren davongeflattert, und eine schier beängstigende Stille lag über der blühenden Schlucht. Nur der Falke stand noch wie ein schwarzer Punkt unbeweglich im schimmernden Kristall des tiefen Blaus. Dann zog plötzlich eine Wolke über die Sonne hin, verschattete sie und ließ, wie unter der Berührung einer kalt dahinstreichenden Hand, den Zauber von Farbe und Licht, der die Bergschlucht übersponnen gehabt, verbleichen.

Der Mönch hatte die ganze Hand voller Alpenrosen, als er, wie aus tiefem Nachdenken auffahrend, jetzt kalt und unvermittelt fragte: »Weshalb sind Sie die Gattin dieses Mannes geworden, Gräfin Donata?«

»Weshalb?« Sie wiederholte das Wort leise und blickte, auf einem Felsblock mitten unter Farnen und Gentianen sitzend, die beiden Hände über dem Strauß in ihrem Schoß gefaltet, mit hängendem Kopf vor sich nieder. »Das mag Ihnen freilich ein Rätsel erscheinen, Ihnen, der Sie die Welt nicht kennen. In der großen Welt draußen begreift man es überall. Ich war damals erst siebzehn Jahre alt geworden und kam aus einem Pensionat der französischen Schweiz zurück in die Heimat. Da sagte man mir, Graf Alexander Karditsch, den ich nur zweimal gesehen hatte, als er mit anderen Kavalieren zusammen zu einem Jagddiner bei uns im Schlosse gewesen war, bewerbe sich um mich. Damit war mein Schicksal entschieden. Der Graf war jung, schön, reich, der Typus eines österreichischen Grandseigneurs im besten Sinne des Wortes und – er liebte mich. Ich war wie betäubt von diesem Glück, das über mich hereinbrechen sollte, um das mich alle beneideten, durch das ich selber mir plötzlich verwandelt und über mich hinausgehoben vorkam. Von der Möglichkeit einer Ablehnung solch eines Antrages war gar nicht die Rede, nie wurde sie erwähnt, weder von meinen Eltern, noch von mir. Ich erinnere mich nur, wie stolz ich bei dem Gedanken war, meinen Pensionsfreundinnen meine Verlobung mit einem der ersten Feudalherren Österreichs bekanntzugeben. Sechs Wochen nach der Verlobung, während deren wir uns nicht sahen, weil der Graf auf seinen krainischen Besitzungen zu tun hatte, fand unsere Vermählung statt. Dann machten wir die traditionelle Hochzeitsreise nach Italien.«

Die Sprecherin schwieg einen Augenblick, und es war, als ob ein düsterer Schatten über ihre Augen hinziehe. Dann strich sie sich leise mit der Hand darüber und fuhr mit müder Stimme fort: »Auf dieser Hochzeitsreise sahen wir beide ein, daß wir uns geheiratet hatten, ohne uns zu kennen, und daß unsere Naturen wenig zueinander stimmten. Wir wurden uns eigentlich mit jedem Tage fremder. Wenn ich voll begeisterten Eifers mich in die Kunstschätze der italienischen Städte versenken wollte, hatte Graf Alexander nur Worte des Spottes für mich. Seine Neigungen gingen ganz wo anders hin. So sahen wir in Mailand nur ein Ballett in der Scala, in Florenz wohnten wir dem großen Pferderennen in den Cascinen bei, in Rom hatten wir eine Privataudienz beim heiligen Vater, in Nizza machten wir einen Blumenkorso mit, in Monaco das große Taubenschießen, – das waren die Ergebnisse eines Aufenthalts in Italien. Als wir zurückkamen, wußten wir beide, daß wir nichts miteinander anfangen könnten, daß wir uns gleichgültiger waren, als die fremdesten Menschen. Und danach richteten wir fortan unser Leben ein. Meine Weigerung, zu der Konfession meines Gatten überzutreten, trug das ihrige auch dazu bei, uns zu trennen. In Italien war mir die Unmöglichkeit eines Übertritts so grell und kraß vor die Seele getreten, daß ich jetzt alle dahingehenden Versuche schroff ablehnte. Ich hatte dort den Katholizismus erst begreifen und würdigen gelernt, aber zugleich auch die ungeheure Kluft erkannt, die mich persönlich meinem Denken und Empfinden nach von ihm schied. Wer argwöhnen wollte, es sei nur aus Widerstandslust gegen Graf Alexander geschehen, daß ich mich weigerte, überzutreten, und ich würde es getan haben, wenn ich ihn hätte lieben lernen, statt mich ihm zu entfremden, würde mir Unrecht tun. Ich hege gegen den Grafen keinen Groll. Ich hätte ihm wahrscheinlich gern seinen innigsten Herzenswunsch, den ich ja kannte, erfüllt, – auch um meines Kindes willen, das vor Ablauf des ersten Ehejahres zur Welt kam und katholisch getauft werden mußte, – ich habe immer danach gestrebt, in Frieden mit ihm zu leben; aber ich konnte dies Opfer nicht auf Kosten meiner Überzeugung, auf Kosten des in mir waltenden Sittengesetzes bringen. Sie müssen noch wissen, daß ich erst später erfuhr, wieviel Dank ich dem Grafen schuldig geworden, ohne es zu ahnen. Er hatte meinen Vater kurz nach unserer Heirat vom Ruin gerettet. Hierdurch mag Ihnen das Drängen meiner Eltern, die Werbung des Grafen anzunehmen, noch erklärlicher erscheinen, trotzdem Sie bedenken müssen, daß mein Vater ein sehr strenger Protestant war und dem Katholizismus in jener unduldsamen Schroffheit gegenüberstand, die in einer Mischbevölkerung nicht selten ist. Diese Dankesschuld hätt' ich durch meinen Übertritt abtragen sollen. Aber ich konnte nicht. Seither lebten wir, wie hundert andere Ehepaare der vornehmen Welt. Wir sind wenig zusammen, und wenn wir es sind, erregen wir den Eindruck eines Paares, das vortrefflich miteinander auskommt. Der Graf ist immer von ritterlicher Aufmerksamkeit. Ein hartes Wort ist noch nie über seine Lippen gekommen. Er findet mich sogar immer noch schön, und wenn wir uns monatelang nicht gesehen haben, sagt er mir das sogar. Ich habe mich in keiner Weise über ihn zu beklagen. Selbst daß ich mich nur selten dazu verstehe, die Wiener Gesellschaftssaison, in der er eine Rolle spielt, mitzumachen, verübelt er mir nicht zu sehr. Er läßt mir viel Freiheit und – er selbst nimmt sie für sich ebenso in Anspruch. Er denkt sehr – wie soll ich sagen? sehr liberal, sehr weitherzig; ich glaube, er würde mir manches vergeben, was andere unbarmherzig rügen möchten, sofern es nur seiner Ehre nicht zu nahe träte, sofern es nur keinen öffentlichen Skandal hervorrufen würde; nur in Glaubenssachen hegt er so intolerante Grundsätze, wie die meisten. Wenn ich mich zu seiner Konfession bekennen wollte, er wäre imstande, aus dankbarer Freude darüber – mir einen Diamantenschmuck zu schenken oder gar eine Jagdeinladung zu einem seiner Klubfreunde abzulehnen!«

Die letzten Sätze waren wieder von scharfer Bitterkeit durchklungen gewesen, während Donata das Frühere mit müder Gleichgültigkeit gesprochen hatte, als redete sie nicht von sich selber, sondern von einer ihr ganz fremden Person. Aber gerade das hatte Innocenz mächtig ergriffen. Das Schicksal dieser Frau schnitt ihm heiß und schmerzlich in die Seele. Es war eine Geschichte, aus der ihre Seelenreinheit und die ruhige Kraft, mit der sie ihr Los trug, ebenso hervorleuchteten, wie das dunkle Weh eines verfehlten Menschenlebens. Und diese Geschichte pochte mit tausend mahnenden Stimmen an sein Herz.

Welchen Trost hast du für diese Frau? rief es daraus zu ihm auf – welchen, den sie nicht schon in sich selber gefunden hätte, obgleich sie deines Glaubens nicht ist und nach der Lehre deines Glaubens niemals erlöst werden und der Seligkeit aller wahren Kinder Gottes niemals teilhaft werden kann? Gibt es einen solchen Trost überhaupt? Und woher hat diese Frau die Kraft genommen, ihr Leben nebst allen seinen Bitternissen mit dem stillen Mut zu tragen, wenn nicht die geheimnisvolle Quelle ihrer Kraft in der Religion sprudelt? Er verstand es nicht, er konnte keine Klarheit in das wirbelnde Chaos seiner Gedanken bringen. Nur wie eine Ahnung stieg es in ihm auf, daß er außer seinem Glauben, obgleich er der alleinseligmachende hieß, doch noch eine andere Macht geben müsse, welche irrende Menschenherzen gut und groß und still sein ließ. Aber er hatte keinen Namen für diese Macht. Nur daß ihn sein Unterfangen, Donata auf den alleinigen Weg des Heiles führen zu wollen, plötzlich vermessen dünkte, weil er selber sich kleiner und schwächer vorkam als sie, und daß doch gerade um deswillen sein Verlangen danach, Herrschaft über ihre Seele zu gewinnen, immer nur mächtiger und brennender in ihm wurde.

Er fand keine Worte, um ihr für das ihm bewiesene Vertrauen zu danken, jedes wäre ihm schal und nichtssagend erschienen. Auch erwartete sie sichtlich nicht, daß er zu ihr reden sollte. Sie hatte ihren Strauß zu ordnen begonnen, stand aber nun auf und sagte: »Lassen Sie uns weitergehen! Es ist seltsam schwül hier in der Schlucht.«

Innocenz nickte zustimmend. »Man könnte an ein Gewitter glauben,« fügte er hinzu.

Sie blickte flüchtig zum Himmel auf, an dem die Wolken, hinter denen die Sonne verschwunden war, hastig hin und wider jagten, als würden sie von einer unsichtbaren Macht rastlos umgetrieben; aber was sie sah, mochte keinen tieferen Eindruck auf sie ausüben, oder andere Gedanken und Vorstellungen mußten den, welchen der Anblick erregte, rasch wieder in ihr verdrängen. Denn sie sagte nichts mehr, sondern schritt langsam weiter bergauf. Man mußte jetzt die Steinmuhren, die sich wie Mauern hier in den Weg gedrängt hatten, überklettern und sich zwischen den Baumstümpfen und über Geröllhalden mühsam einen Pfad suchen, bis man ein unversehrt gebliebenes Stück des Bergforstes erreichte. Eine Weile rasteten die beiden hier, ehe sie den letzten Anstieg bis zum Joche begannen, von dem sich ein Blick auf die Gletscher des Roßkamms hin ihnen eröffnen sollte, um welchen es Donata bei dieser Bergwanderung vor allem zu tun war.

Innocenz waren bei dem Anblick der ungeheuren Verwüstungen, welche die wütenden Bergwasser vor etlichen Jahren mit ihrem Gefolge von Felsabstürzen hier angerichtet hatten, die Berichte des wilden Xaverl in den Sinn gekommen, denen er damals nur eine flüchtige Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Jetzt sprach er zu Donata von den Gefahren, welche in jedem Frühjahr, manchmal auch überdies im Herbst, den Hochgebirgstälern und ihren Ansiedelungen durch die infolge der Schneeschmelze oder anhaltender Regenzeit geschwollenen Wildbäche drohten, und von den mangelnden Vorkehrungen, die man gegen diese sich fast alljährlich mehr oder minder schrecklich erneuernden Angriffe der entfesselten Naturgewalten getroffen hatte.

Die Gräfin hatte ihm mit einem trüben Lächeln zugehört, das ihre Lippen umspielte. »Kann es denn anders sein?« fragte sie jetzt. »Müssen diese Menschen, wenn ihnen immer wieder und wieder gepredigt wird, daß nichts in der Welt ohne Gottes Willen geschieht, und der Lauf der Wildwasser von ihm abhängt, wie das Regnen der Wolken, nicht endlich des Kampfes gegen die blinden Naturkräfte müde werden und tatenlos dem Unabwendbaren zuschauen lernen? Sollen sie sich der himmlischen Schickung zu widersetzen versuchen? Für das, was hier geschehen ist und immer wieder geschehen wird und muß, klagen Sie nicht den Stumpfsinn und die Verblendung der Menschen an, Pater Innocenz, die unter diesen Bergen hausen, sondern einzig und allein die Priester, die ihnen die Lehre gebracht haben, daß man nicht kämpfen, sondern leiden, nicht ringen, sondern beten müsse. Sie verkünden ihnen den Gott, der von außen her das Weltall bewegt, statt des Gottes, der allein in ihrer Brust wohnt – wie können sie von ihnen verlangen, daß sie sich dem Willen dieses gewalttätigen Gottes entgegenstemmen sollen?«

Es war zum ersten Male ein scharfer Klang in ihren Worten, aber keiner der Bitterkeit oder des Hohnes, sondern nur der schmerzvollen Anklage. Innocenz war betroffen. »Gnädige Gräfin!« stieß er verwirrt hervor, »haben Sie keinen Gott?«

»Ich hab' ihn und keine Macht der Welt kann ihn mir je entreißen, diesen Gott in mir. Und eben deshalb sag' ich: man handelt gegen seine Gebote, wenn man diesem Volk hier oben in den Bergen nicht die Notwendigkeit eines steten Kampfes gegen die Natur predigt, in der alles Kampf ist, statt sie zu stumpfen Märtyrern eines erdichteten höchsten Willens zu erziehen! Diesen jahrhundertalten Frevel büßt das Volk Jahr um Jahr, statt daß die Buße jene treffen sollte, die ihn verschuldet haben.«

Innocenz' Brust arbeitete heftig. »Sie sind hart,« sagte er dann düster, während sie ihr erglühendes Antlitz starr auf die Spuren der Verwüstung hinabgerichtet hatte, die jetzt zu ihren Füßen noch deutlicher hervortraten, als da sie mitten darunter geweilt hatten, und den Eindruck eines ungeheuren Trümmerfeldes erweckten, »erst jetzt lassen Sie mich einen Blick tun in die Tiefe der Kluft, die zwischen Ihrer Weltanschauung und der meinigen gähnt!«

Donata wandte ihm langsam ihr Antlitz zu, während sie die Arme über dem Busen verschränkte. »Warum?« fragte sie. »Könnten Sie daran zweifeln, daß in der Natur alles Kampf ist, daß hier immer der Stärkere siegt und der Schwächere unterliegt? Sehen Sie den Falken da oben in der Luft? Er harrt auf seine Beute. Und die kleinen Vögel, auf die er herabstößt, um sie in seinen Fängen zu zerzausen, nähren sich von den Insekten, die hier um Bäume und Pflanzen schwirren. Und doch sind das alles Lebewesen, die sich der Sonne und des Lichtes erfreuen. Und selbst in der leblosen Natur heißt Kampf die Losung. Sehen Sie, wie dort die Zirbe verkrüppelt ist, weil jene anderen ihr Luft und Wärme raubten? Wie hier die Gentianen verkümmern, weil das Farnkraut sie erstickt? Und wenn der Bergbach von den schmelzenden Schneemassen der Firne anschwillt und, zu Tale donnernd, die Felsstücke losreißt, um sie, Verderben bereitend, gegen den Wald zu schleudern, dessen Stämme krachend zerbersten, und über das Mattengrün, das er unter wüstem Geröll begräbt, ist nicht auch das nur ein Ausdruck des ewigen, stetig wechselnden Kampfes, den wir Leben nennen? Weshalb entfremden die Priester Ihrer Religion allein den Menschen diesem Kampfe, statt ihn, wie es ihr heiliges Amt wäre, dafür zu erziehen und zu stählen? Das sollte Gottes Wille sein, träg und stumpf diesem gewaltigen Kriege aller gegen alle zuzusehen? Ich glaube nicht, Pater Innocenz. Mensch sein heißt kämpfen, wie kämpfen das Losungswort alles dessen ist, was lebt!«

Sie sah so schön und stolz aus, wie der Mönch sie noch nie gesehen hatte, als sie das alles mit klarer, fester Stimme sprach, und er konnte sich des durch sein Hirn schießenden Gedankens nicht erwehren, daß sie in ihrer ruhigen Größe jetzt anzusehen sei, wie die Prophetin eines neuen Glaubens, den sie ihm begeistert verkündigte. Und es war ein Glaube, vor dem ihm nicht bangte, und der ihn nicht zu Boden drückte, der zwar keinen Trost enthielt für die Feigen, aber auch nichts Schreckendes für die Starken und Mutigen. Und dennoch wehrte er sich dagegen. »Das ist ein neuer Gott, den Sie da predigen, Gräfin Donata!« sagte er finster.

»Ja,« erwiderte sie einfach, »es ist der Gott der neuen Menschheit, und kommende Geschlechter werden nur ihn noch kennen.«

»Und Sie? Wie haben Sie ihn gefunden?« fragte der Mönch.

»Wer Gott sucht, wird ihn immer finden,« klang es zurück. »Und ich habe gelernt, zu denken, Pater Innocenz. Den Gott, den man davor schützen muß, daß seine gläubigen Anhänger über ihn nachdenken – und tun die Priester das nicht? müssen sie es nicht? – der Gott hat keine Gewalt über starke Seelen und zwingt sie nicht zur Ehrfurcht.«

Innocenz wiegte mit trübem Lächeln seinen Kopf. »Welchen Trost könnte Ihre Religion, diese Religion des allgemeinen Kampfes und der Vernichtung enthalten, Gräfin Donata?« fragte er mitleidigen Tones.

»Den Trost, den die Erfüllung der Pflicht verleiht, Pater Innocenz, wenn weder Lohn noch Strafe in Erwartung stehen; den Trost, der für Menschen, welche von ihrem Gott erfüllt sind, darauf beruht, das Gute einzig um des Guten willen zu tun. Und daß man uns aus diesem Kampfe, der Leben heißt, auf unserem Schilde einst forttragen soll, wie die hellenischen Kämpfer, die unbesiegt gefallen sind – danach ringen wir, das ist alles, was wir wollen, was wir wollen können. Und ich meine: das ist trotz allem ein hohes Ziel, Pater Innocenz!«

Ihre Augen blickten ihn wieder mit ruhiger Klarheit an, und es war ihm, als schösse ein Strahl daraus herüber, der ihm in die Seele schlug und zündete. Aber er schüttelte nur in stummer Abwehr das Haupt, und seine Lippen blieben geschlossen. So gingen sie weiter bergauf.

Schweigend klommen sie über den Wald empor bis zu den mächtigen, aufstrebenden Felszacken, die hier gleich den Eingangspfeilern eines mächtigen Tores in das wilde Reich der Dolomiten ragten. Hier zog das nackte, gelblichgraue Gehänge sich schroff und gewaltig gegen die glänzenden Firnhäupter herauf, vor ihnen, übermächtigen Schutthalden, trat der Roßkammgletscher hervor, und der Felseinschnitt wurde durch einen ungeheuren Riegel gesperrt, der mit glatter Steilwand sich jählings in die Tiefe stürzte. Hier waren sie plötzlich wie in das Innerste dieser schweigenden Felsenwelt versetzt. Schneeschichten lagerten noch hier und da in der Tiefe des Kessels und hatten sich, wo deren Neigung es zuließ, an den Wänden festgeklebt, krönten auch hoch oben als mächtiger Firnrücken die Schneide der Felsjoche. Die ruhige Erhabenheit dieser wilden Szenerie im Verein mit dem Blick auf das jäh zerrissene Gletschermeer drüben, das unter einem dunkel bewölkten Himmel in bläulich-grüner Färbung aufleuchtete, übte einen machtvollen Eindruck auf die beiden Wanderer aus. Innocenz wagte kaum zu atmen. Dennoch wäre er gern noch weiter in dies Reich der Wunder und Geheimnisse vorgedrungen. Aber Donata fühlte sich sonderbar müde. Sie lehnte sich gegen die kahle Steinwand und schloß sekundenlang die Augen, wie um einen Anfall von Schwäche oder Schwindel vorübergehen zu lassen.

Den Mönch durchschauerte sekundenlang der Gedanke, was werden solle, wenn die Gräfin zu matt sei, um den Rückweg aus dieser Wildnis anzutreten. Dann aber wurde seine Aufmerksamkeit plötzlich durch ein seltsames Geräusch abgelenkt. Ein Scharren ließ sich vernehmen, wie wenn ein Stein fortgewälzt würde, und mit einem Male begann sich unmittelbar neben dem Platze, wo Innocenz stand, ein Felsblock, wie von unsichtbaren Händen geschoben, einen Fuß breit weiter vorzubewegen. Der Mönch traute seinen Augen kaum und hätte wohl an eine Täuschung seiner Sinne geglaubt, wenn er nicht gleich danach die Erklärung des Rätsels vor sich gehabt hätte. Der Felsblock hatte den Eingang zu einer natürlichen Höhle, deren Öffnung nun sichtbar wurde, verrammelt gehabt und wurde jetzt von drinnen zurückgeschoben durch einen Menschen, der ins Freie hinausverlangte.

Innocenz trat, als er sich hierüber klargeworden war, rasch herzu, um vielleicht einem Unglücklichen, der sich verstiegen haben mochte, Beistand zu leisten, obgleich er nicht begriff, wie das letztere hatte geschehen können, aber er fuhr gleich darauf betroffen zurück, denn ein Paar wilde, dunkle Augen hatten ihn feindselig angefunkelt, und nun drängte sich auch schon ein Mann durch den schmalen Spalt, der in der Felswand freigeworden war, und stürmte an Innocenz und der Gräfin vorüber talab. Trotzdem er den beiden sein Gesicht kaum sekundenlang zugekehrt hatte – ein finsteres, trotziges, verwildertes Gesicht – und dann, seinen braunen Lodenmantel umgeschlagen, in die Schlucht hinunter gehastet war, hatte Innocenz ihn dennoch erkannt. Kein Zweifel; es war der Windische Sepp, der rechtmäßige Gatte der Sägemüllerin. Da er unter den Menschen drunten auf der Lahn nicht geduldet werden mochte und ihnen als ein Ausgestoßener galt, dessen Rückkehr einen Wortbruch darstellte – vielleicht glaubte er sich nicht einmal seines Lebens sicher in der Nähe seines Todfeindes, des Sägemüllers – hatte er sich in die Berge hinaufgeflüchtet, um hier wie ein Tier der Wildnis verborgen zu hausen und der Frau, die er als sein Weib vor Gott und den Menschen zurückbegehrte, wenigstens nahe zu sein.

Mitten in die dumpfe Niedergeschlagenheit, die sich des Mönchs bemächtigen wollte, klang Donatas Frage hinein: »Kennen Sie diesen Mann, Pater Innocenz?«

Er bejahte beklommen. »Es ist eine Slowene. Josef Gruitsch heißt er und sie nennen ihn den Windischen Sepp. Er ist ein Unglücklicher.«

Donata wollte mehr wissen, und so erzählte er ihr alles, was geschehen war. Sie hörte ihm schweigend zu, während er mit stockendem Atem berichtete, und nur eine Falte trat zwischen den Brauen auf ihrer klaren Stirn hervor. Als er dann geendet hatte, schüttelte sie in fassungslosem Erstaunen den Kopf. »Und Sie wollen wirklich, daß dies Weib zu diesem Manne zurückgehe, Pater Innocenz? Zu diesem Manne?«

»Sie ist sein Weib,« sagte er schroff.

»Und wenn man diese zweite Ehe, die wider bestehendes göttliches und menschliches Recht geschlossen sein mag, immerhin als nicht geschlossen betrachtet, Pater Innocenz, sind die Kinder, die jene Frau ihrem Gatten geboren hat, auch als nicht vorhanden zu betrachten? Da haben Sie einen von jenen furchtbaren Konflikten, in die Ihr Buchstabenglaube, Ihre Dogmenreligion zu dem rein menschlichen Empfinden, zu dem Rechtsbewußtsein in unserer eigenen Brust gerät – geraten muß! Ihre Dogmen sind von Menschen geschaffen, und Menschen können irren; Menschen dürfen nicht allgemein gültige, unverbrüchliche Normen aufstellen, als wären sie Götter. Welchen Wert kann Ihre Lehre vom Sakrament der Ehe haben, wenn die Liebe diese Ehe nicht heiligt? Jene Frau liebt ihren zweiten Gatten, dem sie in Liebe Kinder geboren hat, deshalb ist diese Ehe auch heilig und Gott wohlgefällig, und wehe dem, der mit frevler Hand dahineingreift und sie zerstört! Wer wahrhaft fromm ist, darf und wird es nicht tun, Pater Innocenz!«

»Sie vergessen, Gräfin, daß ich an den Buchstaben des Gesetzes auch dann gebunden wäre, wenn mein eigenes, menschliches Empfinden sich dagegen auflehnte,« versetzte er düster.

»Buchstaben! Buchstaben!« wiederholte sie mit halb spöttischem, halb traurigem Ton, »das ist eben das Verderbliche jeder Konfession und der Ihrigen insbesondere. Der Buchstabe tötet, steht geschrieben, der von Menschen geschaffen worden ist, und nicht nach dem Geiste, den er einengt und beschränkt; solange es noch so tief einschneidende Widersprüche zwischen menschlichem Empfinden und geschriebenem Rechte geben kann wie hier, so lange rede man nicht, daß wir Kinder der Welt uns zu einer Religion bekehren, die unserem innersten Fühlen Hohn spricht und das ungeschriebene, höchste Sittengesetz in uns verletzt!«

»Frau Gräfin!« unterbrach er sie mit einem erschrockenen Ausruf.

»Es ist so,« sagte sie hart, die Arme über dem unruhig wogenden Busen.

»Und dieser Mann,« fiel er nach einer kurzen Pause ein, »der da eben an uns vorüberlief wie ein gehetztes Tier der Bergwildnis, und der gleich einem solchen in Felsenhöhlen seine Zuflucht sucht vor seinesgleichen, dieser Mann, dem die Frau angetraut ist durch das Wort der heiligen Kirche, an das er sich hält, und der nach ihr erneutes Verlangen trägt – welchen Trost würde er von Ihnen erhalten, wenn er jetzt zu Ihnen käme, Frau Gräfin? Sie würden ihm sagen, daß seine Frau jenen andern nun einmal mehr liebe als ihn, und daß er um deswillen verzichten müsse, nicht wahr? Und weil der Himmel ihm zufällig keine Kinder von seiner Frau geschenkt habe, wohl aber jenem andern, müsse die Frau bei dem Vater ihrer Kinder bleiben. Ein schwacher Trost für ihn, Gräfin!«

Donata verneinte mit leidenschaftlichem Eifer. »Sie blicken nicht auf den Grund dieses Konfliktes, Pater Innocenz. Trost? Welchen Trost hätte denn die Kirche diesem Sünder zu spenden? Daß sie ihm in Buchstaben recht gibt und ihm doch das Herz und die Seele seines Weibes nie – durch keinen Zwang, keine Fessel wieder zuführen kann. Wäre das ein Trost? Würde das eine Ehe werden, die dem Sittengesetz entspräche? Und vor allem: hat dieser Mann, dem Sie Ihr Mitleid und Ihren Schutz zuwenden wollen, denn überhaupt Trost zu beanspruchen? Freiwillig hat er seinem Weibe entsagt, hat sie ohne Zwang aufgegeben, hat sie einem andern abgetreten – um schnödes Geld! Und dieser Mann will es heute, da ihn der elende Schacher reut – oder vielleicht auch nur, um neue Summen zu erpressen – wagen, sich auf den Schutz der Kirche zu berufen und die Unterstützung derer zu beanspruchen, die auf Erden über die Befolgung der Moralgesetze zu wachen haben? Ist denn ein Mann, der so Ungeheuerliches, so Widriges, so Abscheuliches getan hat, noch würdig, je wieder seine unreinen Hände nach dem Weibe auszustrecken, das ihm einmal Handelsartikel gewesen ist? Die Kirche hat da einen seltsamen Schützling, Pater Innocenz! Und man ist versucht, zu sagen, daß eine Kirche, die solche Verbrecher beschirmt und für sie eintritt – eintreten muß nach dem Buchstaben ihrer Regeln und Normen, keine gute Kirche sein kann!«

»Frau Gräfin,« rief er wieder erschrocken und sah sie mit fast entsetztem Blick an, »Sie gehen zu weit! Wie es nach der Lehre unserer Kirche keine zweite Ehe geben kann, ehe der Tod die erste löste, so steht auch das weltliche Gesetz auf unserer Seite.«

»Dann ist auch dies Gesetz schlecht,« fiel sie mit klarer Entschiedenheit ein, »und die darunter stehen, sollten nicht eher ruhen, als bis man ein besseres geschaffen und erlassen hat. Jedes Gesetz, das mit dem natürlichen Empfinden und dem uns angeborenen Rechts- und Sittlichkeitsbewußtsein in Widerspruch gerät, ist schlecht. Das heiligt kein Alter, das deckt kein Name. Und Ihr, die Ihr die Macht habt, Ihr seid an erster Stelle dazu berufen, es zu stürzen!«

Er wollte eine heftig abwehrende Antwort geben, aber in diesem Augenblick dröhnte ein dumpfes Rollen über ihren Häuptern hin, und er stieß angstvoll aus: »Was ist das? Das Gewitter zieht herauf! Und wir hier so fern von allem Schutz!«

Donata blickte auf. Der Himmel war von grauschwarzen Wolken dicht umzogen, und hinter dem Gletscher klomm es empor wie eine feuergezackte Wand, die sich langsam höher und höher heraufschob, als drohe sie, sich vernichtend über die Bergwildnis herabzustürzen, gleich einem reißenden Tier. »Der Sturm kommt,« sagte sie, ohne daß ihrer Stimme eine sonderliche Erregung anzumerken gewesen wäre, »lassen Sie uns gehen.«

Wieder krachte ein Donnerschlag und übertäubte fast die Worte des Mönches, der erschreckt ausrief: »Gehen? Jetzt den Heimweg antreten? Aber das ist unmöglich, Gräfin! Lassen Sie uns hier in der Felshöhle jenes Unglücklichen einstweilen Schutz suchen, bis das ärgste vorüber ist. Es hieße ja, geradezu Gott versuchen, wenn wir jetzt uns auf diesen beschwerlichen Wegen –«

»Kommen Sie nur! Kommen Sie!« drängte die Gräfin, »wir erreichen die Plattenhütte noch jenseits des Waldes, ehe es mit ganzer Gewalt losbricht. Und dort könnten wir zur Not sogar nächtigen, wenn es nicht mehr möglich ist, heimzukommen, während hier –«

Ein sausender Windstoß schien ihr die letzten Worte förmlich von den Lippen wegzuschneiden, aber sie gab ihren Entschluß um deswillen nicht auf, sondern hatte schon begonnen, den Abstieg vom Joche anzutreten. Innocenz folgte ihr bestürzt. »Gräfin, welch ein Wagnis! Um Gottes willen, in welche Gefahr begeben Sie sich! Und ich –«

Da wandte sie, die sich bisher an der nackten Felswand mit den Händen hingetastet hatte, um auf dem schmalen, schwindeligen Steige nicht von der Wucht des Sturmes erfaßt und dem Abgrund entgegengerissen zu werden, ihm langsam ihr Antlitz zu, das von einer lächelnden Ruhe fast verklärt war, und mitten in dem eben wieder dröhnenden Donner, mit dessen Getöse sich das fauchende Geheul des Sturmes mischte, der die schaurige Felswildnis jetzt durchfauchte, fragte sie mit einem nahezu mitleidigen Ton: »Fürchten Sie sich, Pater Innocenz? Fürchten Sie für Ihr Leben?«

Sie sah, wie ihm eine rote Welle über das Antlitz flutete. Dann richtete er sich höher auf, schüttelte den Kopf und erwiderte mit kühlem Ton: »Mein Leben steht in Gottes Hand, Frau Gräfin, wie das Ihre. Gehen Sie voran! Ich folge Ihnen.«

Sie gingen. Gräfin Donata klomm an der Felswand entlang den Pfad hinab, ohne sich noch einmal nach dem Mönch umzudrehen, der ihr hart auf den Fersen blieb. Der Sturm schnob winselnd hinter ihnen her, als ob er sich seine Beute nicht entgehen lassen wolle, der Donner rollte über die dunkle Himmelsdecke hin, und nun zerriß auch ein gelbes Blitzgezack das brauende Wolkenmeer. Aber noch fiel kein Tropfen, und obgleich die beiden in dem dauernden Ankämpfen gegen die Gewalt des schauerlich die Felsschlucht durchgellenden Windes nur Schritt vor Schritt weiterdrangen, durften sie doch hoffen, daß Donatas Wunsch in Erfüllung gehen werde und sie noch vor dem Ausbruch des Schlimmsten den Schutz einer unterhalb des Waldes gelegenen Almhütte erreichen könnten.

Nun aber sanken plötzlich graue Nebelflore auf alle Firnhäupter herab, wölbten sich über die Kämme, Gletscherfelder und Schutthalden nieder und verhüllten mit einem Schlage die ragende Bergwelt, als wäre sie versunken oder als hätte der Himmel sich hinabgesenkt, um sie mit ewiger Nacht zu überdecken. Nun wogte und wallte es um die beiden Wandrer her, als steuerten sie pfadlos in einem uferlosen Meere. Einen Augenblick lang mußte Donata innehalten, und selbst ihr schien der Mut jetzt zu sinken. Sie erkannte den Weg nicht mehr, war sich über die Richtung, die sie einschlagen mußten, nicht mehr klar; alles verschwamm vor ihren Augen in einem unentwirrbaren Chaos: drunten die aus dem Nebelgewoge auftauchenden und wieder verschwindenden Nadelkronen, droben bald eine schimmernde Schneemulde, bald ein steiler Grat, bald ein klaffender Abgrund zu ihren Füßen. Jeder Schritt vorwärts konnte sicherer Tod sein, wenn man strauchelte oder abseits des Steiges geraten war, der hart an der Tiefe hinführte. Dazu wurde es dunkler und dunkler um sie her, das unablässig wechselnde Gebraue des Nebels, der bald über ihnen, bald unter ihnen lagerte und sie in tausend Gebilden umwallte, ließ jede Möglichkeit schwinden, ein klares Bild der Felslandschaft in der Seele zu bewahren, und der Sturm heulte in wilden, wütenden Stößen.

Donata lehnte sich gegen ein hartes, festes Etwas, das sie in ihrem Rücken fühlte und das ein Stein sein mochte, den sie mit dem Druck ihres Körpergewichts in der nächsten Minute in die Tiefe drängen konnte, um selber ihm nachzustürzen. Sie war ermattet. »Wir kommen nicht durch,« sagte sie, ohne nach Innocenz zu blicken, »und zurückzugehen ist nun vollends, unmöglich.«

»Beten wir, beten wir, Gräfin Donata,« rief er mit starker Stimme dicht neben ihr.

Sie vernahm es durch das Pfeifen des Windes, der sich hier irgendwo im durchlöcherten Gestein verfing und in grauenhaften Tönen orgelte, und durch das wogende Nebelmeer, das sie umhüllte und einen faden, kalten, widrigen Duft aushauchte. Aber sie schüttelte den Kopf. Und während eines schmetternden Blitzstrahles, der jetzt niederzuckte, rief sie ihm zu: »Beten wäre jetzt Gotteslästerung nach meinem Glauben, Pater Innocenz. Der Gott, zu dem ich bete, kann den urewigen Gesetzen der Natur nicht gebieten. An den Gott, der auf Josuas Gebet die Sonne still stehen ließ, glaube ich nicht. Beten wir, daß er uns stark und mutig bleiben läßt, und empfehlen wir ihm unsere Seelen, falls wir von diesem Gange nicht mehr heimkommen!«

Er erwiderte nichts mehr, aber sie hörte mitten im Sturmgebraus und in den krachenden Donnerschlägen, die sich jetzt rasch folgten, sein eintöniges Gemurmel. Er betete also. Da plötzlich zerriß ein aufheulender Windstoß drunten die auseinanderjagenden Wolkenschleier, die sich in grauen wallenden Fetzen an vorspringenden Felskanten und Baumwipfeln festklebten, und nun war der Weg wieder deutlich zu erkennen, den die beiden zurücklegen mußten, um den Wald zu erreichen, jenseits dessen ihrer Schutz und Rast harrten. Fast gleichzeitig flammte auch ein Blitz auf, und nun gewahrte die Gräfin den Mönch, der neben ihr auf den Knien lag, das Haupt gebeugt, die Hände gefaltet. Ein fast verächtliches Zucken ging um ihre Mundwinkel, als sie rief: »Vorwärts, Pater Innocenz! Der Weg ist frei.«

Und sie hasteten talab. Als sie jedoch den Wald erreicht hatten, mußten sie innewerden, daß die Gefahr sich für sie noch vergrößert hatte. Denn der Sturm heulte mit verdoppelter Gewalt durch die Felsschlucht, aus der er keinen Ausweg zu finden schien, rüttelte mit so wütendem Ungestüm an den alten Zirben, daß er die Stämme ächzend zur Erde bog, die Nadelkronen knickte und dürre Äste abbrach und herabschleuderte wie tödliche Wurfgeschosse. Ein Krachen und Knattern empfing die beiden hier, als wären sie in das Getöse einer Schlacht geraten. Erschrocken wollte Donata zurückweichen, aber schon im nächsten Moment sagte sie sich, daß es kein Zurück für sie gab, daß sie hier durch mußten, wenn eine Rettung für sie sich finden sollte. Und vorwärts ging es.

Um sie her splitterten und barsten die Zweige der Bäume, die Stämme neigten sich zu ihnen herab, sie versperrten ihnen den Durchgang, sie warfen sich ihnen entgegen. Und nun wieder ein grell zuckender Blitz, dessen Schwefelgezack das Düster der Himmelswölbung bersten zu machen schien, dann unmittelbar darauf ein knatternder Donner, der die Erde erbeben ließ und das furchtbare, dröhnende Echo der Felswände weckte – ein sekundenlanges Rollen, Hallen und Poltern, wie wenn alle Mächte der Unterwelt losgelassen wären, und nun flammte plötzlich eine mächtige Zirbe, in deren trockene Krone der Blitz zündend eingeschlagen hatte, auf, kaum zwei Schritte vor den beiden, die wie betäubt von dem krachenden Getöse um sie her ratlos und hilflos stehengeblieben waren; wie eine feurige Schlange lief es nieder durch ihr aufknisterndes Nadelgeäst, in Sekundenschnelle war der ganze Baum in einen lohenden Mantel eingehüllt, und mitten im Gepfeif des Sturmwindes, der mit schürendem Atem unablässig hereinblies, brannte er gleich einer gewaltigen Riesenfackel zum schwarzen Himmel empor. Es war ein schauerlich-schöner Anblick.

Gräfin Donata hatte, davon geblendet, den Arm unwillkürlich über die Augen gedeckt. Ein leiser Schreckensruf war ihren Lippen entflohen. »Der ganze Wald wird in Brand geraten,« setzte sie atemlos hinzu, »wir sind verloren!«

Jetzt war es plötzlich der Mönch, der seine Fassung bewahrte und eine ruhige Besonnenheit zur Schau trug, von der er vorher nichts gewußt und in der sie ihn beschämt hatte. »Wenn Gott will, wird dieser Brand verlöschen, Gräfin,« sprach er mit starker Stimme. »Will er aber, daß wir darin zugrunde gehen, so könnten wir Flügel haben, wir würden ihm doch nicht entrinnen. Kämmen Sie, wir wollen mutig sein.«

Er riß sie fast gewaltsam von dem Baumstamm, an den sie sich kraftlos gelehnt hatte und in dessen Wipfel jetzt schon von der brennenden Zirbe her ein knisternder Funkenregen niederfiel, los und zog die Geblendete mit sich. Die Richtung, die sie eingeschlagen hatten, kannte er nun, und auch die Gräfin hielt sie mechanisch, geschlossenen Auges sich weiter zwischen den Stämmen hintastend, ein.

Aber es war eine schreckensvolle Wanderung. Der Sturm wühlte in den Zirben, daß Zweige und Äste krachend niedersplitterten, die Blitze zischten unablässig um sie her, als wenn wirklich Donar, der Gott der Blitze, hier, wo die ihm geheiligten Alpenrosen gleich einem roten, schimmernden Meer sich dehnten, seinen lodernden Thron aufgeschlagen hätte; sie zündeten bald hier, bald dort in den ragenden Kronen, züngelten durch das Nadelgeäst nieder und ließen brennende Scheite prasselnd herabstürzen. In jeder Sekunde drohte ein neuer Schrecken, mit jeder wurde die Wanderung gefahrvoller. Der schaurig durch die Felsschlucht dahinrollende Donner, den jeder Stein hauend zurückzuwerfen schien, verschlang alle Worte der Mahnung, die Innocenz Donata zurufen wollte, um sie zur Vorsicht zu bewegen. Der unaufhörliche, jähe Wechsel zwischen tiefster Finsternis und grell auflohender Helle machte es ihr unmöglich, die Augen offenzuhalten. Nur instinktmäßig hielt sie ihren linken Arm über ihrem Haupte, wie um sich zu schirmen, während die Rechte tastend nach einem Halt griff. Plötzlich strauchelte sie. Ein glimmender Ast war dicht vor ihr niedergestürzt, sie wankte; Funken sprangen in ihr Kleid hinüber, sie stieß einen Schreckensruf aus, griff mit der Hand nach dem Kleidsaum, um das Feuer noch im Entstehen zu ersticken, faßte aber statt dessen das brennende Holz, versengte ihre Finger und drohte nach einem abermaligen Aufschrei in die Knie zu sinken.

Da stand Innocenz neben ihr. Sein Fuß hatte den glühenden Ast fortgestoßen, mit beiden Händen griff er nach dem Kleid, drückte das Feuer, das schon ein handbreites Loch dareingefressen hatte, aus und schlang dann seinen Arm um die Wankende, die sich willenlos, schreckgelähmt an ihn lehnte. »Vorwärts! Mut, Gräfin, Mut!« raunte er ihr zu.

Und nun drangen sie wiederum weiter vor. Innocenz trug die halb Ohnmächtige fast in seinem sie stützenden Arm, während er mit der Rechten die niederprasselnden Zweige auffing oder machtvoll zur Seite schlug, sich gewaltsam Bahn schaffend durch Feuer und Rauch. Er wußte selbst nicht, woher ihm die Kräfte plötzlich zu einer so übermenschlichen Anstrengung kamen und woher vor allem er die sieghafte Zuversicht nahm, die jetzt in ihm lebte. Aber es war, als wisse er, sie würden durchkommen und er würde die Gräfin heil und gesund durch den brennenden Wald führen, gleich, als habe Gott einen seiner himmlischen Helfer ausgesandt, um diese verirrte Seele für sich zu erretten in Sturm und Feuer.

Noch immer krachten die Donner und züngelten die Blitze, noch immer prasselten die sturmgeknickten und die feuergetroffenen Äste von den Bäumen nieder, noch immer heulte und winselte in langgezogenen Tönen der Wetterwind durch die hallende Felsschlucht. Aber in seinem Arm trug und führte Innocenz die Gräfin weiter, ohne zu ermüden, ohne zu verzagen. Seine Brust keuchte und rang nach Atem bei der ungeheuren Anspannung aller seiner Sinne und aller seiner Kräfte. Doch seine Augen glühten, nicht nur von dem Widerschein des Feuers, das sein Haar versengte und sein Antlitz in flammende Glut tauchte, sondern von dem eines überirdischen Lichtes, das in seiner Seele entzündet war. Das Bewußtsein seiner Überlegenheit dieser Frau gegenüber hob ihn und stählte seine Sehnen. Er fühlte sich zum ersten Male in seinem Leben als Mann einem Weibe gegenüber, als ihr von der Natur bestellter Helfer und Beschützer, nicht bloß durch Wort und Rede, sondern durch die freie, entschlossene Tat. Es durchschauerte ihn mit einem wohligen Empfinden, ja mit einem aufgärenden Triumph, sie so schwach und hilflos zu sehen, sie sich als rettungslos verloren denken zu dürfen ohne seine Arme, die sie durch alle Gefahren dieser grausigen Wanderung so sicher geleiten würden, als ob Engelsflügel ihr untergebreitet wären.

Dort drüben war der Wald zu Ende. Im lohenden Schein der niederzuckenden Blitze gewahrte es Innocenz, und seine schwer atmende Brust hob sich unter erleichternden Atemzügen. Donata aber schien gerade jetzt, kurz vor dem Ziel, zusammenzubrechen. Bleischwer hing sie ihm am Arm. Da hob er sie mit mächtigem Ruck vollends empor, lehnte sie an seine Schulter, ihr Kopf sank an den seinen, und ihre Arme klammerten sich instinktmäßig um seinen Nacken. Das schöne, stolze, trotzige Weib war jetzt wie gebrochen. Er aber glühte von Kraft und Willensstärke. Flammenden Blickes trug er Schritt vor Schritt die herrliche Last durch den brennenden Bergwald bis an den Rand der Alm, der sich jenseits desselben als grünende Oase ausbreitete und Rettung verhieß. Er fühlte das stürmische Klopfen ihres Herzens an dem seinen, es war ihm, als strömten die Wogen ihres Blutes in das seine hinüber. Seine Schläfen zuckten, seine Pulse schlugen fieberisch. Sekundenhastig schossen wirre, wilde, nachtgeborene Gedanken durch sein Hirn. Und wenn er die Augen schlösse, wußte er, würde dieser Taumelrausch Herr über ihn werden, und dann stand er nicht mehr für sich ein, dann war alles verloren. Er aber schloß die Augen nicht, sondern hielt sie weit offen trotz des blendenden Feuerscheins um ihn her und bändigte das wahnsinnige Hämmern seines Herzens. Er hatte dies Weib bezwungen, aber er hatte es bezwungen als Priester, nicht als Mann, und Gott war sein Helfer dabei gewesen.

Sie hatten den Waldsaum erreicht. Keuchend stand der Mönch still. Hinter ihnen wogte ein Feuermeer, das mit flammenden Zungen bis zu der Alm hinüberleckte. Vor ihnen aber hob im lohenden Schein des brennenden Forstes eine Almhütte ihr steinbewehrtes Schindeldach auf. Das mußte die Plattenhütte sein, von der die Gräfin vorher gesprochen hatte. Sie lag in trostloser Felseneinsamkeit so eng von Bergwänden eingehegt, daß die Sonne wohl nur am hohen Sommermittag bis zu ihr vordringen konnte. Ein Gletscherwasser tobte durch die kaltschattige Tiefe, in der sie sich barg.

Innocenz wandte seine Schritte, kaum daß er wieder Atem schöpfen konnte, ihr zu. Sie schien verlassen zu sein, denn kein Lichtschimmer drang aus ihrem Innern, und die graue Bohlentür war von außen verriegelt. Innocenz schob den schweren Holzriegel mit Gewalt zurück und öffnete. Es war hohe Zeit, denn gerade jetzt ging, während die Donnerschläge sich zu entfernen schienen und die Blitze seltener herabschössen, ein prasselnder Gewitterregen nieder, der mit gewaltigem Getöse auf das Schindeldach der Hütte schlug. Innocenz entlastete sich, kaum daß er über die Schwelle getreten war, seiner Bürde. Er ließ die Gräfin sanft auf das Heu niedergleiten, das hier im Vorraum aufgestapelt war, suchte eine bequeme Lage für sie zu schaffen und fragte dann, sich herabbeugend, wie sie sich fühle.

Donata war wieder zu sich gekommen, ihr Atem ging gleichmäßiger, die Müdigkeit, unter der ihre Glieder sich zu lösen begannen, hatte etwas Wohliges für sie. Das Gefühl, gerettet zu sein, durchströmte alle ihre Adern wie ein jählings belebender Feuerwein. Mit der zurückkehrenden Besinnung erkannte sie auch die Lage der Dinge um sie her und war sich klar über das, was geschehen war. Ihr Antlitz brannte, während ein Nervenschauer an ihr rüttelte. Und draußen vor der offengebliebenen Tür stürzte der Wetterregen nieder. Durch ihn, wie durch ein graues Gitter, gewahrte man drüben den brennenden Bergwald, der jetzt in eine einzige, gewaltige Lohe zusammenzuschmelzen schien und gegen den düsteren Himmel emporflammte, der unablässig seine Wasserfluten niedergoß, um die Glut zu löschen. Der Sturm verstummte allmählich, der Donner verrollte; nur noch wie ein klagendes Gewinsel ging es durch die Felsschlucht.

»Mir ist besser,« murmelte Donata, »ich danke Ihnen. Ich weiß, wieviel ich Ihnen zu danken habe; das war eine furchtbare Wanderung. Wer sie gemacht hat, wird sie nicht wieder vergessen.«

Sie schauerte leicht zusammen, wie wenn ein Frost sie durchriesele. Ihre Augen blieben starr hinausgerichtet auf das grausig-schöne Schauspiel, das der brennende Bergwald drüben bot. Ihr Antlitz war von dem bis hierher herüberlohenden Flammenschein grell beleuchtet; es sah aus, als ständen ihre Haare in einem goldenen Feuer, und eine dunkle Glut schien aus ihren Augen zu brechen.

Der Mönch betrachtete sie wie verzückt. Dann plötzlich warf er sich vor ihr auf die Knie nieder, hob die Arme flehend zu ihr empor und rief ausbrechend: »Danken Sie Gott, aber nicht mir, Gräfin, der ich nur ein schwaches Werkzeug seines allmächtigen Willens gewesen bin! Und danken Sie ihm in der rechten Weise! Er hat uns diesen Weg geführt, um uns seine Macht zu zeigen und seine Schrecken, aber auch seine Herrlichkeit. Durch Feuer und durch die Wut des Sturmes hat er uns sicher geleitet, weil seine Engel ihre Fittiche schirmend über uns gebreitet haben. Auf diesem Flammenwege wollte der Allmächtige Sie an das Ziel führen, damit Sie seiner innewürden und sich zu ihm mit jedem Tropfen Ihres Blutes und mit jeder Fiber Ihrer Seele bekennen. Er hat sich Ihnen geoffenbart wie einst Mose im feurigen Busche, damit Sie ihn nicht länger verkennen und nicht länger im Dunkel und in der Nacht irren sollten. Gräfin Donata, hören Sie auf seine gewaltige Stimme! Lassen Sie diese Wanderung ein Symbol sein! Hinter Ihnen die Schrecken der Finsternis und die Gefahren der Hölle, vor Ihnen der lichte Tag und der Friede und die Herrlichkeit Gottes. Gräfin, um dieses Wunders willen, das an Ihnen geschehen ist, und in dem selbst der Blindeste Gottes Fingerzeig erkennen würde, um Ihres Kindes willen, das in unserem heiligen Glauben getauft worden ist und erzogen wird: kehren Sie um, und kommen Sie zu uns herüber, lassen Sie Ihr Ketzertum fahren, und suchen Sie Heil und Frieden da, wo sie allein zu finden sind: im Schoße unserer heiligen Kirche!«

Das alles quoll von seinen Lippen wie ein sprudelnder Bergbach, die Worte kamen ihm sichtlich, ohne daß er nach ihnen suchte, und eine leidenschaftliche Begeisterung hatte sich seiner bemächtigt. Es war die Verzückung eines Schwärmers, die aus seinem stürmischen Verlangen redete wie mit Engelszungen. Dazu sah er in der Nachwirkung dessen, was er eben erlebt, und was ihm wie ein leuchtendes Wunder mitten in der Nacht seiner Zweifel und Nöte erscheinen mußte, woran er sich klammerte, und woraus er von neuem Zuversicht, Sieg und Triumph schöpfte, im Widerschein des brennenden Bergforstes und in der flammenden Erregung des Augenblicks so bezwingend schön aus, daß Donata ein Zittern der Schwäche überrann und eine Blutwelle ihr atemberaubend vom Herzen in die Schläfen emporstieg. Dieser plötzliche, heißatmige Ausbruch nach allem, was sie miteinander gesprochen, dieses stürmische Drängen und diese alles mißachtende Siegeszuversicht, nachdem sie ihm kaum die Kluft enthüllt hatte, die zwischen ihrer beider Weltanschauungen unüberbrückbar klaffte – sie überraschte das alles nicht, sie verstand es, diesen schneidenden Widerspruch zu lösen. Es war der letzte Versuch eines schwächer und schwächer gewordenen Widerstandes, das jähe, wilde, empörte Draufstürmen eines todwunden Kämpfers, der in diesem unerwarteten Überfall all seine Verzweiflung, all seine Voraussicht der unvermeidbaren Niederlage ersticken, sich selber darüber forttäuschen und mit einem Handstreich, durch Überrumpelung des Siegers doch noch in letzter Stunde siegen zu können gedenkt. Und mehr als das: nicht nur über sie wollte er siegen, sondern vor allem über sich selbst, über seine eigenen Zweifel, seine eigene Schwäche, seine eigene Verzagtheit. Dieser gewaltsame Ansturm sollte das alles erdrücken und vernichten. Und war es nicht vielleicht doch etwas anderes als religiöse Schwärmerei, als der Fanatismus des katholischen Priesters, was aus seinen Worten – ihm selber unbewußt – so feurig redete und begehrte? Wollte er nur die verirrte Seele auf den rechten Weg führen, oder trug er nicht auch vielleicht Verlangen danach, eine innigere Gemeinschaft zwischen ihnen beiden um deshalb herzustellen, weil sie auch – sie wußte es ja, hatte es wie oft erfahren müssen – ein schönes, begehrenswertes Weib war? Oder ging gerade ein leidenschaftliches Aufflammen für das Weib unter, sollte untergehen in dem heißen Begehren des Priesters nach dem Siege seines Glaubens über die Zweiflerin?

»Pater Innocenz,« sagte sie, während das alles durch ihre Seele wogte, wie ein Strom, und er immer noch zu ihren Füßen lag, »stehen Sie doch auf! Ich flehe Sie an: stehen Sie auf! Ich könnte jetzt hier Ihnen doch nichts versprechen, was ich bei kühler Besinnung vielleicht nachher nicht halten würde –«

Ihre Stimme klang ihm in zitternder Erregtheit ans Ohr, und es war ein Ton der Angst darin, den sie selber kaum begriff, von dem sie nicht wußte, ob es die Angst des Weibes vor dem Manne war, die ihn ihr entpreßte, oder die des kühl überlegenen Frauengeistes vor der Gewalt der übersinnlichen Schwärmerei, die aus diesem Priester redete und ein Echo in der Brust jedes Weibes weckt, auch des geistesklarsten, des verstandeskühlsten.

»Folgen Sie der Eingebung des Augenblicks, Gräfin!« flüsterte er mit heißer Stimme zu ihr empor. »Folgen Sie ihr! Es ist die des Gottes, der zu Ihnen redet. Im alltäglichen Lauf der Dinge, unter der starken Macht der Gewohnheit überhören Sie sie, Ihr trotziger Geist will sich dann nicht beugen, Sie sehen es vor sich selber, vor Ihrem zersetzenden Verstande als eine Schmach an, sich vor dem zu demütigen, der da drüben mit Flammenzungen zu Ihnen redet. Jetzt, in dieser Stunde, noch ehe jenes Feuer zu Ende geglüht ist, durch das ich Sie getragen, Gräfin Donata, versprechen Sie es, geloben Sie es vor dem Gott, der Sie so gnädig gerettet hat, daß Sie die Unsere werden wollen!«

»Ich verspreche Ihnen, noch einmal mit mir ernst und ehrlich zu Rate zu gehen, ob ich es kann. Verlangen Sie jetzt nicht mehr von mir! Glauben Sie mir: es ist viel, sehr viel. Und glauben Sie mir: ich bin nicht ganz die kalte, verstandesklare Natur, für die Sie mich halten. Es könnte sehr wohl eine Stunde kommen –«

Wie ein Jauchzen brach es ihm vom Munde. Er wollte aufspringen, um ihr die beiden Hände entgegenzustrecken und ihr zuzurufen: »Sie ist ja schon da, diese Stunde, vor der es Ihnen bangt, und die Sie im tiefsten Innern dennoch herbeisehnen, sie ist ja schon da!« Aber nun klangen plötzlich Stimmen vor der Hütte auf, und Innocenz war kaum in die Höhe gefahren, als ein Mann im Rahmen der Tür stand, und eine tiefe, etwas heisere Stimme sprach: »Also wirklich! Das nenn' ich aber einmal ein Glück, gnädigste Gräfin. Küß' die Hand! Und ein' Tragbahr' haben wir auch mitgebracht. Der Regen wird keine Viertelstund' mehr anhalten. Und wenn's der Gnädigen dann beliebt, können wir heim. Die Wege sind jetzt halt grausig zerrissen. Und ein Unwetter ist's gewesen, wie man's selbst bei uns hier heroben nicht oft erlebt. Heilig's Kreuz! Und die Gnädige hat kein' Schaden genommen und ist beizeiten hier hereingeflüchtet? Gott und die Jungfrau seien gepriesen! Die Frau Gräfin-Mutter werden nicht wenig in Sorg' sein. Müssen halt doch schauen, daß wir bald daheim sind!«

Es war der Jäger-Lenzl, der so redete. Er hatte seinen triefenden Filz aus den Haaren gezogen, und ein triumphierendes Leuchten lag auf seinem bärtigen, verwetterten Gesicht. Von dem Mönch, der schweigend zurückgetreten war und seinen Unmut wie seine Enttäuschung mühsam niederkämpfte, nahm er gar keine Notiz, obgleich er ihn auf den ersten Blick erkannt hatte. Seine Augen verschlangen die Gräfin beinahe, die erst allmählich ihre Selbstbeherrschung zurückgewann.

»Die Gräfin schickt Euch, Lenzl?« fragte sie erstaunt und überflog seinen Lodenanzug, aus dem die Nässe in kleinen Rinnsalen zu Boden troff.

»Das nun wohl nicht,« erwiderte er mit halb stolzem, halb verlegenem Ton, »bin halt schon von mir selber suchen gegangen. Als das heidenmäßige Wetter losbrach, und ich die Frau Gräfin draußen wußt', da hab' ich Alarm geschlagen. Der Barthel ist mit und der Thomas. Und wir drei tragen die Gnädige heil hinunter, das hat nicht Not.«

»Laßt die Männer doch hereinkommen!« sagte Donata, »es regnet ja noch immer.«

»Oh, das ist keine Sach'. Das sind wir halt gewohnt. Stehen beide da unterm Dach und trinken einen Enzeler, der gleicht's aus.«

»Ich verstehe nur immer noch nicht, wie Ihr mich finden konntet, Lenzl. Wie wußtet Ihr denn, nach welcher Richtung wir uns gewandt hatten?«

Der Jäger-Lenzl stieß einen kurzen Pfiff zwischen den Zähnen hervor, blinzelte pfiffig mit seinen kleinen, dunklen, dicht überbuschten Augen zu dem Mönch hinüber, der mit fest aufeinandergepreßten Lippen und untergeschlagenen Armen finster im Winkel des dürftigen Raumes lehnte. »Bin halt nicht der Dümmste, gnädigste Gräfin,« entgegnete er dann mit einer Art von Kratzfuß, »hab' meine Augen und meine Ohren am richtigen Fleck, und wer den Gemsen nachspüren gelernt hat, wird auch wohl die Spur von der Gnädigen auffinden, wann's gilt – aber wenn die Gnädige bereit ist, möcht' ich halt doch einmal nach'm Wetter ausschauen.«

»Ich bin bereit,« sagte Donata, sich erhebend. »Nur glaub' ich, ich könnte gehen und brauchte mich nicht tragen zu lassen.«

»Ah, aber davon kann ja gar kein' Red' sein, Gnädigste,« fiel der Jäger-Lenzl ein, »wofür wären denn nachher wir da? Und durch's blanke Wasser muß man stellenweis waten, da hilft nichts. Will nur halt einmal schauen, wie's steht.«

Damit ging er hinaus, und im gleichen Augenblicke stand Innocenz neben der Gräfin. Er hatte seine Lippe so heftig mit den Zähnen genagt, daß sie blutete. »Frau Gräfin,« raunte er mit mühsam verhaltener Erregung, »wissen Sie, daß dieser Mann Ihnen nachspürt, wo Sie gehen und stehen?«

»Der Jäger-Lenzl?« Donata lächelte. »Oh, ja, ja, ich weiß. Er hat eine eifersüchtige Schwärmerei für mich. Ich kann auf ihn zählen. Was ich von dem verlangen würde, das würd' er tun. Der geht durch Wasser und Feuer um meinetwillen.«

Es redete etwas wie ein kokettes Selbstbewußtsein aus ihren Worten. Sie mochte sich weder klar darüber sein, noch es beabsichtigt haben, ihm aber schnitt es mit bitterer Härte durch die Seele, zumal er annehmen mußte, daß sie gerade die letzten Worte mit Vorbedacht gewählt habe, um ihm das, was er für sie getan, in einem minder heroischen und ungewöhnlichen Lichte erscheinen zu lassen, als er es selbst erblicken mochte. »Sie haben sehr gute Freunde,« sagte er hohnvoll.

»Ja,« erwiderte sie, sich höher emporrichtend, und sah ihn herausfordernd an, »es mag nicht leicht sein, in meiner Nähe ungerührt zu weilen.«

Er hatte eine scharfe Entgegnung auf der Zunge, während das Blut ihm hämmernd zum Kopfe drängte, aber er fand keine Zeit mehr, sie auszusprechen. Der Jäger-Lenzl war wieder eingetreten. Er meldete, daß der Gewitterregen aufgehört habe, daß alles bereit sei, und daß man aufbrechen könne, wenn es der gnädigen Gräfin recht sei.

Donata nickte zustimmend, ordnete ihr Haar, ließ sich von dem Jäger-Lenzl die mitgebrachte Lodendecke um die Schultern legen und trat ins Freie. Die zwei Jägerburschen standen draußen mit den Hüten in der Hand an der Tragbahre, die roh aus Fichtenstämmen gezimmert war und zum Transport erlegten Rotwildes dienen mochte. Der Jäger-Lenzl half ihr, einen leidlich bequemen Sitz darauf einzunehmen, schritt neben der langsam von den beiden Trägern in Bewegung gesetzten Bahre her, und so begann man den Heimweg. Um den Mönch kümmerte sich niemand. Der Jäger-Lenzl behandelte ihn mit geflissentlicher Nichtachtung, und der blonde Barthel hatte ihm einen feindseligen Blick zugeworfen. Mit finster gefurchter Stirn schritt Innocenz hinter dem kleinen Zuge drein.

Der Weg war schlecht. Die stürzenden Rinnsale, welche der heftige Gewitterregen gebildet, hatten ihn völlig zerrissen und verschwemmt. Man kam nur langsam vorwärts, und die Männer hatten große Vorsicht anzuwenden, um die Tragbahre ungefährdet über alle Hindernisse des Abstieges, herabgekollerte Steinblöcke, Wasserlachen, querüber liegende entwurzelte Baumstämme und breitklaffende Spalten des Erdreichs fortzubringen. Der Waldbrand mußte droben verlöscht sein, wahrscheinlich erst, nachdem er keine Nahrung mehr gefunden. Nur noch ein matt glimmender Feuerschein deutete die Stelle, wo er gewütet hatte. Innocenz mußte der Alpenrosen gedenken, die sie vor wenigen Stunden zusammen dort gepflückt hatten. Donata hatte sie ihrem kranken Kinde mit heimbringen wollen. Nun waren sie droben auf dem Joche liegen geblieben, als der erste Donnerhall sie beide zu eiliger Flucht gemahnt hatte. Nur noch eine einzige Blüte fand er, die sich in die Tasche seines Gewandes verirrt hatte; die wenigstens mochte sie dem Knaben bei ihrer Heimkehr zwischen die kleinen Finger stecken.

Weiter und weiter ging es talab. Die Männer eilten sich, vor Anbruch der Nacht das Schloß zu erreichen, bald ruhte der eine, bald der andere von ihnen aus und schritt neben der Tragbahre her. Zum Sprechen war keine Zeit, nur über den Weg wurde hier und da ein Wort getauscht.

Dann befahl Donata plötzlich, innezuhalten. »Pater Innocenz!« rief sie, und als der Pater vor sie hintrat, setzte sie hinzu: »Hier geht zur Linken der nächste Weg nach St. Ulrich. Wenn Sie sich nicht getrauen, ihn allein zu finden, soll einer von den Männern Sie begleiten. Ich möchte nicht, daß Sie sich den Umweg über Peutelstein machen. Es war ein harter Tag für Sie – durch meine Schuld, und Sie werden todmüde sein.«

»Ich finde den Weg allein,« erwiderte er kalt, »ich danke Ihnen, gnädige Gräfin.« Während er es sagte, mußte er denken, was er während dieses ganzen Heimwegs unablässig gedacht hatte: »Und so soll dieser Tag enden!« Ein heißer Unmut wallte in ihm auf.

Es schien, als ob sie seine Gedanken erriete. »Nein, Pater Innocenz,« sagte sie warm und sah ihm fest in die Augen, »so wollen wir uns heute nicht trennen. Was ich Ihnen vorher da oben in der Almhütte versprochen habe, das halt' ich, – treu und ehrlich. Leben Sie wohl!«

Sie bot ihm die Hand, die er zögernd ergriff. Dann reichte er ihr die Alpenrose, die er vorher gefunden. »Es ist die letzte und einzige,« sagte er. »Bringen Sie sie Ronald. Gute Nacht, Frau Gräfin!«

»Auf Wiedersehen!«

Sie winkte ihm noch einmal mit der Hand. Gerade in dem Augenblick, als der kleine Zug sich wieder in Bewegung setzte, fiel weiter droben ein Schuß. Er dröhnte schauerlich durch die Stille des trüb hereingedämmerten Abends und hallte rollend von den Felswänden zurück. Obgleich der Knall eines Büchsenschusses in diesen Bergen nichts Auffallendes war, gewahrte Innocenz doch, daß die Männer neben der Tragbahre verwundert aufgehorcht hatten. Dann aber hörte er den Jäger-Lenzl im Weitergehen noch auf eine Frage Donatas erwidern: »Wird einer von den gottverdammten Wilderern sein, Gnädige, die sich das Unwetter zunutze gemacht haben, weil sie keinen von uns draußen vermuten. Hat sich wahrscheinlich von der welschen Seite herübergepirscht. Möcht' ihm das Blei selber in die Gurgel gefahren sein!«

Dann war der Zug um die Bergecke verschwunden und Innocenz setzte einsam seinen Heimweg fort. Sein Blut wogte noch immer, und ein Feuer brannte in seinem Kopfe. Dazu hatte sich jetzt eine lähmende Ermüdung seiner bemächtigt, so daß er nur mechanisch seine Füße weiterbewegte, und ihn ein paarmal eine dumpfe Furcht anwandelte, er könne das Dorf überhaupt nicht mehr erreichen. Dann wieder schoß es ihm durch das Hirn, düster und todestraurig, daß im Grunde das ja auch das beste für ihn sein würde, hier in der nächtlichen Bergwildnis zusammenzubrechen, wie ein tödlich verwundetes Wild, und einsam seinen letzten Atemzug zu verröcheln. Was blieb ihm sonst? Sollt' er einer von jenen abtrünnigen Priestern werden, die, den Menschen ein Stein des Anstoßes und eine Mahnung ewiger Schmach, ausgestoßen und gemieden von Freund und Feind, weil keiner mehr ihnen traute, auf Erden einherwandeln mußten, das nagende Bewußtsein ihres Wortbruches in der Seele? Oder gab es noch eine Umkehr für ihn? Wenn es ihm wirklich gelang, diese Frau zu seiner Religion zu bekehren, sie der Kirche zuzuführen, sie, die in heißem Ringen sich gemüht hatte, den, der sich dessen vermaß, selber seinem Glauben zu entfremden und ihm einen neuen Gott zu predigen, – dann gab es eine, könnt' es eine geben. Aber auch nur dann. Und das wollt' er zum Zeichen nehmen. Offenbarte sich ihm sein Gott durch solch ein Wunder, so durfte er auf seine Knie niedersinken, Gottes Allmacht preisen, Buße tun mit zerknirschtem Herzen und fortan all seiner Zweifel ledig und seines rechten Glaubens gewiß sein bis an das Ende seiner Tage. Das war ein Prüfstein, das war die Erlösung! Und Stunde um Stunde wollte er zu Gott beten, zu seinem Gott, zu dem Gott der Bibel und der Kirchenväter, zu dem Gott seines bisherigen Lebens, daß er dies Wunder vollbringen möge.

Bei solchen Gedanken kam der Mönch wieder in eine freudigere und friedvollere Stimmung. Neue Hoffnung stieg in ihm auf, neuer Lebensmut durchströmte ihn. Der Gott, zu dem er gebetet hatte bis zu diesem Tage, lebte ja noch. Er hatte heute in Flammenzungen zu ihm gesprochen, und er würde die verirrte Seele, die sich des rechten Weges zu ihm nicht mehr bewußt war, in barmherziger Vatergüte aufs neue geleiten bis ans leuchtende Ziel.

Kräftiger schritt Innocenz aus. Sein Blut begann zu ebben, wie ein zukunftsheller Schimmer, wie der Abglanz einer seligen Zuversicht lag es in seinen Augen. Und dann mußte er plötzlich Filomenas gedenken. In ihrer Nähe waren ihm immer nur lichte Gedanken gekommen, war ihm immer nur friedsam zu Sinne geworden. Das Zusammensein mit Donata bedeutete für ihn Kampf und Versuchung. Warum war das so?

Innocenz wurde aus seinem Grübeln plötzlich durch ein seltsames Geräusch in seiner Nähe aufgeschreckt. Es hörte sich an, als bräche ein wildes Tier in tollem Lauf durch das Dickicht der Talenge, die er eben durchschritt, und er erwartete stehenbleibend, daß im nächsten Augenblicke ein auf der Flucht begriffener Hirsch an ihm vorübersetzen werde. Statt dessen war es ein Mensch, der jetzt aus dem verkrüppelten Nadelgestrüpp der Schlucht in aller Hast hervorbrach und hart an dem Mönch vorüber in raschem Lauf den Weg verfolgte, der in wenigen Minuten bis zum Dorfe führen mußte.

Er hatte Innocenz vermutlich nicht gesehen, da er nur auf sein rasches Weiterkommen bedacht war, dieser aber glaubte trotz der Flüchtigkeit, mit welcher die Erscheinung vor ihm aufgetaucht und wieder verschwunden war, den Mann erkannt zu haben. Es mußte der Großknecht in der Sägemühle, Abraham Hirzer, gewesen sein. Was hatte den zu so wilder Hast veranlaßt, die mit seinem sonstigen, bedächtigen Wesen in schroffem Widerspruche stand? Innocenz meinte jetzt auch, eine Büchse über der Schulter des Flüchtlings gesehen zu haben. Und nun fiel ihm unwillkürlich der Schuß wieder ein, der vorher oben im Gebirg gefallen war. War er aus der Büchse des Hamerl gekommen? Ging der fromme Großknecht aus der Sägemühle auch zu Zeiten wildern, wie die anderen? Und war ihm jetzt einer von den Förstern auf den Fersen gewesen?

Nicht lange mehr hing der Mönch diesen Gedanken nach. Er hatte das Dorf erreicht und schritt nun rasch dem Pfarrhause zu, um sich todmüde in seiner Kammer auf sein Lager zu werfen.


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