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Die Knabenleiche im Stadtgraben

(1842)

Um das alte Wien zog sich der Stadtgraben hin. Er legte sich wie ein schützender Gürtel um die Basteien, jene Bollwerke, welche in verschiedenen Zwischenräumen, in der Zeit von der ersten Türkenbelagerung (1529) bis zur zweiten (1683) aufgeführt worden waren. Die Basteien spielten nicht nur in den folgenden Kriegszeiten eine Rolle, sondern gaben den Geschichtsschreibern unserer Vaterstadt auch in kriminal- und kulturhistorischer Hinsicht wiederholt Gelegenheit, über sie zu sprechen. Sie bildeten für die Wiener eine wunderschöne Promenade, und wenn es auch im und hinter dem Stadtgraben oft nicht geheuer zuging, so ließ man sich doch nicht das unvergleichliche Vergnügen entgehen, auf diesen stolzen Wällen, die eine köstliche Rundsicht boten, bis spät in die Nacht zu lustwandeln.

Die berühmteste der Basteien war die im Jahre 1632 begonnene und 1656 vollendete, nach dem kaiserlichen Generalmajor, Hofkriegsratspräsidenten, Regimentsinhaber, Obersten der »Stadtguardi« und Stadtkommandanten von Wien, Johann Christof Freiherr von Löbl, benannte »Löwelbastei« (richtiger: Löbelbastei). Freiherr von Löbl besaß in der Nähe (neben dem Hause Nr. 21 in der Herrengasse) ein Haus, in welchem er auch am 15. Juli 1638, 50 Jahre alt, starb. Diese Befestigung bestand, sowie die anderen, anfangs nur aus Erde, um Anno 1656 mit einer Steinmauer verkleidet zu werden. Im zweiten Türkenkriege bildete sie und die Burgbastei den Zielpunkt der heftigsten feindlichen Angriffe. Die Türken führten schon in der ersten Nacht (zum 14. Juli 1683) die Laufgräben vom »Kroatendörfel« (nachmals: Spittelberg, heutiger 7. Gemeindebezirk Neubau) und von »oberhalb des Rodenhof es« (heutiger Gemeindebezirk: Josefstadt) gegen sie. Der Grund hiefür lag einerseits darin, daß die beiden Wälle das Herz der belagerten Stadt, die kaiserliche Burg schützten, anderseits aber auch in dem Umstände, daß die zwischen beiden Basteien liegende »Courtine«, der weniger gedeckte Zwischenwall, durch sein weiches Erdreich einen zur Anlegung von Schanzgräben sehr geeigneten Platz darbot. Auch konnte der türkische Oberbefehlshaber, Großvezier Kara Mustapha, von seinem auf einer Anhöhe bei St. Ulrich Vgl. unsere Geschichte »Bei der ›Goldenen Schlange‹«. (Teil des heutigen Gemeindebezirkes Neubau) errichteten Zelte aus die Bewegungen der beiderseitigen Streitkräfte auf dieser Strecke leicht übersehen. Die Wiener Bürger wußten aber die Burg- und Löwelbastei so tapfer zu halten, daß ihr der Großvezier den Namen »Zauberhaufen« beilegte. Viele Heldenkämpfer fanden hier den Tod für das Vaterland. So der frühere Bäckermeister und Soldat, Hauptmann Loth, welcher während des Sturmangriffes vom 16. August, nachdem er einem hünenhaften Janitscharen, der den Wall erklommen und den Halbmond aufgepflanzt hatte, den Kopf gespaltet, von einer feindlichen Kugel mitten durch das Heiz getroffen wurde. Die Stadtgeschichte nennt noch eine ganze Reihe von solchen tapferen Bürgern, deren Mut es zu verdanken war, daß die Türken nach sechzigtägiger Belagerung nichts anderes als die Verwandlung der Löwel- und Burgbastei in einen Schutthaufen erreicht hatten. Am 3. September mußten die Verteidiger allerdings den »Zauberhaufen« verlassen, um Kara Mustapha durch Parlamentieren solange hinzuhalten, bis das Entsatzheer angerückt war; damit gaben sie den Feinden die Stadt aber keineswegs preis. Sie bildeten vielmehr aus demolierten Dachstühlen, Möbeln und anderen Dingen Barrikaden, sperrten die Gassen durch Ketten, alte Eisengitter und große Steine ab und machten dadurch ein Eindringen weiter unmöglich. Als dann das Entsatzheer vom Stephansturme gesichtet wurde, stiegen nicht nur von diesem Freudenkugeln und Raketen empor, sondern auch von der Löwelbastei, die den herrlichsten Anblick auf den Kahlenberg bot.

Fig. 26. Paradeisgarten auf der Löwelbastei. Volksgarten.

Nach dem Kriege wurde die Löwelbastei wieder als Festungswerk hergestellt, im Jahre 1700 sehen wir auf ihr eine kaiserliche Schießstätte, die im Jahre 1741 verschwand, da sie für die weitere Stärkung der Wiener Befestigungen, gleich anderen Häuschen und Gärten, ein Hindernis bildete. Damals drohte ein schon am Riederberg stehendes bayrisch-französisches Heer mit dem Anzüge und war dem Grafen Khevenhüller die verantwortungsvolle Aufgabe zugefallen, die Residenz zu verteidigen. Auf dem freigewordenen Teile wurde in den Jahren 1755 bis 1760 an Stelle der Schießstätte ein kaiserlicher Lustgarten geschaffen, der den schon seit 1542 gebräuchlichen Namen »Paradiesgarten« erhielt. Kaiser Franz I., ein bedeutender Kenner und Schätzer der Gartenkunst, überwachte die vom damaligen Hofgärtner Steckhofen besorgte Anlage. Über dieses Gärtchen haben wir schon in der Erzählung »Der Verdächtige vom Paradeisgartel« gesprochen und dort auch ausgeführt, wie am Platze der kaiserlichen Villa später ein Kaffeehaus entstand, wie sich die »Ochsenmühle« allmählich zu einem erstklassigen Unterhaltungs- und Modeort Wiens herausbildete, und wie sie dann wieder verschwand. Im Jahre 1809 wurde sie nämlich mit den dortigen Festungswerken auf Befehl Napoleons in die Luft gesprengt. 1811 begann die Wiederherstellung, gleichzeitig mit der Eröffnung des Franzenstores. 1820 kassierte man das »Paradiesgärtchen«, errichtete dafür eine neue Anlage auf der Löwelbastei und überließ das Hofgebäude dem Italiener Corti zur Errichtung eines Kaffeehauses. Von dort aus zog sich der Korso nordostwärts gegen die Mölkerbastei (Fig. 27). Während aber die ständigen Figuren, der Graf Dzirzanowski, genannt »Basteikönig«; der Fürst Putiatin, genannt »Kanonenstiefel« (wegen seiner blechernen, hohen Stiefel, die er gegen bissige Hunde trug); der rundliche »Hundsdoktor« Bohrer mit seinem vieltaschigen Rocke, der unzähligen kleinen Kläffern Platz bot; der polnische Ex-König Stanislaw Poniatowski, genannt »Stanitzelmann«, weil er an die Straßenjugend immer Zuckerwerk verteilte; der »Baron Puh«, in Wirklichkeit Burkhart, ein nervöser Mann, welchen die schlimmen Buben mit der Nachahmung von Schüssen in Schrecken zu versetzen beliebten, und zahlreiche andere, hübsch im belebtesten Teile blieben, sah man die Liebespärchen und andere lichtscheue Menschen mehr gegen die ruhigere Löwel- und Mölkerbastei wandeln, weshalb sich dort naturgemäß häufiger strafbare Handlungen abspielten.

Die Mölkerbastei war in der Wiener Blutgeschichte zweimal der Schauplatz besonders scheußlicher Verbrechen. Eines der beiden sei hier besprochen.

Da fand nämlich am 14. Jänner 1842 ein Finanzwächter im Stadtgraben, unterhalb der Mölker- und Löwelbastei, einen sterbenden Knaben. Der Kopf desselben wies schreckliche Verletzungen auf und es unterlag keinem Zweifel, daß das Kind von oben herabgestürzt war. Man brachte es schon tot ins Spital. Die Leiche wurde behördlich besichtigt, allein mit der Feststellung der Persönlichkeit des Verunglückten hatte es seine Schwierigkeiten. Erst am Morgen gelang es, Namen und Adresse zu erfahren, da sich die Mutter des Knaben stundenlang geängstigt hatte, ohne eine Anzeige bei der Polizei zu erstatten. Dort erteilte man ihr einen derben Rüffel, nicht nur, weil sie die Abgängigkeit so spät zur behördlichen Kenntnis bringe, sondern auch wegen der mangelhaften Beaufsichtigung des Kindes, welches offenbar im Übermute über die Mauer geklettert und abgestürzt sei. Die jammernde Mutter widersprach dieser Annahme jedoch mit der Bemerkung, daß ihr Sohn vor allem nicht allein, sondern mit seinem Onkel, dem Malergehilfen Karl Feid ausgegangen sei, und daß er sicherlich nicht aus Übermut abgestürzt wäre. Der Kommissär erwiderte unwillig, daß eine andere Vermutung doch geradezu bei den Haaren herbeigezogen werden müßte. Trotzdem ließ die Mutter nicht locker. »Da steckt was dahinter,« weinte sie unausgesetzt, »der Mantel von meinem Kinde ist ja auch verschwunden, und der Karl ist auch nicht mehr nach Haus' gekommen …«

Seitens der Polizeiorgane wurde dem Verschwinden des Mantels kein Gewicht beigelegt. Im Stadtgraben tummelten sich genug menschliche Hyänen herum, vor denen nicht einmal das Gut eines Toten sicher war. Daß Karl Feid aber nicht zurückgekehrt war, erklärte man sich folgendermaßen: Er sei wahrscheinlich Zeuge des Unfalles gewesen und wage es nunmehr nicht, unter die Augen der Mutter seines Neffen zu treten. Diese schüttelte den Kopf und meinte, der Karl sei ein Lump, da müsse etwas Besonderes vorliegen.

Infolgedessen mußte sich die Polizei mit Karl Feid näher beschäftigen. Dieser war im Jahre 1816, am 12. Jänner, in Wien geboren und seines Zeichens Zimmermaler. Sein Leumund lautete sehr ungünstig. In einer »Relation« lesen wir: »… hat sowohl während des Schulbesuches wegen Mangels an Fleiß als auch bey der Mahlerei wegen seiner Nachlässigkeit und Trägheit so schlechte Fortschritte gemacht, daß er hierdurch seinen Lebensunterhalt zu verdienen außer Stande war, und nach dem Ableben seiner Altern von seiner nächsten Verwandten unterstützt und erhalten werden mußte …« Auch zur kritischen Zeit stand er postenlos da, und vermochte man bei näherem Zusehen nicht zu begreifen, weshalb er den Knaben zu einem Abendspaziergange eingeladen hatte, zumal er ihn vorher niemals mitnahm. Am auffällligsten schien aber das Verschwinden des Zimmermalers. Wenn man sich dasselbe auch harmlos erklären konnte, so war nach allen den Umständen immer weniger der Verdacht abzuweisen, daß Feid an dem Tode des Neffen irgendwie schuld sei. Das Rätsel bildete bloß die Frage des Beweggrundes. Feid lebte mit den Verwandten des Kindes nicht in Feindschaft, er hatte also gar keine Veranlassung, einen Racheakt auszuüben. Daß er jedoch wegen eines Mantels einen Mord begangen haben sollte, dagegen sträubte sich der gesunde Menschenverstand.

Fig. 27. Mölkerbastei. St. Johannes. Franzensbastei. (Mit der Franzensbastei parallel lief die Teinfaltstraße.)

Da traf ein anonymes Schreiben bei der Polizeibehörde ein, welches mit einem Male Licht in die Sache brachte. »Von Gewissensqualen gemartert, schreibe ich diesen Brief«, sagt der Verfasser desselben. »Die Gerüchte, welche in Wien über den Tod des Knaben im Stadtgraben kursieren, sind leider nur zu sehr begründet. So wenigstens ist es meine Überzeugung. Ich hatte leider das Anbot eines Unbekannten angenommen. Sie wissen sicherlich, welche Verworfenen die Löwel- und Mölkerbastei des Abends bevölkern. Der Knabe fürchtete sich aber vor mir und lief zu jenem Unbekannten, mit dem er erschienen, zurück. Aus Angst, in eine unangenehme Situation zu geraten, entfernte ich mich rasch gegen die Burg. Ich hörte nur noch hinter mir heftig schimpfen, dann einen Schrei und endlich einen dumpfen Fall. Als ich von der Auffindung des Leichnams hörte, wußte ich sofort, daß es sich um diesen Knaben handle, an dessen Tode ich nun, ohne es, bei Gott, zu wollen, mitschuldig geworden bin. Suchen Sie mich nicht, denn ich verlasse gleichzeitig die schöne Kaiserstadt, um mich weit in die Welt zu schlagen und das Schreckliche zu vergessen. Möge der Himmel Ihnen zur Ergreifung des gesuchten Unholdes helfen …«

Jetzt wurden ausgedehnte Streifungen nach Karl Feid veranstaltet. Fünf Tage nach der Auffindung des Leichnams wurde er wirklich ergriffen und dem Wiener städtischen Kriminalgerichte eingeliefert. Aus den erhaltenen Aktenbruchstücken desselben führen wir das Ergebnis der Untersuchung mit den Originalworten an: »Bey dem Hange zum Müßiggange und Trunke war diese Unterstützung (durch die Anverwandte) zur Befriedigung seiner selbst geschaffenen Bedürfnisse unzulänglich. Er bestahl daher im Jahre 1836 seinen einzigen Wohltäter um einen namhaften Betrag, und gelang es ihm, durch falsche, sogar mit einem Eide bestätigte, gerichtliche Aussage den Verdacht von sich abzuwenden, und bis zu seiner gegenwärtigen Verhaftung unentdeckt zu bleiben, während welcher Zeit durch die eingetretene Verjährung seine Strafbarkeit erloschen ist.

Im Jahre 1840 geriet er wegen eines zur Nachtszeit verübten Diebstahls als schwerer Polizeyübertretung in Untersuchung und Strafe, welche jedoch seine Besserung nicht bewirkte, denn sowohl er die nötige Unterstützung fortan genoß, ließ er sich bey seinem Müßiggange und Hange zum Wohlleben, um Geld zu erhalten, dahin verleiten, einem bisher unentdeckt gebliebenen Manne einen Knaben zur Unzucht zuzuführen.

Zur Erreichung dieser schändlichen Absicht wählte er seinen eigenen achtjährigen Neffen, lockte denselben an sich, führte ihn auf Umwegen am 14. Jänner d. J. (1842) Abends auf die Mölkerbastei, wo er ihn jenem Manne überließ.

Da jedoch der Knabe sich der ihm zugemuteten Unzucht hinzugeben weigerte, vielmehr dem in der Nähe wartenden Carl Feid zulief, ihm drohte, dieses Alles seinem Vater zu entdecken, und sich durch das Zureden des Carl Feid nicht beruhigen ließ, so faßte Letzterer den Entschluß, den Knaben, um die Entdeckung der Tat zu verhindern, um das Leben zu bringen, und in den Stadtgraben zu werfen.

Diesen Entschluß führte er auch auf der Stelle aus, indem er den Knaben, ohne daß dieser etwas solches ahnen konnte, ergriff, und über die 9 Klafter und 4 Schuh hohe Mauer in den Stadtgraben hinabstürzte.

Den zurückgebliebenen Mantel des Knaben eignete sich Carl Feid zu, veräußerte denselben am folgenden Tage und brachte das gelöste Geld in der nächsten Nacht im Wirtshause durch.

Den thätigen Bemühungen der Polizeybehörde gelang es schon am 19. Jänner darauf, rechtliche Inzichten dieses Verbrechens gegen den Carl Feid zu entdecken und sich seyner Person zu versichern.

Vor dem Criminal-Gerichte legte Carl Feid ein mit den gerichtlichen Erhebungen vollkommen übereinstimmendes Geständnis ab.

Bey der vorschriftsmäßig veranlaßten Sektion des noch am 14. Jänner, Abends, im Stadtgraben aufgefundenen, und bald nach seiner Überbringung in das k. k. Krankenhaus (Anm.: Das heutige Allgemeine Krankenhaus) verstorbenen Knaben wurde von den Gerichtsärzten befunden, daß derselbe durch einen Sturz von bedeutender Höhe eine absolut tödtliche Verletzung am Kopf durch zwey Knochenrisse auf der Schädelbasis mit Extravasat dieser Verletzung gestorben sey.«

Der Prozeß, welcher mit einem Todesurteil endete, wurde Anfang September 1842 durch die endgiltige Bestätigung des letzteren abgeschlossen.

Am 15. September führte man den 26 jährigen Karl Feid zur Richtstätte hinaus, wo seine Justifizierung stattfand. Die Hinrichtung wurde in ganz Wien mit Genugtuung begrüßt.

Fig. 28. Mölkerbastei mir Lubomirsky-Palais.


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