Hermann Sudermann
Der Katzensteg
Hermann Sudermann

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19

Als die Schrandener den »Schwarzen Adler« verlassen hatten, zerstreuten sie sich eilends nach ihren Wohnungen, um sich, so gut sie konnten, zu bewaffnen.

Die Hälfte kam nicht wieder zum Vorschein.

Die andern – etwa zwanzig an der Zahl – schlugen hinter dem lahmen Tischler her den Weg um die Schloßinsel herum zum Katzenstege ein. – Da sie sich erst unter den Gebüschen des Flußufers wieder vereinigt hatten, so waren sie unbemerkt und ohne Gefolge geblieben. – – –

Schweigend, mit erhobenen Hacken, schlichen sie durch das feuchte Gras, nur der alte Säufer konnte das Schwatzen und Murmeln nicht lassen. Er führte eifrige Gespräche mit seiner Flinte wie mit einem lebenden Wesen, schüttelte und ermahnte sie, daß sie ihm ihren guten Dienst nicht versage. Von Zeit zu Zeit legte er den Kolben zielend an seine Wange, und wenn er gewahrte, daß seine Finger tanzten oder daß Fledermäuse und Flämmchen am Visier vorüberschwirrten, tat er eilends einen langen Zug aus seiner Flasche. – –

Als die Schrandener den Katzensteg erreicht hatten, der schwarz mit leuchtenden Kanten den Fluß überbrückte, verteilten sie sich zu seinen beiden Seiten und glitten so geräuschlos, wie ihr halbtrunkener Zustand es erlaubte, am Abhange hinunter, um das Erlengezweig als Hinterhalt zu benutzen. Die, welche Schießgewehre besaßen, der alte Tischler voran, faßten unten am Rande der schmalen Sandbank Posto, um ihn mit der Kugel vom Katzenstege herunterzuholen, falls es ihm gelänge, denen zu entwischen, die ihn mit Sensen, Piken und Dreschflegeln am Fuße der Stiege anzufallen gedachten.

Wohl fünf Minuten lang erscholl kaum ein Laut. Nur wenn einer die kreisende Schnapsflasche nicht mit den Händen erreichen konnte, gab es im Unterholze ein leises Rascheln und Knacken.

Auch auf der Insel war alles totenstill.

Da gewahrte der Tischler, dessen Auge der Branntwein noch einmal geschärft hatte und der lauernd wie auf dem Anstand saß, daß drüben aus dem Buschwerk sich eine dunkle Gestalt loslöste, die dort gekauert haben mußte, und langsam und lautlos auf den Katzensteg zuschritt.

Als sie aus dem Schatten in das Bereich des Mondlichts trat, erkannte er seine Tochter. – Offenbar hatte sie die Mörder bemerkt und ging nun aus, den Freiherrn zu warnen. – Die Wut des Jägers, der seine sichere Beute sich entschlüpfen sieht, umnebelte vollends sein wirres Hirn.

»Wirste zurück, du Aas!« schrie er.

Sie duckte sich und glitt weiter, das Geländer des Stegs erfassend.

»Zurück – oder ich schieß'!«

Sie wollte sich mit einem gewaltigen Sprunge vorwärtsschnellen – da knallte ein Schuß – lautlos sank sie gegen das Geländer – das brach entzwei. – Und von der Höhe des Katzensteges fiel der Leib als eine dunkle, leblose Masse in den Fluß hinab. – Leuchtend spritzte das Wasser empor – die Steine auf dem flachen Grunde knirschten und rollten.

Dann wurde der Leichnam langsam von den Wellen aufgehoben und schwankte und drehte sich, bis das Antlitz emportauchte und von dem Monde grell beschienen ward.

Eine tiefe Stille herrschte am Ufer. Regungslos, mit angehaltenem Atem starrte ein jeder auf das tote Angesicht hernieder, das mit seinen starren, weit geöffneten Augen zu drohen und zu warnen schien. – Ein Wurzelknorren, der vom Ufer her in den Fluß hineinragte, hatte einen Zipfel des Rockes ergriffen und hielt den Leichnam fest, daß er nicht stromabwärts getrieben werden konnte. Nur leise und vorsichtig, als ob sie mit ihm spielen wollte, schob die Strömung den Körper hin und her, so daß dem Anblick des emporgewandten Hauptes keiner, wo er auch versteckt war, entrinnen konnte.

Wohl zehn Minuten lang währte das Schweigen, da brach aufs neue ein Rascheln und Knacken durch das Gehölz, und scheu, mit geduckten Schultern, das fleischgewordene böse Gewissen, schlich einer der Schrandener von hinnen.

Ein zweiter folgte, ein dritter, ein vierter – und eilends leerte sich die Unglücksstätte.

Der alte Tischler, der mit leerem Blick schwatzend und grollend auf seine Tochter herniedergestiert hatte, sah sich um und fand sich allein.

Da stieß er drei heisere Schreie aus: »Feuer, Feuer, Feuer!« schleuderte sein Gewehr nach dem Leichnam, so daß es platschend im Flusse versank, und rannte taumelnd hinter den andern her.

Nichts regte sich fürder am Katzensteg. – – Boleslavs Weg war frei. – – – – –

Geraume Zeit dauerte es, bis er zu fassen vermochte, was er sah. Ganz betäubt starrte er bald die Leiche, bald das zerbrochene Geländer an.

»Du hättest es schon lange erneuern sollen«, dachte er und spielte stumpfsinnig mit den Splittern.

Dann, wie aus einem Traum erwachend, stieg er ans Ufer zurück und den Abhang hinunter. – Da gewahrte er niedergebrochene Äste und frisch aufgestampftes Erdreich, und ein unbestimmter Verdacht zuckte durch seine Gedanken. Doch er verschwand, vertrieben von der Hoffnung, daß es noch Zeit sei, sie ins Leben zurückzurufen.

Auf dem Knorren kroch er rittlings in die Nähe des Körpers und zog ihn mit der Säbelscheide ans Ufer . . .

Auf dem blinkenden Sande lag sie nun da, und das Wasser rann in hundert kleinen Bächen von ihr ab. Mit der Säbelklinge schnitt er die nasse Jacke von ihrem Leibe; da gewahrte er Blut, welches das Hemd gerötet hatte – und als er auch das herunterriß, sah er unter ihrer linken Brust einen Feinen, glänzenden Quell sich ergießen.

Da wußte er, was jener Schuß bedeutet hatte. – – Und als die erste wilde Begier nach Rache, die ihm zuschrie: »Geh und steck ihre Häuser in Brand und schlage sie nieder, bis sie dich selber erschlagen!« – als diese erste Begier ihr Wüten zu sänftigen begann, da sank er an der Leiche nieder und brach in krampfhaftes Weinen ans. Lange lag er so, dann erhob er sich langsam, lud sie auf seine Schultern und trug sie zwischen den Spuren ihrer Mörder den Abhang hinan, über den Katzensteg nach der Insel. Sie war keine leichte Last, und dreimal fiel er keuchend unter ihr in die Knie.

Am Rande des Buschwerks, welches das Gartenhaus umgab, mußte er sie sinken lassen, denn er fürchtete, ohnmächtig zu werden. An derselben Stelle lag sie, wo er sie nach dem Begräbnisse des Vaters leblos und blutend vorgefunden hatte. Wie damals spielte das Mondlicht auf dem bleichen Angesicht, aber diesmal sollte sie nicht mehr ins Leben zurückkehren.

»So haben sie dich doch erwischt!« rief er, in ein gellendes Lachen ausbrechend. – Ein stechender Schmerz zuckte durch seinen Hinterkopf. – Ihm war zumute, als müßte er wahnsinnig werden, wenn diese großen, starren, glanzlosen Augen noch länger zu ihm emporsahen.

Die Sorge, den Leichnam wohl aufgehoben zu wissen, ehe er von dannen zog, brachte ihn wieder zur Besinnung. – Die Schrandener waren ja imstande, die Ermordete irgendwo im Walde einzuscharren, damit den Gerichten kein Zeugnis der Missetat in Händen bliebe.

Der einzige, dem allenfalls zu trauen, war der alte Pfarrer. Mochte er sie immerhin verflucht und verfemt haben, zur Teilnahme an Bubenstücken gab er sich nicht her.

Boleslav beschloß, ihn sofort aus dem Schlafe zu holen und zur Stelle zu führen, damit später ein Zeuge nicht mangelte, wenn er selber sich – Gott weiß wo? – im Felde umhertrieb.

Die Turmuhr schlug elf, als er die Dorfstraße erreicht hatte. Vor der Kirchentür sah er die Wachen lautlos auf und nieder gehen, sonst schien alles im tiefsten Schlafe zu liegen.

Da vernahm er aus einer der Hütten, an denen er vorüberschritt, ein lautes Poltern und Schelten und Schreien.

Er schaute hin und gewahrte den grünen Sarg, das Wahrzeichen des Tischlers Hackelberg, das von seinem Ständer düster herniedersah.

Die lallenden Worte des Trunkenboldes fielen ihm ein. »So geht sein Wunsch in Erfüllung«, dachte er, »der Tochter einen Sarg zu bauen.« Und in einer bitteren Laune beschloß er, dem Alten, falls er bei Sinnen wäre, auf der Stelle von dem schmählichen Tode seines Kindes Mitteilung zu machen und die Erfüllung seines Versprechens von ihm zu fordern.

Er betrat den finstern Hausflur. Aus einem zur rechten Seite gelegenen Räume drang das Zetern und Schreien der trunkenen Stimme ekelerregend an sein Ohr. Dahinein mischte sich ein kurzes, stoßweises Zischen und Sausen, das er sich nicht erklären konnte.

Er klinkte die Tür auf. Da sah er ein Bild, so grausig, daß er, den der Tag wahrlich an Schrecken gewöhnt hatte, erbleichend zurückschauderte.

Der alte Tischler sprang mit heruntergerissenen Kleidern, blutend an Hals und Armen, in dem Zimmer umher, dessen schmutziges Elend der Mond grellfarben erhellte. Er schien vom Veitstanz befallen. Alle seine Glieder flatterten, vor dem Munde stand der Schaum, seine Augen rollten im Wahnsinn, und ein krampfiges Zucken verzerrte die Muskeln seines Gesichts. – An der Rechten hing ein großer Hobel, dessen ringförmige Handhabe er über das Gelenk gestreift hatte und den er vergebens mit den tanzenden Fingern festzuhalten strebte. Wo er eine hölzerne Fläche sah, an Tischen, Wänden, an den Holzstapeln, welche die Erde füllten, suchte er hobelnd darüber zu fahren. Das gab jedesmal einen zischenden Laut, der in einem Hacken schroff abbrach.

»Wird gleich fertig sein!« schrie er – »Noch ein Zug« – ss – ss – »und die Quetsche is fertig« – ss – ss – – »verdammte Fledermäuse! können einen nie in Ruh' lassen« – ss – ss – »vorwärts – hopp – Feuer – Feuer – das Schloß brennt – Feuer, Feuer! – Wirste weg, Frauenzimmer! – Wenn du sagst, daß du mich gesehen hast – mit dem Schwamm und dem Flachsbund« – – ss – ss – »mach' ich dir den Sarg nicht fertig.« – ss – ss – »Geh mir aus dem Weg, du Schlange« – –

Er war gegen Boleslav gestoßen, der, von gräßlicher Ahnung getrieben, sich ihm in den Weg gestellt hatte und den er für seine Tochter zu halten schien.

»Geh zurück – geh vom Katzensteg . . . hier kriegt heut der Baron sein Teil – zurück – oder« – – er legte den Hobel zielend an die Backe – dann, von einer neuen Vision gepackt, schrie er aufs neue in Todesangst: »Feuer – Feuer – Feuer«, suchte sich hinter dem Tische zu verkriechen und fuhr dabei hobelnd über die Fetzen seiner Jacke. –

»Feuer – Feuer! Werd't ihr weg – ich hab's nicht getan – meine Tochter hat gelogen – die Flammen kommen – Feuer, Feuer – die Flammen sind da.« –

Von den Flammen, die den Höhepunkt seines Deliriums darzustellen schienen, geriet er dann wieder auf die Fledermäuse, die er mit Armen und Beinen zu verscheuchen suchte, bis er die Arbeit des Hobelns an den Tischkanten fortzusetzen vermochte.

»Bin gleich fertig, lieber Herr« – ss – ss – »Noch ein paar Bretterchen« – ss – ss – »meine Tochter ist ein Luderchen – – dies kommt auf die Nase« – ss – »feinpoliert« – ss – – »nu liegt sie da und jappt nicht mehr« – – ss – »siehste – was biste nicht weggegangen! – – Dein Vater schießt wie 'n Daus« – – ss – – ss – »der Baron kriegt's heut hinter die Rippen« – – ss – »Sind extra dazu hergekommen – alle Mann hoch! – – Hoch Merckel« – – ss – – »'runter vom Steg, du Biest – hast wohl wieder Franzosen hinter dir? – – Und wenn du nicht weggehst« – er legte auf Boleslav an.

In dem flimmernden Mondschein glich er mit seinen zappelnden Beinen, seinem wackelnden Kopfe, seinen tanzenden Armen einem greulichen Phantome, dessen Glieder aus hundert beweglichen Ringen zusammengesetzt sind.

Mitten im Zielen brach wieder ein gellender Aufschrei aus seinem Munde, und um den Flammen zu entfliehen, die ihn aufs neue verfolgten, verkroch er sich diesmal hinter einen Holzstoß, in den er unaufhörlich mit dem Hobel hineinstieß, bis mit den dunkleren Fledermäusen die Wahnvorstellungen ihren schauerlichen Kreislauf von neuem begannen.

Boleslav, der, von Entsetzen geschüttelt, aus den Phantasien des tobsüchtigen Alten die grausige Wahrheit herauslas, vermochte nicht länger dies Bild zu ertragen.

Er floh von dannen, als wären die Flammen, die den Wahnsinnigen jagten, auch ihm auf den Fersen, und ruhte nicht eher, als bis er das Dorf hinter sich wußte und die Schatten der Ruinen ihn in ihrem Schoße bargen.

 


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