Hermann Sudermann
Der Katzensteg
Hermann Sudermann

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11

Boleslav hatte Glück. Ihm war eine neue, große Aufgabe geworden, welche die lähmende Dämmerung seiner Tage mit frohem Lichte erhellen sollte.

Es galt das Andenken des Vaters zu retten!

Wie er auf die Idee verfallen war, wußte er selber wohl kaum. Ein paar vorgefundene Briefe, von polnischen Edelleuten an den Vater gerichtet, hatten den ersten Anstoß gegeben. Wenn es möglich war, nachzuweisen, daß der Verewigte gegen bessere Einsicht, den edleren Gefühlen seines Herzens zum Trotze, nur einem dumpfen Zwange gehorcht hatte, einen übereilten Schwur oder ein abgenötigtes Versprechen zu erfüllen, so war eine tragische Verkettung der Umstände gewonnen, die den verlästerten Mann, wenn auch nicht von der Schuld selber freisprach, so doch zu einer Art von Märtyrer umstempelte.

Wenn er dann nach genauestem Studium der Dokumente mit der auf quellenmäßiges Material gestützten Entstehungsgeschichte des Verrates vor die Öffentlichkeit trat, einer Geschichte, die nachwies, daß Eberhard von Schranden, weit entfernt, die teuflische Rolle gespielt zu haben, die das Gerücht ihm zuwies, einfach ein Opfer der Ereignisse geworden war, so sollte noch einer kommen, der seine Hand gegen den Schatten des Dulders ausstreckte.

Und je mehr er sich in diese Aufgabe vertiefte, desto inniger begann er sich mit dem Toten eins zu fühlen, desto mehr gewöhnte er sich daran, das Bewußtsein der eigenen Schuldlosigkeit auf jenen zu übertragen.

Das Herz war ihm so voll von seinen Plänen, daß er nachts nicht schlief und tags wie ein Besessener in dem vollgeschneiten Parke umherlief. Und je weniger er im Grunde seiner Seele auf ihr Gelingen hoffen mochte, desto heißer wurde sein Verlangen, sich im Reden mitzuteilen, sich die Last der Zweifel von der Brust zu wälzen.

Aber da war niemand als das schweigende Weib, das schuldbeladen, mit dem scheuen Flammen des Auges an ihm vorbeischlich.

Und eines Abends, als die Einsamkeit ihn fast erstickte, sprach er sie an: »Regine, du frierst wohl draußen in deiner Küche?«

»Ich lasse das Feuer tagsüber nicht ausgehen, Herr.«

»Aber was machst du abends in der Dunkelheit?«

»Ich sitz' am Herde und nähe, Herr, bis die Finger mir erklammen.«

»Hast du denn Licht?«

»Ich brenne Kienspäne, Herr.«

Er schwieg zögernd und kaute seine Unterlippe. Endlich faßte er sich ein Herz.

»Regine, du darfst nach dem Abendbrot mit deinem Nähzeug in die Stube kommen.«

Sie wurde blaß. »Ja, Herr«, stammelte sie.

Ihm schien das wohl zu wenig Dankbarkeit. »Das heißt, wenn du nicht willst –«, meinte er achselzuckend.

»Oh, Herr – ich will schon.«

»Aber zieh dich ordentlich an – vorher. Warum trägst du übrigens deine Kleider nicht?« Sie war seit jenem Abende wieder in ihrer Kattunjacke einhergegangen.

»Ach, Herr, ich hab' ja gewußt, daß sie zu schad' für mich sind«, erwiderte sie.

»Zu schad'? Weswegen?«

»Weil Sie bös geworden sind, Herr, daß eine wie ich –«

»Dummes Zeug«, unterbrach er sie rasch. Viel fehlte nicht, so hätte sie sich ihm wieder verleidet.

Nach dem Essen erschien sie furchtsam in der Tür. In ihrer Hand schimmerte weißes Linnen. An der Tür blieb sie stehen, bis er sie ungeduldig zum Sitzen einlud.

»Man muß ja Umstände mit dir machen, als ob du eine große Dame wärst«, schalt er.

Sie lächelte verwirrt. »Es ist nur die Angst, Herr«, sagte sie stockend, »weil ich nicht weiß, wie ich – mich benehmen soll.« Dann wandte sie sich zu ihrer Arbeit.

Geredet wurde an jenem Abende nicht mehr zwischen ihnen, und es verging wohl eine Woche, ehe ein Gespräch sich herausbildete.

Er saß sinnend über den vergilbten Papieren, und sie ließ die Nadel an dem knirschenden Linnen entlang fliegen. Wenn die Uhr elf schlug, wickelte sie das Nähzeug zusammen, flüsterte eine »Gute Nacht« und glitt, ohne seine Antwort abzuwarten, auf den Zehenspitzen hinaus.

»Was nähst du denn da so fleißig?« fragte er eines Abends, nachdem er sie eine Weile beobachtet hatte.

Sie schaute auf und strich sich mit angefeuchteten Fingern das Gelock aus der Stirn.

»Hemden für Sie, Herr!« war die Antwort.

»Also dafür sorgst du auch?«

»Wer soll's denn sonst, Herr?«

Kurzes Schweigen, dann fragte er weiter: »Wer hat dich das alles gelehrt, Regine? Deine Mutter?«

Sie schüttelte den Kopf. »Meine Mutter, Herr, ist früh gestorben. Kaum, daß ich noch 'ne Erinnerung hab' an sie. Die Leute sagten, der Vater hab' sie zu Tode geprügelt.«

Er dachte an die Bildergalerie und an das blasse, schmale Angesicht mit den müden Augenlidern, von dem beim großen Brande die letzte Spur in Flammen aufgegangen war.

»Wie hat sie ausgesehen – deine Mutter?« forschte er weiter.

»Sie hat lange schwarze Haare gehabt und Augen wie ich, sagten die Leute, und von den Haaren weiß ich noch, daß sie mich manchmal drin einwickelte, des Abends, wenn ich ausgezogen war – und dann saß ich drin wie in einem Mantel und lachte. – Und wenn der Vater –« in plötzlichem Erschrecken hielt sie inne. »Aber, warum wollen Sie das wissen, Herr?« fragte sie.

»Erzähl nur weiter«, rief er hastig . . .

»Und wenn der Vater nach Haus' kam und auf mich los wollte, weil er betrunken war, hat sie sich vor mich hingestellt und mir gesagt, ich soll mich in ihr Kleid einwickeln, und das hab' ich denn auch getan, und in dem Kleide war's wie in einer Berghöhle – ganz finster und ganz still – und Vaters Schimpfen ist bloß wie von weit her zu mir gedrungen, und dann ist sie gestorben. Das war an einem Sonntag – ja, es war an einem Sonntag. Denn wie ich am Zaune stand und dachte, ob sie wohl auch einen so schönen Sarg kriegen wird – und ob er grün sein wird, wie der oben auf dem Pfahl, da sind Sie, Herr, eben zur Kirche vorbeigegangen. Das heißt, Sie waren damals so klein wie ich – und trugen einen blauen Rock mit silbernen Litzen und einen kleinen Degen an der Seit' – und blieben stehen und fragten mich, warum ich wohl weinen mocht', und wie ich's nicht sagen konnt' vor lauter Furcht, da schenkten Sie mir einen Apfel.«

Darauf vermochte er sich freilich nicht mehr zu besinnen, aber wie er ihr den jungen Spatz weggenommen hatte, das fiel ihm ein, und das erzählte er ihr.

Sie wußte es noch alles, und ihr Auge leuchtete auf, wie in glückseligen Bildern verloren.

»Ich wundere mich eigentlich, daß du ihn so willig hergabst«, sagte er.

»Was hätt' ich denn tun sollen?« antwortete sie.

»Ihn mir verweigern.«

Ihr Blick verschleierte sich. »Ich war ja so froh, daß Sie ihn haben wollten«, sagte sie leise; »denn wann passiert einem armen Ding mal das Glück, daß ein reicher, vornehmer Herr was von ihm geschenkt nimmt?«

Er biß sich auf die Lippen. – Wahrlich, er nahm mehr von ihr geschenkt, als Recht und Menschlichkeit erlaubten.

»Und dann«, fuhr sie fort, »wenn ich auch nicht gewollt hätt' – Sie waren ja der Junker. Ihnen gehörte ja sowieso alles an uns.« – –

Wie selbstverständlich das von ihren Lippen kam!

»Höre, Regine«, sagte er, »du hast die Zeit wohl ganz vergessen, da du unten im Dorfe in Freiheit lebtest?«

»Oh, nicht doch, Herr«, erwiderte sie mit einem Lächeln, das beinahe schalkhaft schien, »zum Beispiel auf den gnädigen Junker besinn' ich mich noch ganz genau.«

Er beugte sich mit seinem Stuhle weit in den Schatten des Schirmes zurück. – »Welch ein herrlicher Stoff ist hier verdorben!« dachte er und verschlang sie mit seinen Blicken.

Und dann mußte sie ihm erzählen, was sie aus jener Zeit noch von ihm wußte. Da kam freilich nicht viel Liebes zum Vorschein. Einmal hatte er sie ins Brachwasser gestoßen, ein andermal in einer Mehlschöpfe den Fluß hinunterfahren lassen, bis auf ihr Jammergeschrei Instleute gekommen waren, sie ans Ufer zu ziehen; wieder ein andermal, als sie ein weißes Kleid getragen, ein Geschenk der Schloßverwalterin, hatte er ihr Gesicht und Hände mit Kalk bestrichen und sie stillstehen geheißen, damit sie einem der Steinbilder oben im Parke gliche. Das hatte sie auch geduldig getan, bis der Kalk sie auf den Lippen und in den Augenwinkeln fürchterlich zu beißen angefangen, da sei sie weinend davongelaufen.

Das alles berichtete sie nun mit strahlenden Augen, als ob ihr einst wunder was Gutes damit geschehen wäre.

Er seinerseits erinnerte sich dieses oder jenes Vorfalls sehr wohl, nur daß just Regine dabei das Opfer seiner Laune gewesen, war ihm entfallen. Ein Gefühl der Beschämung dämmerte in ihm auf. Er sah statt des träumerischen, großmütigen Edelknaben, als der er sich stets erschienen war, einen kleinen, grausamen Dorftyrannen, der seine Macht über die Altersgenossen rücksichtslos ausnutzte, selbst bis an die Grenze der Bösartigkeit hin.

»Und hab' ich dir meine Übeltaten nie vergolten?« fragte er, um doch etwas Gutes von sich zu hören. –

»Geschenkt haben Sie uns genug, Herr!« erwiderte sie. »›Teilt euch das!‹ pflegten Sie zu sagen und warfen allerhand vor uns auf die Erde – einmal Äpfel und Nüsse – ein andermal zerbrochene Zinnsoldaten, oder auch eine Handvoll blanker Knöpfe. – Aber natürlich bekamen die Größten und Stärksten das meiste, besonders der Felix Merckel, der verstand zu raffen – – wir Mädchen hatten das Nachsehen.«

»Und du selbst, Regine, du hast nie etwas von mir bekommen?« fragte er.

Sie wurde glutrot und bückte sich tief über ihr Nähzeug. »Ja, Herr, einmal«, sagte sie leise.

»Was war es denn?«

Sie schwieg und wagte nicht die Augen zu erheben.

»Mein Gott, weshalb schämst du dich?«

»Weil – ich's – – noch hab'.«

»Ach – Unsinn!« Er lächelte. Ein wohliges Gefühl durchrieselte ihn.

Sie – statt der Antwort – langte in die Tasche ihres Kleides und legte ein Strohkästchen, aus farbigen Halmen geflochten, kaum größer als eine Kinderfaust, vor ihn auf den Tisch.

Er nahm es zur Hand und betrachtete es aufmerksam von allen Seiten. Drinnen klapperte etwas.

»Darf ich aufmachen?«

»Warum fragen Sie erst, Herr?«

Ein Ring von Glasperlen war's, blau, weiß und gelb, wie ihn kleine Mädchen, den ersten Instinkten der Eitelkeit folgend, sich zu verfertigen pflegen.

Er nahm ihn heraus und versuchte ihn über den kleinen Finger zu streifen, aber er war viel zu enge – kaum daß er am Nagel entlang glitt.

»Ist der Ring auch von mir?«

»Nein, Herr – der stammt von meiner lieben Mutter. Er hat sich in das Fleisch eingewachsen gehabt, drum trug ich ihn Tag und Nacht am Finger, bis der Faden gerissen ist. Da war sie schon lange tot, und weil's das einzige Andenken ist, das ich an sie hab', drum tat ich die Perlen wieder auffädeln und trag' den Ring immer bei mir.«

»In meinem Kästchen?«

Sie nickte und schlug die Augen nieder.

»Warum soll ich nicht, Herr?« sagte sie flüsternd. »Es bringt mir ja Glück.«

Er maß sie mit einem mitleidigen Lächeln. »Glück? dir? –«

»Nun, Herr«, erwiderte sie triumphierend, »wenn Sie die vielen Steine bedenken – –«

In diesem Augenblicke glitt der Ring, den er soeben an seinen Platz zurücklegen wollte, ihm aus den Fingern und fiel zur Erde.

Regine schoß in die Höhe und eilte um den Tisch herum, ihn aufzuheben; aber sie fand ihn nicht.

»Er ist wie untergesunken«, sagte sie mit zagem Blicke und ließ sich dicht an Boleslavs Seite auf den Boden nieder.

Er sah den straffen, herrlichen Nacken sich entgegenleuchten, er sah das schwarze, wirre Gekräusel, das ihn spielend umrahmte.

Das Herz begann ihm zu pochen. – Ein kalter Strom ergoß sich durch seine Glieder. Mit stierem Lächeln blickte er auf sie nieder. –

»Da ist er!« rief sie und richtete sich kniend empor, ihm das geliebte Spielzeug darzubieten.

Er erhob die Hand. Ihm war, als würde sie von einer fremden Macht emporgezogen, und lastete doch zentnerschwer an ihm.

Dann legte er sie in banger Liebkosung an ihre Wange. –

Sie fuhr erschauernd zusammen. Ein schwimmender Glanz brach aus ihrem Auge, das träumerisch und fragend auf ihm ruhte. –

Sein Arm sank schlaff herab.

»Ich danke dir«, sprach er heiser. –

Sie ging auf ihren Platz zurück. – Eine tiefe Stille entstand. –

Ihm war, als hätte er ein Verbrechen begangen, das jeder Moment des Schweigens verschlimmerte. Er mußte sich zum Reden zwingen.

»Was fragt' ich dich? Richtig – wer also hat dich das Nähen gelehrt?«

Ihr war derweilen der Faden aus dem Nadelöhr entwichen. Sie versuchte ihn aufs neue einzuziehen. Der blanke, kleine Schaft wankte zwischen ihren Fingern wie ein Rohr im Winde.

»Das war im Pfarrhause, Herr«, erwiderte sie beklommen. »Die – Helene sollte –« sie stockte, denn er war beim Klange des geliebten Namens, den er zum erstenmal aus ihrem, aus solchem Munde hörte, zusammengefahren, wie von einem Peitschenhiebe gezüchtigt.

Sie deutete seine Erregung als Zorn und setzte furchtsam hinzu: »Das Pfarrfräulein mein' ich!«

»Es ist gut«, sagte er, mühsam an sich haltend. »Geh schlafen!« – – – –

In dieser Nacht kämpfte Boleslav einen schweren Kampf.

Ihm schien, als wäre das Bild der Hohen, der Reinen besudelt, seitdem sein Auge mit Wohlgefallen auf diesem verworfenen Weibe geruht hatte.

Und besudelt war er auch selbst durch jene kosende Berührung.

Nun galt es, aufs neue Reinheit und Frieden zu gewinnen.

Vor allem mußte er mit Helenen ins klare kommen, damit er sich stark wüßte im Kampfe gegen Sinnentrug und lähmenden Zweifel.

Und so eilig hatte er's mit seinen neuen Entschlüssen, daß er sich mitten in der Nacht erhob, um sie ins Werk zu setzen.

Beim Schein des Nachtlichts schrieb er einen Brief an Helene, worin er sie seiner ewigen Liebe und Treue versicherte und sie beschwor, ihm Kunde zu geben, damit er wisse, ob sie zu ihm stehen wolle in der Not wie einst im Glücke, ob er sie für sich erkämpfen dürfe, – Himmel und Hölle zum Trotze.

Mit jeder Zeile fühlte er seine Seelenangst sich mildern, und als er sich wieder zur Ruhe legte, war ihm zumute wie einem, der sich durch ein Zusammenraffen seiner Willenskraft einer langen und drückenden Verpflichtung mit einem Mal enthoben hat.

»Willst du es unternehmen, Regine«, fragte er am Abend des folgenden Tages, »diesen Brief ungesehen dem Pfarrfräulein zu übergeben?«

Sie sah ihn eine Sekunde lang groß an, dann schlug sie die Augen nieder und murmelte: »Ja, Herr.«

»Aber wenn sie dich ergreifen unten im Dorf?«

»Pah – die!« sagte sie und zuckte verächtlich die Achseln, wie auch sonst, wenn sie von den Dörflern sprach.

Bald darauf sah er sie wie einen Schatten am Fenster vorbei durch die Dämmerung gleiten.

Stunden vergingen. Sie kehrte nicht wieder. Er geriet in Sorge und fing an, sich Vorwürfe zu machen, daß er sie um seiner Herzensaffäre willen ihr Leben aufs Spiel setzen ließ.

Endlich gegen Mitternacht klirrte die Haustür.

Zähneklappernd, mit blauem Gesichte, erschien sie auf der Schwelle, den Brief noch zwischen den erklammten Fingern.

Er hieß sie am Ofen niederhocken und gab ihr spanischen Wein zu trinken – da erst vermochte sie zu reden.

»Ich hab' bis jetzt am Pfarrzaun im Schnee gelegen, Herr«, sagte sie, »aber 's war nicht möglich, an sie 'ranzukommen. Jetzt eben hat sie in ihrem Schlafzimmer das Licht ausgelöscht. Da bin ich denn heimgegangen. Seien Sie nicht böse, Herr. Vielleicht werd' ich morgen mehr Glück haben.«

Er wollte nichts davon hören, daß sie das Abenteuer noch einmal bestände; aber als sie am folgenden Abende zum Gange gerüstet vor ihn trat, sagte er nicht nein.

Diesmal kam sie mit glühenden Wangen und fliegendem Atem heim. Zwei Bauern, die vom »Schwarzen Adler« heimgekehrt waren, hatten sie entdeckt und Jagd auf sie gemacht.

»Aber morgen, Herr, morgen gelingt's ganz gewiß.«

Und sie behielt recht.

Nicht weniger atemlos als abends vorher, doch mit freudeglänzenden Augen trat sie gegen zehn Uhr ins Zimmer und streckte ihm von der Tür aus triumphierend die leeren Hände entgegen.

»Gott sei Dank«, dachte er, »zum viertenmal hätt' ich sie nicht hinausgejagt.«

Und in frohem Eifer begann sie zu erzählen. Der Sultan an der Kette, der kannte sie von früher her, und zum Überfluß habe sie ihm noch ein Stück Schwarte mitgebracht. Dann habe sie sich vor die Hintertür gestellt und durchs Schlüsselloch geguckt. – »Im Hausflur steht der große Küchenschrank, und wenn die Helene – das Fräulein mein' ich – zu morgen früh Mehl und Kaffee wird 'rausgeben wollen, wird sie sich wohl sehen lassen müssen. Und richtig, Herr, mit einem Male fällt mir Lichtschimmer ins Aug', und da steht sie keine drei Schritt von mir entfernt. –«

Er seufzte tief auf. »Die Glückliche, sie hat sie mit ihren Augen geschaut.«

»Ich mach' nun die Haustür ganz leise auf und rufe hinein: ›Helene! Fräulein Helene!‹ Wie sie mich zu sehen kriegt, schreit sie auf und läßt den Leuchter fallen . . . ›Helene‹, sag ich, ›ich will dir ja nichts Böses tun. – Hier ist ein Brief vom Junker Boleslav‹ . . . Da befällt sie ein Zittern, kaum daß sie mir den Brief aus der Hand nimmt. Und dabei ruft sie ganz entsetzt: ›Geh – geh fort von mir!‹ Gerad, daß ich ihr noch vom Briefkasten was sagen kann – vom Briefkasten an der Zugbrücke, da hat sie die Tür schon abgeschlossen und abgeriegelt. – Ach du lieber Gott«, fügte sie mit einem wehmütigen Lächeln hinzu, »ich bin's ja gewohnt, daß man mich so behandelt, aber diesmal bracht' ich doch Botschaft von Ihnen.«

Er stützte den Kopf in beide Hände. Helenens Benehmen gab ihm zu denken. –

Freilich hätte er ihr das Begegnen mit der verlotterten Jugendgespielin ersparen müssen. War es ein Wunder, daß ihr keusches, reines Herz sich vor dem Anblick dieses Weibes zusammenkrampfte?

Von nun an lief Regine tagtäglich nach der Zugbrücke hinunter, um in dem Briefkasten, der dort an einem Pfosten befestigt war, nach Antwort von Helene nachzuschauen.

Aber der Kasten blieb leer.

Hatte Boleslavs Stimmung sich schon zu klären begonnen, so wurde er nun aufs neue bitter und trotzig, und selbstquälerische Gedanken bohrten sich in seiner Seele fest.

Sein Stolz wollte es nicht zulassen, von dem Weibe, das er liebte, verworfen zu werden, und dennoch durfte er kaum mehr zweifeln, daß sie sich von ihm losgesagt hatte, daß sie mit seinem entehrten Dasein nichts mehr zu schaffen haben mochte. – Ihm war zumute, als ob mit der Hoffnung, die Geliebte seiner Jugend zu erringen, das ganze große Werk seiner Zukunft in Trümmer sänke.

Tage vergingen, ehe er sich aus dieser Stimmung emporraffte; erst als die fieberhafte Unruhe des Wartens sich zu sänftigen begann, kehrten langsam Frieden und Kraft zurück.

Er stürzte sich aufs neue über seine Arbeit und stöberte nach Beweisen gegen seines Vaters Schuld.

Die Zeugnisse verwirrten sich. Briefen, die den Vater als zähen, preußischen Patrioten behandelten, standen andre gegenüber, in denen er als vorgeschobener Posten des polnischen Freiheitskampfes betrachtet wurde. Das konnten freilich schönrednerische Phrasen sein, den Schwankenden vollends zu gewinnen, aber sie veröffentlichen, hieß den Toten noch einmal an den Pranger stellen.

Die einzige Erholung in diesem aussichtslosen Kampfe mit der Wahrheit waren die Abendstunden, in denen Reginens Gegenwart ihm andre Gedanken brachte. Es war ein merkwürdiges Gefühl, gemischt aus Unruhe und Behagen, das ihn überfiel, sobald sie sich ihm gegenübersetzte. Manchmal vor ihrem Kommen, wenn er mit vorgebeugtem Kopfe auf das Geräusch hinhorchte, das aus der Küche gedämpft ins Zimmer drang, packte ihn eine plötzliche Angst, daß er aufspringen und ihr zurufen wollte: »Bleib draußen – komme nicht«, und dennoch atmete er befriedigt auf, wenn sie ins Zimmer trat.

»Die Einsamkeit ist's, die mich zu ihr treibt«, so sagte er sich oft, »sie trägt ja ein Menschenantlitz, und eine Menschenstimme tönt aus ihrem Munde.«

Oft, wenn sie, über ihr Nähzeug gebeugt, schweigend einen Stich an den andern reihte, konnte er sich schlafend stellen und mit geschlossenen Augen ihrem Atem lauschen. Es war ein voller, langsamer, leise verhallender Laut, und er klang in seinen Ohren wie verhaltene Musik. Es war wie das Ebben und Fluten in einem Ozean von Lebenskraft. – Wenn sie lange in gebückter Stellung dagesessen hatte, richtete sie sich plötzlich hoch auf und reckte die Arme mit geballten Fäusten nach den beiden Seiten der Stuhllehne hin, so daß die Wölbung der Brust in mächtigen Formen heraustrat und schier das Kleid zu sprengen drohte. Es war, als müßte sie von Zeit zu Zeit der Lebensfülle bewußt werden, die in ihr quirlte und toste.

Dann sank sie wieder zusammen und nähte friedlich weiter. –

Es dauerte nicht lange, da war das Zusammensein mit ihr eine liebe, kaum entbehrliche Gewohnheit geworden. Die Lampe leuchtete noch einmal so hell, seit ihr Licht von dem weißen Linnen zurückgestrahlt wurde, der Messingzeiger der Uhr lief noch einmal so rasch, seit er sich von keinem ungeduldigen Blicke zur Eile angefeuert wußte. Der Wind in dem Geäste, der sonst gar drohend pfiff und sauste, hatte einen weichen, leisen, wiegenliedartigen Ton angenommen, und selbst die Sparren in dem morschen Dache knarrten und knackten nicht mehr so laut.

Mit Grauen erwartete er die Abende, an welchen sie sich mit hereinbrechender Dämmerung nach Bockeldorf auf den Weg machte, und mehr als einmal schon war ihm der Gedanke gekommen, sie zu begleiten.

Aber das Beieinandersein, das sich so freundlich zu gestalten schien, trug einen Giftstachel in sich.

Manchmal, wenn er sie lange angestarrt hatte, packte ihn ein quälerisches Verlangen, in den Wunden ihrer Vergangenheit zu bohren und sie nach ihrem Verkehr mit dem Toten auszuforschen. Eine Zeitlang gewann er's über sich, die Fragen, die ihm auf der Zunge brannten, in sich zu verschließen, denn er fühlte, daß nur wenig Gutes daraus erwachsen könne; aber auf Umwegen schlich das Verlangen aufs neue an ihn heran.

»Sie ist die einzige, die Zeugin jener Untat war«, so sagte er sich, »ja, mehr als das – die einzige Mitschuldige – sie allein kann mir Rede stehen.«

Und eines Abends brach er mit schroffer Forderung das Schweigen, das sich so lange wohltätig erwiesen hatte. – Sie verfärbte sich und ließ die erschlaffende Hand in den Schoß sinken.

»Sie werden wieder bös auf mich werden, Herr«, stammelte sie.

»Tu, was ich dir befehle.«

Sie suchte nach Worten. »Es ist so lange her«, flehte sie, »und ich versteh' auch nicht zu erzählen.«

»Aber meine Fragen beantworten kannst du!«

Da ergab sie sich in ihr Schicksal.

»Wer war's der dich zuerst zu dem nächtlichen Gange aufforderte?«

»Der gnäd'ge Herr.«

Er kniff die Lippen zusammen. »Wie geschah das?«

»Der gnäd'ge Herr hatt' mir befohlen, bei Tische aufzuwarten. Und ließ den großen Kronleuchter anstecken, der sonst nie brannte, und die goldenen Uniformen von den französischen Offizieren funkelten in all dem Lichte, daß mir ganz schwindlig wurde, wie ich die Suppe in den Saal trug. – Da lachten sie alle und zeigten nach mir, und sprachen auf französisch, was ich nicht verstand.«

»Wieviel waren's?«

»Fünf und einer mit grauem Haar, das war der Oberste, und wie ich zu dem Obersten, der das meiste Gold anhatte, mit der Suppe kam, da faßte er mich um meine Taille. Ich stellt' aber den Teller hin und haut' ihm auf die Finger. Da lachten sie wieder, und der gnädige Herr sagte: ›Sei nicht so dumm, Regine!‹ Da schämt' ich mich, daß grad' der gnäd'ge Herr das zu mir sagt', und meinte ganz laut, ich brauche ja gar nicht aufzuwarten, wenn ich mir so 'nen Schimpf gefallen lassen müßt'. – Da lachten sie noch lauter, und der Oberste fing an, deutsch zu reden, das war, wie wenn kleine Kinder reden, und meint': ›Du sein eine söne, tapfere Mädchen.‹ Und der gnäd'ge Herr sagte drauf: ›Ein Mädchen, das Ihnen noch sehr nützlich werden kann, meine Herren –‹ oder so was Ähnliches. Und als ich zum Schluß den Likör 'reinbrachte, zog er mich am Ohr zu sich 'runter und sagt leise, ich sollt' in der Nacht zu ihm kommen.«

Er fuhr in die Höhe. »Und was tatst du?«

Sie schlug die Augen nieder. »Ach, Herr«, bat sie, »wozu fragen Sie mich noch? Ich hatt's ja schon oft getan und dacht' mir gewiß nichts Schlimmes dabei.«

Er fühlte es heiß in sich aufkochen.

»Wie alt warst du dazumal?«

»Fünfzehn, Herr.«

»Und so verdorben, so . . .« Seine Stimme erstickte der Zorn.

Sie sandte einen unsäglich traurigen Blick zu ihm hinüber. »Ich wußt's ja, daß Sie böse sein werden«, erwiderte sie, »aber ich kann mich doch nicht besser machen, als ich bin.«

»Fahre fort!«

»Und als ich um Mitternacht zu ihm kam, war er noch auf und ging mit großen Schritten um den Tisch 'rum und fragt' mich, ob ich mir viel Geld verdienen wollt'. Gewiß, gnäd'ger Herr, sagt ich da, das tu ich gern, denn damals war ich noch arm. Und drauf fragt' er mich, ob ich wohl vor der Finsternis Furcht hätt'? Da lacht' ich und meint', das wüßt' er ja am besten. Und drauf tat er noch ein paar Fragen, um mich zu prüfen, und endlich kam's 'raus: Ob ich mir wohl getraute, die Franzosen in einer Stunde übern Katzensteg und durch den Wald zu führen. Da fing ich an zu weinen, denn die Franzosen wirtschafteten furchtbar im Schloß und rannten den Mägden in alle Winkel nach, und ich fürchtete, mir könnte Gewalt angetan werden.«

»Also das fürchtetest du doch?« warf er mit höhnischem Lächeln ein.

»Ja – und sagte dem gnäd'gen Herrn, das tät' ich nimmermehr. Da wurde er aber furchtbar zornig und packte mich an beiden Schultern, so daß ich in die Knie sank, und schrie mich an, ich wär' ein undankbares Frauenzimmer – und er würd' mich mit Schimpf und Schand' ins Dorf zurückjagen – und würd' dem Herrn Pfarrer sagen, was ich für eine wär', daß ich würd' Kirchenbuß' tun müssen – und dabei würgt' er mich am Halse – und da, Herr, wie mir die Luft zu fehlen anfing –«

»Hör auf«, sagte er, ergriff die Briefe, welche des Vaters Schuldlosigkeit dartun sollten, und riß sie mitten durch. – – –

 


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