Hermann Sudermann
Der Katzensteg
Hermann Sudermann

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3

Der Mond stand hoch am Himmel und ergoß seinen stillen, bläulichen Schein weithin über die schlafende Heide. – Die Erlengruppen im Moor trugen Kränze von Licht, und von den schlanken, weißstämmigen Birkenbäumchen, die in endloser Reihe den breiten, geraden Fahrweg einfriedeten, ging ein Flimmern und Leuchten aus, daß es aussah, als ob der Weg fernab zwischen silbernen Schranken sich verlöre.

Schweigen weit und breit. Die Vögel waren längst verstummt. Spätsommerfriede, der Friede gesättigt ersterbenden Daseins lag auf der weiten Flur. Kaum daß eine Grille vom Grabenrande her sich hören ließ, kaum daß eine aufgescheuchte Feldmaus mit leise schwirrendem Pfeifen durch die hohen Halme glitt.

Mit Ränzel und Knotenstock schritt einsam ein Wandersmann des Weges daher, unbekümmert um den Zauber der mondgetränkten Landschaft vor sich hinstarrend.

Der junge Leutnant war's, der nach der Heimat zog, den geächteten Vater zu begraben.

Der Gastfreund hatte ihm sein Staatsfuhrwerk aufdrängen wollen, hatte ihm dann, da alles Bitten nutzlos gewesen war, für eine weite Strecke zu Fuß das Geleite gegeben und ihm zum Abschiede hoch und heilig versichert, die Blutsbrüderschaft, die einst beschworene, werde bestehen bleiben, den Sünden der Väter zum Trotze, und er dürfe auf ihn und seine Nachbarn zählen jetzt und für alle Zeit . . .

Anstatt ihm wohlzutun, war ihm der gutgemeinte Trost wie Hohn ins Ohr gedrungen. Was von »Sünden der Väter« mitten darein klang, empfand er als Schimpf, ihm selber angetan, einen Schimpf, den er stillschweigend hinnehmen mußte, weil gegen die Schmach, die der Vater ihm als Erbe auf die Schultern geladen hatte, ein Auflehnen nicht möglich war.

Und in finsterem Hinbrüten ließ er die Bilder dessen, was geschehen, an sich vorüberziehen. –

Er hatte den Vater nie geliebt. Der war ein rauher, gewaltsamer Mann gewesen, der die Bauern peitschte, von dessen Lachen und von dessen Schelten das Haus in gleicher Weise erzitterte und vor dem er selber nicht mehr galt als etwa der Teckel, der ihm, wenn er gut gelaunt war, in die Absätze beißen durfte und den er im nächsten Augenblick mit einem Fußstoß weit in die Lüfte schleuderte. Die knorrige, kleine Gestalt, das gelbe, breitknochige Gesicht mit dem kohlschwarzen Knebelbart und den kleinen, funkelnden grauen Augen hatte ihm, so weit er zurückdenken konnte, als Schreckbild gegolten. Seine Mutter hatte er nie gekannt. Sie war wenige Jahre nach seiner Geburt langem Siechtum zum Opfer gefallen. Drunten im Dorf erzählte man sich, der Baron habe sie mit seinem Zorn und seiner Liebe zu Tode gequält.

In der düsteren, hochgewölbten Galerie, dort, wo von den steinernen Wänden die Schritte so schauerlich widerhallten und wo einen selbst im heißesten Sommer ein Frösteln anwandelte, hatte als das letzte einer langen, gespensterhaften Reihe ihr Bild gehangen. Das Bild einer zarten, verkümmerten Frau mit schmalen, blutleeren Lippen und halbgeschlossenen Lidern, die in Schwäche und Mutlosigkeit niedergesunken schienen.

Gar manche unbewachte Stunde lang hatte der Knabe einst vor diesem Bilde gestanden und sehnsüchtig gewartet, daß diese Lider sich erhöben, damit auch in sein junges, einsames Leben ein Strahl der Mutterliebe fiele. Aber mochte er auch in heißem Gebete die Hände falten, mochte er tränenüberströmt in herzklopfendem Bangen dem Augenblicke der Belebung entgegenharren, müd und schläfrig wie immer, schon halb verfallen der großen Ruh, fuhren die Augensterne fort, mit ihrem fremdartig metallischen Schimmer auf ihn herniederzustarren, bis er verzweifelt sich losriß und von dannen stürzte.

Neben dem Bilde der Mutter hing ein ander Bild, in seiner Art nicht minder beachtenswert als jenes – das Porträt eines strahlend schönen, schwarzlockigen Weibes, das im Begriff ist, zu Pferde zu steigen. Ein Dolman von rotem Samt, goldverschnürt, mit Wieselpelz umrandet, fällt ihr über die linke Schulter, in der rechten Hand, die ein langer, faltiger Stulpenhandschuh bedeckt, schwingt sie die Reitgerte, als wollte sie sie auf die Schulter eines Übeltäters niedersausen lassen. – Ein dämonischer Lebenswille glüht und blitzt in diesen Augen, die kühn und gebieterisch in die Ferne schauen, erwartend, daß alles, was da nahe, sich ihrer Gnade anheimgebe.

So hatte die alte Großmutter, die mit ihrem Keifen und Schelten, ihrem Krückstock, ihren Likörgläsern und Tabatieren unheimlich und hexenhaft in die frühesten Erinnerungen des jungen Mannes hineinspukte, in ihrer Jugend ausgesehen. Sie war der Unstern des Hauses geworden, denn sie, die vor ihrer Hochzeit am sächsisch-polnischen Hofe eine hochgefeierte Schönheit gewesen war, hatte dem Vater die Liebe zum Polenlande schon mit der Milch ihrer Brüste zu trinken gegeben, so daß er, der Edelmann von deutschem Namen und ordensritterlicher Herkunft, mitten in einer deutschen Gegend lebend, das Deutschtum zu verleugnen anfing und sein Herz an die todgeweihte Sache der Polen hängte. – Wohl war es ein deutsches Fräulein gewesen, mit dem er an den Altar getreten war, aber er hatte sich nicht entbrechen können, seinem ersten und einzigen Sohne einen polnischen Namen anzuhängen, mit dem er nun in einer Zeit überreizter Vaterländlerei, wie mit einem Erbübel behaftet, umherlief. –

Aber was bedeutete der unschuldige Name Boleslav, verglichen mit jener ungeheuren Schmach, die der Vater in seiner grimmerfüllten Polenliebe sich und seinem Geschlechte angetan hatte!

Nun war er tot, und »mit den Toten soll man nicht hadern«, sagte der Sohn jenes Vaters zu sich, aber in demselben Augenblicke überkam ihn mit ganzer Gewalt das Bewußtsein der Schandentafel, die er mit sich schleppte, wo er ging und stand, und von der keine Macht der Erde ihn je befreien konnte. Klagend und anklagend streckte er die Arme zu dem bläulich leuchtenden, mattgestirnten Himmel empor, als wolle er Rechenschaft von der Seele des Vaters heischen, die sich irgendwo in fernen Welten verkrochen.

Dann kam mit jähem Rückschlag ein weicheres Empfinden über ihn.

Er warf sich am Grabenrande in das taufeuchte Gras und preßte die Hände vors Gesicht. Ihm war einen Augenblick lang, als könne er weinen, aber seine Lider blieben heiß und trocken. Zu schwer lastete der ahnende Druck dessen, was ihm bevorstand, auf seinem Gemüte. Er bedachte, wie grauenvoll verdüstert und verzerrt er in wenigen Stunden wiederfinden würde, was einst gebadet im Lichte sonniger Kindheit vor ihm gelegen hatte.

Denn auch ihm, dem einsamen, mutterlosen Knaben hatte sie geschienen, die Kindheitssonne. Undank, Frevel wär's gewesen, das zu leugnen.

Durch Feld und Wald hatte er streifen dürfen, frei, ungebunden durch Essensstunde und Schlafenszeit, wie nur ein Räuber im böhmischen Walde oder ein Trapper in Arkansas, denn um sein Kommen und Gehen kümmerte sich niemand. – Wenn der Maiwind über das Zittergras strich und die gelben Falter von Blume zu Blume glitten, dann durfte er zwischen Halmen und Blüten auf dem Rücken liegen und zum blauen Himmel starren, solange es ihm gefiel – vom Morgen bis in die Nacht hinein, falls ihn nicht hungerte – es ging niemand was an. Und wenn es ihm behagte, mit dem Schäfer auf die Heide hinauszuwandern, sich aus dessen Schnappsack mit Schwarzbrot zu nähren und seinen Durst im Triftgraben zu löschen, so fand auch hiergegen niemand was einzuwenden.

Um das Schloß herum, das von seinem Hügel weit in das Land hinaussah, schlang sich in fast geschlossener Schleife mit steilen, umbuschten Ufern und lauschigen Standplätzen der blinkende, fröhliche Fluß. Dort gab es immer etwas Neues. – Bald führten die Knechte die Pferde zur Schwemme, bald wusch der Gerber seine Felle, oder es galt, die Jungen beim Angeln, die Mädel beim Baden zu belauschen . . . Des Abends, wenn die Sonne hinter den Erlenstämmen drüben verschwunden war, trat das Wild aus dem nahen Walde hervor, kletterte vorsichtig die steile Böschung hinab und leckte mit schlürfender Zunge das heißbegehrte Naß. Da galt es, schweigend dazuliegen und halbe Stunden lang keine Zehe zu rühren, denn beim geringsten Laut war das märchenhafte Bild davongestoben wie ein Sturmwind. Und wenn nun gar der Mond am Himmel aufstieg und ein Netz von silbernen Maschen über die Wellen breitete – wenn die Erlenbüsche dreinschauten wie weißverschleierte Prinzessinnen und die lustigen Mägde drüben auf der Bleiche ihre traurigen Lieder sangen, dann gab es nichts Herrlicheres auf der Welt, als sich in dem Blätterdickicht zu vergraben und, umgeben von tanzenden Mondlichtern, in den Morgen hineinzuträumen.

Er ließ die Hände vom Gesichte sinken und starrte mit wirren Augen um sich. Das Mondlicht schlief auf den weißen Feldern, nur die Schatten der Bäume, unter denen er saß, reckten sich mit ihren Zacken und Erkern finster und drohend in das Bild lächelnden Friedens hinein. Ein klägliches Geschrei, wie der Jammerlaut eines weinenden Kindes, erhob sich in der Ferne. Ein Junghäschen war's, das sich in den Ackerfurchen verirrt haben mochte und nun hungernd nach der Mutter schrie, ahnungslos, daß jeder Klageruf seinen Mördern als Wahrzeichen diente.

Die Not der Kreaturen durchschauerte ihn. Er erhob sich und wanderte weiter dem düsteren Ziele zu. Auch seine Erinnerungen schritten vorwärts.

Es kam die Zeit, da der alte Pfarrer ihn in die Schule nahm und das weiße Haus zwischen den Nußbäumen seine zweite Heimat wurde. Das Vagabundieren hatte nun ein Ende, denn der graue Feuerkopf hielt strenge Ordnung unter seinen Schülern.

Es waren ihrer zehn oder zwölf, Kinder von Bürgern und besser gestellten Handwerkern, Knaben und Mädchen durcheinander. – Mit den Bauerskindern kam er natürlich nicht zusammen. – Die wuchsen auf wie das liebe Vieh, denn der Lehrer, welchen der Vater für sie eingesetzt hatte, ein ehemaliger Kämmerer, der durch den Trunk unbrauchbar geworden war, trieb sich während der Schulstunden in den Schenken umher.

Aus der Schar seiner Kameraden ragte vor allem Felix Merckel hervor, der Sohn des Gastwirts aus dem Dorfe unten, ein unbändiger Bursche, der schon mit zehn Jahren lange Stiefel tragen und nach der Scheibe schießen durfte – und der mit seinen Fäusten die ganze Schule im Bann hielt. Auch Boleslav, der zwei Jahre jünger war als er und dessen stillerer Natur jenes breite, protzige Drauflosleben gewaltig imponierte, verfiel seinem Einfluß, soweit das Selbstbewußtsein des Herrensohnes und die scheue Ehrfurcht, die sie alle, selbst Felix, ihm entgegenbrachten, es erlaubte.

Felix wurde sein Lehrmeister in allen Künsten, die knabenhafte Ritterlichkeit sich zu eigen macht. Er lehrte ihn Schwimmen, Rudern, Vogelstellen, Feuerwerkmachen, Kaninchen schießen, selbst, wie man abends und zur Kirchenzeit die Gärten der armen Bauern plündert, offenbarte er ihm. Und obwohl das Obst, das er allstündlich im eigenen Garten pflücken durfte, tausendmal süßer und saftiger war als das holzige Zeug, das er heimlich und auf halsbrechenden Kletterwegen gewann, so hätte er es doch nicht übers Herz gebracht, diesen Raubzügen fernzubleiben. Hinterher freilich faßte ihn eine quälende Scham, und meistens trug er den Leuten am andern Morgen hundertfältig ins Haus zurück, was ihnen abends geraubt worden. – Nichtsdestoweniger begegnete er finsteren Mienen und tückischem Lächeln, denn des Vaters Faust lag schwer auf dem armen Gesindel, das damals dem Gute noch fronen und scharwerken mußte . . . Was war natürlicher, als daß der Haß, den der Vater gesät hatte, für den Sohn zu einstiger Ernte üppig ins Kraut schoß? . . .

Die Gestalten der andern Gefährten, der Mädchen insbesondere, waren in seiner Erinnerung zu Nebel zerflossen.

Bis auf eine natürlich.

Ihr Bild schimmerte mit sanftem Sternenscheine durch das Herzeleid, das allgemach sein ganzes Dasein wie mit schwarzen Grabtüchern umhüllt hatte und das selbst der heilige, sühnende Krieg nicht hatte von ihm nehmen können. Ihr Bild hatte ihn in die Schlacht geleitet und war nicht von ihm gewichen, als er, an schwerer Verwundung daniederliegend, langsam in den Tod hinüberzudämmern glaubte. – In der Sehnsucht nach ihr floß das ohnmächtige Glücksverlangen zusammen, das er sich immer noch nicht abgewöhnen konnte. Als ob die Missetat des Vaters ihm den Weg zum Glücke nicht unwiderruflich zerstört hätte.

Wie diese Liebe in seiner Brust herangewachsen war, so mächtig, daß sie eines Tages die ganze Welt mit ihrem Abglanz erfüllte, er wußte es selbst nicht.

Das blonde, kühle Pfarrerstöchterlein, das über keinen Graben zu setzen wagte, selbst wenn er ausgetrocknet war, das immer so furchtbar frisch gewaschen aussah und beim Versteckspiel sich nicht an den Kleidfalten wollte festhalten lassen, »weil sie ausreißen könnten«, war ihm als Kind eigentlich immer fremd geblieben. Manchmal, wenn sie allein miteinander waren und Helene ihm die Herrlichkeiten ihrer Puppenstube zeigte, wo selbst die Wischläppchen gestickte Ränder und eine Namenschiffre trugen, schien es, als wollten sich ihre Herzen enger aneinanderschließen, aber meist benahm er sich dann in seinem freudigen Ungestüm roh und ungeschickt, denn ihr sanfter Tadel erinnerte ihn alsbald, daß er die Schranken durchbrochen, die ihre Freundschaft ihm gesetzt hatte.

Dann pflegte er gekränkt und beschämt von dannen zu gehen und ihr fernzubleiben, bis ihn nach etlichen Tagen ihr mildes, verzeihendes Lächeln wieder an ihre Seite rief. – Er zögerte nicht, denn es war eine lichte Hoheit in ihrem Wesen, die ihn stets wieder in ihren Bannkreis zog.

Felix war diese Anhänglichkeit ein Greuel. Er nannte Helene eine Zierliese und ärgerte sie, wo er nur konnte. Sie ihrerseits hatte eine unnachahmliche Art, mit gerümpftem Näschen über die Achsel hinweg scheinbar auf ihn niederzusehen, wiewohl er einen Kopf länger war als sie, und nur, wenn er's zu arg trieb, ging sie weinenden Auges, ihn beim Vater zu verklagen.

Mit zwölf Jahren verließ Boleslav die Heimat, da die Verwandten seiner Mutter, die dem altpreußischen Beamtenadel angehörten, sich erboten hatten, seine Erziehung zu leiten. Der Vater mochte froh sein, ihn loszuwerden, denn der Lebenswandel, den er seit dem Tode seiner Gattin führte, war nicht dazu angetan, von einem Paar kluger, fragender Kinderaugen mit angeschaut zu werden. Von seinen Reisen in die Hauptstadt brachte er allemal fremde Weiber mit sich aufs Schloß, und manche halb aufgeblühte Knospe, die im heimischen Erdreich aufgewachsen war, fiel seinen Wünschen anheim. Nicht, daß er dies schamlos und öffentlich als frevlerisches Gewerbe betrieben hätte, er liebte nur, sich keinen Zwang aufzuerlegen, und schließlich war, was er tat, nichts wie sein gutes Herrenrecht, das ihm von Traditions wegen verbrieft war und dessen Ausübung im Grunde niemanden wundernahm – wenn nicht den Knaben, der nicht allzuselten Zeuge verliebter Anfälle und tränenreicher Anklagen geworden war.

Auch sonst geschah mancherlei auf dem Schlosse, was für sein Auge schlechterdings nicht geeignet schien. Es kam just die Zeit, in welcher der Heerruf des großen Napoleon das elend geknebelte und zerfleischte Polentum aus der Agonie emporriß. – Unheimliche Regungen des neubelebten Kadavers wurden beobachtet, so weit die polnische Zunge ihre Zischlaute erklingen ließ, und schienen sich selbst nach den rein deutschen Gegenden Ostpreußens fortzupflanzen.

Auf Schloß Schranden kehrten von Zeit zu Zeit geheimnisvolle Fremde ein mit schlanken, schmiegsamen Gestalten und scharfgeschnittenen, hohlen Gesichtern, die auf kleinen Wägelchen eilends das Dorf durchkreuzten und bei Nacht und Nebel wieder verschwanden.

Die Post brachte vielfach versiegelte Briefe mit russischen Stempeln, und des Vaters Arbeitskabinett blieb oft wochenlang vor jedermann verschlossen. Er selbst war finster und schweigsam geworden, ging umher wie im Traume, und die Striemen auf den Rücken seiner Knechte fingen an sich zu entfärben.

Um diese Zeit also geschah's, daß Boleslav zu den Königsberger Verwandten übersiedelte. Jahre ruhigen, wohlbewachten Werdens und Reifens folgten einander. Die Witwe des vormaligen Kanzlers versah Mutterstelle bei ihm, die vornehmsten Häuser der Stadt standen ihm offen.

Bilder und Gestalten der Heimat begannen zu erbleichen. Gelegentliche Besuche des Vaters zeigten ihm nur, wie fremd er ihm geworden war.

Da kam der fürchterliche Winter, in dem die Kriegsfurie die altpreußischen Provinzen verwüstete und der Siegesschritt Napoleonischer Kohorten zwischen Weichsel und Memel widerhallte.

Hinter Königsbergs armseligen Wällen hatten Scharen flüchtiger Provinzler vor dem andringenden Feinde Schutz gesucht. Jedes Haus war mit Menschen vollgestopft bis zum Giebel, und auf den Straßen loderten die Biwakfeuer im Freien kampierender Soldaten.

Mitten in diesem Kriegslärm, zwischen Trommelwirbel und Wehgeschrei, war es Boleslav vergönnt, den Traum der ersten Liebe zu durchträumen.

Er war jüngst sechzehn Jahre alt geworden, und ein vielversprechendes Primanerbärtchen schimmerte bereits, wie mit Kohle angemalt, auf seiner Oberlippe. Er kannte die Oden, die Horaz an Chloe und Lydia gedichtet, auswendig, und was der jüngst verstorbene Friedrich Schiller für Laura gefühlt hatte, war ihm kein Geheimnis mehr.

Eines Januarabends, als er, aus dem Kneiphöfischen Gymnasium heimkehrend, über den Schloßplatz strich, wo russische und preußische Ordonnanzen durcheinander jagten, sah er für einen Augenblick zwei große, blaue Augen fragend und freundlich auf sich gerichtet. Er fühlte sich rot werden, und als er wagte, sich umzuschauen, waren die Augen verschwunden. Am Abend darauf geschah dasselbe – beim dritten Male fand er den Mut, ein wenig besser aufzupassen, und sah, daß zu jenen Augen ein zartes, blondes Angesicht gehörte mit schlankem Näschen und einem Paar blasser, zierlich geschwungener Lippen, die ihn gar holdselig und ermunternd anlächelten. Dies Angesicht erinnerte ihn an ein altes Altarbild im Dome, darstellend die Jungfrau Maria in einem schönen Garten voll steifer Lilien und kurzgestielter Purpurrosen. – Auch an jemand anders erinnerte ihn das Angesicht. Er wußte nur nicht, an wen.

Und wie er darüber noch mit sich zu Rate ging, überzogen die zarten Wangen des Jungfräuleins sich mit rosiger Glut, und die zierlichen Lippen lispelten: »Boleslav – bist du es?«

Nun freilich war er des Zweifelns ledig, und jubelnd rief er: »Helene – Helene – du?«

Hätte sie ihn nicht gar züchtig von sich abgewehrt, er würde sie auf dem weiten Schloßplatze, inmitten kichernder Dirnen und skandalierender Soldaten, an seine Brust gezogen haben. Und als sie nebeneinander in ein stilleres Gäßchen bogen, erzählte sie ihm, daß ihr Vater sie beim Anrücken des Feindes hierher gesandt habe, damit ihr kein Leids von ihm geschehe, und daß sie nunmehr bei einer alten Tante hause, die in einem Stift für unverehelichte Pfarrerstöchter eingekauft sei und gute Tage habe. Sie benutze die Zeit fleißig, um französische und Musikstunden zu nehmen, denn sie wolle sich dem Vater einstmals bei seinem Lehramte hilfreich erweisen, da sie doch wohl keinen Mann bekommen werde.

Das alles erzählte sie in einer sanften, altklugen Art, die ihm gewaltigen Respekt einjagte, und sah ihn dabei von der Seite mit einem ruhigen, zufriedenen Lächeln an. – Von seinem Vater wußte sie nichts zu sagen – er habe sehr grimmig ausgesehen, als sie ihm das letztemal begegnet sei, auch sei sie schon lange ohne Nachricht von Hause, weil dort der Franzos sich eingenistet habe und Nachrichten nicht herüberkämen, aber der Felix Merckel sei hier, den habe sie unlängst getroffen, er sei bei einem Getreidehändler in der Lehre und benehme sich wie ein großer Herr. Der werde gewiß kein gutes Ende nehmen, wenn er schon als Lehrling Zigarren rauche und türkische Halstücher trage.

Zum Schlusse gab sie ihm die Erlaubnis, sie am Freitag bei ihrer Tante aufzusuchen, denn der Freitag sei im Stift der Tag, an welchem Fremde eingelassen würden. –

Als sie mit ihren trippelnden Schritten von dannen ging, leise in den schlanken Hüften sich wiegend, war ihm zumute, als habe die Jungfrau Maria aus jenem Altarbilde ihn mit ihrer holdseligen Erscheinung begnadet und kehre nun wieder zu ihren Lilien und Purpurrosen zurück.

Am Freitag darauf zog er die Klingel des Stifts. – Zwar zwischen Lilien und Purpurrosen fand er sie nicht, aber zwischen einem Fuchsia- und einem Geranienstocke, deren matte, verstaubte Blätter sie gar lieblich umrahmten. Die Glut des Winterabends fiel durch die beeisten Fenster und breitete rosige Schleier über ihr Angesicht. Vielleicht war's auch die Freude des Wiedersehens, die sie erröten ließ. – Die Tante, ein zahnloses, rostiges Altjüngferchen, mit Schönheitsflecken und einem gepuderten Toupet, erschöpfte sich in Komplimenten, gab dem vornehmen Besuch aus einer schönen englischen Porzellanschale Schokolade zu trinken und verschwand dann, als hätte die Erde sie verschlungen.

Oh, welch eine Reihe wonniger, sonniger Freitage das war, die damit ihren Anfang nahm! – Die Krieger zogen zur Schlacht und kehrten wieder – er sah sie nicht. – Die Donner von Eylau hallten über die Stadt – er hörte sie nicht. Manchmal, wenn er zum Himmel aufschaute, war's ihm, als läge er tief, tief unten im blauen Meer und die Welt, in der er sonst gelebt, nähme erst jenseits jenes azurnen Gewölbes ihren Anfang.

Daß er noch mitten in ihr steckte, wurde ihm eines Sonntagnachmittags klar, als die Tür seines stillen Giebelzimmers, wo er träumend über seinen Büchern saß, aufgerissen wurde und mit anspruchsvollem Lärm ein junger Himmelsstürmer, den er nicht kannte, hereingepoltert kam.

»Hurra, mein Junge!« schrie der, die Arme nach ihm ausbreitend, »seit einem Jahr such' ich dich wie Feinliebchens Busennadel und kann dich nicht finden. Erst das fromme, blonde Kind, die Helene, hat mich auf den Weg gebracht.«

Er war's wirklich, der tolle Felix, und das türkische Halstuch, von dem die Geliebte gesprochen hatte, flatterte in zwei genialischen Zipfeln über beide Schultern hinweg.

Die Begrüßung wurde von seiten Boleslavs herzlicher erwidert, als er selbst vor wenig Wochen für möglich gehalten hätte; aber seit ihm durch Helene die alte Heimat aufs neue lieb und lebendig geworden, war auch der einstige Freund seinem Herzen wieder nahegerückt.

Der nahm ohne viel Umstände auf dem Ruhebette Platz, und indem er sich in den ledernen Polstern streckte, betrachtete er staunend den behaglichen Raum, der ihm als Verkörperung üppigsten Prunkes erscheinen mochte.

»Du hausest ja hier wie der verwunschene Prinz im Paradiese«, rief er, »das lob' ich mir, als Junker auf die Welt zu kommen, während unsereins – ja Kuchen –!«

Und er spie einen Strahl braunen Speichels durch die Vorderzähne vor sich hin, wie er's von den Matrosen auf der Lastadie gelernt haben mochte.

Von nun an kam er häufig in Boleslavs stille Klause, aß die guten Bissen weg, die die Tante ihm heraufschickte, borgte sich Geld und Bücher von ihm und machte ihn mit den Mysterien des Hafenviertels bekannt. – Kurz, er benahm sich wie alle »Weltmänner« von fünfzehn bis neunzehn Jahren, denen tiefere und stillere Naturen Einfluß auf sich einräumen.

Oft war Boleslav im Begriffe, ihn zum Vertrauten seines Herzensgeheimnisses zu machen, aber im entscheidenden Augenblick konnte er das rechte Wort nicht finden, und darum unterblieb es, bis Felix ihn eines schönen Tages mit der Äußerung überraschte: »Wenn du etwa glaubst, daß ich nicht sehe, wie du bis über die Ohren in unsere frisch gewaschene Ehrenjungfrau verschossen bist, so irrst du dich.«

Er, dem Zorn und Scham das Blut in die Wangen trieben, verbat sich ernstlich jedes despektierliche Wort über Helene. – Freund Felix schnitt zwar eine Grimasse, aber er ließ sich nicht mehr einfallen, die Geliebte zu bespötteln. – Er hatte neuerdings die Absicht, als Midshipman in englische Dienste zu treten, »um das unterliegende Vaterland an dem Tyrannen zu rächen«, wie er sich ausdrückte, und Boleslav schaute seitdem mit doppelter Verehrung zu ihm empor.

Da kam der Tag, an dem der Freund ohne Handschlag, ohne Gruß an ihm vorüberging; nur ein verächtliches Achselzucken belehrte ihn, daß er gesehen worden war. – Fassungslos starrte er dem Davoneilenden nach, der nicht rasch genug aus seiner Nähe entkommen zu können schien.

Was war geschehen?

Am selbigen Abend schrieb er unter strömenden Tränen einen Brief, worin er Aufklärung und Rechenschaft forderte.

Noch ehe die Antwort eintreffen konnte, kam ein Bote mit einem Paket ihm gehöriger Bücher und einem Briefe, welcher lautete:

Sr. Hochwohlgeboren
  Herrn Boleslav von Schranden
                                                  hier.

Ew. Hochwohlgeboren mache die untertänige Mitteilung, daß nach den Ereignissen, welche sich in Schranden zugetragen haben, ich es unter meiner Würde erachte, einen Verkehr zu pflegen, welcher meinem Patriotismus ins Gesicht schlagen würde. Anbei die entliehenen Bücher ergebenst retournieret. Das Geld folgt, sobald ich es mir erhungert haben werde. – Der Bote erhält fünf Silbergroschen.

In Untertänigkeit
                                Ew. Hochwohlgeboren
                                                demütiger Diener

Felix Merckel.

Boleslav war zumute, als habe er hinterrücks einen Faustschlag erhalten. Er schämte sich so sehr, daß er tagelang keinem Menschen ins Gesicht zu sehen wagte. Endlich faßte er sich ein Herz und beschloß, Helenen zur Mitwisserin seiner Leiden zu machen. Sie würde am besten Erkundigungen einziehen können, die ihn aus seiner Ungewißheit befreiten.

Trotz ihres Verbotes, sie auf der Straße anzureden – sie fand eine solche Annäherung nicht geziemend, seit er im Stifte verkehren durfte –, lauerte er ihr auf und zeigte ihr den Brief. – Sie tröstete ihn mit ihrem milden Lächeln, war aber selber ratlos. Der Brief, den sie vorige Woche von ihrem Vater erhalten, hatte von nichts andrem zu erzählen gewußt als dem unglücklichen Gefechte, das im Walde hinter Schranden stattgefunden habe und wobei die preußischen Soldaten jämmerlich zugerichtet worden seien. Das hatte übrigens schon in den Zeitungen gestanden.

Ein Mittel gab es allerdings, die Wahrheit zu erfahren. Helene brauchte nur am Pregelstrom entlang zu gehen, wo die Lehrlinge der großen Speditionsgeschäfte, die mit Ausnahme weniger brach lagen, ihre freie Zeit zu vertrödeln pflegten. Sie tat es ungern, aber sie tat's. –

Fiebernd in Angst harrte er an der nächsten Brücke auf die Kunde, die sie ihm brachte.

»Ein Wichtigtuer ist er«, sagte sie, als sie langsam, aber mit tiefgeröteten Wangen des Weges daherkam, »und das sind sie alle, die Herren Handlungslehrlinge. Als ob ich mir von solchen den Hof machen lassen wollte.« Und sie lächelte gar verschämt in ihr blauseidenes Ridikül hinein. »Aber du kannst dich beruhigen, lieber Boleslav. – Es hat nichts weiter auf sich. – Seit er Midshipman werden will, ist ihm die Vaterlandsliebe zu Kopfe gestiegen.«

»Was hab' ich mit seiner Vaterlandsliebe zu tun?« fragte Boleslav. »Ich hasse den Bluthund, den Bonaparte, gerad so wie er.«

Helene schwieg und zupfte an ihrem Mäntelchen, das der eisige Winterwind ihr um die schmalen Lenden peitschte. »Auf mich darfst du bauen«, fuhr sie dann fort, »ich werd's dir niemals nachtragen.«

»Um Gottes willen – was?«

Und endlich kam's ans Tageslicht.

»Du mußt dir's nicht zu Herzen nehmen, lieber, teurer Boleslav – im Dorf nämlich erzählen die Leute sich, daß dein Vater die Franzosen bei Nacht und Nebel über den Katzensteg weg den Preußen in den Rücken geführt hat – siehst du –, und die braune Regine, die Tischlerstochter, weißt du, die kleine, krausköpfige, mit der wir zusammen in die Schule gegangen sind, die soll's gestanden haben, denn die ist der eigentliche Wegweiser gewesen. Und nun sagen die Leute, dein Vater sei ein Vaterlandsverräter, und wollen ihm den roten Hahn aufs Dach setzen.«

Das war's. Das war die Stunde, in der Lebenslust und Lebensmut von ihm abfielen wie im Mai die Blüten vom sturmgerüttelten Baum.

Vorüber – vorüber ihr Bilder schweigender Qual – fort mich euch, ihr Erinnerungen dumpfer Verbrecherangst und allzerfressender Scham!

Es dauerte lange, bis das Gerücht des Verrats auf öffentlichen Wegen bis nach Königsberg durchsickerte. Monate vergingen, ehe die ersten unheilkündenden Anzeichen sich fühlbar machten. Sie hatten genügt, um sein Wesen von Grund auf zu verwandeln. Scheu und linkisch, mit unstetem Blick und jäh wechselnden Farben, drückte er sich in den Winkeln umher, zusammenzuckend bei jeglichem Worte, das unverhofft an ihn gerichtet wurde. Dann kamen Tage, da die Lehrer anfingen ihn zu übersehen und die Kameraden von ihm fortzurücken – Tage, an denen die Tante sich den gewohnten Morgengruß verbitten ließ, weil sie leidend sei – Tage, an denen bei verschlossenen Türen Familienrat abgehalten wurde, an denen die Bedienten begannen, seine Wünsche zu überhören, und von Zeit zu Zeit jemand im Vorübergehen an seine Tür spie.

Er sah es herankriechen, das kalte, klebrige Gewürm, das da nahte, ihm die Glieder zu knebeln, ihm das Blut in den Adern gerinnen zu machen. Er sah das Rollen seiner Ringel, er hörte das Schlürfen, mit dem es sich näher schob – und wehrlos, gebannt, versteinert starrte er es an, ohne zu einer Frage, einem Aufschrei, einem Seufzer nur den Mut zu finden.

Auch Helene hatte er verloren. – Nicht durch ihre Schuld, beileibe nicht. Sie litt es nach wie vor, daß er an Freitagen die Klingel des Stiftes zog, sie sprach freundlich zu ihm, ja sie versuchte sogar, heiter zu sein und ihn mit sanften Scherzreden zu zerstreuen; aber war es nun, daß er selbst sich so ganz verändert hatte und wie die übrige Welt auch die Geliebte nur durch einen Schleier, gewoben aus Scham und Angst, zu sehen vermochte, oder hatte sie in der Tat seit jenem Tage einen Ton schonenden Mitleids gegen ihn angeschlagen, kurz – er fühlte sich immer beklommener werden und wagte kaum mehr, zu ihr emporzuschauen.

Eines Tages empfing ihn statt ihrer das alte Stiftsfräulein. Sie knickste und lächelte wie immer, sie nannte sich wie immer seine tiefergebene Dienerin, aber was sie ihm eröffnete, hieß Auseinandergehen. Der Pfarrherr, ihr geliebter Neffe, so brachte sie stotternd zum Vorschein, habe den Verkehr zwischen seiner Tochter und dem hochgeborenen Junker nicht länger für passend erachtet und infolgedessen bestimmt, daß selbige die Stadt Königsberg so bald als angänglich verlasse.

Ein Briefchen, mit blauem Lack gesiegelt, das war ihr Abschiedsgruß.

Lieber, lieber Boleslav!

Mein Vater befiehlt mir, Dich zu meiden, und ich muß ihm gehorsam sein. Lebe wohl. Ich werde Dich immer, immer liebhaben. Das schwört Dir

Deine              
Helene.

Sechs flüchtig geschriebene Zeilen sind magere Wegzehrung für ein Leben voller Sehnsucht und Entsagung. Aber durfte er Besseres verlangen? War es nicht Liebe und Treue übergenug, daß sie versprach, an ihm festzuhalten, da alles, alles vor ihm, dem Entehrten, zur Seite wich?

Fortan gedachte er ihrer wie einer Verklärten, einer Heiligen. Ihr Bild floß ihm mit dem der Jungfrau Maria zusammen, das er im Dom gesehen hatte, und wenn er ihrer gedachte, erblickte er sie mit einem Glorienschein geschmückt, von Lilien und Purpurrosen umgeben.

Wäre er nicht gar so blutjung gewesen, Egoismus und Energie hätten ihm über den erschlaffenden Kummer hinweggeholfen, aber in dem kindlichen Respekt, den er noch immer lähmend auf sich lasten fühlte, wagte er von dem Vater nicht einmal Gewißheit, geschweige denn Rechenschaft zu fordern.

Erst dessen plötzliches Erscheinen rief ihn zum Widerstande auf.

Er war jetzt siebzehn Jahre alt und hätte in etlichen Monaten die Universität beziehen können, wenn ihm nicht zu wiederholten Malen nahegelegt worden wäre, daß der Anstalt sein Austritt wünschenswert erschiene. Auch die gütige Tante, die bisher ängstlich vermieden hatte, jenes Gerücht zu erwähnen, unter dessen Drucke sie selber namenlos litt, hatte schonend die Zweckmäßigkeit seiner Entfernung zur Sprache gebracht.

Unter andern Verhältnissen hätte sein Eifer, seine Ehrbegier sich gegen ein solches Ansinnen aufgebäumt, jetzt fühlte er nichts wie namenlose Bitterkeit und hegte nur den einen Wunsch, sich mit seiner Schande zu verkriechen, wo keines Menschen Auge ihn sähe.

In dieser Verfassung stand er eines Tages seinem Vater gegenüber.

Der war gekommen, sich gegen seine aufsässigen Bauern Rat und Recht zu holen, und hatte alle Türen verschlossen gefunden. Er schäumte vor Wut, sein ganzes Wesen schien in verzweifeltem Trotze untergegangen zu sein. Beim Anblick der kurzen, gedrungenen Gestalt mit dem Stiernacken und den grauen, funkelnden Augen im roten, aufgeschwemmten Gesicht kam die alte Knabenangst noch einmal über ihn. Er raffte alle seine Kraft zusammen; die verhängnisvolle Frage wollte ihm nicht über die Lippen.

»Vater – ist es wahr, was die Leute?« – – –

In den grauen Augen erglomm eine Flamme wilden Argwohns.

»He – was erzählen sich die Leute?«

»Daß du die Franzosen hast über den Katzensteg führen lassen?«

»Und wenn's wahr wäre, du Gelbschnabel? Wenn ich das zertretene Polenvolk an dieser feigen preußischen Diebesbande hätte rächen wollen? Diesen stumpfen, trägen Knechtsseelen, denen nur ihr Recht geschähe, wenn der große Napoleon sie samt und sonders aufknüpfen ließe! – Stier mich nicht so an, du Schlingel! Was ich getan habe, war heiligste Menschenpflicht. Die Kettenbeladenen haben mich angefleht, die Gegeißelten haben zu mir geschrien: Rette uns – rette uns! – Retten könnt' ich sie nicht, das blieb einem Größeren vorbehalten, aber helfen könnt' ich ihm, jenem, der als Racheengel über das verluderte Europa hinbraust – helfen könnt' ich ihm, die Frevler zu vertilgen, wo ich sie in meine Hand gegeben sah.«

So sprach er, und seine kurze Gestalt schien zu wachsen. Aus seinen Augen schossen Blitze. Der Dämon Fanatismus, der seiner Himmelsschwester Begeisterung so ähnlich sieht, breitete seinen rotglühenden Mantel über ihn.

Schaudernd wich Boleslav zurück. Er fühlte es tief: zwischen ihm und diesem Manne war jedes Band zerschnitten.

»Mögen sie doch munkeln«, fuhr er fort, »mögen sie sich doch die Ellenbogen in die Seiten bohren, wenn sie mich sehen, ich schere mich den Teufel drum. – Sie wagen sich ja doch nicht an mich 'ran, solange der korsische Löwe sie zwischen seinen Tatzen zappeln läßt. – Und schließlich, wer kann's mir beweisen? Hätte das dumme Ding, die Regine, sich von ihrem Vater nicht ins Bockshorn jagen lassen, jedermann würde annehmen müssen, der Oberst Latour, der ein findiger Kopf ist, hätte den Weg übern Fluß und durch den Wald allein gefunden. Nun hab' ich sie dafür auf dem Halse – die Kröte. Und die Bauern sind selbst mit dem Kantschu nicht mehr zu bändigen, so innig lieben sie mich seither. Wenn es wahr ist, was die Blätter erzählen, daß die Meute demnächst vom König losgelassen werden soll, dann zerfleischt sie mich ohne Besinnen. – Kannst dir gratulieren zur Erbfolge, mein Jungchen.«

Das waren die letzten Worte, die er von seinem Vater vernommen hatte, denn das Gespräch, das auf seinem Arbeitszimmer stattfand, wurde in diesem Augenblicke durch den Eintritt der Tante unterbrochen. – Die alte, vornehme Dame wich vor der roten, knorrigen Hand des Vaters, die sich ihr grüßend entgegenstreckte, zurück, wie man vor einem giftigen Reptil zurückweicht, und bat ihn dann, ihr Grauen bezwingend, um wenige Minuten geheimer Unterredung.

Was hier über sein Schicksal beschlossen wurde, ist ihm allzeit unklar geblieben, denn noch ehe die kurze Frist verstrichen war, lag sein bisheriges Leben wie ein herzbedrückender Traum weit hinter ihm, er aber stand auf der Straße und überlegte, durch welches Tor er in die Weite wandern sollte.

Das Ende der abenteuerlichen Wanderschaft war ein kleines Gut in einem Winkel Litauens, wo man ihm Ruhe und Arbeit gönnte und ihm Gelegenheit gab, sich zu einem tüchtigen Landwirt auszubilden.

Jahre verstrichen. Sie waren ein unablässiger Kampf um den Bissen täglichen Brotes, ein Kampf, der ihm zwar Not und Niederlagen in Fülle, doch keine Schande, keine Verletzung seines Ehrgefühls eintrug. Denn er hatte seinen Namen abgelegt. Hätte er gleichzeitig auch seine Erinnerungen abstreifen können, wie man ein besudeltes Kleid abstreift, ihm wäre wohler gewesen.

Doch fort und fort schleppte er das Bewußtsein des Schimpfes mit sich, der an ihm klebte. Die Vaterlandsliebe, die früher ruhig und selbstsicher in seinem Herzen geschlummert hatte, war zu quälerischem Leben erwacht und wuchs und schwoll empor und ward ein Dämon, der ihn mit Geißelhieben von Ort zu Ort trieb, das Blut aus seinen Wangen, den Schlaf aus seinen Augen scheuchte. Viel fehlte nicht, daß er sich selber die Schuld an Preußens Unglück zugemessen hätte.

Nur einmal in der ganzen Frist war über die Heimat Kunde zu ihm gedrungen. Er las in der Königsberger Zeitung, daß das Schrandener Schloß, welches im Winter des Jahres sieben so traurige Berühmtheit erlangt habe, samt den Wirtschaftsgebäuden niedergebrannt sei.

Da hatte er die Hände gefaltet, und ein Stammeln, das fast wie ein Dankgebet klang, war seinem Munde entglitten.

Sühne – Sühne um jeden Preis!

Aber noch war nichts gesühnt, noch wand sich das zu Boden geworfene Vaterland unter den Sohlen des Diktators.

Da kam der Untergang der großen Armee auf den Schneegefilden des Ostens – und Preußens Erhebung folgte hinterher.

Das war's! Sterben, sterben, mit dem eigenen Blute sühnen, was der Vater verbrochen.

In dem freiwilligen Jäger Baumgart, der am 5. März 1813 in Königsberg einritt, erkannte keiner den jungen Freiherrn Schranden, der vor der Schmach des eigenen Namens just vor fünf Jahren davongeflohen war. Und gab es doch manche unter denen, die ihm heute zujubelten, welche ihn einst von dannen getrieben hatten . . . Einem Häuflein wackerer Bauernsöhne, aus deren Munde der Klang der verlorenen Heimat ihm anheimelnd entgegenscholl, schloß er sich an. Er wurde ihr Freund, ihr Führer – bis ein altbekanntes Gesicht, das mitten im Kampfgewühl neben ihm auftauchte, ihn wie einen Verbrecher von dannen scheuchte.

Felix Merckel hätte nicht gezögert, den Kameraden zu verraten, wer es war, der sie zum Kampfe führte.

Was von nun an geschah, war zu einem dumpfen Traum voll Blut und Qualm zusammengegossen, aus dem zwischen Salvengeknatter und Todesgestöhn nur die eine fürchterliche Frage sich heraushob: Lebst du noch immer?

Und diese Frage war der erste Gruß des wieder errungenen Lichtes, als er nach monatelangem Kampfe zwischen Sein und Nichtsein zum Bewußtsein zurückkehrte.

Für ihn war kein Frankensäbel geschliffen, keine Frankenkugel gegossen worden. Die einzige Sühne, die seinem Gewissen vollgültig erschienen war, blieb ihm versagt.

Harrte eine andre, schwerere Sühne seiner, da er nun dem Lichte des grauenden Morgens und den dunkelnden Wäldern der Heimat entgegenschritt?

 


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