Hermann Sudermann
Der Katzensteg
Hermann Sudermann

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18

Als Boleslav die Landstraße erreicht hatte, sah er drüben im Schatten des Kirchhofzaunes eine Mädchengestalt, die sich ihm zögernd entgegenwandte.

Der Augenblick, auf den er acht Jahre lang in Sehnsucht gewartet hatte, war gekommen. – In seinem Herzen regte sich nichts. – »Sei doch froh! Preise dich glücklich!« rief er sich zu. »Sie liebt dich! – Sie rettet dich! – Sie löst dich von Regine.« – Und wie ein Echo hallte es klagend zurück: »Regine.«

Scharf umrissen hoben die schwarzen Umrisse des überschlanken Mädchenleibes sich von dem mondhellen Hintergrunde ab. Die Schultern erschienen eckig, und von der hochgegürteten Taille sanken zwei gerade Linien zu den schmalen Hüften herunter.

Er sprang über den Graben und streckte ihr die Hände entgegen.

Sie barg mit einer zierlich schamhaften Wendung die ihren auf dem Rücken.

»Sei doch nicht gleich so stürmisch!« lispelte sie.

Er stutzte. Eine kalte, fast höhnische Regung durchzuckte ihn, deren er sich schämte und die er niederzwang.

»Du hast mich lange warten lassen, Regine!« – Und da sie sich halb dem Monde entgegenwandte, schaute er ein schmales, dürftiges Gesicht mit einem schnippischen Näschen, das sich verächtlich kraus zog.

»Ich heiße Helene«, sagte sie, »falls du meinen Namen vergessen haben solltest«, und drehte ihm schmollend den Rücken.

Er erschrak. – »Verzeih«, stammelte er. »Es geschah nicht mit Absicht.«

Wahrlich, das war ein übler Anfang.

Sie machte ein spitzes Mäulchen, schien aber geneigt, sich wieder versöhnen zu lassen. – »Oh, komm hier fort«, bat sie, »ich fürchte mich.«

»Wovor?«

»Nun – vor dem Kirchhof.«

Wieder durchfuhr ihn jenes höhnische Gefühl. Ohne daß er sich darüber klar wurde, verglich er sie in allem, was sie tat und sagte, mit Reginen. Und der Vergleich fiel nicht zu ihren Gunsten aus.

»Ich bin nämlich sehr graulich, wie du wohl noch weißt«, fuhr sie fort, während sie zur Landstraße zurückschritten, »und es war eine Übereilung von mir, daß ich dich gerade hierher bestellt hab'. Überhaupt war es eine große Übereilung von mir. Und wenn ich nicht –« sie sah ihn mit einem gezwungenen zärtlichen Blicke von der Seite an, der ihre Rede vollenden sollte. Dann, als er ihr beim Überspringen des Grabens behilflich sein wollte, tat sie einen kleinen Schrei und sagte: »Nein, nein.«

Das unklare Gefühl der Enttäuschung, das ihn bisher beherrscht hatte, wandelte sich in reines Erstaunen.

Sie sah sich nach allen Seiten um. »Hier können wir auch nicht bleiben«, flüsterte sie. »Wenn Leute kämen und mich hier mit einem Herrn zusammensähen, ich glaub', ich schämte mich zu Tode.«

»Wohin willst du also?«

»Ja, das mußt du bestimmen.«

»Komm also zum Walde!«

Sie schlug mit einer altjüngferlichen Gebärde die Hände zusammen. »Wo denkst du hin?« rief sie. »Zur Nachtzeit! Mit einem Herrn!« –

Er rieb sich die Stirn. War es denn möglich, was er sah und hörte? – Das war Helene? Das der Genius, zu dem er aufgeblickt hatte, als einem Wesen aus andern Welten?

Oder aber lag an ihm die Schuld? Hatte er verlernt, die Sprache der Tugend und Reinheit zu verstehen? – Hatte die wilde Magd ihm sein Urteil verwirrt, seine Phantasie mit allzu wüsten Bildern erfüllt?

»So gehen wir also die Landstraße entlang«, sagte er. –

»Wenn nur niemand kommt!«

»Du siehst ja, es kommt niemand.«

»Aber es wäre doch möglich!«

Darauf war nichts zu erwidern. Ein Schweigen entstand. Dann sagte er: »Willst du mir nicht deinen Arm reichen?«

»Ich bin so frei!« erwiderte die Geliebte seiner Jugend.

Eine Weile schritten sie, wiederum schweigend, nebeneinander her. Fast schien es, als hätten sie sich nichts zu sagen.

»Regine wartet!« rief es in ihm.

»Du bist ja so stumm!« meinte Helene, indem sie mit den zwei Fingern, die auf seinem Arm lagen, neckisch gegen die Beuge seines Ellbogens tippte. »Du böser Mann hast mir wohl gar keine Zuneigung mehr bewahrt.«

Er gab sich nicht das Recht, »nein« zu sagen. Sie war ihm treu geblieben, sie hatte auf sein Wort gebaut volle acht Jahre lang. Er durfte es nicht zuschanden werden lassen. Und als er ein zögerndes: »Gewiß, gewiß!« gestammelt hatte, ließ sie einen vielsagenden Seufzer hören und meinte: »Man hat mir so viel Schlechtes von dir erzählt, daß ich gar nicht mehr weiß, was ich glauben soll. – Aber es ist doch nicht wahr – nein?«

»Was denn?« fragte er müde.

»Ach, das kann ja ein Mädchen gar nicht in den Mund nehmen. – Ganz unmoralische Sachen. – Du bist doch früher immer ein edler Mensch gewesen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß du dich so verändert haben solltest.«

Sie machte einen leisen Versuch, sich enger an ihn zu schmiegen. Das blauseidene Ridikül, das sie in der Hand trug, fiel dabei zu Boden. – Als er sich – zu gleicher Zeit mit ihr – bückte, um es aufzuheben, geschah es, daß der Rand seiner Mütze ihre Wange streifte.

»Oh, nicht doch!« lispelte sie schamhaft und bog sich von ihm fort.

»Bitt' um Vergebung«, erwiderte er mit großer Höflichkeit und biß die Lippen zusammen.

»Du hast mir noch immer nicht geantwortet«, fuhr sie fort. »Am Ende ist es doch wahr, was die Leute sich von dir erzählen. – Das wäre sehr häßlich, und ich armes Mädchen würde mich bitter in dir getäuscht haben. Papa hat immer gemeint, es würde mit dir noch ein schlechtes Ende nehmen.«

Das sagte sie in einer so naseweisen, superklugen Weise, daß er ein Lachen nicht verbeißen konnte.

Sie schien einzusehen, daß sie sich in der Tonart vergriffen habe, und bitter gekränkt fuhr sie fort: »Ja, nun lachst du über mich armes Mädchen. Und ich mein' es doch so gut mit dir. – Ich möchte dich für mein Leben gern nicht untergehen lassen.«

»Bitte, gib dir keine Mühe!« erwiderte er.

»Nein, mache dich nicht schlechter, als du bist«, lenkte sie ein. »Ich weiß, daß du ein edler Mensch bist. Und wenn uns das Schicksal auch für ewig trennt, ich werde dich doch immer, immer liebhaben. – Oh, was für bittere Tränen hab' ich schon um dich geweint! – Und allabendlich hab' ich für dich gebetet: Lieber Gott, schütze meinen teuren Jugendfreund, schenk ihm ein gutes Gewissen und bewahre ihn vor Sünde und Rachsucht.«

»Die Schrandener sind gerade dazu angetan, einem die Rachsucht abzugewöhnen«, erwiderte er.

Sie rümpfte das spitze Näschen. – »Die Schrandener sind ein rohes Pack«, meinte sie; »mit so was soll man sich gar nicht abgeben. – Ich bin auch viel lieber bei der Tante in Wartenstein. Da lebt man doch wenigstens unter wohlerzogenen, anständigen Bürgersleuten, die da wissen, wie man vor einer Dame den Hut abzunehmen hat. – Das versteht kein einziger Schrandener, Herr Merckel ausgenommen. Und der Felix natürlich.« Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. »Aber der hat meistens Uniform getragen«, fügte sie nachdenklich hinzu. – Und als ob sie erst hierdurch an die Ereignisse des heutigen Nachmittags erinnert würde, schrie sie plötzlich hell auf, schlug die Hände zusammen und rief: »Oh, Boleslav, Boleslav!«

»Was wünschst du, Helene?«

»Boleslav, wie konntest du nur so böse sein! – Der arme, arme Felix! Ich bin ja nicht dabei gewesen, ich war hinten im Garten bei den Radieschen. Aber später haben sie's mir erzählt: Mit dem blanken Säbel hast du ihn auf den Kopf gehauen, daß das Blut nur immer so gespritzt ist.« Sie schauderte und muckte, das Weinen verbeißend. – Dann löste sie die Hand aus seinem Arme und lief nach der andern Seite des Weges hinüber. »Geh, ich mag nichts mehr von dir wissen«, rief sie, »du hast schlecht und grausam gehandelt.«

»Das verstehst du nicht, liebe Helene«, erwiderte er.

»Und dabei ist er dein Jugendfreund gewesen und hat mit uns im Garten gespielt. Wie oft ist er für dich über den Zaun geklettert, wenn dein Ball weggekullert war! Und Meerschweinchen hat er dir geschenkt. Hast du das alles vergessen?«

»Und um der Meerschweinchen willen, nicht wahr?«

»Oh – und jetzt hast du ihn in die dunkle Kirche gesperrt – Papa meint, du habest gar nicht das Recht dazu, und er wolle dich beim Kommando anzeigen, da werde es dir schlecht ergehen –«

So wenig gleicht sie ihrem Vater, dachte er, daß jedes seiner donnernden Worte sich in ihrem Munde zu mattem Geschwätz verwandelt. – Und von diesem gackernden Hühnchen hatte er Sein und Nichtsein abhängig machen wollen?

Sie war zu ihm zurückgekehrt und hatte mit einer zierlichen Gebärde die Hand aufs neue in seinen Arm geschoben.

»Daß du ihn aber morgen gefangen abführen, dann vor ein Gericht stellen lassen wirst, wie die Leute sagen, damit er totgeschossen werde – nicht wahr, das ist gelogen? Das glaube ich nicht von dir. So schlecht bist du nicht.«

Er unterdrückte eine Regung der Ungeduld.

»Also doch?« fragte sie und wischte sich die Augen. »Aber, nicht wahr, wenn ich dich sehr bitte, lieber Boleslav – mir tust du's zu Gefallen und läßt ihn frei?«

Ruhig, wie etwas Beiläufiges fast, kam die Bitte aus ihrem Munde. Aber in dem Auge, das argwöhnisch nach dem seinen schielte, flackerte geheime Angst.

»Lieber, lieber Boleslav«, fuhr sie dringlicher fort, während ihr Arm in dem seinen heftig zu zittern begann, »wenn du mich noch ein ganz klein wenig liebhast, läßt du mich nicht so von dir gehen. – Ich will dich auch ewig in meinem Herzen tragen, und wenn das Schicksal uns grausam trennt, will ich wenigstens fortfahren, für dich zu beten und dich zu segnen.«

»Verzeih mir, Helene«, sagte er, durch ihre scheinbar hervorbrechende Innigkeit wärmer gestimmt, »wenn ich dir hart erscheinen muß. Aber es hilft nichts. Dein Wunsch ist unerfüllbar.«

Sie, die diese Antwort nimmermehr erwartet zu haben schien, sah ihn eine Sekunde lang mit starren, bösen Augen an. Dann sank sie, in plötzliches Weinen ausbrechend, gegen einen Baumstamm und schlug die magern Hände vors Gesicht.

In diesem Augenblicke ertönte aus der Ferne ein Schuß, dessen Echo langsam über den Wäldern verrollte.

Helene stieß einen Angstschrei aus, und die Hände ringend schluchzte sie: »Gewiß haben sie auf ihn geschossen, weil du Unmensch es befohlen hast! – O Jesus, Jesus, hast du kein Erbarmen?«

Er, nach der Richtung hinhorchend, von welcher der Knall gekommen war, suchte sie zu beruhigen. Daß der Schuß Felix Merckel gegolten habe, davon könne nicht die Rede sein. Sicher sei er im Walde jenseits des Schlosses abgefeuert worden. Ein Wilddieb wahrscheinlich, der den Wechsel des Rotwilds beschlichen habe. –

Aber sie schluchzte nur um so heftiger. – »Dir kann's ja recht sein – o du – du – du schleppst ihn ja doch zum Tode.« –

Boleslav, den ihre steigende Verzweiflung zu befremden anfing, versprach ihr, sein möglichstes zu tun, um die Richter zur Milde zu stimmen. Er selber wolle bezeugen, daß Felix sinnlos betrunken gewesen sei. Seinen alten Haß gegen ihn, sein verletztes Gefühl – alles wolle er ins Feld führen, um das Unheil abzuwenden.

Aber sie gab sich nicht zufrieden. – Und plötzlich sank sie vor ihm in dem lehmigen Erdreich nieder und umklammerte seine Knie: »Erbarme dich! sei edel! errette ihn!«

»Um Gottes willen, steh auf!«

»Nein, das tu' ich nicht. – Im Staube fleh' ich dich an.« – –

»Aber begreifst du denn nicht, daß ich mich selbst des mörderischen Überfalls bezichtige, wenn ich ihn als schuldlos hinstelle?«

»Schadet nichts!« schluchzte sie. »Wenn du mich wahrhaft liebst, wirst du mir dies kleine Opfer bringen.« –

Da fing er an zu verstehen, daß nicht er es war, um derentwillen sie ihn gerufen hatte und daß sie nach wohlüberlegtem Plane handelte, um seine Liebe für sie zugunsten eines andern auszunutzen. –

So also war das Weib beschaffen, dessen er sich jahrelang unwert geglaubt hatte! Nach dessen Segen er emporschaute wie nach einem unerreichbaren Ziele. – Das war die Lichtgestalt, in der alles Gute und Reine sich zu vereinigen schien, die er für entheiligt gehalten hatte, wenn ihr Name mit dem Reginens in gleichem Atemzuge seinem Munde entglitten war.

Und Regine! Die Entehrte, die Verworfene, wie himmelhoch stand sie über – dieser schlauen Tugend!

Ein wildes Gelächter quoll aus seiner Brust.

»Warum sagtest du mir nicht gleich, daß ihr verliebt seid?«

Sie sprang in die Höhe.

»Das ist eine Verleumdung!« rief sie. »Ich bin ein unbescholtenes Mädchen.«

»So doch – verlobt!«

Sie fing aufs neue zu weinen an, obwohl sie nicht vergaß, dabei die Lehmkrumen von ihrem Kleide zu schütteln. »O Boleslav«, schluchzte sie, »du trägst die Schuld daran. Warum hast du mich so lange warten lassen? Und warum hast du den Leuten so viel Anlaß zu übler Nachrede geboten? – Und dann der Widerstand Papas, der doch nie zu überwinden gewesen wäre. – Was sollte ich armes Mädchen – – ?«

»Bitte, es macht nichts«, erwiderte er lustig.

»Und du bist mir nicht böse?«

»Oh, nicht im mindesten.«

Schweigend begleitete er Helene in die Nähe des Dorfes zurück, nahm freundlichen Abschied und versprach nochmals, alles zu tun, was in seinen Kräften stände, um ihren Verlobten zu retten.

Sie dankte, machte eine artige Verneigung und entfernte sich.

So endete die große Liebe seines Lebens. – –

Und als er den Schatten ihrer schmalen Gestalt hinter den letzten Häusern hatte verschwinden sehen, quoll in wildem Jubel der Name »Regine« aus seiner Seele.

Nun war der Weg frei – frei für jauchzende Sünde.

Doch was hieß Sünde, wenn das, was sich Tugend nannte, so kläglich zusammenfiel? Wo war das Böse, wenn das Gute zum Gespötte ward?

»Nimm sie hin – reiße sie an deine Brust – was morgen kommt, soll dich nicht scheren. Mag sie dir folgen von einer Schlacht zur andern – mag sie Männerkleider tragen, wie jene Leonore Prohaska, die ganz Deutschland als Heldin feiert.«

»Regine – Regine!« jubelte er abermals und streckte im Laufen die Arme aus. Über die mondhellen Wiesen ging sein Lauf. Höher und dunkler stieg das Gebüsch des Ufers vor ihm empor.

Am Katzenstege stand sie wohl und harrte seiner, wie sie allezeit getan.

»Regine!« rief er über den Fluß.

Nichts antwortete ihm. Tiefe Stille ringsumher – nur durch die jungen Blättchen der Erlen floß ein leises Rieseln, das klang, wie wenn ein Träumender durch halbgeschlossene Lippen atmet. Von dem unsichtbaren Flusse drang ein feines Geplätscher herauf. Das Wasser stand niedrig und brach sich an den spitzen Kieseln.

Er erklomm die Stiege.

»Regine!« rief er noch einmal. – Schweigen wie zuvor.

Da gewahrte er, daß fast in der Mitte des Steges das schwankende Geländer durchbrochen war. Morsche Splitter hingen an beiden Seiten herab.

Erschrocken neigte er sich zum Flusse hinunter – – – – – – – Auf der silbernen Fläche schwamm der Leichnam eines Weibes. – – –

 


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