Hermann Sudermann
Der Katzensteg
Hermann Sudermann

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4

Es war acht Uhr morgens, und die Sonne begann heißer herabzubrennen, als Boleslav, den verwilderten Forst verlassend, die Heimat vor sich ausgebreitet sah.

Seit zehn Jahren hatte er ihren Boden nicht mehr betreten.

Dem ersten wilden Impulse folgend, erhob er die Fäuste und schüttelte sie nach dem Dorfe hin, das – ein verlogenes Idyll – mit seinen weißen Spielzeughäusern und seinen grünbuschigen Gärten, mit seinen friedlich sich kräuselnden Rauchsäulen und seinem bläulich schillernden Kirchturme in heiterster Morgenruhe dalag.

Dahinter – schwarz mit goldgelben Rändern – die mächtigen Baumgruppen des Schloßparkes, der sich am östlichen Abhang des Hügels hinzog, aber das Schloß selbst, das den Hügel krönte und dessen gelbe, pyramidenhaft gegiebelte Zwillingstürme das Land weit hinaus beherrscht hatten – wo war es geblieben?

Hatte die Erde sich aufgetan und den Riesen verschlungen?

Erstaunt, entsetzt war er zurückgefahren. Und dann erst besann er sich: »Ja doch – sie haben's ja niedergebrannt!« Hatte er selbst nicht oft genug mit bitterer Genugtuung der Schreckenstat gedacht, die das Erbe seiner Väter verwüstete?

Aber jetzt, da er die Brandmale leibhaftig vor sich liegen sah, jetzt kam ein dumpfer, gärender Ingrimm über ihn.

»Mordbrenner!« schrie er und schüttelte die Fäuste zum andernmal gegen die Heimstätten seiner Feinde.

Seiner Feinde? Ja, er fühlte es klar in plötzlich aufleuchtender Erkenntnis: Des Vaters Feinde waren auch die seinen.

Er hatte sie geerbt – zusammen mit diesem wilden Forst, mit diesen brachliegenden Feldern, zusammen mit jenem rauchgeschwärzten Stumpfe – jetzt erst gewahrte er ihn –, der wie eine verstümmelte Riesenhand sich anklagend gen Himmel hob.

Zusammen freilich auch mit jenem fluchwürdigen Verbrechen, das er selbst verabscheute wie keiner sonst auf Erden und unter dem er litt wie keiner sonst auf Erden. Mochte er anstatt der Kindesliebe allzeit nur lähmende Furcht empfunden haben, mochte er seit Jahren sich losgelöst fühlen von allem, was Gott und Gemüt und Gesittung von nachkommenden Geschlechtern gebieterisch fordern, das Blut des Vaters, das ererbte, es ließ sich nicht zum Schweigen bringen. Das toste und quirlte und schäumte empor gegen die Unbill, die seinem Stamme angetan worden.

Aus seinen Augen brach eine wilde Glut, seine Linke tastete zitternd nach der Ledertasche, die von seiner Achsel herniederhing und aus der zwei Reiterpistolen ihre gezahnten Kolben hervorstreckten.

»Unbegraben?« knirschte er, die eine der Pistolen umklammernd, »unbegraben soll er bleiben? – Das wollen wir sehen – das wollen wir sehen!«

Und ein bittres Gelächter ausstoßend, schritt er mit harten Tritten zum Dorfe hinunter. – – –

Menschenleer – von grellem Sonnenschein überflutet, lag die lange Straße, die einzige des Dorfes, vor ihm ausgebreitet. Die glatten Wagengeleise glänzten in dem fetten Lehmboden, als wären sie aus Glas geschliffen. Flaschenscherben und Fetzen von alten Besen füllten die Vertiefungen, in denen sonst Tümpel sich ansammeln mochten. –

Rechts und links unter Linden und Kastanienbäumen, welche die grüngelben, herbstlich angefressenen Blätter hängen ließen, lagen die strohgedeckten Hütten der Bauern, die, mit Ausnahme weniger, alle dem Schlosse hörig gewesen waren und die erst seit den jüngst erlassenen Gesetzen sich von ihren Pflichten losgelöst und den Freien zugesellt hatten. Hie und da war ein grellgestrichener Zaun hinzugekommen, der das frischerrungene Besitztum von dem Reste der bewohnten Erde trotzig abzusondern schien, sonst hatte der neue Zustand alles beim alten gelassen. In den Vorgärten blühten Sonnenblumen und Raute ganz wie ehedem, und zwischen den Fenstern waren nasse Betten zum Trocknen aufgehängt – ganz wie ehedem. Nur die Zahl der Schenken hatte sich vermehrt. Boleslav zählte deren drei, während früher der Adlerwirt allen Bedürfnissen des Ortes genügt hatte.

Näher dem Kirchplatze zu begannen die weißen Häuschen der freien Handwerker sich aneinanderzureihen, der »Bürger«, wie sie genannt wurden, die dem Schlosse Grundzins zahlten und dafür die Befugnis hatten, ihre Gemüsebeete nach Belieben zu beackern. Da waren zwei Schmieden mit ihren »Wolmen« und den auseinandergetretenen und in den Boden gestampften Schlackenhaufen; da waren ein paar Schuster, ein Stellmacher, ein Korbflechter – da war auch –

Er hielt inne und ließ die Augen auf einer verfallenen und verwilderten Hütte ruhen, der elendesten in der ganzen Reihe, über deren Tür ein schmutzig grünes Schild die halberloschenen Worte trug: »Hans Hackelberg, Orts- und Gemeindetischler.«

Ein grün gestrichener Sarg, der von hohem Ständer auf den wüsten Vorgarten herniederblickte, galt als sinnreiche Erläuterung für alle, die nicht lesen konnten.

Mit diesem Ständer verband sich in Boleslavs Erinnerung ein merkwürdiges Bild, das bei seinem Anblick aus der Vergangenheit emportauchte: er sah ein kleines, schmutziges Mädel mit großen, dunklen, tränenüberströmten Augen und einem Walde wirrer schwarzer Locken um Wangen und Schultern herum, das sich mit der Linken an diesen Pfahl geklammert hatte und mit der Rechten den Zipfel einer blauwürfligen Latzenschürze krampfhaft gegen die Brust drückte, während ein Haufe schreiender Rangen mit Stecken und Steinwürfen auf sie eindrang. – Wiewohl er dazumal nicht viel größer gewesen sein mochte als sie, hatte bei seinem Nahen der Haufe doch scheu und verstummend Platz gemacht. Er war ja der »Junker«, der mächtige, der seinem Vater nur ein Wort zu sagen brauchte, um Segen oder Fluch auf einen jeden herabzurufen. »Was gibt's da?« hatte er gefragt, und darauf war das verfolgte Kind demütig an ihn herangetreten, hatte die Schürze ein wenig gelüftet, gerade so weit, daß er hineinschauen konnte, und hatte, die feuchten Augen flammend zu ihm aufgeschlagen, in bitterem Zorne gesagt: »Kiek, den wollen sie mir wegnehmen.«

In der Schürze aber hatte ein junger Spatz gesessen, der irgendwo aus dem Nest gefallen sein mochte.

»Gib ihn mir«, hatte er gesagt, denn er liebte die jungen Vögel. Da hatte sie willig die Schürze ausgebreitet, so daß er nur zuzugreifen brauchte. Und er tat's und bedankte sich nicht einmal, denn er war ja der Herr. Er hatte der Geberin auch nicht weiter gedacht.

Also – das war sie, jenes Frauenzimmer, von der die Leute zu erzählen wußten, daß sie den Franzen den Weg gezeigt und daß sie als des Vaters Geliebte bei ihm gehaust habe bis an seines Lebens Ende.

Warum nur hatte er ihr damals beistehen müssen? Warum hatte er nicht lieber die Rangen auf sie gehetzt? Vielleicht – daß ein Steinwurf ihre Stirn getroffen und diesem giftigen Dasein zur rechten Zeit ein Ende gemacht hätte!

Er schritt weiter. Hie und da schaute durch die kleinen, blinden Fenster ein schmutziges Gesicht in stumpfer Neugier nach ihm aus, hie und da bellte ein Köter ihn an, sonst blieb er unbehelligt. Wer sollte ihn auch erkennen?

Beim Anblick des Pfarrhauses, das mit seiner bogigen Veranda, seinen Blumenrabatten und den Nußgesträuchen ringsherum genau so still und friedlich dalag wie an dem Morgen, da er mit einem Seufzer der Erleichterung dem Regimente des gestrengen Pfarrherrn entflohen war und Helene mit ihrem weißen Batisttüchlein grüßend hinter dem Reisewagen hergewinkt hatte, machte er halt und sah sich mit finsterer Stirn nach einem Seitenwege um, der ihm das Vorübergehen ersparte.

Ihm war, als müsse sie noch immer auf dem Rasenhügel stehen und mit wehendem Tüchlein nach ihm ausschauen.

Noch aber durfte er ihr nicht entgegentreten.

Links führte ein Pfad zu dem Flusse hinunter, der das Gebiet des Schlosses von dem der Dörfler trennte. Hierhin lenkte er den Schritt.

Da sah er zum erstenmal in vollem Umfange das schreckliche Bild der Verwüstung, welches der Brand geschaffen hatte.

Statt der Scheunen und Stallungen, die sich am jenseitigen Ufer entlang gereiht hatten, erhob sich eine langgestreckte Trümmerreihe – geborstene Mauern, angekohlte Balken – alles mit Schöllkraut und Fettehenne überwachsen. Dahinter – wo Mauerspalten den Blick hindurchließen – der Hofplatz, in ein hügeliges, unkrautbestandenes Schuttlager verwandelt, und endlich auf der Höhe des Hügels, von den starrenden Ästen erstorbener Ulmen vergittert, eine schwarze Riesenruine mit phantastisch ausgezackten Mauerrändern – das Schloß.

Schlaff sanken ihm die Arme am Leibe herunter – ein Stöhnen nach Rache entrang sich seiner Brust.

Mühsam schleppte er sich am Ufer des Flusses entlang nach der Zugbrücke hin, die den einzigen Zugang zu der Insel bildete, denn in eine Insel war noch zu Zeiten des Großvaters durch eine kurze Kanalanlage der ganze Schloßbereich verwandelt worden.

Die Brücke wenigstens war noch vorhanden.

Mit ihren grauen, ausgefaserten Balken hing sie wie ein Überbleibsel aus ferner Vorzeit über den schwarzen, plumpen Pfählen, an deren Fuße die Wellen sich gurgelnd brachen. Die rostigen Ketten waren gestrafft. Ein Spalt von zwei oder drei Fuß Höhe – noch gerade mit einem Sprunge zu überwinden – trennte die Bohlen des festen Lagers von dem darüberschwebenden Brückenrande. – Es schien, als hätte jemand versucht die Brücke aufzuziehen und wäre dabei erschlafft.

Boleslav sprang hinauf und trat durch das steinerne Gerüst des Tors, dessen eisenbeschlagene Flügel halbverbrannt in ihren Haspen hingen.

Plötzlich hörte er zu seinen Füßen einen kurzen, klirrenden Laut, ähnlich dem Schnellen einer Bogensehne. Erschrocken hielt er inne und sah den eisernen Halbkreis eines Fuchseisens, das in den Schutt hineingegraben und sorgfältig mit Reisig bedeckt war. Die langen, spitzen Zähne der eisernen Kiefern hatten sich fest ineinander gebissen. Wie durch ein Wunder war er dem Unfall entgangen, der ihn für Wochen hinaus aufs Krankenlager geworfen hätte.

Vorsichtig mit dem Stocke den Boden abtastend, schritt er über den wüsten Trümmerplatz, auf dem zwischen den Ruinen hie und da ein zerfallender Arbeitswagen oder die morschen Dauben eines Branntweinfasses, von einem verrosteten Reifen noch mühsam zusammengehalten, wie zum Hohne emporragten.

Er schritt den Hügel zum Schlosse hinan, wo mannshohes Gestrüpp die Pfade verlegte. Noch zweimal spürte er Fuchsfallen auf, die ihren mageren Rachen gierig nach ihm aufsperrten. Der ganze Hofraum schien damit bepflanzt – das einzige Zeichen von Kultur, das er bisher bemerkt hatte. –

Mit klaffenden Fensterhöhlen und zerborstenen Mauern lag das Schloß vor ihm, das gänzlich zur Ruine geworden war. Haufen herabgefallenen Gerölles, Stuck und Ziegel durcheinander, mit Wegerich bewachsen, bildeten einen natürlichen Damm rings um die Fundamente herum. Die Rampe mit ihrem darüberhängenden Balkon war zu einer Laube verwachsen, deren wucherndes Blattwerk schier undurchdringlich schien.

Mitten in dein grünen Geranke hing eine weiße Tafel, welche die von des Vaters Hand geschriebenen Worte trug: »Vorsicht – nicht betreten –«

Ein Schauern ergriff ihn, als er so nach sechs Jahren das erste Lebenszeichen des Mannes vor sich sah, dem er das eigene Leben verdankte und den er nun begraben kam.

Wenige Minuten noch, und er wird vor seiner Leiche stehen.

Wo aber war die zu finden? Wo mochte er im Leben gehaust haben? In all diesen Ruinen war keine Tür, kein Fenstergerüst, keine Spur einer menschlichen Wohnung zu entdecken.

Er machte kehrt und schritt langsam um die Fassade des Schlosses herum, an den Turmstümpfen vorüber, die das Giebelende flankierten und deren schwarzes Steingefüge der nachwachsende Efeu aufs neue zu beleben begann, einen schüchternen Schein friedlicher Wehmut darüber breitend. Der Park mit seinen Baumriesen und seinem Dickicht wuchernden Unterholzes lag in engem Bogen vor ihm.

Da sah er etwa dreißig Schritte vor sich auf dem Rasenplatze, auf welchem ehemals die Statue der Göttin Diana gestanden hatte – der verwitterte Sockel und die Steinbrocken im Grase waren wohl Überbleibsel davon –, ein Weib . . . ein schlankes, kräftiges Weib mit krausen, dunklen Flechten, das nur mit einem roten Wollenrock und einem Hemde angetan war und mit energischen Spatenstichen das schwarze Erdreich aus dem Boden hob.

Er trat näher. – Sie grub und sah ihn nicht. – Ihr nackter Fuß setzte sich taktmäßig auf die Kante des Spatens und trieb ihn mit leichtem Drucke wie mit einer Ramme bis zum Stiel in die Erde hinein. Dazu sang sie ein Lied, das nur aus zwei Tönen bestand, einem höheren und einem tiefen, die voll und dumpf wie die Klänge einer Glocke aus ihrer Brust hervorquollen.

Das Hemd – ein grobes, selbstgewirktes Leinenhemd – war ihr von den Schultern geglitten und legte die vollen, kraftstrotzenden Formen des Nackens bloß.

Als sie, auf seinen Anruf jäh erschreckend, sich in die Höhe richtete, stand sie halbnackt vor ihm.

Ein paar dunkle, große Augen flammten zu ihm auf.

»Was wollen Sie hier?« fragte sie und faßte den Spaten fester, als wollte sie ihn als Waffe benutzen. Dann hob sie mit einer ruhigen Bewegung des linken Armes das Hemd über die starrenden Brüste empor.

»Was wollen Sie hier?« wiederholte sie.

Er schwieg noch immer. »Also das ist sie, die den Verrat vollführte? Die Buhlerin, die –« Wie, wenn er sie, anstatt zu antworten, mit vorgestreckter Pistole von der Insel herunterjagte, damit der Boden rein würde, auf dem er schritt?

Sie jedoch schien sich inzwischen aus seiner Haltung von der Friedlichkeit seiner Gesinnungen überzeugt zu haben.

»Hier ist kein Eintritt für Fremde«, fuhr sie fort, »gehen Sie 'runter von der Insel. Sie können überhaupt froh sein, daß Sie kein Wolfseisen gepackt hat. Gehen Sie.«

Hochaufgerichtet stand sie da und wies hinaus; aber sein finsterer Blick verwirrte sie allgemach. Scheu zur Seite schielend, strich sie sich die schwarze Lockenwildnis von den sonnengebräunten Wangen zurück und tastete über ihren Leib, dessen Blößen sie jetzt erst zu fühlen begann.

»Zeig mir die Leiche des Herrn«, sagte er.

Da zuckte sie jählings zusammen, stierte ihn eine Weile mit weitgeöffneten Augen an und stürzte dann weinend zu seinen Füßen nieder.

»Gnädiger Herr – gnädiger Herr«, drang ein halbersticktes Stammeln zu ihm herauf.

Er fühlte, wie ihre Finger nach seinen Händen suchten, und stieß sie heftig zurück.

»Zeig mir die Leiche«, sagte er, »und dann scher dich fort.«

Sie erhob sich langsam, stieß mit dem Fuße den Spaten von sich und ging voran – der Tiefe des Parkes zu.

Am Rande des nächsten Gebüsches drehte sie sich um und sagte furchtsam: ,»Hier ist ein Eisen.«

Er wich zur Seite. – Unfehlbar wäre er in die unsichtbare Falle hineingeraten.

Sie bog die Zweige des Dickichts, das sie durchschritten hatte, an beiden Seiten zurück und hielt sie so lange mit ausgestreckten Armen fest, bis er sie seinerseits erfassen konnte, sonst wären die Gerten ihm ins Gesicht geschnellt.

Ein kleines, einstöckiges Haus mit hohem Schornstein, von zerschlagenen Mistbeetfenstern und aufgeworfenen Humushaufen umgeben, tauchte inmitten einer Lichtung vor ihm auf. Es war das Gärtnerhaus, in dem er als Knabe oft genug mit Blumenscherben und Samen und Wurzelknollen gespielt hatte. Das war das einzige, was von dem Brande verschont geblieben war, wohl weil die Mordbrenner den Weg dazu nicht hatten finden können.

»Hier ist die Mine«, sagte wiederum das Weib, auf eine Erhöhung weisend, die wie ein frisch aufgewühlter Maulwurfshaufen aussah, und halb in sich hineinmurmelnd, fuhr sie fort: »Wer 'reintritt, ist tot!«

Er bückte sich nieder, grub die Zündkapsel mit den Händen aus der lockeren Erde und schleuderte sie weit von sich fort, so daß sie mit lautem Knall an einem Baumstamm explodierte. –

Sie wandte den Kopf ein wenig zur Seite und sandte einen scheuen, entsetzten Blick zu ihm empor – als habe er eine Tempelschändung begangen. –

Dann öffnete sie die Tür. –

Ein dunkler Hausflur tat sich auf. –

Das Haus hatte nur zwei Räume. Links war früher des Gärtners Wohnstube, rechts seine Werkstätte gewesen.

Aus dem Raume zur Linken, dessen Tür halb geöffnet war, drang ein heftiger Leichengeruch ihm entgegen.

Er trat ein.

In der Mitte des engen, dumpfen Zimmers lag auf einer Art niedriger Bahre ein weiß verhüllter Körper.

»Laß mich allein«, sagte er, ohne sich umzuwenden, dann schlug er das Laken zurück.

Das starre, borstige Haupt des Vaters schaute zu ihm empor. Die Augen waren tief eingesunken – drohende Stirnfalten lagen zwischen den Brauen. In den Höhlungen der Wangen hatten Büschel schwarzen Haares sich eingenistet, während der übrige Bart schon ergraut war. Die kurze; dicke Nase war schmal geworden, und um die Lippen, die im Tode sich nicht gelöst hatten, lag ein Zug schmerzlichen Trotzes, ein Zug, der, je länger er darauf niederschaute, um so lebendiger wurde und schließlich zu zucken und zu spielen schien.

Boleslav faltete die Hände und betete ein Vaterunser. Seine Tränen fielen in zerschellenden Tropfen auf das wächserne Antlitz nieder.

»Deine Schuld sei meine Schuld«, murmelte er. »Wenn ich dich nicht verteidige, 's tut's wahrhaftig sonst keiner auf der Welt.«

Dann breitete er das Laken wieder über den Körper, denn die Fliegen begannen rings zu schwärmen.

Als er sich umwandte, sah er den dunklen Kopf des Weibes gegen die Füße des Toten gepreßt, während ihr Nacken sich leuchtend aus dem Schatten heraushob.

»Was suchst du hier«, herrschte er sie an.

Sie fuhr zusammen, und sich niederkauernd hob sie die linke Schulter empor, als ob sie mit ihr drohende Schläge auffangen wollte. – Ihr Auge blickte heiß unter dem Lockendickicht hervor.

»Es hat mich noch keiner von ihm fortgewiesen«, sagte sie.

»Ich weis' dich fort.«

Da erhob sie sich schweigend und ging.

Er riß einen Fensterflügel auf, denn er vermeinte zu ersticken. Dann hielt er in dem Zimmer Umschau. – Es war eng und ärmlich genug – wahllos vollgefüllt mit dem unpassendsten Geräte, wie es beim Brande gerettet sein mochte. – Ein goldfüßiger Tisch neben wackligen Baststühlen, ein bäuerliches Himmelbett neben prunkenden Marmorkonsolen – ein halbzerschellter venezianischer Spiegel neben dem Holzkäfig eines Dompfaffen. Vor allem aber das Bild – jenes gleißende Bild des schönen polnischen Weibes, das seine Großmutter gewesen war und von dem alles Unheil seinen Ursprung hatte.

Ihr stolzes, schwarzes Auge spähte noch immer siegheischend in die Ferne hinaus, und die schmiegsame Reitgerte in der weißen, schmalen Hand sagte noch immer: Knie nieder, du Knecht.

Nur der Diamant am Knaufe, der früher wie ein Stern geleuchtet hatte, schien verlorengegangen. Hier war die Farbe abgesprungen und hatte die graue Leinwand bloßgelegt. Auch der kunstvoll geschnitzte Rahmen, der ein goldenes Rosengewinde darstellte, war zerbröckelt und zerschellt. Zwischen den Blumen klaffte das Holzgefaser, das roh mit Orangegelb überpinselt war.

»Wahrscheinlich war's das erste, was er beim Brande gerettet hat«, dachte Boleslav, und hätte des Vaters Leiche nicht ein Veto eingelegt, er würde das Bild augenblicklich von der Wand gerissen und zertreten haben.

In einer Ecke stand ein Waffenschrank mit einer Galerie neuer und kostbarer Schießgewehre. Pistolen und Krummsäbel aller Art hingen und lehnten zwischen ihnen.

Darüber war ein Plan der Schloßinsel aufgehängt, welcher die Stellen anzeigte, an denen Fußangeln, Minen und Selbstschüsse den Eindringling empfingen. Nach ungefährer Schätzung waren es mehr als hundert.

Ein Frösteln lief über Boleslavs Leib. War er nicht bestraft genug, der Unglückselige, durch das Leben, in dem er seine letzten Jahre hatte hinbringen müssen? Hauste er nicht schlimmer als ein gehetztes Raubtier zwischen seinen Mordwerkzeugen, die ihm selber drohten auf Schritt und Tritt? Er brauchte nur eines zu vergessen, und er war ein Mann des Todes. –

Als Boleslav zur Tür hinaustrat, stieß er gegen den Leib Reginens, die auf der Schwelle kauerte.

Mit einem Klagelaute, der wie das Winseln eines getretenen Hundes klang, sprang sie empor.

Ein plötzliches Mitleid kam über ihn und verschwand, ehe er ihr noch ein mildes Wort gesagt hatte.

»Warum liegst du hier?« fragte er.

»Es ist mein Platz da«, erwiderte sie, immer mit demselben demütig wilden Flammen ihres Blickes.

»Was heißt das? Auf der Schwelle liegen die Hunde!«

»Ich lag auch da«, erwiderte sie.

»Du heißt Regine Hackelberg?« fragte er.

»Ja, gnäd'ger Junker.«

»Du warst es, welche die Franzosen über den Katzensteg geführt hat?«

»Ja, gnäd'ger Junker.«

»Warum tatst du das?«

»Weil sie mir gesagt haben, ich soll es tun.«

»Wer hat dir das gesagt?«

Sie schlug die Augen nieder und schwieg.

»Warum antwortest du nicht?«

»Weil er's verboten hat.«

»Wer – er?«

»Der gnäd'ge Herr!«

»So nenn ihn auch so.«

»Ja, gnäd'ger Junker.«

»Mich nenne Herr und nicht Junker. – Ich bin kein Junker.«

»Ja, gnäd'ger Herr.«

»Herr – sollst du mich nennen – verstehst du?«

»Ja, gnäd'ger Herr.«

»Herr – Himmelkreuzdonnerwetter – einfach Herr!«

Sie war bei seinem Fluche angstvoll zusammengezuckt, dann, als sie begriffen hatte, ging ein freudiger Schimmer über ihr Gesicht.

»Ja, Herr«, sagte sie und nickte.

»Mir hast du alles zu sagen – verstanden? – Mich hat der Gnädige nicht gemeint, als er dir Schweigen gebot.«

»Zu allen, hat er gesagt.«

Er biß sich auf die Lippen. Wozu weiter in sie dringen? Es lag ja klar am Tage. Man hatte dieses Wesen als Werkzeug benutzt, weil es dumm und schlecht genug war, um sich benutzen zu lassen.

»Wie alt warst du, als die Franzosen ins Land kamen?«

Sie schlug die Augen nieder. »Fünfzehn – Herr.«

Eine mildere Regung erwachte aufs neue in ihm, aber ein Argwohn, finster und unheilvoll, erstickte sie sofort.

»Wurdest du für deinen Weg – bezahlt?« fragte er zwischen den Zähnen hindurch.

»Ja, Herr«, erwiderte sie ruhig.

Ein Anfall von Ekel schüttelte ihn.

»Wieviel betrug dein Lohn?«

»Ich weiß nicht, Herr!«

»Wie – hast du denn nicht gehandelt?«

Sie schien ihn nicht zu verstehen. »Der Vater nahm's mir fort«, antwortete sie, »er meinte, es wär' Sündengeld. Aber es war eine große Handvoll Gold – soviel weiß ich.«

Er ließ einen erstaunten Blick über sie hingleiten. Der mächtige Kopf mit dem wirren, im Nacken derb geknoteten Haar war demütig gesenkt. Sie schien keine Ahnung von der Verachtung zu haben, die er über sie ausschüttete. Oder war sie so gewöhnt daran, daß sie diesen Ton als selbstverständlich erachtete? – –

»Was hattest du zur Zeit der Franzosen auf dem Schlosse zu suchen?« forschte er weiter.

Dunkle Glut flutete ihr über Antlitz und Hals bis auf den Busen nieder. Irgendeine ferne Erinnerung schien einen Rest von Scham in ihr erweckt zu haben.

»Ich half bei der Näherei«, stammelte sie.

»Wie warst du denn aufs Schloß gekommen?« –

»Mein Vater hat mir gesagt – ich soll 'raufgehen und beim gnäd'gen Herrn nachfragen, ob's nichts zu nähen gibt. – Ich soll mir mein Brot verdienen, sagt er.« –

»So.« – – Langes Schweigen, dann fuhr er fort:

»Geh und zieh dir eine Jacke an, Regine.«

Sie tastete mit der Hand nach dem Busen und drückte das Hemd so eng unter dem Halse zusammen, daß die Kante sich in das schwellende Fleisch hineinschnürte.

»Nun?«

»Ich hab' keine Jacke.«

»Was heißt das? Hat der gnädige Herr dich nicht bekleidet?«

»Sie haben mir meine Jacke gestern vom Leib gerissen.«

»Wer?«

Ein Strahl brennenden Hasses brach aus ihrem Auge.

»Wer? Die – unten – wer sonst?« Und sie spie aus.

Ein merkwürdiges Gefühl, aus Erstaunen und Genugtuung gemischt, überkam ihn. Hier war also jemand, der an seinem Hasse teilnahm, der ihm vom Schicksal zugesellt worden in dem Kampfe, den er mit den Dörflern unten zu führen hatte.

»Sie sind dir wohl feind – die unten?«

Sie lachte höhnisch. »Die – ha! Sie werfen mich ja immer mit Steinen, wo sie mich sehen. Solche – Steine!« Und sie hielt die hohlen Hände in etlicher Entfernung gegeneinander, um die Größe der Wurfgeschosse zu schildern.

»Wie lange werfen sie dich denn mit Steinen?«

Sie rechnete nach. »Sechs Jahre sind's her.«

»Und sie haben dich nie getroffen?«

»O ja, manchmal. Da – hier.« Und sie ließ das Hemd halb herunterfallen, um ihm die Narben zu zeigen, die auf der Achsel und über dem Busenansatz den bräunlich warmen Bronzeton der Haut mit rotem Geäder durchbrachen.

»Aber jetzt nehm' ich mir immer die Wanne mit.«

»Welche Wanne?«

»Die Waschwanne. Die halt' ich mir über Kopf und Rücken, wenn sie mich schmeißen.«

Grauen packte ihn vor dem Elend dieser Existenz, die schlimmer war als die jedes Hundes.

»Warum bist du hier geblieben, wenn sie dir nach dem Leben trachteten?« fragte er. »Die Welt ist weit.«

Sie schien ihn nicht zu verstehen.

»Aber ich gehörte doch hierher«, sagte sie erstaunt.

»Und warum gingst du von der Insel 'runter, wo du doch wenigstens deines Lebens sicher warst?«

Sie lachte kurz auf.

»Sollt' er denn verhungern?« fragte sie – und dann plötzlich wurde sie rot, und mit einem Blicke scheuer Angst setzte sie hinzu: »Der gnäd'ge Herr.«

Er nickte begütigend. – Es schien ja fast, als fürchtete sie auf der Stelle gezüchtigt zu werden – die elende Kreatur.

»Gern ging ich ja auch nicht 'runter – meistens geh' ich nachts übern Katzensteg nach Bockeldorf, was drei Meilen entfernt ist, Bockeldorf – dort krieg' ich Mehl und Fleisch und sonst, was er – der gnäd'ge Herr – braucht, gegen doppeltes Geld, und bin morgens wieder hier. Aber manchmal ist's nicht angänglich. Im Schneesturm und bei Überschwemmung. Da hab' ich denn ins Dorf 'runter müssen – 's hat da noch mehr Geld gekost't – und manchmal, wenn sie mir gar nichts gaben, bloß Schläge – dann« – sie lachte schlau und wild, »dann bin ich gegangen und wiedergekommen und hab's mir geholt, wo ich's hab' kriegen können.«

»Das heißt – du hast gestohlen?«

Sie nickte eifrig, als erwartete sie ein besonderes Lob hierfür.

So verwildert also war dies Wesen, daß ihm die Schätzung von Gut und Böse vollständig abhanden gekommen war.

»Und was wolltest du gestern – unten?« fragte er von neuem.

»Gestern – na – begraben muß er doch werden! 's wird Zeit, Herr, 's wird Zeit. Vom Weinen kommt er nicht unter die Erde, hab' ich mir gedacht?« –

»Hast du denn geweint?« fragte er verächtlich.

»Ja«, erwiderte sie; »sollt ich nicht?« –

»Nur weiter.«

»Und da hab' ich denn die Wanne genommen und bin zum Pfarrer 'runtergegangen. – Der Pfarrer hat gesagt, ich soll sein reines Haus nicht beschmutzen – und dann bin ich zum Gastwirt Merckel gegangen, was der Schulz ist, wie der Herr weiß, da haben mich die Soldaten gesehen –«

»Welche Soldaten?«

»Die aus dem Krieg gekommen sind.«

»So – nur weiter.«

»Und haben geschrien: Schlagt sie tot – schlagt sie tot – na und da ist die Jagd losgegangen, und mein Vater – der hat auch geschrien, der war aber wieder betrunken, denn was der alte Mann trinkt, ist fürchterlich – und die Steine sind nur so 'rumgeflogen – und da sind die Weiber und Kinder gekommen und haben mich festgehalten, damit jene mich schlagen konnten – ich hab' aber die Wanne in beide Hände genommen und hab' ihnen immer auf die Köpfe gehauen – so und immer so –« Sie reckte die nervigen Arme über den Kopf empor und ließ sie dann wie Keulen herniedersinken. – Gleich einem antiken Erzgebilde stand der herrliche, hohe Frauenkörper da, der inmitten all des Elends zu so gewaltiger Pracht herangeblüht war. – Auch in der Unbefangenheit, mit der sie ihm ihre Blöße preisgab, lag etwas von antikem Wesen. – Freilich, das tat wohl nur die Dirne in ihr, die aller Scham schon längst entwöhnt war.

»Ein Tuch wirst du doch haben«, sagte er, indem er sich abwandte.

»Ja, ein Tuch hab' ich, ein wollenes.«

»So leg's dir um.«

Sie kehrte sich schweigend nach der Tür, vor der sie stand, und kam nach wenigen Sekunden mit einem rotbunten Schal bekleidet zurück, den sie kreuzweis um die Brust geschlungen und hinten zusammengeknotet hatte. Nun, da sie bemerkt hatte, daß sie Anstoß erregte, schien sie sich sogar ihrer nackten Arme zu schämen, die schlechterdings nicht zu bedecken waren. Sie hielt sie auf dem Rücken gekreuzt und verkroch sich in die hinterste Ecke des Hausflurs.

»Hat man dir also verweigert, den gnäd'gen Herrn zu begraben?« forschte er weiter.

»Nein, gesagt hat keiner was«, erwiderte ste, »aber ich hab' ja auch keinen gefragt.«

»Warum nicht?«

»Weil gleich die Steine um mich 'rum geflogen sind. Und da hab' ich mir gedacht: Kommen wird doch keiner, ihn zu holen, also scharr du ihn nur selber ein.«

»Du allein?«

»Hab' ich ihn vom Katzensteg allein ins Haus getragen, werd' ich ihn doch auch begraben können.« –

»Wo denn – auf dem Kirchhof?«

»Auf dem Kirchhof? Hahaha – das wär' schön! Durchs Dorf wär' ich wohl nicht lebendig mit ihm gekommen. Aber vorm Schloß – im Garten. Ich war eben dabei, die Grube zu graben, als der Herr ankamen – 'ne schöne Grube – 'ne tiefe Grube – 's liegt sich da ebenso schön wie in dem steinernen Gewölbe, Herr.«

Auf seinen Lippen lag ein lobendes Wort . . . Diese hündische Treue, die, ohne zu fragen, ohne zu zaudern, tausend Toden freudig entgegengegangen war, verdiente wohl einen Lohn. Gut, so wird er sie in klingender Münze bezahlen. Es mag ihm wohl auch am liebsten so sein, dem elenden Geschöpf. Sobald er den Vater zur Ruhe gebracht hat, wird er sie abdanken – so lange mag sie noch auf diesem Boden weilen.

Freilich, den Vater zur Ruhe bringen, das war nicht leicht. Daß ihm ein ehrliches Begräbnis verschafft werden mußte, wie jeder Christenmensch es verlangte, daß der Platz im Schrandenschen Erbbegräbnis, der ihm gebührte, nicht auf ihn warten durfte, das stand als unverrückbare Kindespflicht in seiner Seele fest. – Und wenn er selbst dabei zugrunde ginge. – – Aber schließlich gab's eine Obrigkeit in Preußen, und Herr von Schön, der überdies ein Verwandter seiner Mutter war, führte ein straffes Regiment.

Als er sich zum Gehen wandte, fiel ihm ein, daß er nicht imstande war, sich hundert Schritte weit auf seinem Grund und Boden zu bewegen, ohne hundertmal in Todesgefahr zu geraten.

Ohne dieses Weib, das er verabscheute, war er hilflos wie ein Kind.

»Führ mich zur Zugbrücke«, sagte er, »und bis ich wiederkomme, räume die Fallen aus dem Weg.«

»Ja, Herr.«

Aber wie angewurzelt blieb sie stehen.

»Worauf wartest du?«

»Bitt' um Vergebung – aber der Herr sind wohl die Nacht durch unterwegs gewesen, und da meint' ich –«

»Nun, was denn?«

»Der Herr würden müd' und hungrig sein und –«

Das Weib hatte recht. Er hielt sich vor Erschöpfung kaum mehr auf den Beinen.

Aber er empfand ein Grauen, aus diesen Händen ein Stück Brot zu nehmen. Lieber holte er sich's von seinen Feinden.

 


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