Hermann Sudermann
Der Katzensteg
Hermann Sudermann

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16

Als Boleslav zwei Stunden später den Kreis der gaffenden Menge durchbrach, die, von einer Art abergläubischer Starrheit befallen, ihn anglotzte, wie wenn er zu hexen verstände, und hinaus auf den menschenleeren Anger trat, war ihm zumute, als hätte er soeben einen Käfig voll hungriger Bestien verlassen, die zu bändigen ihm obgelegen.

Die Gefahr schien nun endgültig vorüber. »Hab' ich sie heute bemeistert«, sagte er sich, »so werden sie morgen nicht mehr zu mucken wagen.« – Er reckte und streckte sich im Frohgefühl des errungenen Sieges.

Noch von Regine Abschied nehmen – und alle Not war vorüber. Vor ihm lag wieder die blühende Welt – wie Trompetengeschmetter und Kampfgeschrei hallte es lockend aus dämmriger Ferne.

»Nun zu Regine!« rief es in plötzlich aufquellendem Jubel aus den Tiefen seiner Seele, so daß er vor sich selber erschrak. Um sich zum letzten schweren Werke zu sammeln und zu festigen, beschloß er, bevor er den Katzensteg aufsuchte, noch einen Umweg durch den Wald zu machen.

Die Sonne neigte sich den Wipfeln zu. Über die junggrünen Wiesen breiteten sich duftige Schattenschleier, und aus den feuchten Gräben stieg ein Duft von gärendem Schlamme.

Nur der Fichtenwald stand starr und schweigend wie zur Winterszeit. Kaum daß hie und da ein weiches, lichtgrünes Spitzchen aus den schwarzen, holzigen Büscheln guckte.

Er warf sich ins Moos und schaute dem Sonnenlichte nach, das wie ein purpurnes Gewebe über dem dunklen Dickicht hing.

Noch einmal ließ er das Wagestück der letzten Stunden an sich vorüberziehen. – Die dicht verhängten Fenster des Pfarrhauses kamen ihm zu Sinn. Wie sorgsam sie sich und ihr Bereich vor seinen Blicken zu schützen gewußt hatte! Sie mußte doch wissen, was sein Erscheinen dort unten bedeutete. Mußte doch wissen, daß er morgen von dannen zog, um vielleicht niemals wiederzukehren.

Sollte sie keine Sehnsucht empfinden, ihn vorher noch einmal zu sprechen? Sollte die Stunde, auf die sie ihn verwies, auch heute nicht geschlagen haben? Was half der Brief, den er auf seinem Herzen trug, wenn die Hand, die ihn geschrieben hatte, sich ihm entzog? Ihr Bild war nun ganz erloschen. Noch einmal konnte es ihn nicht in die Schlacht geleiten, falls sie es nicht selbst erneuerte.

»Wenn sie mich liebt, wird sie mich rufen. – Ruft sie mich nicht, dann muß sie mir verloren sein.«

So entschlossen verließ er den Wald und schritt dem Flusse zu.

Von lichtem Grün umkleidet lachte der Park ihm entgegen. Ein Silberschimmer hing über den Pappelkronen, und der Efeu dunkelte dazwischen.

Wie war die Heimat schön, die ihm doch nichts wie Not und Qual geboten hatte! Wie drängte sein ganzes Wesen sich jenem armseligen Schutthaufen entgegen, wo er wie ein Verbrecher gehaust! War vielleicht jenes Weib daran schuld, das sein Elend freiwillig mit ihm geteilt und das eigene Elend zum Schemel seines Glückes hatte machen wollen?

Doch ihm bangte nicht vor dem, was kam. Er wußte sich gefeit gegen Schwachheit und Frevel, seitdem das Vaterland ihn gerufen hatte. Auch hatte er sich schon lange von ihr frei gefühlt. Sie war längst wieder die Magd wie er der Herr.

Noch eine einzige Nacht – und der Fluch des Pfaffen war zum Geschwätz geworden.

Was aus ihr werden sollte? – – Mochte sie doch selber zusehen. Er hatte ihre Zukunft gesichert. Mehr durfte niemand von ihm verlangen. Und das Geschenk sollte noch heute verdoppelt, verdreifacht werden, damit sie umworben dastände gleich einer reichen Witwe . . . Ließen doch Tausende Weib und Kind in Hunger und Elend und durften nicht mit der Wimper zucken, wenn die Kugel, die mörderische, geflogen kam. Warum sollte es ihn bekümmern, wie dies fremde Geschöpf die Einsamkeit vertrug?

So stärkte er sich zur Rauheit, denn sein Herz klopfte sehr . . .

Und als er die Stiege zum Katzensteg erklomm, sah er drüben hinter den Sträuchern die wohlbekannte Gestalt, die ein Strahl der untergehenden Sonne goldig überflutete.

»Regine!« rief er.

Aber sie rührte sich nicht.

»So komm mir doch entgegen.«

Da schlich sie mit hochgezogenen Schultern langsam näher, die gespreizten Finger der Linken gegen die linke Brust gedrückt.

Er blickte sie an und – erschrak.

»Mein Gott – wie siehst du aus!« stammelte er.

Ganz verwildert schien sie. Ihre Kleider waren zerrissen, das Haar, das sich unter dem Kamme schon so prächtig zu locken begonnen hatte, hing wieder in krausen, dürren Zotteln über Stirn und Wangen. Aus tiefen, blauen Höhlen blickten die Augen mit hexenhaftem Glanze stier und brennend hervor und wagten nicht, sich zu ihm zu erheben. –

»Sie geht zugrunde«, schrie es in ihm. »Sie stirbt an dir!« Er ergriff ihre Hand, die sie schlaff in der seinen hängen ließ. –

»Regine – so rede doch – freust du dich gar nicht, daß ich wieder da bin?«

Sie duckte sich wie damals, als sie noch Schläge fürchtete.

Er streichelte ihr hartes, trockenes Haar. »Armes Ding!« sagte er. »Es ist dir schlecht gegangen so mutterseelenallein.«

Sie zuckte unter seiner Berührung zusammen und schwieg.

»Warum hast du mir nicht geschrieben, daß du dich hier zu einsam fühltest?«

Sie schüttelte den Kopf, dann sagte sie schüchtern: »Es war nicht die Einsamkeit, Herr.«

»Was war's denn sonst?«

Sie sah ihn ängstlich an und schwieg.

»Also?«

»Ich – ich hab' geglaubt – Sie werden – nicht – wiederkommen.«

»Aber du törichtes Frauenzimmer, ich hab's dir doch geschrieben.«

»Ja, Sie haben geschrieben – ich komm' vielleicht in acht Tagen, und dann hab' ich am Katzensteg gestanden Tag und Nacht – Tag und Nacht – aber Sie sind nicht gekommen. Und nach drei Wochen haben Sie wieder geschrieben: ich komm' vielleicht in acht Tagen, und sind wieder nicht gekommen. Und da hab' ich gedacht, Sie wollen mich nur hinhalten, damit ich's verwinden möcht'. Und 's tät' Ihnen leid, daß Sie freundlich zu mir gewesen sind, weil ich's doch nicht verdient hab' und weil ich . . .« sie stockte und barg für einen Augenblick das Antlitz in ihren Händen.

»Aber dein Brief lautete ja ganz vernünftig?«

»Ja, Herr«, stammelte sie, »hätt' sich's wohl – für mich geziemt, Ihnen was – andres zu schreiben?«

Er biß sich auf die Lippen und schaute vor sich hin in das Gewimmel ergrünender Blättchen. – – Ob sie etwas ahnte von dem, was in wenigen Stunden über sie hereinbrechen sollte?

»Nun ist aber alles gut – nicht wahr?« fragte er unsicher.

Da sank sie mit einem Aufschrei vor ihm nieder und rief, seine Knie umklammernd: »Alles ist gut, wenn Sie hierbleiben, Herr. Ich hab solche Angst, Sie könnten wieder fortgehen, Herr.«

Nein, sie ahnte nichts. – Das Schwerste von allem stand noch bevor. Ihm war zumute, als hätte man ihm einen Blitz in die Faust gelegt, mit dem er sie bei nächster Berührung zerschmettern mußte.

Aber noch war es Zeit. Erst sollten dem armen, verängstigten Wesen ein paar Stunden freudigen Wiederauflebens beschert sein, ehe der letzte, der schwerste Schlag es traf. – So konnte sie Kräfte sammeln, ihn zu ertragen.

»Steh auf, Regine«, sagte er weich. »Laß uns froh sein und denke an die Zukunft.«

Dann schritten sie nebeneinander her durch den dämmrigen Garten, dessen Pfade, sauber mit weißem Kies bestreut, sich wie glitzernde Bäche durch das Rasengrün wanden. Ein unbestimmter Duft, aus dem Hauch von Sprießendem und Moderndem gemischt, wie ihn der Frühling bietet, quoll aus den Gebüschen, und von den Kronen herab erscholl ein wegmüdes, schüchternes Wispern und Zwitschern.

»Wie ist es hier schön geworden, seitdem ich fortging!« rief er.

»Ja, Herr«, erwiderte sie, »es ist so schön, wie es noch nie gewesen ist.«

»Mit einem Male?« fragte er lächelnd und sah sie von der Seite an. Da gewahrte er die tiefen Schatten auf ihren Wangen, aber eine Röte hatte sich lieblich darüber gebreitet.

»Sie lebt schon auf«, dachte er bei sich, und ihm war zumute, als ob diese Stunden auch ihm als die letzten eines versinkenden Glückes geschenkt seien.

»Du hast ja trotz allem wacker gearbeitet«, sagte er, immer bemüht, den Ton des wohlwollenden Herrn festzuhalten, und wies auf ein paar wohlgepflegte Rabatten, die von Aurikeln und Perlblumen umfriedet waren.

Sie stieß ein kurzes, stolzes Lachen aus. »Sie mußten doch alles in Ordnung finden, wenn Sie wiederkamen, Herr.«

»Aber dich selbst, Regine, dich hast du vernachlässigt.«

Sie wandte das Gesicht, das heiße Glut überflutete, schamvoll zur Seite.

»Soll ich die Wahrheit sagen, Herr?« stammelte sie.

»Natürlich.«

»Ich hab' gedacht – daß ich – vorher sterben werd' – und dann wär's ja doch – egal geblieben.«

Er schwieg. Wie ein Meer von Liebe strömte es von ihr aus und ergoß mit jedem Worte seine Wogen über ihn.

Vor seinen Blicken tat der Rasenplatz sich auf, der von der Hinterseite des Schlosses sich in sanftem Abhange zu dem Parke hinunterneigte. Dort stand auf dem verwitterten Sockel das Fußbruchstück der Göttin Diana, das Regine im Grase zusammengelesen hatte. Der Torso, den sie wohl nicht hatte heben können, lag daneben gewälzt, und der Kopf mit seinen leeren, weißen Augen thronte obenauf. Wenige Schritte davon hob sich ein schwarzer, viereckiger Abstich von dem helleren Rasen ab. Das war die Stelle, wo er sie zuerst erblickt hatte, beschäftigt, ein Grab für ihren Verderber zu graben, den niemand sonst hatte beerdigen wollen.

»Ich hab's gelassen – zum Andenken für mich!« sagte sie wie entschuldigend, indem sie auf die ausgestochenen Schollen wies, die zu einer grasigen Bank zusammenzuwachsen begannen.

Dann schritten sie weiter, dem Unterholze zu, das wie eine hohe Dornenhecke das Gartenhaus umgab.

»Und das Glasdach hab' ich auch wieder hergerichtet«, sagte sie.

»So–o?«

Ihre Blicke trafen sich und glitten rasch wieder in die Weite.

Friedlich grüßte das Häuschen ihm entgegen, und in seinen Fensterscheiben brannte frohlockend ein verfangener Sonnenstrahl, während alles ringsum schon in Schatten vergraben lag.

Ein wohliges Heimatsgefühl überkam ihn und beschwichtigte für einen Augenblick die Unruhe, die an ihm nagte.

»Geh«, sagte er, »koche mir etwas zum Abendbrot – ich bin hungrig und erschöpft vom scharfen Ritt.«

Sein Pferd fiel ihm ein. – Wo mochte sich das nun umhertreiben? Dann vergaß er es wieder.

»Und dich selber bring in Ordnung«, fuhr er fort, »damit du mir bei Tische nicht liederlich aussiehst.«

»Ja, Herr – so gut ich kann.«

Im Hausflur trennten sie sich. Er trat in das Wohnzimmer, sie ging in ihre Küche. – Tief aufseufzend warf er sich in das Sofa, das unter seinem Leibe kreischte und krachte. – Alles schien so, wie er's in jener Nacht verlassen, doch nein – der Vorhang im Ofenwinkel mit dem Lager dahinter war verschwunden. Auch das Bild der Großmutter fehlte. – Der Schuß, der Reginens Nacken gestreift, hatte es wohl endgültig der Vernichtung preisgegeben.

Ein Fenster stand offen. Der Duft des gärenden Bodens, der ihn heute nirgends verließ, drang in vollen Strömen ins Gemach. Hier mochten die Humushaufen schuld sein, die an dem Giebelende aufgeschaufelt lagen. – Seine Unruhe wuchs von Minute zu Minute.

Es litt ihn nicht lange in der Einsamkeit. »Wozu willst du dir und ihr die kargen Stunden verkürzen?« sagte er zu sich und wollte in die Küche treten; da sah er sie mit nackten Schultern neben den Flammen des Herdes kauern und an ihrer Jacke nähen.

Erschrocken fuhr er zurück.

Aber nach wenigen Sekunden kam sie selber, schon angekleidet, um ihm die Tür zu öffnen.

»Was befehlen Sie, Herr?«

»Zeig mir, was du an dem Dache gebessert hast«, erwiderte er, da ihm nichts andres einfiel. – Er lobte das Werk, aber er sah es nicht an. Dann stellte er sich neben den Herd und starrte in die züngelnden Flammen. Es war schon fast finster geworden, das Feuer warf einen flackernden Schein über die rußigen Wände. –

»Ich werde dir kochen helfen«, sagte er.

»Ach, Herr, Sie spotten mich aus«, erwiderte sie, aber ein glückseliges Leuchten flog über ihr Gesicht.

»Was bekomme ich denn?«

»Es ist nicht viel im Haus, Herr. – Eier und gebackenen Schinken – frischen Salat dazu – weiter hab' ich nichts.«

»Ich werde Gott danken, wenn ich –« jählings hielt er inne. Beinahe hätte er sich verschwatzt. Sie ahnte ja nichts. Durfte nichts ahnen. – Bis zur Morgenfrühe währte ihr Glück.

»Also vorwärts«, lachte er, während die Kehle sich ihm zuschnürte in Ahnen und Angst, »sonst fall' ich um vor Hunger.«

»Erst muß das Wasser kochen, Herr.«

»Gut – warten wir.« Er hockte auf dem Holzkasten nieder. »Und dann, Regine, tritt einmal näher. Du gefällst mir noch immer nicht – dein Haar –«

»Ich hab's noch nicht kämmen können, Herr.«

»Also tu's.« –

Ihr Auge flammte wieder scheu und flehend zu ihm hinüber. »Während Sie hier sind, Herr?« stammelte sie.

»Sieh, wie zimperlich mit einem Male!«

»'s ist nicht darum, Herr – –«

»Darum zier dich nicht.«

Sie ging in den fernsten Winkel, dorthin, wo ihr Bett stand, und löste mit raschem Ruck die wogende Lockenpracht, die sie bis zu den Hüften umfloß. Dann, während des Kämmens, als sie gewahrte, wie sein Auge wohlgefällig an ihr hing, breitete sie plötzlich, wie von Scham und Glück überwältigt, die Arme aus und warf sich vor ihrem Lager nieder, das Gesicht in den Kissen vergrabend.

Er wartete schweigend, bis sie sich erhob. – Als ihr Haar geordnet war, trat sie zu ihm an den Herd und hantierte unter den Pfannen und Kesseln, ohne ihn anzuschauen.

»Erzähl mir, Regine – was hast du erlebt derweilen?« fragte er.

Sie schüttelte den Kopf. »In Bockeldorf war's wie immer – außer dem Krämer und seiner Frau hab' ich niemand gesehen. – Ins Dorf bin ich auch während der Überschwemmung nicht 'runtergegangen – doch das hab' ich Ihnen ja wohl geschrieben, 'n bißchen gehörig hab' ich hungern müssen – das schad't aber nichts. – Ja richtig, und dann sind Briefe angekommen in den letzten Wochen, von der Behörde aus Wartenstein, aus Königsberg auch – und heute noch einer – aus – –«

»Gut, gut, später, wenn du Licht angezündet hast.« – Was ging die Welt ihn an – heute, da er die Brücken zur Vergangenheit hinter sich zerbrechen mußte, da nichts ihm blieb von allem, was er gelebt und gelitten! –

Dann, als der Abendbrottisch bestellt war und die Lampe ihm aus Reginens Hand entgegenleuchtete, schritt er mit ihr zum Wohnzimmer hinüber.

»Du hast ja nicht für dich gedeckt?« bemerkte er.

»Darf ich, Herr?«

»Natürlich darfst du!«

»Und für Sie – welcher Wein, Herr?«

Er atmete schwer. »Keiner.«

Wieder saßen sie einander gegenüber beim friedlichen Lampenschein, wie so oft zur Winterszeit, wenn der Schnee gegen die Scheiben gestäubt und der Sturm in den Sparren gerüttelt hatte. Nun flogen zartflüglige Motten daher, und ein weicher, duftschwangerer Hauch stahl sich mit ihnen ins Zimmer. Zwischen dem jungen Blattwerk fand der höhersteigende Mond sich ein, der zum erstenmal seit Ostern voll geworden war.

Er schob den Teller zur Seite. – Kein Bissen wollte munden. Daß der Wein im Keller geblieben war, hatte wenig genützt. Der Rausch, den er hatte fliehen wollen, flog schon durch seine Glieder.

Und als sein Blick verstohlen zu Reginen hinüberglitt, erschrak er, denn ihr Auge ruhte auf ihm in so glückseliger Trunkenheit, als hätte sie Erde und Himmel über ihm vergessen. Gram und Elend waren aus ihren Zügen verschwunden. Ihr Antlitz hatte sich neu gerundet, und neu erblühende Frische leuchtete auf ihren Wangen. Doch was er so lieblich noch nie an ihr gewahrt hatte, war die traumhafte Weichheit, die ihr Wesen übergoß und in der Leib und Leben sich hingebend zu lösen schien.

»Regine«, flüsterte er. Der Herzschlag, der ihm zur Kehle emporschwoll, mahnte ihn: »Nimm dich in acht – wahre dich! – es ist das letztemal, daß sie dich in Versuchung führt.«

»Das letztemal!« hallte es wehklagend zurück. »Sie wird sterben! In Not und Sehnsucht wird sie zugrunde gehen.«

Ihm war, als finge die Narbe auf seiner Unterlippe zu brennen an.

»Nimm sie hin und dann töte sie – so ist sie aller Not enthoben«, raunte eine Stimme ihm zu.

»Das ist der leibhaftige Wahnwitz!« dachte er schaudernd.

Und wieder sanken ihre Augen ineinander. Die Seelen wußten von keinem Widerstreben, wenn auch die Leiber sich verzweifelt wehrten.

»Rette dich!« schrie es in ihm. »Denk an den Fluch! Halte dich rein für das Vaterland!«

Er sann nach einem Worte, womit er den seligen Bann zu lösen vermöchte. Aber keins fiel ihm ein.

Dann erhob er sich und trat an das offene Fenster, die Stirn in der Nachtluft zu kühlen. »Rede – handle – tu das Schweigen ab!« mahnte er sich. Da fielen die Briefe ihm ein, von denen sie gesprochen hatte.

»Gib mir die Briefe!« sagte er. Seine Stimme klang rauh.

Sie holte das weiße Häuflein, das auf dem Winkeltisch für ihn bereitlag. Er öffnete, was ihm zuerst in die Hand fiel, und starrte über den Bogen hinweg ins Leere. –

War es nicht besser, schon jetzt das Unvermeidliche mit Namen zu nennen? Wozu die Trennung aufhalten, die unaufhaltsam war? – Aber mit Grauen wies er den Gedanken von sich. »Bis Mitternacht mag sie sich freuen. – Nimm sie hin und dann –«

»– Seine Hochwohlgeboren der Freiherr Boleslav von Schranden wird hierdurch benachrichtigt, daß auf dero Antrag die Untersuchung über die Entstehung eventualiter Anstiftung des am 6. März 1809 stattgehabten Brandes von Schloß Schrunden wieder aufgenommen ist, und ist Termin anberaumt worden zum – –«

Mit grellem Lachen warf er den Bogen beiseite. Seine Finger tasteten nach einem nächsten Briefe.

Da fiel sein Auge auf Helenens Handschrift.

Ein widriges Gefühl durchzuckte ihn. Was wollte sie noch? Warum störte sie ihn in dieser Stunde? –

»Mein teurer Boleslav!

Ich kann Dich nicht in den Krieg ziehen lassen, ohne Dich noch einmal gesprochen zu haben. Ich bitte Dich und flehe Dich an, daß Du heute um neun Uhr nach der hinteren Kirchhofspforte kommen mögest, wo auf Dich warten wird

Deine                
Helene.«

»Warum nicht damals«, murmelte er, »als es noch Zeit war?« – Und dann durchflutete ihn heiß der Gedanke, daß hiermit sein Schutzgeist ihm noch einmal die rettende Hand darbiete und daß es Frevel wäre an Gott und allem Guten, sie zurückzustoßen.

»Du mußt – du mußt!« rief er sich zu, »oder du bist die Kugel nicht wert, die jetzt in Frankreich für dich gegossen wird.«

War es nicht eine Fügung, wie nur die himmlische Gnade sie ersinnen konnte, daß die Tochter in höchster Not dazwischentrat, den Fluch des eigenen Vaters in Segen umzuwandeln?

Er sah nach der Uhr. Es fehlten nur wenige Minuten an der genannten Stunde.

Schwerfällig erhob er sich.

»Ich muß hinunter«, sagte er, »ich habe mit jemand zu reden.« Und wiewohl er vermied, ihr ins Auge zu sehen, ging ihr rührend flehender Blick ihm bis ins Innerste der Seele.

»Ich bin bald – wieder hier«, stammelte er.

Sie faltete die Hände und stellte sich schweigend vor ihn hin.

»Was willst du?«

Sie würgte an ihren Worten: »Herr, mir ist so bang – mir ist – als würd's ein Unglück geben.«

»Seit wann hast du Gespensterfurcht?« versuchte er zu scherzen.

»Herr – ich weiß nicht – es schnürt mir die Kehle zu. – Es ist wohl recht dumm von mir – aber ich bitt' Sie – gehen Sie nicht – heut nicht.«

Er schob sie sanft zur Seite. Die Hand, die sich ausstreckte, ihn zu halten, sank kraftlos an ihm hernieder, – »Herr – bitte – bitte –«

Er biß die Zähne zusammen und ging. – Ging zu seinem Schutzgeist. – – –

 


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