Hermann Sudermann
Der Katzensteg
Hermann Sudermann

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14

Das Abendrot erlosch. Ein bläulich-heller Dunst umwob die nackten Gesträuche, und von den Steinen herab rieselte ein Staubregen von funkelnden Kristallen.

Der Schnee knirschte unter Boleslavs Füßen. Sein Atem wallte in lichten Wolken vor ihm her. Die Frostluft tat seinem glühenden Gesichte wohl. Er hatte Reginen vorangeschickt und suchte in einsamer Wanderung Ruhe und Klarheit zu gewinnen, denn in seinem Hirne brodelte es wie in einem Hexenkessel.

Der Fluch war eine Posse, das stand fest, ein Spuk im Dunkeln, mit dem man kleine Kinder gruseln macht. Der Feind seines Vaters hatte nur darauf gelauert, die Künste, die ihm zu Gebote standen, auch gegen den Sohn spielen zu lassen, und dennoch – sich so einen Fluch verdient zu haben, welch ein schauerlicher Gedanke! – Nun, davon konnte ja nicht die Rede sein. Was der alte Wetterer in seinem Argwohn als brutales Geschehnis voraussetzte, hatte kaum noch seine Seele mit leisem Flügelschlag gestreift. Jetzt, da er wußte, um was es sich handelte, war auch die Gefahr vorüber. Im Grunde genommen mußte er dem Alten noch dankbar sein, daß er ihm den Abgrund von weitem gezeigt hatte, auf den er losgeschritten war.

»Aber nun genug davon«, sprach er zu sich. »Ich bin der Herr, sie ist die Magd – und verflucht will ich sein –«

Er hielt inne und fuhr zusammen. Verflucht war er ja schon. Dann lächelte er über das eigene Erschrecken. Ein solcher Kinderspuk! – Pfui doch! –

Jedenfalls mußte in seiner Stellung zur äußeren Welt vom heutigen Tage an eine neue Epoche ihren Anfang nehmen. Dies Kreuz in seiner Hand bot ihm die Gewähr dafür, daß er ihr nicht recht- und ehrlos gegenüberstand, daß beides, Recht und Ehre, wohl zu erringen waren, wenn er den Mut besaß, über die Köpfe seiner persönlichen Feinde hinweg sich an die höchsten Behörden zu wenden. Hatten die Richter des Kreises für gut befunden, den Brand ungerügt zu lassen, nun wohl, so würde er einen Brand anzünden, dessen Glut die Verbrecher aus ihren Schlupfwinkeln hervorscheuchte. Dann aber freilich mußte er auch die Tat des Vaters aus ihrer Dunkelheit hervorziehen, mußte mit gruftschänderischer Faust den Frieden des Todes brechen und die Schmach des eigenen Hauses in die Welt hinausschreien. – Sein Mund verzerrte sich. Er fühlte einen Trotz in sich gären, so mächtig, daß die Gefahr der Selbstvernichtung ihm als Gespött erschien. Wovor sollte er zurückschrecken?

»Verflucht bist du ja doch!« murmelte er, und ein Lachen quoll aus seiner Kehle.

Dann ging er ins Haus. Regine deckte den Tisch zum Abendessen. Sie hatte die Jacke ausgebessert und das Haar mit Wasser glatt gekämmt. Ihr Gesicht war ruhig, als ob nicht das mindeste geschehen wäre, nur die Kratzwunden am Halse zeigten, welche Stunden hinter ihr lagen.

Er fragte mit geheuchelter Strenge: »Wie warst du auf die unsinnige Idee gekommen, Regine, dich nach dem Gasthof zu wagen?«

Sie streifte ihn von unten herauf mit scheuem Blicke. – »Ich bitt' um Verzeihung, Herr«, sagte sie, den Nacken beugend, »ich hatt' Ihren Brief gefunden, und da wurd's mir grün und gelb vor Augen, und ich wußt' nicht mehr, was ich tat – ich dacht' nur, ich würd' Sie am End' frei machen können – –«

»Dummes Ding«, sagte er und lachte – aber in seiner Brust schwoll etwas empor, was er gewaltsam wieder hinunterdrängen mußte.

»Bring mir Wein«, herrschte er sie an, sich zu Tische setzend.

»Von welchem, Herr?«

»Vom besten. Es ist hoher Festtag heute.«

Sie sah ihn verwundert an und ging.

»Hol dir auch ein Glas«, sagte er, als sie die grau umsponnene Flasche entkorkte.

»Ach bitte, Herr, ich vertrag' ihn nicht!«

»Wird's bald?«

»Sogleich, Herr!«

Er schenkte ein. Die dunkelgoldige Flut ergoß sich leuchtend in die smaragdnen Römer. – Die wenigstens waren aus dem Ruin gerettet worden.

»Stoß an!«

Die Gläser klangen wie dumpfe Glocken.

»Mit der also bin ich heute durch den Fluch eines Priesters zusammengekoppelt!« dachte er und senkte sein Auge in das ihre. Wie seltsam, wie ungeheuerlich! Dies Weib sollte ein Stück seines Lebens werden, hatte der Alte gesagt. Dieses Weib – warum gerade dieses? »Ein Fluch ist auch eine Sanktion«, dachte er weiter. »Etwas, was nicht ist und niemals sein wird, steht, durch ihn bestätigt und bekräftigt, wie ein heiliges Recht vor Himmel und Erde da.«

Und so umkreisten seine Gedanken gierig das verbotene Bereich, in dessen unübersteigliche Schranken die Worte des Predigers selber Bresche geschlagen hatten. Sodann schämte er sich dessen, was er gedacht. »Du bist der Herr«, wiederholte er sich, »sie ist die Magd, ja mehr noch, deine Sklavin ist sie, und dabei soll es bleiben.«

Im übrigen war es klar, daß das Werk der Vergeltung noch heute in Angriff genommen werden mußte. –

Er hieß Reginen das Essen hinaustragen und eine zweite Flasche auf den Tisch setzen. Dann holte er sich vom Pulte Feder und Papier und wies ihr den Platz an, den sie bis zum Weihnachtsabend eingenommen hatte.

In zager Freude ließ sie sich nieder, denn sie hatte seither bis zum Schlafengehen im Hausflur am Herde gesessen.

»Du sollst mir Rede stehen, Regine«, begann er. »Antworte kurz und bestimmt auf alles, was ich dich fragen werde.«

Sie schrak sichtlich zusammen. »Ja, Herr«, flüsterte sie. –

»Trinke, das wird dir die Zunge lösen.« Sie gehorchte, aber der Wein schien ihr diesmal Furcht und Widerwillen einzuflößen.

»Es handelt sich um die Folgen jener Nacht, in der du die Franzosen über den Katzensteg führtest. – Gab es auf dem Hofe jemand, der um diesen Gang wußte?«

»Nein, Herr.«

»Durch wen ist er denn bekannt geworden?«

Sie schlug die Augen nieder. »Ich glaub', durch mich, Herr«, stammelte sie.

»Wem hast du ihn verraten?«

»Meinem Vater.«

»Wie geschah das?«

»Er ist von Zeit zu Zeit heimlich aufs Schloß gekommen, um Geld von mir zu kriegen – und wenn ich nichts hatte, dann hat er mich gekniffen und geschlagen.«

»Warum riefst du nicht um Hilfe?«

»Es war zur Nachtzeit, Herr, und Er hätt' ihn auspeitschen lassen, wenn man ihn gefunden hätt'!«

»Gut, weiter.«

»Und so kam er auch kurz nachher – nach dem Gange mein' ich – und verlangt' allerlei – ich sollt' ihm – dem gnäd'gen Herrn – Geld abfordern oder heimlich seine Taschen durchsuchen und dergleichen. – Und um ein für allemal Ruh' vor ihm zu haben, holt' ich ihm den Beutel, den mir der französische Oberst geschenkt hatte. Wie er das rote Gold sah im Mondenschein blinken, wurd' er rein wie toll –«

Sie hielt inne.

»Nun vorwärts!«

»Muß ich es sagen, Herr?«

»Natürlich!«

»Aber – es ist doch mein Vater, Herr.«

»Du hast zu tun, was ich befehle.«

Sie seufzte tief auf und fuhr fort: »Und da kriegt' er mich an der Gurgel zu packen und rief mir in die Ohren: Ich mach' dich kalt, wenn du nicht auf der Stelle gestehst, wo du das viele Gold her hast . . . Und weil mir die Luft zu fehlen anfing – –«

Er lachte bitter vor sich hin. Sein Vater und ihr Vater – sie wirkten beide mit denselben ehrenwerten Mitteln.

Regine glaubte, sein Lachen hätte ihr gegolten. »Ach, Herr«, fuhr sie mit flehendem Aufblick fort, »ich war ja damals noch so furchtbar dumm. Vierzehn Tage später, als sie mich verhörten, hätten sie mich ruhig erwürgen können und doch nichts 'rausgekriegt. . . . Aber damals, und weil er doch mein Vater war . . .«

»Gut, da schwatztest du aus der Schule. Und was dann?«

»Noch in derselben Nacht hat mich mein Gewissen zu drücken angefangen, und am Morgen, als ich dem gnädigen Herrn den Kaffee bracht' – denn ich mußt' immer um ihn sein – hab' ich ihm alles gestanden.«

»Und er?«

»Er ist kreideweiß geworden und hat kein Wort gesagt – aber die Flinte hat er von der Wand gerissen und auf mich angelegt. Ich hab' die Hände gefaltet und die Augen zugedrückt, da hört' ich, wie er einen Fluch ausstieß – und dann warf er die Flinte über die Schulter und ist 'rausgelaufen. Ich dacht' mir gleich: Jetzt will er den Vater aus dem Weg räumen! – Und wie ich ihn nach der Zugbrück' rennen seh' mit seinen zwei Bluthunden, bin ich rasch durch den Park und über den Katzensteg ins Dorf 'runtergelaufen, um dem Vater Nachricht zu geben, daß es ihm jetzt ans Leben ginge. Wär' er bei sich zu Haus' gewesen, hätt' ich ihn nicht mehr retten können, aber er saß bei Merckels im Schwarzen Adler. Da hatt' er alle mitten in der Nacht 'rausgetrommelt und lag nun betrunken wie 'n Stück Vieh. – Aus dem Schwarzen Adler wird er ihn nicht holen, dacht' ich mir – und 's wär' auch schon zu spät gewesen, denn Herr Merckel und alle wußten's bereits und machten ein groß Hallo, wie sie mich sahen, und kriegten mich zu packen und wollten mich mit Gewalt zum Reden bringen, aber ich biß mir auf die Zunge, daß das Blut kam, und schwieg stille. Darauf haben sie mich losgelassen, ich aber bin dem gnädigen Herrn entgegengerannt und hab' mich ihm zu Füßen geworfen und hab' gesagt: Schonen Sie ihn, es nützt nichts, denn die Welt weiß es doch schon. – Da hat er mir einen Fußstoß gegeben, daß ich ohnmächtig zusammengesunken bin, aber er hat ihm fürder nichts mehr getan . . . Und dann nach vierzehn Tagen ist ein Gendarm gekommen, um mich zu holen, und hat mich in den Schwarzen Adler geführt. Da saßen in der Weinstub' fünf oder sechs vornehme fremde Herren, der Herr Landrat von heute mit darunter, und man hat hinter mir die Tür abgeschlossen und mich auszufragen begonnen . . . Am liebsten hätt' ich nichts getan als geweint, aber ich nahm mich zusammen und meinte, der Vater hätt' die Gewohnheit, über den Durst zu trinken, er würde wohl einen bösen Traum gehabt haben . . . Aber da zeigten sie mir den Beutel, den sie ihm abgenommen hatten. – Und da, Herr . . . da gab ich an, das Geld wär' der . . . Lohn gewesen, daß ich –« Sie hielt inne und schlug die Hände vors Gesicht, welches die Scham mit dunkler Röte überflutete . . .

»Fahre fort!« herrschte er sie an, die Zähne zusammenbeißend.

»Sie haben mir ja nicht geglaubt, Herr, aber sie müssen mir wohl angesehen haben, daß die Wahrheit nicht aus mir 'rauszukriegen sein würde, denn sie fragten mich nicht mehr. Und dann fingen sie sich leise zu beraten an, aber ich hab' gute Ohren, ich verstand alles . . . Ob sie mich wohl ins Gefängnis sperren sollten, damit ich das Reden lerne, ob sie den gnädigen Herrn auch verhaften sollten und dergleichen, und dann kamen wieder andre und meinten, es würde dem Kreise zur Schande gereichen, wenn so was an die große Glocke gehängt würde, und ganz Ostpreußen würde damit entehrt dastehen, und da ja kein rechter Beweis da wär', hatte man 'nen Grund, die Sache im Dunkeln zu lassen – sie nannten es noch anders, aber das Wort hab' ich vergessen.«

»Und dann ließen sie dich gehen?«

»Ja. Der Herr Merckel meinte, ich solle mich scheren, denn ich verpeste das Haus.«

Ein Schweigen entstand, dann stürzte er hastig zwei, drei Gläser des schweren Weines hinunter und sagte: »Nun die Brandnacht!«

Da fuhr sie von ihrem Stuhl empor und stierte ihn mit entsetzten Blicken an.

»Ich soll . . . vom Brande . . .?«

»So gut du dich drauf besinnen kannst.«

»Und ich soll . . . alles . . . Herr?«

»Alles.«

»Herr . . . das kann ich nicht!« Wie ein Schrei in Todesnot quollen die Worte ans ihrem Munde.

»Was soll das heißen?« Er war gleichfalls aufgesprungen und maß sie mit weitgeöffneten Augen.

Sie faltete die Hände über der Brust: »Ich bin Ihnen allezeit – gehorsam gewesen, Herr . . . Ich hab' niemals gemuckt und hab' mir nichts sauer werden lassen . . . Ich will alles tun, was Sie mir befehlen, und wenn Sie mir sagen: ›Geh, laß dich mit Steinen bewerfen‹, ich tu's auf der Stell‹ . . . Aber das eine verlangen Sie nicht von mir, ich bitt' Sie aus Herzensgrunde.«

In zornigem Staunen sah er an ihr nieder. So sehr war er an ihren bedingungslosen Gehorsam gewöhnt, daß er dies plötzliche Auflodern einer Widerstandskraft in ihr nicht zu fassen vermochte . . . Seine Macht sollte plötzlich ein Ende haben . . . sie war nicht grenzenlos, wie er's geglaubt! – Hatte dies Weib sich nicht selbst zu seiner Leibeigenen gemacht? Hatte sie sich ihm und seinem Hause nicht verkauft mit Leib und Seele und wollte nun plötzlich ihren eigenen Willen haben?

Das Blut sauste ihm im Kopfe. Die Augen quollen hervor.

»Du sollst – – – du sollst auf der Stelle!«

Sie drückte sich gegen die Wand. Aus dem Dunkel flammten ihre Augen wie die Lichter einer verfolgten Wildkatze ihn an. – »Ich tu's nicht«, grollte sie.

Die Brutalität des Herrn, die altererbte, erwachte in ihm. Auch der Wein tat das Seine. Er drang auf sie ein und faßte sie an der Brust. –

Die Knöpfe ihrer Jacke sprangen unter seinem Griffe. Leuchtend wogte ihr Busen ihm entgegen. Sein Blick umflorte sich . . .

»Soll ich sie erwürgen oder soll ich sie küssen?« fragte er sich und tastete nach ihrem Halse.

Da in Todesangst griff sie ihm entgegen. Wie eiserne Klammern gruben sich ihre Hände in seine Schultern . . . Es galt alle Kräfte zusammenzunehmen, um diesen Muskeln standzuhalten.

Und ein lautloses Ringen begann. Minutenlang währte es und wollte nicht enden . . . Es schien erbittert, verzweifelt sogar, es schien um Leib und Leben zu gehen und ward doch wieder zum Spiele . . . Keiner der Kämpfenden wußte mehr, um was er kämpfte. Sein Auge, blutunterlaufen, suchte das ihre. Ihr Busen, schweißbedeckt, drängte sich an den seinen. Beider Atem floß ineinander. Engumschlungen taumelten sie hin und her, bis er sie in die Knie drückte. . . . Doch sie ermattete nicht und versuchte, ihn zu sich niederzuziehen.

Eine Sekunde lang schauten sie sich unter regungslosem Ringen wie träumend in die Augen. Da ging ein Schauern durch ihren Leib, und mitten im Kampfe schmiegte sie ihre Wange an den Arm, mit dem sie kämpfte.

Er sah es – er sah ihr Auge in angstvoller Glut an seinen Mienen hangen, er sah ihr schönes, verwildertes Antlitz sich entgegenblühen.

»Verflucht seid ihr ja doch«, schoß es ihm durch den Kopf.

Da neigte er sich mit einem Seufzer zu ihr hinab und – küßte sie auf den Mund.

Sie ächzte laut auf, preßte sich an ihn und schlug ihre Zähne in seine Lippen . . . Dann glitt sie erschlaffend zurück und fiel mit dem Hinterkopf hart gegen die Diele.

Ganz betäubt starrte er auf sie nieder. Sie lag wie tot, nur die kochende Brust rang nach Luft. Von seinem Munde tropfte das Blut. Gedankenlos wischte er es mit der Zunge fort.

»Was nun?«

Und je länger er den daliegenden Körper anstarrte, desto höher schwoll die Angst in ihm empor und steigerte sich bis zum Wahnwitz. Die Angst vor dem was kommen mußte.

»Fort aus diesem Hause – fort, fort, eh' sie sich erhebt«, schrie eine Stimme in ihm. Er riß den Mantel von der Wand, stülpte die Pelzmütze auf und floh hinaus in die Winternacht, als wäre die wilde Jagd ihm auf den Fersen.

Er entrann ihr nicht, er schleppte sie mit sich, wo er ging und stand. Sie raste in seiner Brust und peitschte sein Blut und toste durch seine Nerven, die wilde Jagd der jugendlichen Sinne.

Er rannte durch die Wälder. Der Frost kühlte ihn nicht, das Dunkel beruhigte ihn nicht.

Gab es keine Rettung – keine?

Das Pfarrhaus fiel ihm ein. Ein Hohngelächter quoll von seinen Lippen. – Helene war ja schon schaudernd vor ihm zurückgewichen, als er noch reinen Herzens, mit reinen Sinnen vor sie hingetreten war. Was würde sie heute tun, wenn er, verflucht und schuldbeladen wie er war, es wagte, ihre Nähe aufzusuchen?

Und dennoch – hatte an jenem Fleck Erde nicht fast ein Jahrzehnt lang alles, was noch gut und froh und friedlich in ihm gewesen war, seine Heimat gefunden? Sollte es ihm verwehrt sein, sich zu jener Stätte des Lichts zu retten, mochte tausendmal von ihr der Fluch ausgegangen sein, der das Dunkel auf ihn herabbeschworen hatte?

Dem eigenen Willen fast zuwider, schlug er den Weg zum Dorfe ein.

Die Turmuhr meldete eins. Fünf Stunden lang war er draußen umhergeirrt, und die Zeit erschien ihm wie ebensoviel Minuten.

Das Dorf lag im Schlafe, nur aus dem »Schwarzen Adler« fiel ein dunkelroter Lichtschein auf die bleichen Schneeflächen, die der verschleierte Mond mit müdem Schimmer erhellte. Die Schlittengleise erglänzen wie weiße Bänder, die über die Erde hingerollt waren, und die Eiszapfen vom Kirchendache zogen silberne Schraffierungen über die dunklen Wände.

Er schritt an der Kirche vorbei zum Pfarrgarten hin. Der Herzschlag stieg ihm bis zum Halse herauf. . . . In ihrem Giebelfenster schimmerte noch Licht. Er schwang sich über den Staketenzaun und schritt in dem hohen Schnee bis zum Gartenhause hin, das in zwanzig Schritt Entfernung dem Giebel gegenüberstand. In seinem Schatten stellte er sich auf.

Ein weißer Vorhang verhüllte dicht das erleuchtete Geviert. – Auf der Leinwandfläche zeichneten verwaschene Schatten sich ab von Blättern und Stengeln und zierlich geschweiften Blumenscherben. – In deren Reiche waltete sie nun züchtig und still wie die Madonna in ihrem Rosengarten.

Und wieder stand jenes Bild aus dem Dome vor seinen Augen, das allemal sich einstellte, wenn er sich die Erscheinung der Geliebten vergegenwärtigen wollte. Nur eine einzige Sekunde lang das Auge gierig in ihr Antlitz tauchen, damit zu neuem Leben erwache, was Zeit und Schuld getötet haben!

Der Schatten einer Mädchengestalt verdunkelte für einen Augenblick die helle Fläche. . . . Ein Zipfel des Vorhanges wurde emporgehoben.

Halb sinnlos streckte er die Arme nach ihr aus.

Rasch fiel der Vorhang herunter, und einen Moment später erlosch das Licht . . .

Atemlos wartete er, ob sie ihm nun, aus gefahrloser Dunkelheit heraus, ein Zeichen geben würde. Doch nichts regte sich fürder.

»Was du verlangst, ist Wahnsinn«, sprach er zu sich. »Wahrscheinlich hat sie dich gar nicht erkannt, hat eben nur die Männergestalt bemerkt und ist in Schrecken zurückgefahren. Mach, daß du fortkommst, sonst jagt sie dem vermeintlichen Diebe das ganze Haus auf die Hacken.«

So trat er den Rückweg an. Auf der Straße einherwandernd, fand er sein Blut um vieles ruhiger geworden. Schon das bloße Bewußtsein ihrer reinen Nähe also hatte friedenbringend auf ihn gewirkt.

»Wohin nun?« In alle Welt hinaus, nur nicht nach Hause. Bei dem bloßen Gedanken an die hingestreckte Gestalt fing's in den Adern aufs neue zu kochen an.

Sie war ein Dämon, und er haßte sie.

Ohne zu wissen, wohin, schlug er einen Seitenpfad ein, der zwischen Stallungen und Kätnerhütten sich von der Schloßinsel entfernte und in freiem Felde endete. – Drüben sah er den blauen Kranz der Wälder, der die weißen Ebenen umspannte, sich entgegendunkeln. Dorthin zog es ihn aufs neue. Dorthin, wo in winterlichem Schweigen der Friede eines traumlosen Schlafes das Zepter führte.

Er schritt in das ungebahnte Feld hinaus, auf dem der Schnee in regelmäßigen Hügeln und Tälern endlos sich ausbreitete, daß es aussah, als schlüge ein Meer von geronnenem Licht ihm seine Wellen entgegen. Knirschend brach sein Fuß durch die vereiste Kruste, bis zum Knie sank er hinunter, aber seine Kräfte zusammennehmend, arbeitete er sich weiter, als gälte es aufs neue, die Flucht vor den eigenen Gedanken aufzunehmen. Es lag ein gewisser Trost in dieser Arbeit, die zwecklos war und den Atem anspannte.

Seine Brust keuchte, der Schweiß rann ihm vom Leibe, stolpernd und strauchelnd rang er sich vorwärts. Hie und da war die Kruste stark genug, ihn zu tragen. Dann schien es ihm, als hätte er Flügel bekommen und schwebte über dem Boden dahin, bis ein neuer Sturz ihn daran erinnerte, wie schwer und wie niedrig er mit seiner Last auf der Erde dahinkroch.

Höher und dunkler stieg die Waldmauer vor ihm empor – noch hundert Schritte, und er hatte sein Ziel erreicht –, da hemmte etwas seinen Weg, das wie ein Hügel vor ihm aufstieg und sich zum Walde hin wohl fünfzig bis sechzig Schritte weit erstreckte. Und doch für einen Hügel war er zu regelmäßig und hatte zu scharfe Kanten. Daneben, durch wenige Fuß getrennt, stand ein zweites, und weiter links ein drittes. Es werden Kieshaufen sein, dachte er, die man im Herbst aufgeschüttet hat, um sie nach Fortgang des Schnees abzutragen. – Warum sollten sie nicht Kies graben auf seinem Grund und Boden? Es war ja niemand da, der es ihnen verwehrt hätte!

Doch was bedeuteten die Kreuze dort – jetzt erst gewahrte er sie, denn der dunkle Waldgrund hatte sie ihm verdeckt – die schauerlich und drohend am Ende der Hügel sich in die Nacht emporreckten?

Drei an der Zahl, für jeden Hügel eines – –

Aus roh behauenen Fichtenstämmen waren sie gezimmert und schienen tief in die Erde gesenkt, denn keines regte sich bei seinem Schütteln. Nirgends war eine Inschrift zu erblicken, und wäre sie dagewesen, er hätte sie doch nicht zu lesen vermocht.

Rätselhaft wie Denkmäler vergessener Schuld standen die rohen Ungetüme da, und das Mondlicht, das hervorbrach, versilberte ihre grauen Splitter.

Da plötzlich fielen die Schuppen von seinen Augen. Laut aufschreiend schlug er die Hände vors Gesicht. –

Das waren die Gräber der Anno sieben in der Unglücksnacht Gefallenen.

Hier lagen die Opfer seines Vaters!

Welch unglückseliger Zufall hatte ihn hierher geführt? Und schien es nicht mehr als ein Zufall? Es hatte ihn ja gelockt und gezogen mit tausend unsichtbaren Armen, daß er den wahnsinnigen Weg, ohne zu wissen warum, hatte einschlagen müssen, daß er sich durchgekämpft hatte, sinkend und ermattend, durch Schnee und Eis.

Hatte das Schicksal ihm diesen schmerzhaftesten aller Peitschenhiebe bis zur Stunde der tiefsten Demütigung aufgespart, damit er ja recht wisse, daß es für ihn kein Emporkommen mehr gebe, daß er rettungslos untergehen müsse in Schande und Verzweiflung?

»Aber es ist gut, daß ich hier bin«, meinte er, weiter mit sich redend. »So kann ich mich wenigstens überzeugen, daß mir mit dem Fluch des Alten kein Unrecht geschah. Und was an Sünde noch nicht ist, wird werden.«

Sein Auge glitt über die abgeplatteten Hügelkämme dahin, die sich dem Blicke weiter und weiter verkürzten, so daß es schien, als nähmen sie kein Ende . . . Wie viele mögen darunter liegen? Wenn man sie nebeneinander gebettet hat, sind es mindestens hundert in jeglichem Grabe – vielleicht auch das Doppelte. – Und alles brave Soldaten, die freudig ausgezogen waren für König und Vaterland, um hier zur Nachtzeit durch tückischen Verrat ein schmähliches Ende zu finden.

Er umklammerte das Kreuz und preßte das Gesicht an den rauhen Stamm, dessen Späne ihm die Haut zerschrammten.

»Klag ihn an vor aller Welt«, schrie es in ihm, »ihn und sie – und geh dann mit ihr zugrunde!«

Sein Blick floh in die Ferne und suchte am Horizonte die Umrisse der Ruinen. Nichts war davon zu sehen, nur die Kronen des Parkes dämmerten – einen verwaschenen Bogen bildend – zu ihm herüber. Dahinter, ein wenig zur rechten Seite, mußte der Katzensteg liegen.

Dort hinüber war sie gegangen, die dunkeln, blutdürstigen Scharen hinter sich. Wie schauerlich mußte der dumpfe, taktmäßige Schritt ihr in den Ohren geklungen haben! Dann weiter und weiter in den Wald hinein bis zu der Schneise, die dessen Rande parallel in ungeheurem Halbkreis durch das Dickicht führte. Sie hatte ihm nie von dem Gange erzählt, und doch sah er genau, wie sich alles ereignet hatte. Es stand klar und deutlich vor seinem Auge, als wäre er dabei gewesen.

Er streckte den Arm aus und zeichnete mit zitterndem Finger den Weg am Horizonte ab, den sie genommen hatte.

Und dann, als man sie losgelassen, als sie, den Sündenlohn in der Tasche, allein den Heimweg angetreten hatte – wie muß das Knallen der Schüsse, das Wirbeln der Trommeln, die Pulverblitze, der Todesschrei der Überfallenen – wie muß sie das von hinnen gejagt haben – ein fürchterliches Furienheer!

Daß sie mit diesen Lauten im Ohr, diesen Bildern vorm Auge weiterzuleben vermocht hatte, er faßte es nicht! Der erste beste Strick, die nächste Wassertiefe hätten ihr als Erlösung willkommen sein müssen.

Aber nichts von alledem. Sie sah keine Visionen, ihr Gewissen marterte sie nicht, sie schien sich kaum irgendwelcher Schuld bewußt.

So fühlt ein Tier oder ein Dämon! – Er schauderte. Ihr, ihr sollte er verfallen sein? –

Und in seiner höchsten Not warf er sich quer über den Rand des Grabes in den Schnee, faltete die Hände über der Brust und stammelte Worte eines wirren Gebetes, während die Tränen ihm aus den Augen stürzten.

Die Kälte seines Lagers, die ihm das Gesicht zerschnitt, trieb ihn empor. Er umkreiste die Gräberreihen, unfähig, einen Gedanken zu fassen. Ihm war, als sähe er sich in einem ehernen Netze gefangen, dessen Maschen sich enger und enger um ihn zusammenschnürten. –

»Herr im Himmel«, so bat er, »räche die Sünden der Väter nicht an mir. Laß sie schlafen, die Toten – ich habe sie nicht gemordet. Laß ein Wunder geschehen, gib mir ein Zeichen, daß du mich retten willst vor Todsünde und Verzweiflung.« Sein Auge glitt hilfesuchend umher.

Kalt und teilnahmslos lächelte der monderhellte Himmel mit seinem bleifarbenen Lichte auf ihn nieder. Kein Zeichen fiel herab, kein Wunder geschah.

Er lachte. »Mir scheint, du näherst dich dem Blödsinn«, murmelte er in sich hinein.

Dann fühlte er ein plötzliches Ermatten über sich kommen. Er taumelte. Seine Füße versagten den Dienst. – Da hockte er in der Mulde nieder, welche die Last seines Leibes im Schnee ausgehöhlt hatte, zog den Mantelkragen in die Höhe und brütete zwischen Schlafen und Wachen, von Frost geschüttelt, vor sich hin.

Als er sich mit erklammten Gliedern erhob, froh, dem Einschlafen und Erfrieren entgangen zu sein, erglühte im Osten bereits ein schmaler Purpurstreif. Ein Rieseln, heiß und kalt zugleich, wie von beginnendem Fieber, fuhr ihm durch den Leib.

Nun hieß es heimgehen. Doch woher die Kraft nehmen, um aus der Welt zu schaffen, was in dieser Nacht geschehen war? Er ließ die Zunge tastend über die Lippen gleiten . . . Die Wunde brannte, die ihr Kuß ihm geschlagen.

Und kein Zeichen war vom Himmel gefallen. Kein Wunder war geschehen. Schließlich blieb ihm ja noch immer der Tod, um Schlimmerem zu entfliehen.

Der Tod! Wie ein Lichtstrahl in Finsternissen zuckte der Gedanke auf, aber sein Gehirn war zu müde, seine Seele zu mutlos, als daß er ihn hätte festhalten können. Er erlosch, wie er gekommen war.

In den eigenen Fußtapfen schritt er zum Dorfe zurück.

Dort war noch niemand auf den Wegen, doch rauchte hie und da ein Schornstein schon, und die Hühner auf ihren Stiegen gackerten dem Morgen entgegen.

Da, als er den Pfad zum Flusse hinunterschritt, war es ihm, als sähe er den Schatten einer weiblichen Gestalt von der Zugbrücke her auf sich zueilen. Regine vielleicht, die auf ihn gewartet hatte und ihm nun entgegenkam? Doch nein, so schlank, so schmächtig war Regine nicht. Wer von den Dörflern hatte um diese Stunde an der Zugbrücke zu tun? Sein Herz begann zu pochen. Nun war auch er bemerkt worden. Ein leiser, quiekender Schrei tönte ihm entgegen, und im nächsten Augenblick war die Gestalt in einem Seitenpfade hinter den Zäunen verschwunden.

Sie zu verfolgen, fehlte ihm die Lust. Eine Kuhmagd mochte es gewesen sein, die in der Frühe Wasser geschöpft hatte und sich scheute, ihm zu begegnen. – Doch als er die Zugbrücke betrat, sah er in dem frisch gefallenen Rauhreif Fußspuren, die vor dem Pfosten endeten, an dem der Briefkasten angenagelt war.

Sollte jemand aus dem Dorfe Verlangen getragen haben, nächtlich an ihn zu schreiben? Der Gedanke war lächerlich, und dennoch ergoß er einen Strom von Hoffnung durch seine Seele.

Er riß den kleinen Schlüssel, den er bei sich zu tragen pflegte, aus der Tasche. – Der Kasten öffnete sich – ein Brief fiel heraus.

Mit zitternden Fingern brach er das Siegel. Helenens Unterschrift! – Wollte Gott sein Flehen erhören? Wollte er ihm Kraft und Rettung senden?

Der erste Morgenschein gab ihm das Licht zum Lesen. Aber die Zeilen flimmerten vor seinen Blicken. Nur hie und da prägte ein abgerissener Satz – ein vereinzeltes Wort sich seinem Geiste ein. – »Harre aus!« – »Die Stunde, da ich dich rufen werde.« – »Sehnsucht!« – »Jugendzeit!« – »Glücklich!« –

Eines doch las er aus allem: Das Zeichen, um das er am Grabe der Krieger gefleht hatte – es war vom Himmel gefallen! Das Wunder – es war geschehen!

Neues Selbstvertrauen strömte durch seine Adern. Noch hatte das Heil ihn nicht verlassen, noch brauchte er nicht an sich zu verzweifeln. Die Reine, die Lichte, sie, der Genius seiner Jugend, sie hielt fest an ihm, sie traute seiner Kraft und seiner Treue.

Und er, wahrlich, er wird ihren Glauben nicht zuschanden werden lassen. Lieber wird er sterben, als daß er sich der Schande, der Selbstverachtung preisgäbe.

Und zum Morgenrot gewandt, das ihm seinen Purpurschein entgegenschickte, hob er die Schwurfinger in die Höhe und sprach: »Gott, der du ein strenger und gerechter Richter bist und die Sünden der Väter heimsuchest an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied, dir schwöre ich, mir mit eigener Hand den Tod zu geben, eh' ich den Fluch deines Priesters über mich Macht gewinnen lasse. Amen.«

Dann schritt er, wie von schwerer Last befreit, dem Hause zu.

»Nun ist der Spuk zerstoben«, sprach er, den Hausflur betretend, mit einem tiefen Atemzuge vor sich hin, aber die Hand, welche die Klinke umspannte, zitterte noch immer wie im Fieber.

Ein rascher, scheuer Blick durchspähte das Zimmer.

Im Frührotscheine sah er sie angekleidet auf ihrem Lager hocken, die Hände unter den Knien gefaltet. – Ihre Jacke war geöffnet, ihre Haare hingen verwildert ins Gesicht. Genau so hatte er sie gestern abend verlassen.

Sie hob langsam den Kopf und schaute mit verschwimmendem Blicke wie im Traum zu ihm empor.

Er erschrak vor diesem Blick.

»Bist du nicht schlafen gegangen?« fragte er so barsch, wie er vermochte.

Sie sah in seliger Starrheit zu ihm auf, aber antwortete nichts.

»Hörst du nicht?« herrschte er sie an.

Sie schrak nicht mehr zusammen, nur ein leises Beben ging durch ihren Körper, als ob der Klang seiner Stimme sie mit Entzücken erfüllte. – Dann lächelte sie ein wenig und fragte: »Was soll ich hören, Herr?«

»Warum du nicht geschlafen hast?«

»Ich hab' auf Sie gewartet Herr.«

»Ich habe dich nicht beauftragt.«

»Sie haben's auch nicht verboten, Herr.«

Er umklammerte die Lehne eines Stuhles. »Warum fürchtest du dich vor ihr?« fragte er sich. »Du hast ja geschworen, es gibt keine Gefahren mehr für dich!« Dann, um sie zu entfernen, befahl er ihr, daß sie gehe, ihm etwas Warmes zu kochen.

Sie erhob sich langsam, die steif gewordenen Glieder streckend. Eine träumerische Lässigkeit schien ihr ganzes Wesen zu durchtränken. Vollkommen verwandelt war sie seit gestern abend.

Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, riß er den Brief aus der Tasche, um sich noch einmal seines Glückes zu vergewissern.

Er las:

»Mein lieber Jugendfreund!

Ich höre von Papa, wie unser edler und weiser König Dich so hoch geehrt hat. Er hat Dich zum Kapitän ernannt und hat Dir einen hohen Orden verliehen. Ich wünsche Dir viel Glück und freue mich herzlich darüber. Was sonst noch geschehen ist, hat Papa mir nicht sagen wollen, aber er war sehr aufgeregt und hat sich sehr aufgebracht über Dich ausgesprochen. – – Ach, wenn Du es doch verstanden hättest, Dir sein Wohlgefallen und die Liebe der Gemeinde zu erhalten! Ich brauchte dann nicht so ängstlich zu sein und würde Dich wohl hie und da sehen und sprechen können. – Ach, lieber Boleslav, ich flehe Dich in Todesängsten an, versuche nie wieder in den Garten zu kommen. Du kennst Papa ja . . . Wenn er wüßte! Ach, ich glaube, er brächte mich um . . . Harre aus, mein lieber Freund! Wer ausharrt, wird gekrönt, wie's in der Heiligen Schrift heißt. Habe Geduld, bis einst die Stunde schlägt, daß ich Dich rufen werde. Ich werde Dir dann Nachricht geben und gewißlich voll Sehnsucht auf Dich warten. Oh, die schöne Jugendzeit, wo ist sie geblieben? Wie war ich doch so glücklich!

Deine                
Helene.

Postskriptum: Komme nicht wieder in den Garten. Ich werde Dir einen andern Ort bezeichnen. Nur nicht in den Garten.«

Seltsam. Was ihn vor wenigen Minuten mit Wonne erfüllt hatte, erschien ihm nun matt und farblos und enttäuschte ihn. Die Schuld trug ohne Zweifel das wilde Weib, dessen Nähe sein Urteil verwirrte.

Ein seliger Wahnsinn schien über sie gekommen. Und wie sie lächelte! Wie sie ins Leere starrte!

Sie kehrte zurück. Gleich einer Schlafwandlerin ging sie daher.

»Regine.«

Sie schloß für einen Augenblick die Lider. »Ja, Herr.«

»Was hast du heute?«

Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Nichts, Herr.«

Und wieder dieser Blick – traumverloren, in Tränen des Glückes verschwimmend.

Die Brust ward ihm enge. Offenbar – er hatte Furcht.

Dann beschloß er, nichts mehr von ihr zu sehen und zu hören, nur seiner Arbeit zu leben. – Er begann in den Papieren zu wühlen, legte alles zurecht, was an wichtigen Dokumenten noch übrig war, sichtete, registrierte und machte Kopien. Im war zumute, als müßte er alles in Bereitschaft haben, falls irgendein Unheil jählings über ihn hereinbräche. –

So verging der Tag, so verging der Abend. – Regine hockte fernab im dunkelsten Winkel und regte sich nicht. Er wagte nicht mehr, einen Blick zu ihr hinüberzusenden.

In seinen Schläfen hämmerte das Blut, vor seinen Augen tanzten gelbliche Kreise, in seinen Gliedern zuckten die ermüdeten Nerven.

Mit dem Glockenschlage zehn erhob sie sich, murmelte ein »Gute Nacht« und verschwand hinter ihrem Vorhange. Er antwortete nicht und schaute ihr nicht nach.

Um elf Uhr löschte er das Licht und ging gleichfalls zu Bette.

»Warum klopft dir das Herz?« fragte er sich. »Denk daran, was du geschworen hast.« Aber das Bangen vor einem Unheil, das er gespenstergleich im Dunkel nahen fühlte, wich nicht von seiner Seele. Er stand noch einmal auf und schlich auf nackten Füßen zu dem Waffengestelle, das vom Schimmer des aufgehenden Mondes matt erleuchtet wurde. Dort holte er eine der Pistolen hervor, die zum Schutze gegen Überfälle allezeit geladen waren.

Sie war seine treue Schützerin gewesen in manchem blutigen Strauß. Sie sollte ihn heute vor sich selber beschützen.

Mit gespanntem Hahn legte er sie neben sich auf den Nachttisch nieder.

»Ob du wohl ein Auge schließen wirst?« fragte er, den Kopf in die Kissen nestelnd. Sein Zweifel war unnötig. Schon nach wenigen Sekunden fühlte er, wie die Ermüdung ihm leise Glieder und Gedanken löste.

 

Ein seltsamer Traum war's, der ihn aus tiefem Schlafe ins Halbwachen zurückrief. Er sah in dem Dunkel, das ihn umgab, zwei wildblickende Augen – wie die einer Pantherkatze – sich entgegenglühen. Kaum wenige Zoll nur schienen sie von seinem Angesicht entfernt. In starrem Feuer ruhten sie auf ihm, als wollten sie ihn bannen und verzaubern.

Der Atem fing an, ihm zu fehlen, denn ein andrer Atem ergoß sich in lauen Wellen über ihn.

Und wahrlich, das war kein Traum. Er hatte die Augen weit geöffnet. Auf der Decke seines Bettes lag ja wie ein Kreidefleck der Mondschein. Und die Lichter glühten noch immer in verzehrendem Feuer auf ihn nieder. Die Umrisse eines Kopfes wurden sichtbar. Die weiße Gestalt eines Weibes neigte sich über ihn.

Ein wohliger Schreck durchrieselte seinen Körper.

»Regine«, murmelte er.

Da sank sie vor seinem Bette auf die Knie und bedeckte seine Hände mit Tränen und Küssen. – Ein leises Erschlaffen überkam ihn. Er wollte die schwarzen Flechten streicheln, die gelöst über die Kissen hinfluteten, aber die Hände hatten noch nicht die Kraft, sich ihr zu entziehen.

Du – »denk an deinen Schwur!« schrie es in ihm.

Ein jähes Entsetzen trieb ihn empor.

Noch im Taumel des Halbschlafes entriß er ihr die Hand und tastete nach der Pistole.

»Sie oder du!«

Ein Schuß knallte. Regine stieß einen Wehlaut aus und sank mit der Stirn auf die Bettkante hin. In demselben Augenblick erscholl drüben an der jenseitigen Wand ein Gepolter und Geprassel. Das Bild der Großmutter war zur Erde gefallen. –

Verstört schaute er um sich, erst jetzt zur vollen Besinnung erwachend.

»Bist du verwundet?« fragte er, die Hand auf ihren Scheitel legend.

»Ich – weiß – nicht, Herr!« Und dann glitt sie am Boden entlang nach ihrem Lager hin.

Er kleidete sich an und machte Licht. All das schien ein wüster Traum. »Wenn sie nun stirbt?« schrie es in ihm. –

Als er den Vorhang ihrer Lagerstätte zur Seite schlug, fand er sie im hintersten Winkel zusammengekauert, die Decke mit den Zähnen emporhaltend. Blutflecken erglänzten darauf.

»Um Jesu willen – zeig her – wo bist du getroffen?«

Sie ließ den Zipfel der Decke bis auf die Brust hinabsinken und bot ihm schweigend die nackte Schulter dar. Das Blut floß in Strömen daran herab. –

Aber der erste Blick genügte, um ihm, dem mit Wunden Vertrauten, zu zeigen, daß nichts wie ein Streifschuß da war, der in wenigen Tagen von selber geheilt sein würde.

»Gott sei gelobt, Gott sei gelobt!«

Sie starrte mit großen Augen wie geistesabwesend zu ihm empor.

»Es ist nichts«, stammelte er, »eine Schramme – weiter nichts!«

Sie schien ihn gar nicht gehört zu haben.

»Nimm dich zusammen, Mensch! Kein Blick, kein Wort darf ihr verraten, wie's um dich steht.«

Er trat zurück und ließ aus müde sich lösenden Fingern das Licht auf die Tischplatte sinken.

Was nun? Wohin nun? Bleiben hieß verderben.

Drum fort, fort noch in dieser Stunde!

Fort, bis du aus Menschen eine Mauer bauen kannst, die dich und sie auf ewig trennt!

Und in atemloser Hast begann er die Papiere zusammenzuraffen, welche die Schuld des Vaters offenbarten, als wären sie das Teuerste, was er besaß. –

 


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