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Siebzehntes Kapitel

Ruprecht ging nach dem Speisezimmer hinüber. Er gab sich Mühe, Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Und nach einigen Schritten glückte es ihm. Die Bewegung des Gehens rüttelte ihn zurecht. Da war eine Versuchung bestanden worden. Gut, sehr gut! Was noch? Was konnte Schiereisen ohne ihn ausrichten? Nichts. Seine Kette von Schlüssen war wertlos. Lauter Indizien, die erst durch Ruprechts Aussagen hätten Wucht und Bedeutung bekommen können. Was würde er nun beginnen?

Aber trotz alles festen Zusammenschließens, trotz alles Verwahrens, zog es an ihm: du hättest sprechen sollen. Jetzt wärest du auf dem Weg zur Freiheit. Das Grauen wäre fort und du hättest die Zusammenhänge mit dem fürchterlichen Geheimnis des Turmes beseitigt.

Lissy und Nelly liefen ihm auf dem Korridor in die Arme.

»Wir haben ohne dich essen müssen, Papa,« rief Lissy, »wo warst du so lang? Die Mama hat gebrummt, daß du dich von dem langweiligen Professor aufhalten läßt.«

Oh, dachte Ruprecht, die Mama würde den Professor nicht langweilig finden, wenn sie wüßte, was ich weiß.

Lissy hatte ihn bei beiden Händen gefaßt und drehte sich mit ihm im Kreis. An der Wand des Korridors hingen einige alte Morenos, finstere, spanische Herren in schwarzen Gewändern und unerbittlichen Halskrausen. Und der gerade über dieser Szene hing, war der finsterste von allen. Aber als er die übermütige Kinderfröhlichkeit da unten sah, konnte selbst er nicht anders als lächeln. Der Sonnenschein lief nicht mehr machtlos von den bleichen Wangen ab, sondern sammelte sich in Vertiefungen, strahlte über die hohe Stirn wie über eine belebte Haut.

»Papa, Papa,« rief Lissy, »merkst du noch immer nichts?«

»Was denn, Mädel?«

»Aber ich habe doch eine neue Frisur!«

»Sapperment.« Wahrhaftig, an Lissys kleinen Ohren klebten zwei blonde, große Spiralen. Die Zöpfe waren fest zusammengedreht und dann schneckenförmig an beiden Seiten des Kopfes herumgelegt. Es war das Motiv der prähistorischen Gewandspangen, der Fibulae, in süßer, lebendiger Gegenwärtigkeit.

Ruprecht staunte noch immer.

»Wie gefällt es dir denn, Papa?« drängte Lissy ungeduldig.

»Sehr gut! Ganz ausgezeichnet! Du wilder Fratz!«

Lissy triumphierte. »Siehst du, Nelly! Siehst du! Dem Papa gefällt es. Sehr, nicht wahr? Dem Papa gefällt es sehr! Die Nelly sagt, es gefällt ihr nicht. Aber das sagte sie nur so.«

Auf Nellys Gesicht stand ein ganz klein wenig Neid: »O nein! Du kannst deine Frisur behalten. Ich mache mir gar nichts daraus. Ich bin auch schon zu groß für eine solche Frisur. Das ist etwas für ganz kleine Kinder. Und – und die Tante Hedwig hat mir gesagt, sie macht mir morgen auch eine neue Frisur, aber wieder eine ganz andere … Und die wird noch schöner sein.«

»Tante Hedwig hat dir also diese Frisur gemacht?«

»Ja … wir waren Vormittag bei ihr. Und sie läßt dich grüßen, und sie wird Nachmittag kommen.«

Am Ende des Korridors zeigte sich eine schlanke, schwarze Gestalt. Miß Nelson kam heran, an allen den finstern Morenos vorbei, und nahm die Kinder mit sich fort. Sogleich hörte der alte Spanier an der Wand zu lächeln auf.

Ruprecht sah den Kindern nach. Nein, auf deren Blühen sollte kein Schatten fallen, deren heitere Gärten sollten nicht durch einen Sturm verwüstet werden. Nicht durch Ruprechts Schuld oder Mithilfe. Er wollte sogar tun, was in seinen Kräften stand, um das Äußerste, eine Katastrophe, zu verhindern. Aber was da zu tun war, das wollte ihm nicht einfallen.

Gegen fünf Uhr stellte sich ein leichter Regen ein. Es gluckste in den Dachrinnen und rieselte über den Hof, die Wipfel der Kastanienbäume auf dem Schloßweg rauschten leise und wandten alle Blätter im Regen hin und her. Ruprecht hatte den Wagen ins Dorf geschickt. Er brachte die Gäste.

Hedwig war still und beglückt. Fritz Gegely trug Mittelpunktsgefühle zur Schau. Auch der Major Zichovic war gekommen, voll soldatischer Grandezza, denn die heutige Zusammenkunft hatte ja ein sozusagen offizielles Gepräge.

»Die allerbesten Glückwünsche, selbstverständlich«, sagte Helmina, indem sie auf Hedwig zuging und sich über sie neigte, wobei sie mit den Händen leicht die Schultern der Kranken berührte, um eine Umarmung anzudeuten. »Ich wünsche Ihnen die Erfüllung aller Ihrer Träume – an der Seite Ihres Gatten.«

Ruprecht stand dabei. Er hätte Helmina wegreißen, ihre Berührungen abwehren mögen. Sie sollte der Heiligen nicht nahezukommen wagen.

Helmina erkundigte sich nach dem Gerichtssekretär. Er sei verreist, meldete der Major, sein Urlaub gehe zu Ende. Noch acht Tage. Und weil er die letzten Tage hier verbringen wolle, habe er einen Besuch bei seiner alten Mutter in Linz noch vorher abtun müssen. So kurz als möglich, denn er wolle bald wieder zurück sein.

Man saß im Balkonzimmer und sprach sich durch allerlei Themen durch. Auch der Major sah das betrübliche Ende seines Urlaubs vor sich. Er war weich gestimmt und raffte sich erst später zu mehreren Witzen auf. Man lachte aus Gefälligkeit. Nur Fritz Gegely verzog keine Miene.

»Sie sind heute so ernst,« sagte der Major, »was wollen Sie, Sie können hierbleiben, solange es Ihnen beliebt. Wer wartet auf Sie? Es ist niemand, dem Sie zu folgen haben. Sie sollten nicht so trübsinnig sein.«

»Ich kann über Witze nicht lachen,« antwortete der Dichter kühl, »Sie entschuldigen, Herr Major! Anekdoten und derlei Zeug kommt mir immer wie Geld vor. Es ist gut, wenn man es hat, denn es gilt etwas, und man kann sich dadurch der Gesellschaft angenehm machen. Aber es ist schmutzig und durch vieler Leute Hände gegangen. Ich bin in solchen Dingen peinlich sauber.«

Der Major war im Innersten getroffen: »Es kann nicht jeder ein Dichter sein, wie Sie, Herr Gegely, der sich seine geistreichen Bemerkungen selber macht. Wir armen kleinen Leute müssen nehmen, was uns zugetragen wird.«

Aber Fritz Gegely war nicht in der Stimmung, sich mit dem Major in einen Zweikampf einzulassen. Er zog seine Zugbrücke auf und schwieg. Nach einer Weile bat der Major, Ruprecht möge ihm gestatten, seine alten Türbeschläge und Kastenschlösser zu besichtigen.

Helmina und Fritz Gegely gingen in das Musikzimmer. Sie wollte ihm etwas vorsingen.

Und so blieben Hedwig und Ruprecht allein zurück. Er rollte ihren Stuhl auf den Balkon, und sie sah schweigend in den leisen Regen hinaus, mit dem schon eine frühe Dämmerung niederfiel. Irgend etwas kam aus der Ferne, strich immer näher heran, wehte lind und leicht um die beiden Menschen.

Madonna, dachte Ruprecht. Er hätte sich vor Hedwig niederwerfen mögen. Alles Schwere und Schmerzliche war fort, die Erregung und der Zweifel lagen weit unter ihm, er stand wie auf einem strahlenden Gipfel über Gewitterwolken.

»Ich danke Ihnen sehr,« sagte Hedwig, »Sie haben mir eine große Freude gemacht. Rosen und Perlen. Es ist ein wehmütiger Glanz in diesen Dingen, ganz wie es für mich paßt.«

»Hier haben Sie auch meinen lieben Freund, der Sie verraten hat.« Und er reichte ihr das gute Kalenderlein.

Hedwig sah lächelnd zu ihm auf. Eine Freude lag in ihren Augen. »Sie sind so gut!« sagte sie, »und jetzt will ich Sie auch etwas sehen lassen … aber es soll noch ein Geheimnis sein – nur für uns zwei … geben Sie mir Ihren Arm.«

Er breitete seine Arme hin, ein Gerüst, um sie durch die Welt zu tragen. Und Frau Hedwig erfaßte sie mit festem Griff, stützte sich und erhob sich – erhob sich langsam in ihrem Rollstuhl, aus eigner Kraft, fast bis zu ihrer ganzen schlanken Größe. So stand sie einen Augenblick, leicht zitternd, glücklich lachend, den Blick fest in den Ruprechts verankert. Sie berührte Ruprechts Arm fast gar nicht. Dann stützte sie sich wieder fester, ließ sich langsam herab, sank zurück und lag nun wieder in ihrem Stuhl, erschöpft, aber strahlend, in einem matten Glanz, wie die Perlen, die ihr Ruprecht geschickt hatte.

Ruprecht aber konnte sich nun nicht mehr halten. Er fiel neben ihrem Stuhl auf die Knie und ergriff ihre Hand. Ihre Finger drängten sich an die seinen, seine Küsse stürmten über die blasse Glätte dieser Hand und röteten die Fingerspitzen hinter den opalfarbenen Nägeln. Inzwischen strich ihre andere Hand liebevoll über sein Haar. Da war eine Stelle auf dem Scheitel, wo das Haar dünn und spärlich war und grau und verwelkt aussah. Hier verweilte ihre Hand mit leichtem Druck, denn es kam so ganz sonderbar über sie, als ob diese Stelle das Zeichen eines Kummers trage, der irgendwie mit ihr zusammenhing.

Ihm aber war es, als müsse er ihr alles sagen, als sei jetzt der Augenblick gekommen, alles vor sie hinzuströmen, alles Schmerzliche und alles Süße, sich alles Schreckens zu entledigen und sich für seine Zukunft eine helle Gewißheit zu holen. Wo beginnen, wo beginnen? stammelte es in ihm. Er konnte nichts anderes sagen, als jenen einst ersonnenen Namen: »Silvia.«

Sie neigte lächelnd den Kopf über ihn.

»Silvia.«

Der Major kam zurück. Man hörte seinen soldatisch strammen Schritt im Nebenzimmer, und Ruprecht fühlte sich abgedrängt, riß sich heftig los und taumelte in eine Verwirrung. Der Major brachte eine ganze Fracht von Fragen und Bemerkungen mit, und bald waren Hedwig und Ruprecht von diesen überflüssigen und gleichgültigen Worten umhüllt und konnten ihre Fassung zurückgewinnen.

Später saß man dann bei einem festlichen Mahl, Lissy links und Nelly rechts vom Stuhle des lieben Gastes und Ruprecht ihm gegenüber, daß er ihm immer ins Gesicht sehen konnte. Er war in einer großen Freudigkeit und voll Dank gegen Hedwig. Er brachte auch einen Toast aus, aber er wußte nicht, was er sprach. Dann trank man einige Flaschen Champagner, und sogar Hedwig nippte zweimal an ihrem Glas. Der Major geriet in eine harmlos laute Weinlaune und erzählte Geschichten aus Bosnien. Auch Fritz Gegely trank recht brav. Aber er blieb schweigsam auf seiner hohen Warte und kam nicht in die Niederungen. Hedwig schien es, als suche er seine überlegene Gelassenheit zu stärken und eine leichte Unruhe zu vertreiben.

Helmina saß da, sah von einem zum andern und ließ den ganzen Abend über ein spöttisches Lächeln nicht von den Lippen.

In der elften Stunde brach man auf.

Als die Gäste fort waren und Ruprecht sich anschickte, in sein Zimmer zu gehen, trat Helmina an ihn heran: »Du hast heute einen glücklichen Tag gehabt, nicht wahr? Du bist ja noch immer in Trance … mir scheint, Dankwardt hat dich mit seinem indischen Zimmer angesteckt: das Mitleid ist jetzt die große Achse. Na – mein Geschmack ist das nicht! Ich vertrage kranke Menschen nicht.«

Was sollte Ruprecht darauf antworten? Es traf ihn nicht, denn er wußte, daß Hedwig auf dem Wege zur Gesundheit war. Das aber sollte noch niemand wissen als er. Und so nickte er Helmina nur zu und verließ das Zimmer. –

Schiereisen hatte den ganzen Nachmittag auf der kleinen Bank vor Rotrehls Haus zugebracht. Er hatte noch einmal alle seine Aufzeichnungen vor sich ausgebreitet und seinen Gedankengang überprüft. Dann, als der Regen begann, hatte er seine Papiere zusammengerafft und sich in seinen wetterdichten Lodenmantel gewickelt. Er ließ das Wasser an sich herunterrieseln, und erst, als die Zipfel seines Mantels ganz schwer und voll Nässe waren, ging er auf sein Zimmer.

Was würde nun geschehen? Die Entscheidung war da. Wenn Ruprecht sprach, so konnte alle Mühe umsonst gewesen sein. Und es war doch fast sicher, daß er sprechen würde. Lorenz war schon entwischt, es war fast anzunehmen, daß sich auch Helmina würde in Sicherheit bringen wollen. Konnte er dies zugeben? Es war seine Pflicht, sie festzuhalten, aber noch hatte er nichts in der Hand, das ganz unmittelbar auf sie hinwies. Immerhin, diese Nacht mußte noch ausgenützt werden. Er schrieb einen ausführlichen Brief an Herrn Peter Franz von Zaugg. Den trug er noch abends selbst zur Post und gab zugleich zwei Chiffretelegramme auf: eines an die Staatsanwaltschaft und eines an sein Bureau. Dann aß er im »Roten Ochsen« zur Nacht. Von der Wirtin erfuhr er, daß Fritz Gegely und seine Frau heute auf das Schloß geladen worden seien. Das war ja der Dichter mit der kranken Frau, deren Anschluß an die Schloßherrschaft er noch vor seiner Abreise mit angesehen hatte.

Nachdenklich in den Zähnen stochernd ging er die Dorfstraße entlang. Der Boden war weich vom Regen, und an einer großen Wasserlache stand Mathes Dreiseidel mit dem Oberlehrer und sprach gescheit von politischen Dingen. Schiereisen sah, daß Dreiseidel nicht übel Lust hatte, ihn ins Gespräch zu ziehen, und hielt sich am diesseitigen Ufer der Wasserstraße. Er ging über die Brücke und dann, im tiefen Schatten der Kastanienbäume, den Schloßberg hinan. Es regnete nicht mehr, aber von den Bäumen tropfte es noch, und bisweilen fiel ihm ein kalter Wasserball hinter den Kragen, daß es ihm immer einen kleinen Schlag auf die Nerven gab.

Die Fenster des Schlosses waren noch beleuchtet. Schiereisen beschloß zu warten. Er hatte seinen gelben Überzieher an, denn der Wintermantel war doch etwas feucht, und nun knöpfte er sich fest ein und lehnte sich gegen einen Baumstamm. Zwei Stunden vergingen so. Schiereisen wartete ruhig. Er wußte selbst nicht worauf. Aber so ging es ihm immer an Höhepunkten seiner Laufbahn. Sobald er seine Vorarbeiten beendet hatte, überließ er sich der Eingebung. Eine Stimme mußte ihn rufen, ein Licht mußte plötzlich auftauchen und ihm den Rest seines Weges erhellen. Ungeduld war ihm bei solchem Warten unbekannt.

Als er im Schloßhof Stimmen und das Geräusch eines Wagens hörte, zog er sich noch tiefer in den Schatten zurück. Das schwere Tor wurde geöffnet und schlug schütternd gegen die Mauer. Ein Wagen kam hervor und fuhr mit knirschenden Bremsen den Schloßberg hinab. Drei Menschen saßen darin, das Ehepaar Gegely und noch jemand … der Major vielleicht, der zur Gesellschaft gehörte.

Das Tor ging wieder zu, aber Schiereisen hörte nicht das Geräusch des Zusperrens. Dem verschlafenen Torwart war es lästig, bei der Rückkehr des Wagens noch einmal aufstehen zu sollen, er überließ die Arbeit des Abschließens dem Kutscher.

Schiereisen wartete noch eine Weile, dann öffnete er das Tor zu einem schmalen Spalt und trat ein. Die Wirtschaftsgebäude lagen dunkel, nur in der Schafferwohnung brannte ein Licht, aber auch dieses erlosch jetzt. Nur im Hauptgebäude waren sie noch wach. Über den dunkeln Dächern war ein allmählich sich erhellender Himmel gespannt. Ruhig und bedachtsam und lautlos ging Schiereisen über den Hof, mit hellen Sinnen, in denen jeder Eindruck von draußen stark und rasch verarbeitet wurde. Alle diese Dinge, die schlafenden und die wachenden Menschen, die Quadern der Gebäude, die Hofmauern gehörten gleichsam zu seiner Oberfläche, waren Bestandteile seines Körpers, Stücke seiner Haut.

Er schritt unter dem Torgewölbe des Hauptbaues dem Innenhof zu. Hier unten lagen die Wohnräume für die Dienerschaft. Dort drüben war das Zimmer des Kammerdieners Lorenz gewesen. Und auf der anderen Seite, wo noch ein trübes Licht brannte, war die alte Marianne untergebracht, das verrückte Weib, das seine Nächte mit Beten und Singen durchbrachte. Sie war noch wach. Ein Gemurmel kroch über den Hof und brodelte um Schiereisens Ohren. Er wollte doch einmal zusehen, was die Alte trieb.

Plötzlich wurzelte er im Boden fest.

Oh, was war aller Scharfsinn, alle Erfahrung, alle Umsicht, wenn er so etwas hatte vernachlässigen können? Wie weit war er von der Vollkommenheit in seinem Beruf entfernt, wenn er einen Umstand von solcher Bedeutung hatte übersehen können? Er hatte überall geforscht und nachgespürt, und gerade nur dieses alte Weib hatte er nicht beachtet. Jetzt war die Eingebung da. Hatte ihm nicht der alte Johann gesagt, daß sie noch ein Erbstück des letzten Moreno war, das Helminas erster Gatte mit übernommen hatte? Sie hatte also im Schloß gelebt, seitdem Helmina hier eingezogen war, und hatte alle Ereignisse mit angesehen. Ihr Wahnsinn hatte sich erst unter Dankwardt entwickelt. Und Schiereisen hatte es unterlassen können, diesem Wahnsinn auf den Grund zu gehen? Sie war früher still und ruhig gewesen, mit kleinen häuslichen Arbeiten dankbar für das bißchen Lebensunterhalt, das ihr der letzte Moreno auf dem Schloß sichergestellt hatte. Wie, wenn dieser einfache Geist nachher durch etwas Fürchterliches verstört worden war, wenn ihn ein Grauen verwirrt hatte, eine Mitwissenschaft, eine zufällige Kenntnis von einem Geheimnis, das ihr zu schwer war?

Ein schriller Schrei brach aus dem Fenster, und ein plapperndes Gezeter folgte. Schiereisen lief hinüber. Die schmalen, roten Vorhänge waren vor den unteren Teil des Fensters gezogen, aber wenn sich Schiereisen auf die Fußspitzen stellte, so konnte er ins Zimmer sehen. Die alte Marianne lag auf den Knien vor ihrem Tisch. Das Kopftuch war nach hinten gesunken, und die graugelben Haare wirrten sich durcheinander, standen wie kämpfende Schlangen strähnweise in der Luft. Sie schlug mit der Stirne immer gegen die Tischkante und schrie: »Oh, du Lamm Gottes, welches du hinwegnimmst die Sünden der Welt!«

Auf dem Tisch stand ein Kruzifix und drei brennende Kerzen, deren Flammen bei jedem Stoß der Stirn gegen die Tischkante wie erschreckt zusammenzuckten und auffuhren.

»Oh, du Lamm Gottes, welches du hinwegnimmst die Sünden der Welt!« wiederholte die Alte unzählige Male. Dann wurde sie ruhiger und murmelte nur mehr vor sich hin. Ihre Stirne blieb jetzt an der Tischkante liegen, und ihre Arme, die zuerst unter dem Tisch wütend hin und her gefahren waren, verschränkten sich über der Brust. Dann stand sie auf, hob zuerst das rechte, dann das linke Knie und zog sich am Tisch in die Höhe.

Schiereisen sah jetzt zum erstenmal in ihr Gesicht. Es war nicht verzerrt, aber ganz und gar von einem einzigen Gedanken beherrscht. Man sah, daß in diesem armen, verwirrten Kopf neben einer einzigen Vorstellung nichts anderes Raum hatte. Sie nahm die drei brennenden Kerzen vom Tisch und schritt der Türe zu.

Schiereisen beeilte sich, hinter einem Mauerpfeiler ein Versteck zu finden. Er sah die Alte aus ihrer Türe treten und über den Hof schreiten. Die drei brennenden Kerzen trug sie in der linken Hand, während sie mit der gekrümmten Rechten den Luftabzug abwehrte. Lautlos folgte ihr Schiereisen durch das Torgewölbe und dann längs der Mauer des Hauptgebäudes zur Parktüre. Das rostige Gitter knarrte in den Angeln, es war wie ein Laut von Nachtvögeln, die mit spitzen Schnäbeln auf lebende Augen lauern. Die helle der Kerzen blendete nur und zeigte nur Bruchstücke des Weges. Es ging an Gesteinstrümmern vorüber und durch nasses Gebüsch. Schiereisen konnte es nicht vermeiden, daß die Büsche um ihn rauschten und die kleinen Äste knackten. Aber die Alte schien nichts zu hören, sie strebte vorwärts. Wuchtige Quadern wuchsen plötzlich aus der Finsternis. Der Turm … dachte Schiereisen. Die Alte blieb stehen, leuchtete an der Mauer hinauf und hockte nieder, vor einem flachen Stein, auf dem sie ihre drei Kerzen befestigte. Vorsichtig goß sie ein wenig von dem flüssigen Stearin auf eine ebene Stelle und drückte dann das Kerzenende hinein. An der Menge von Stearinklumpen war abzusehen, daß dieser Stein schon oft dieser merkwürdigen Zeremonie gedient hatte.

Die Alte blieb vor den brennenden Kerzen auf den Knien liegen und schien zu beten. Der Rücken war gekrümmt, der Kopf hing tief vornüber, auf den Schultern war das schmutziggelbe und -braune Muster ihrer Barchentjacke durch das Licht erhellt.

Schiereisen stand hinter der Alten wie ein Bestandteil der Finsternis, er fühlte ungegliedert, formlos, chaotisch, in einem trägen Verharren stand er da, wartend, indifferent in Raum und Zeit. Aber die Alte blieb in ihrer Stellung; es geschah nichts weiter. Da gab sich Schiereisen einen Anstoß; die Nacht durfte nicht ungenützt verstreichen.

Er trat vor und berührte die Schulter der Alten: »Was machen S' denn da, Mutterl?« Sie wandte sich um, gar nicht erschrocken, nur ein wenig mürrisch über die Störung: »Seien S' still … die drei sind drin. Sie schlafen net. Sie gehen alleweil herum und stoßen mit'm Kopf an die Wand. Drei Kerzen: für jeden eine. Drei Kerzen für die armen Seelen im Fegefeuer.«

»Wer ist drin?« fragte Schiereisen mit großer Freundlichkeit und klopfte dabei der Alten liebevoll auf den Rücken.

»Oh nein: das sag' ich Ihnen net,« erwiderte die Alte ernsthaft, »es darf kein Mensch wissen, wer sie sind. Wenn ich was sag', so kommen sie heraus, essen und trinken, als ob nichts g'schehn wär' und sind wieder lebendig. Und das darf nicht sein. Sie will's nicht haben.«

»Ja, die gnädige Frau ist streng. Man darf nichts tun, was sie nicht will.«

Mit einem Ausdruck großer Angst breitete die Alte ihre dürren Arme aus: »Nein … nein … sie will's nicht haben, sie müssen schon dortbleiben. Der Lorenz kommt sonst und prügelt mich. Er hat einen Stock aus Gummi, mit dem haut er mich über den Kopf. Ich muß aufpassen und beten.«

»Sie haben recht,« sagte Schiereisen, »beten Sie nur.«

»Das Gebet kann alles. Das Gebet verklebt das Loch, damit sie nicht heraus können. Das Gebet ist das Wachs der Frommen, mit welchem der Eingang und der Ausgang verschlossen wird.« Sie richtete den Kopf in die Höhe und sah die feuchten Quadern hinauf.

Und da erblickte Schiereisen über sich, zwischen Baumwipfeln, gerade noch an der Grenze des Lichterreiches, ein dunkles Loch im Turm. Es ist gut – sagte er sich –, diese Nacht soll ausgenützt werden.

Die Alte hatte schon wieder den Kopf sinken lassen und zu beten begonnen. Schiereisen störte sie nicht weiter und verließ sie, indem er quer durch die Büsche brach. Eine Strecke ging er die Gartenmauer entlang, bis er an eine Stelle kam, wo einige von Holundergesträuch umwucherte Trümmer das Überklettern möglich machten. Er ließ sich außen herabgleiten, ganz ohne Rücksicht auf den gelben Überzieher, dem dabei alle Knöpfe absprangen. Dann lief er den Schloßberg hinab, über die Brücke und jenseits wieder den Hang zu Rotrehls Haus hinan.

Rotrehl träumte eben vom Übergang über die Beresina und floh in einem Schlitten vor einer Unmasse von Kosaken, die mit langen Lanzen und blutroten Zungen, die ihnen wie jagenden Hunden aus dem Maul hingen, hinter ihm drein kamen. Sein Schlitten wollte nicht vom Fleck, und als sich Jérome vorbeugte, sah er, daß die Kufen nur aus Pappendeckel bestanden, die sich nun im Schnee erweicht hatten und zusammenbrachen. Plötzlich dröhnten auch vor ihm Kanonenschläge: Bumm – bumm – bumm! Der Feind war da, er hatte ihm den Weg abgeschnitten und seine Geschütze aufgefahren. Es blieb nichts mehr übrig, als wie ein Held zu sterben. Über dem glorreichen Entschluß erwachte er, schweißtriefend, und hörte Faustschläge an seiner Türe.

Dann stand er da, im Rahmen der Türe, mit flatterndem Hemd, den grellen Schein einer Blendlaterne im Gesicht, und jemand befahl ihm, hastig aufzustehen. Von einer Leiter wurde gesprochen, von Stricken, Hacke und Schaufel, die aus dem Geräteschuppen hinter dem Haus geholt werden sollten. Es war vielleicht Schiereisen, der das alles sagte. Jedenfalls mußte man sich anziehen, denn es schien eine sehr dringliche Sache. Als Rotrehl fertig war und Schiereisen ihm klarmachte, worum es sich handle, verwunderte er sich gar nicht sehr. Das alles schien ihm nur eine Fortsetzung seiner abenteuerlichen Träume, und seine Phantasie war so erfüllt von Kosaken und Schlachtenbildern, daß er sogleich bereit war, Schiereisen zu begleiten. Eine Weile später rückten sie über den Berg hinab, mit Leiter, Stricken, Hacke und Schaufel, wie Schatzgräber oder Beschwörer, den Mantel der Nacht um die Schultern. –

Jetzt begannen die Sterne diesen Mantel zu schmücken. Die Wolken hatten sich ganz verzogen, und die Nacht war hell geworden. Aus dem feuchten Gras stieg ein warmer Dunst und breitete sich schwebend zu einem dünnen, weißen Nebel über die Wiesen hin. Mitternacht war längst vorbei, und im Osten wurden die Schleier der Nacht dünner, daß die Sterne ganz groß und wie ängstlich durch das Fasergewebe der Dämmerung blickten. Das Licht begann aus der Erde zu quellen.

An einem der Fenster ihres Schlafzimmers stand Helmina. Sie trug ein graues Reisekleid und hatte eine kleine Handtasche griffbereit liegen. Manchmal fuhr sie über die Stirne und wandte sich dann ins Zimmer zurück, um festzustellen, ob die Geräusche, die sie hörte, wirklich nur in ihrem Ohr und in ihrem Blut waren oder von außen kamen. Es war ihr doch manchmal, als ob jemand den Gang entlang käme und an ihrer Türe stehenbliebe. Dann glaubte sie wieder ein Atmen zu hören, das Atmen Schlafender, einer ganzen Burg, die schlief, während sie allein wachte, bereit, sie zu verlassen. Kleine, kurze Atemzüge sonderten sich aus dem Rhythmus aus, die Atemzüge von Kindern, die in ihren Bettchen lagen. Einen Augenblick lang unterschied sie Helmina, dann gingen sie wieder unter im Weben des gemeinsamen Schlafes. Helmina bemühte sich nicht, sie noch einmal zu hören. Sie war ohne Mutterzärtlichkeit, ihre Seele verstand nichts davon, sie war am liebsten für sich allein und hing nur durch ihre Sinne mit den anderen Menschen zusammen. Sie starrte in eine neue Welt. Dort lag das Unerhörte, das sie suchte. War es Macht, war es eine glühende, verderbliche und beglückende Leidenschaft? Sie wußte es nicht. Es floß dunkel auf ihren Gründen hin, sie fühlte sich getrieben, sie ergab sich ohne Widerstand. Manchmal schien es ihr, als wäre sie gar nicht sie selbst, sondern nur ein Teil einer grausigen Macht, die sich über die Welt ergießt …

Zwei Stunden stand sie so da. Sie starrte auf die Brücke hinab, die tief im Schatten lag. Sie wartete auf das Zeichen. Ihre spöttischen Lippen wurden immer schmaler und preßten sich fester zusammen. Vielleicht kam Fritz Gegely gar nicht. Vielleicht hatte er nur große Worte gemacht und scheute sich vor der Tat, und sie mußte ohne ihn von hier fort. Er war ihr nichts als selbst nur eine Brücke, aber, wenn er ausblieb, so war sie nach so vielen Niederlagen noch einmal und ganz und gar geschlagen. Dieses Warten war unerträglich. Lorenz würde wütend sein. Die Zeit verrann und man hätte schon über alle Berge sein können.

Noch eine halbe Stunde. Dann mußte Helmina fort, ob Gegely gekommen war oder nicht.

Aber da kam das Zeichen. Mitten auf der Brücke blitzte ein elektrisches Taschenfeuerzeug auf. Dreimal, zu je drei Sekunden, leuchtete es wie ein Glühwürmchen. Helmina nahm ihre Handtasche auf und sah sich im Zimmer um. Sie ging nicht als Siegerin von hier … sie ließ nichts zurück als ihren Haß.

Vorsichtig trat sie hinaus, schloß auf dem Korridor eine der geheimen Türen auf und stieg eine enge, faulige Treppe hinab, die unten auf dem Vorplatz mündete. Es war sicherer so, vielleicht befand sich doch jemand eben auf der Hauptstiege. Dann schlich sie über den Hof, dem Torturm zu, und öffnete das kleine Türchen im großen Tor. Aber sie brachte es nicht sogleich auf. Es wurde selten benützt und war eingequollen. Sie mußte mit aller Anstrengung am Schloß reißen, daß die feinen Handschuhe zerplatzten.

Endlich konnte sie hinaus. Sie hatte keine Zeit, die Türe zu schließen. Gegely stand unter den Kastanienbäumen.

»Wo warst du so lange?« fragte sie zornig.

»Verzeih … sie konnte nicht einschlafen … ich habe warten müssen … vor einer Viertelstunde erst …«

»Vorwärts!«

Sie waren aber noch nicht über den halben Schloßberg unten, als das Pförtchen wieder aufgerissen wurde. Schiereisen war mit einem Satz draußen. Ihm folgte Jérome Rotrehl mit Strick und Spaten, die er in den Händen hielt, als habe sie ihm eben jemand hineingedrückt und sei davongelaufen. Gesicht, Hände und Kleider der beiden Männer waren beschmutzt, mit Lehm beschmiert, förmlich überkrustet und da und dort mit weißlichen Flecken von Kalk oder Mörtel geziert.

Schiereisen sah die beiden Menschen am Ende der Kastanienallee in die Dämmerung des frühen Morgens tauchen. Sie liefen die Straße entlang, und gleich darauf hörte Schiereisen auch ein Geräusch … ein aufpeitschendes, alle Nerven zerrendes Geräusch, das Knattern eines sich zur Fahrt bereitenden Automobils. Es trommelte in die Stille der Morgendämmerung hinein. Es war, wie wenn Hände voll Erbsen gegen diese gläserne Stunde geworfen würden.

Schiereisen maß die Entfernung von der Öffnung der Kastanienallee. Dann rannte er mit großen Sprüngen den Berg hinab. Die erste Regung trieb ihn an, nachzusetzen, die Fliehenden zurückzuhalten. Aber als er fast schon unten angelangt war, blieb er plötzlich stehen. Mit einem Ruck hemmte er sich im Lauf, stemmte die Füße gegen den Boden und steckte die Fäuste in die Rocktaschen. Nein – sie sollte fliehen.

Gleich darauf hörte er den Knall, mit dem das Automobil losfuhr. Nun gut … es war recht so … langsam vollendete er seinen Weg, indem er mit geschlossenem Mund seinem Atem eine Regel aufzwang. Als er auf die Brücke kam, war das Automobil schon fort. Da setzte sich Schiereisen wieder in Trab. Er wollte doch noch einmal genau zusehen, mit wem Helmina davongelaufen war. Die Straße zog sich hier ein tüchtiges Stück im Tal hin und stieg dann erst in weiten Windungen zum Hochland an. Die Schlingen umzirkelten einen Waldrücken und ließen sich durch einen geraden und steilen Anstieg abschneiden.

Schiereisen warf sich in den Wald, klomm zwischen den Stämmen hinan, hakte sich an besonders steilen Stellen mühsam von einem zum andern. Seine Lungen dehnten sich aus, erfüllten die ganze Brust, drängten ihm das Herz bis in den Hals. Der Schweiß brach ihm aus der Stirn, schnitt Furchen in den Lehm und Schmutz, mischte auf seinem Gesicht einen klebrigen Brei, unter dem sich seine Haut zum Zerreißen spannte. Es war einige Male, als könne er durchaus nicht weiter. Aber seine ungeheure Spannkraft hielt aus, trieb ihn weiter, machte das Unmögliche möglich.

Er war an der Waldecke, wo er damals Helmina zum erstenmal begegnet war, und stand in einem dichten Gebüsch, dessen Feuchtigkeit seinen dampfenden Körper umhüllte. Einen Augenblick lang war alles still, nur die Zweige schwankten mit leisen Geräuschen um ihn. Sekundenlang. Dann brach das Knattern des Automobils herein. Ganz plötzlich, wie es unten wohl um eine schallauffangende Waldkulisse herumgekommen war.

Schiereisen wußte, daß er vielleicht das Automobil hätte aufhalten können. Mitten auf die Straße treten, den Browning hoch … dieser Haftbefehl wäre wirksam gewesen. Aber er blieb in seinem Versteck.

Das Automobil kam heran. Es schoß um die letzte Windung, schnaubend, mit voller Kraft raste es bergauf … und war zehn Pulsschläge später vorüber. Aber Schiereisen hatte seine Insassen deutlich genug gesehen: Helmina und jenen Herrn Gegely, den Gatten der kranken Frau, und den braven Lorenz als Lenker.

Der Detektiv konnte den Rückweg antreten. Ein Stück vor dem Haus traf er Jérome Rotrehl, der sich jetzt mit allen Gerätschaften allein abschleppte. Als der Geigenmacher seinen Sommergast erblickte, blieb er stehen und starrte ihn an. Sein Gehirn war eine gesättigte Lösung der Ereignisse der letzten Stunden. Er war unfähig, auch nur die kleinste Deutung noch aufzunehmen. Die Verständnislosigkeit umhüllte ihn sanft mit weichen Schleiern. Er konnte nur den Kopf schütteln.

»Kommen Sie, Napoleon«, sagte Schiereisen, indem er ihm die Leiter abnahm. »Sie dürfen nicht denken, daß wir die Schlacht verloren haben. Wir werden jetzt noch eine kleine Weile schlafen. Später werde ich Ihnen alles erklären.«


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