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Elftes Kapitel

Rotrehls kleines Haus am Waldrand bot in seinem oberen Stock alljährlich Sommergästen Quartier. Da waren zwei kleine freundliche Zimmer; eines lag nach vorne und gab den Blick über das Tal hin frei. Man sah den Kamp unten und die kleinen Häuschen und das Schloß gegenüber. Das Fenster des anderen Zimmers aber sah unmittelbar in den Wald hinaus. Die große Buche hinter dem Haus stand so nahe, daß sie, wenn sie sich in windigen Nächten vorbeugte, mit den Zweigen an die Scheiben klopfen konnte.

Zur ebenen Erde wohnte der Geigenmacher. Hinten gab es eine finstere Küche, vorn aber war eine große, helle Stube, Rotrehls Wohn-, Schlaf- und Arbeitszimmer. Hier wurden die guten Geigen gemacht, von denen immer einige im Herbst mit den Sommergästen in die Stadt wanderten. An der Wand aber, an der Rotrehls Arbeitstisch stand, hingen fünf Geigen, nach denen schon viele Käufer vergebens gefragt hatten. Sie hingen in einer Reihe, und unter jeder war mit schwarzen, unbeholfenen, krummen Buchstaben ein Name an die weiße Wand gemalt … Jean – François – Antoine – Madeleine – Marie. Und unter jedem Namen war wiederum ein Kreuz und ein Datum angebracht. Das war Rotrehls kleiner Friedhof. Das waren die Denkmäler seiner Frau und seiner vier Kinder. Seiner Frau hatte er ihren deutschen Namen lassen müssen, in seinen Kindern aber hatte er das französische Blut betont. Die Geigen der Erinnerung hatten einen weichen, süßen, traurigen Klang, und wenn Rotrehl an den langen Winterabenden seine Arbeit beiseite gelegt hatte, dann nahm er wohl die eine oder die andere von der Wand und spielte. Er spielte einfache, schwermütige Lieder, die man nirgends und von niemanden hörte, und die nur in seinem Herzen lebten. So lange spielte er, bis er gar nicht mehr traurig war. Am Allerheiligentag aber, dem Fest der Toten, da nahm er sie alle von der Wand. Auf seinem Arbeitstisch hatte er fünf Kerzen angezündet. Und da spielte er eine seiner Geigen nach der anderen. Und immer, wenn er eine Geige beiseite legte, da verlöschte er auch eine Kerze, bis er zuletzt ganz im Dunkeln saß. Aber da war er gar nicht mehr allein, da waren sie alle um ihn, sein Weib und die vier Kinder, und die Stube war angefüllt von freundlichen Worten und wurde immer heller.

An der Wand gegenüber, über dem Bett, hing eine große Lithographie Napoleons und gleich daneben ein Spiegel. In diesem Spiegel suchte Rotrehl die Ähnlichkeiten zwischen seinen Zügen und denen des großen Eroberers, und wenn er sie wieder bestätigt fand, dann belohnte er Napoleon durch einen frischen Eichenzweig oder einen Strauß von Blumen aus dem kleinen Garten vor dem Haus. In der Ecke war auf einem Bücherbrett eine kleine Bibliothek. Neben einer Bibel und einem Kalender des deutschen Schulvereins eine Anzahl von Büchern in französischer Sprache. Rotrehl verstand zwar kein Wort Französisch, aber wenn er seine heroischen Tage hatte, und wenn er das französische Blut in sich spürte, dann nahm er eines von ihnen herab und begann zu lesen. Er fuhr mit dem Finger die Zeilen ab und zermarterte seine Augen und sein Gehirn. Denn es war ihm immer, als müsse eines Tages die plötzliche Erleuchtung kommen, und als müsse er dann alles verstehen. Er war gewiß, daß ihm diese Erleuchtung noch vor seinem Tode zuteil werden müsse. Einer von Rotrehls Sommergästen, der Französisch verstand, hatte seinen Wirt eines Tages über einem dieser Bücher getroffen. Und da hatte er Rotrehl schwer beleidigt, indem er ganz gewaltig zu lachen begann. Es war auch zu komisch, den Geigenmacher vor einem französischen Kochbuch zu finden. Seitdem hatte sich Rotrehl gehütet, sich noch einmal erwischen zu lassen. Wenn er französisch lesen wollte, verriegelte er immer zuerst die Türe.

Überhaupt hatte man mit den Sommergästen seinen Ärger. Sie waren überaus neugierig und wollten alles wissen. Aber man konnte nicht auf ihr Geld verzichten. Das half dann über den schweren Winter hinweg, in dem es wenig Verdienst gab.

Mit seinem heurigen verfrühten Sommergast aber war Rotrehl sehr zufrieden. Der war nicht so zudringlich wie die anderen. Herr Schiereisen lief den ganzen Tag über in der Umgebung herum und fragte die Bauern aus, ließ sich von Pfarrern alte Kirchenbücher und von den Gemeindevorstehern alte Protokolle und Urkunden geben, in denen er die Schreibweise der Fluß- und Ortsnamen untersuchte. Dann kam er immer mit den Leuten ins Gespräch über dies und das, fragte auch gelegentlich nach Herrn von Boschan und seiner jungen Frau, wie man es eben tut, wenn man die Verhältnisse einer Gegend gründlich erforschen will.

Nachdem Schiereisen durch seine Zurückhaltung Rotrehls volles Vertrauen gewonnen hatte, begann der Geigenmacher selbst, den absonderlichen Studien seine Aufmerksamkeit zuzuwenden.

»Wozu brauchen S' denn das, Herr Professor?« fragte er eines Abends, als Schiereisen auf dem wackligen Gartentisch eine Menge von Notizen ordnete. Es war ein warmer Abend wie mitten im Frühling. Seit ein paar Tagen wehte es lind und köstlich aus Süden. Das ganze Kamptal war von Duft erfüllt. Man konnte ganz wohl im Freien sitzen.

»Ja, sehen Sie«, sagte Schiereisen und richtete seinen treuherzigen Blick auf den Geigenmacher. »Da hat es einmal ein Volk gegeben, lange bevor die Deutschen in diese Länder gekommen sind. Von diesem Volk ist fast jede Spur verloren gegangen. Man weiß nicht einmal genau, wie seine Sprache gewesen ist. Aber dennoch ist es der Wissenschaft gelungen, einiges über dieses Volk herauszufinden. Die Namen der Orte und der Flüsse gehen manchmal bis auf das Keltische zurück. Da muß man also erforschen, wie die Namen früher gesprochen und geschrieben worden sind. Und dann hat man noch die Schädelmessungen und die Gesichtsbildung, die auch noch die alte Blutmischung beweisen …«

Rotrehl sah den Forscher nachdenklich an: »Ja …« sagte er, »die Gesichtsbildung, nicht wahr, die is auch ein Beweis? … Die is sicherer als alle Papiere. Ein Papier kann verlorengehen … aber die Gesichtsbildung net.«

Schiereisen legte einen Stein auf seine Notizen, damit sie ihm der Frühlingswind nicht entführe. »Für Sie haben ja unsere Methoden ein besonderes Interesse. Ihr Fall ist ganz außerordentlich einleuchtend, Sie haben den Napoleon nicht ohne Berechtigung über Ihrem Bett hängen. Es wäre lohnend, Ihrer Abstammung nachzuforschen … Sie unterscheiden sich in jeder Hinsicht von dem charakteristischen Bauerntypus dieser Gegend.«

Das war freilich nach dem Sinn des Geigenmachers. Die Worte flossen in ihn wie ein feuriger, alter Wein. Er schwieg, um den Genuß noch eine Weile nachzukosten. Dann sagte er mit einer dunklen, traurigen Stimme, daß es doch eigentlich um sein Geschlecht schade sei. Alles gestorben, alles hinweggerafft. Niemand mehr da als er allein.

Schiereisen murmelte etwas von Tragik des Geschickes, von Untergang des besseren Blutes und Sieg der Minderwertigen, und verstieg sich zuletzt in die Felswände der Theorien von Langschädeln und Kurzschädeln.

Rotrehl empfand dumpf, wie sein Einzelschicksal bedeutsam wurde. Er verstand dunkel, daß es in dem großen Strom der Historie mündete. Er wuchs vor sich. Und er war Schiereisen dankbar für diese Erhöhung seines Selbstgefühls. Diesem Städter konnte man alles anvertrauen. Und so sprach Rotrehl von seinem Aufenthalt in Wien, wo er sich eine höhere Bildung angeeignet hatte. Von seinen Kindern und von ihrem Sterben, und wie er zu ihrem Gedächtnis die Geigen gebaut hatte, die ihren Namen trugen.

Oft sprach man auch über andere Dinge, über die der Geigenmacher sonst gegen jedermann schwieg. Aber Schiereisen gegenüber brauchte man alle sonst gebotenen Vorsichten nicht anzuwenden. Man konnte sogar sagen, was man von den Leuten drüben im Schloß hielt.

Bisweilen kam auch ein guter Freund des Geigenmachers zu Besuch. Das war der alte Johann aus dem Schloß, der schon unter Herrn Dankwardt drüben gedient hatte. Vor dem mußte Rotrehl freilich mit seiner Meinung über Frau Helmina zurückhalten. Denn der alte Johann ließ nichts über sie kommen. Man mochte meinen, daß er in sie verliebt sei. Wenn er sagte: ›Die gnädige Frau‹, so ging ein Schimmer über sein Herz, wenn er aber zitternd und zagend über seine Kühnheit ihren Namen ›Helmina‹ nannte, dann ging die Sonne auf. Ja – sie war manchmal eigenwillig und launenhaft gewesen, und Herr Dankwardt hat oft geseufzt, aber er hätte dennoch glücklich sein müssen.

Schiereisen unterhielt sich gern mit dem alten Diener. Er fragte ihn nach hundert Kleinigkeiten und belanglosen Dingen, nach der Lebensweise der früheren Herren, nach ihren Zwistigkeiten mit Helmina, nach ihren Vermögensverhältnissen, nach der Art des Todes. Und der alte Johann gab unermüdlich Auskunft, denn da sprach er doch von seiner Herrin, und das wurde ihm nie zuviel.

»Und wie hat Herr von Boschan Frau Helmina kennengelernt?« fragte Schiereisen.

»Das weiß ich nicht. Es muß in Abbazia gewesen sein. Die gnädige Frau war voriges Jahr dort.«

»Also vorher ist Herr von Boschan niemals auf dem Schloß gewesen?«

»Niemals.«

»Ganz gewiß nicht? Zu Lebzeiten des Herrn Dankwardt niemals? Denken Sie einmal ganz genau nach.«

Der alte Johann besann sich keinen Augenblick: »Das weiß ich ganz bestimmt«, sagte er. »Herr von Boschan ist erst im Herbst vorigen Jahres zu uns gekommen. Das erstemal …«

»Ob Frau Helmina ihn nicht aber vielleicht schon viel früher gekannt hat, wissen Sie nicht?«

»Das weiß ich nicht. Aber … nein. Sie wird ihn nicht gekannt haben, denn er war viele Jahre lang auf Reisen. Er hat sich ja auch einen Diener mitgebracht, einen Indianer, wie sie im Schloß sagen, Gott weiß, wo er überall gewesen ist.«

Ein Verdacht begann sich zu lösen, eine Spur verlor sich.

»Und wie verträgt sich Frau Helmina mit ihrem jetzigen Mann,« fuhr Schiereisen fort, »ich meine, kommen zwischen ihnen keine Streitigkeiten vor, so wie früher …?«

Der alte Johann schüttelte den Kopf: »Es ist mir nichts aufgefallen. Er ist der erste, der meine gnädige Frau zu behandeln versteht, er weiß, was er an ihr hat. Ich glaube,« sagte er lächelnd, »er hat sie sehr lieb. Freilich …«, unterbrach er sich.

Sogleich stemmte Schiereisen den Fuß in den Spalt und drückte die Tür, die sich ihm zu öffnen schien, ganz auf: »Haben Sie etwas bemerkt? Vielleicht eine Verstimmung, irgendeine Entfremdung …«

»Nein … das kommt nur daher … weil der gnädige Herr jetzt ein bißchen nervös ist. Seit einiger Zeit sind die Schlafzimmer getrennt.«

»So … wie meinen Sie? Das kommt von seiner Nervosität, oder wie?«

Die Aufregung der Jagd machte Schiereisens Fragen hastig und drängend. Das fiel aber nur Rotrehl auf. Denn der alte Johann fand es selbstverständlich, daß man an allem, was seine Herrschaft betraf, den regsten Anteil nahm.

»Ja … er ist ein bißchen nervös … er sagt, er kann nicht zu zweien in einem Raum schlafen. Seine Nerven geben das nicht zu … er hat Angstgefühle … er ist oft halbe Nächte herumgewandert, weil er nicht schlafen konnte. Das hat die gnädige Frau natürlich gestört. Und es war ganz vernünftig von ihm, daß er jetzt in einem abgesonderten Zimmer schläft, bis der Zustand vorbei ist …«

»Und früher war er nicht so? Früher war er – gesund?« Schiereisen war wieder ruhiger geworden und wurde es immer mehr, je weiter er vordrang. Er hatte einen Faden gefunden, der ihn leitete.

»Er ist ja auch jetzt ganz gesund,« sagte der alte Johann, »ich glaube, die gnädige Frau hat keine Ursache, sich zu beklagen. Man merkt ihm sonst von seiner Nervosität nichts an. Nur diese Zustände bei Nacht … wenn er allein ist, so bleibt er von ihnen verschont. Er hat das ganz gewiß von damals, wie er beinahe erstickt wäre. Das ist ja kein Wunder, wenn man davon etwas behält.«

Das war wieder etwas ganz Neues. Schiereisen schob seine Fragen vor, bald da, bald dort, wie die Figuren auf einem Schachbrett, und hatte in jedem Augenblick seine ganze Stellung im Kopf.

Rotrehl saß dabei und wunderte sich, daß der Professor gar so unersättlich war. Er war eben auch neugierig, wie alle Städter, und kümmerte sich um vieles, was ihn nichts anging. Als der alte Johann dann gegangen war, brummte der Geigenmacher zum Fenster hin: »Es ist keine gute Luft auf dem Schloß. Ich hab' ihm's gesagt, dem Herrn von Boschan, ich hab' ihm's g'sagt.« Vor dem Fenster stand das Schloß im Abendsonnenschein, und über dem alten Turm glitt langsam eine schmale, blutrote Wolke hin. Dahinter war ein apfelgrüner, seidener Himmel, eine von Frühlingsstimmen erfüllte Unendlichkeit.

Wenn dann der Geigenmacher nach solchen Besuchen des alten Dieners ein Gespräch über Schädelmessungen und Gesichtsbildung beginnen wollte, so hatte er damit wenig Glück. Schiereisen gab zerstreute Antworten und ging bald in seine Zimmer hinauf. Dann ärgerte sich Rotrehl, verriegelte seine Türe und las bis spät in die Nacht in seinem französischen Kochbuch unter den strengen und befehlenden Augen Napoleons.

Eine Woche war seit dem ersten Zusammentreffen Schiereisens und Ruprechts verflossen. Schiereisen war noch nicht auf dem Schloß gewesen. Er schmiedete Angelhaken und schärfte Pfeile und wollte nicht ausrücken, bis er den Köcher voll hatte.

Herr von Boschan war auf einem Meierhof draußen gewesen und ritt langsam durch den Wald. Der Frühling stürmte durch die Welt und wich nirgends mehr zurück. Alles war voll seliger Lüsternheit. Der Himmel küßte die Erde und die weite Erde drängte sich ihm verlangend entgegen.

Das Pferd, das Ruprecht ritt, war gebändigte Erdkraft. Er fühlte sich durch das Tier eins mit der Erde. Zwischen seinen Schenkeln drückte er diese junge, prächtige Welt. Er war Herrscher und Sieger, und ein unbändiges Lebensgefühl sang in seinem Herzen.

Dieser Kampf, den er mit einem Dämon zu bestehen hatte, war herrlich. Wenn man so nachdachte – was war alles Frühere gegen die Größe dieses Schauspiels, an dem man selbst teilhatte? Mit einer Frau beisammen zu sein, die einem – wenn man Jana glauben wollte – nach dem Leben trachtete, und sie immer wieder zu besiegen. Eine Frau, die – wenn man Jana glauben wollte – eine Verbrecherin war und so geheimnisvoll wie das alte Schloß, in dessen Turm man Leichen verborgen wußte. Das triumphierende Leben über dem Grauen und der Gefahr. Die Kraft auf dem Thron, ragend, schicksalsmächtig. Und diese wundervolle Lust des täglich erneuten Sieges. Ruprecht mochte Jana nicht folgen und mochte seinen Gründen nicht nachsinnen. Nur darin war er seinem Drängen gefolgt, daß er ein abgesondertes Schlafzimmer bezogen hatte. Er hatte ein wenig Theater spielen und eine Nervosität vorgeben müssen, die nicht in ihm war.

In den letzten Tagen allerdings waren seine freudigen Siegerstimmungen manchmal vor einer tiefen Niedergeschlagenheit gewichen. Da kroch eine Mattigkeit in seine Glieder und setzte sich in ihnen fest. Es kam aus dem Dunklen, schleichend, häßlich, wie das Vorgefühl einer schweren Krankheit. Ein abscheuliches Unbehagen raubte ihm seine Zuversicht. In seinem Kopf war ein schweres Bohren und Nagen, es drückte ihn etwas, wie wenn die Schädelknochen weich geworden wären und sich gerade auf dem Scheitel ein Daumen einpreßte. Die Kopfhaut spannte ihn wie über einer Geschwulst. Und auf dem Scheitel fühlte er ein Zucken und Brennen. Es war ihm, als wolle sich die Haut dort loslösen und er werde sie samt den Haaren abziehen können.

Besonders am Morgen fühlte er sich so schwach und matt. Aber das waren Zustände, die aus seinem Körper kamen. Und er wollte sich dem Körper nicht unterwerfen. Sein Wille rang sich los, und es gelang ihm im Laufe des Tages, dieses trübe Gefühl der Niedergeschlagenheit zu verscheuchen. Er wollte sich in seiner Siegesfreude nicht beeinträchtigen lassen. Er wurde wieder frei und stark.

Der Ritt durch den Wald hatte ihm heute wieder seine Freiheit gegeben. Als er jetzt, auf den Sattel gebückt, unter den Zweigen der letzten Bäume an den Waldrand kam, sah er Rotrehls Haus zu seiner Rechten. Da wohnte ja der Mann im gelben Überzieher. Er war noch nicht auf dem Schloß gewesen. Vielleicht war ihm die Einladung im Wald zu wenig herzlich gewesen, diese Gelehrten waren oft am unrichtigen Ort außerordentlich zeremoniös und hatten dann wieder keine Ahnung von Formen, wo sie erforderlich gewesen wären. Vielleicht erwartete Herr Schiereisen aus Wien eine Wiederholung der Aufforderung. Nun gut, die konnte er gleich haben.

Ruprecht ritt längs des Waldrandes auf Rotrehls Haus zu, stieg ab und band sein Roß an den Gartenzaun. Zwischen schüchternen Anfängen des Blühens ging er hindurch. Lächelnd las er über der Haustür: »Jérome Rotrehl, Geigenmacher.« Es war wie ein Haussegen, wie ein Bekenntnis zu einem besonderen Glauben, unter den man eintrat. Auf der Tür zu ebener Erde las Ruprecht noch einmal »Jérome Rotrehl«. Der Hausherr wollte den Besuchern mit allem Nachdruck einprägen, was sie von ihm zu halten hatten. Ruprecht hörte Stimmen hinter Rotrehls Türe. Vielleicht war sein Mieter bei ihm. Er klopfte an. Es war aber nicht Herr Schiereisen, der da in Rotrehls Stube saß, sondern der Rauß, der Radaubruder, vor dem sich das ganze Dorf fürchtete.

»Was wünschen S' denn, Herr von Boschan?« fragte Rotrehl mit gemessener Höflichkeit. Er dachte nicht gerne daran, daß er damals Ruprecht allzu offenherzig seine Meinung über Frau Helmina Dankwardt gesagt hatte. Freilich hatte er nicht wissen können, daß Herr von Boschan Helminas Bräutigam war oder werden sollte. Aber gerade das kam ihm vor wie ein an ihm verübter Betrug. Ein neuer Beweis für die Verschlagenheit der Menschen.

»Herr Schiereisen aus Wien wohnt doch bei Ihnen?« fragte Ruprecht.

Rauß saß beim Fenster und qualmte eine Sonntagszigarre, deren Ende wie ein Besen auseinanderstand. Er sah den Baron finster und gehässig an. Noch breiter machte er sich und klebte sich förmlich in seinen Stuhl fest, um zu zeigen, daß er nicht daran denke, vor Ruprecht aufzustehen.

Mit ernsthafter Miene streckte Rotrehl den Arm aus und wies nach oben. Es war eine Feldherrngeste, ein Wink für ein ganzes Armeekorps. »Oben«, sagte er, »im ersten Stock … Sie treffen ihn grad' z' Haus.«

Ruprecht stieg die knarrenden, ausgetretenen Stiegen hinan, in eine beträchtliche Finsternis hinein. Eine Tür öffnete sich oben, und Licht quoll die Treppe hinab.

»Mein Gott, Sie sind's, Herr von Boschan?« sagte Schiereisen, sich verbeugend, »… ich schaue aus dem Fenster … sehe ein Pferd unten angebunden … denke mir, wer kann das sein? … und Sie sind's …«

Ruprecht war oben angekommen und reichte dem Gelehrten die Hand: »Ich bin eben heute hier vorübergeritten – und da wollte ich doch ein bißchen nachsehen, ob Sie damals gut nach Haus gelangt sind …«

Schiereisen packte Ruprecht am Arm und zog ihn in das vordere Zimmer. »Hier hinein, bitte,« sagte er, »hinten schlafe ich. Da sieht es noch ein bißchen bunt aus … Die Bedienerin war noch nicht hier … heute, am Sonntag, kommt sie immer etwas später … Das darf man nicht so genau nehmen, nicht wahr …? Kommen Sie nur. Da vorn ist es auch viel schöner, da haben Sie auch Ihr Schloß in ganzer … Pracht vor sich, nicht wahr?«

Es war Schiereisen anzusehen, daß er ganz aufgeregt war. Er lief im Zimmer herum, suchte seinen Rock, denn er war in Hemdsärmeln, und konnte ihn nicht finden, obzwar er mitten im Zimmer auf einem Stuhl lag. Noch auf derselben Stelle, wo ihn Schiereisen hingeworfen hatte, als er Ruprecht kommen sah. »Verzeihen Sie,« sagte er, »ich war eben im Begriff, mich anzuziehen. Ich bin so überrascht … es ist mir eine Ehre …«

Ruprecht war ans Fenster getreten und sah hinaus. »Sie haben es sehr hübsch hier oben. Wenn das Haus etwas näherrücken würde, so müßte man befürchten, daß Sie uns in die Zimmer sehen.«

Jetzt hatte Schiereisen seinen Rock gefunden und fuhr hastig hinein. Seine Verwirrung legte sich etwas mit dem Bewußtsein, nun wieder das Ufer des Schicklichen erreicht zu haben. Ruprecht dachte lächelnd: es ist ein Kennzeichen des Mannes von Welt, durch ein wenig Hemdsärmlichkeit nicht sofort das Gleichgewicht zu verlieren. Herr Schiereisen war kein Mann von Welt. »Ja, ich bin sehr zufrieden,« sagte der Gelehrte, »ich werde wohl den ganzen Sommer hier wohnen müssen. Mein Hausherr ist ein kreuzbraver Mensch.«

»Jérome Rotrehl, der Krampulljon von Vorderschluder! Wissen Sie, daß er ein alter Bekannter von mir ist? Er war der erste, der mich in die hiesigen Verhältnisse eingeführt hat. Er hat die Grundlage meiner Lokalkenntnisse geliefert.«

»Ich vertrage mich sehr gut mit ihm. Er ist ein offener und treuherziger Mensch. Aber … bitte … pardon, entschuldigen Sie, Herr von Boschan, wollen Sie nicht Platz nehmen?« Mit kräftigem Schwung zog Schiereisen zwei Stühle heran. Der eine hatte eine wacklige Lehne, der zweite hatte ein Loch im Strohgeflecht des Sitzes, aus dem ein Kranz von kleinen Spießen ragte. Das gab eine neue Verlegenheit. »Ja …,« sagte der Gelehrte mit einem entsetzten Lächeln, »es ist etwas … primitiv bei mir …«

»Lassen Sie nur, Herr Schiereisen … sagen Sie einmal, warum sind Sie denn noch nicht auf dem Schloß gewesen?«

Schiereisen steckte seine Röllchen in die Rockärmel und zupfte sie zurecht: »Mein Gott,« sagte er unentschlossen, »ich weiß nicht … ich habe mir hinterdrein Vorwürfe gemacht. Ich bin wohl sehr zudringlich gewesen. Man kann doch nicht so ohne weiteres … es war ja sehr liebenswürdig von Ihnen, mich einzuladen. Aber wenn man so geradezu genotzüchtigt wird … mitten im Wald und in der Nacht … von einem wildfremden Menschen … ich möchte nicht gerne aufdringlich erscheinen.«

»Ich hab's mir so erklärt. Nun also, ich komme, um meine Einladung zu wiederholen.«

Herrn Schiereisen stand der Glorienschein des Entzückens um das Haupt: »Oh, Herr von Boschan sind zu liebenswürdig. Ich werde nicht ermangeln, von Ihrer Freundlichkeit Gebrauch zu machen …«

»Sehen Sie, Ihre Studien interessieren mich sehr. Ich werde mich gerne von Ihnen belehren lassen. Wissen Sie, diese Gegend hier … ich kann Ihnen sagen, daß ich sie liebgewonnen habe. Jetzt bin ich doch ziemlich weit in der Welt herumgekommen, aber hier kann man eine Heimat finden. Es erinnert mich vieles an Oberösterreich, wo ich meine Jugend verlebt habe. Dann bin ich fortgegangen. Und nun habe ich mich hier wieder eingewurzelt. Da ist alles so frei und herzlich, wie in einem guten Gesicht, das einem keinen Gedanken verbirgt. Jeder Stein ist mir liebgeworden. Ich werbe um dieses Land und möchte ihm gern recht nahekommen. Bisher habe ich mich nur mit meinem neuen Beruf als Landwirt abgeben können. Ich habe vieles nachholen müssen, was ich seit meiner Studienzeit vergessen habe. Sie können sich denken, daß man auf weiten Reisen mit jedem Kilometer, den man macht, ein Stück Wissenschaft einbüßt. Jetzt aber möchte ich gerne auch etwas von der Vergangenheit dieses Landes kennenlernen. Es ist wie bei einer geliebten Frau, die man doch auch gern in allen ihren Wurzeln und Beziehungen für sich hätte.«

Schiereifen warf einen raschen und scharfen Blick auf Ruprecht. War diese Gleichstellung nicht auffallend? Was hatte sie zu bedeuten? Täuschte er sich nicht, wenn er in diesem Augenblick einen Schatten auf dem Gesicht seines Besuchers sah? War das nicht die Wolke einer Enttäuschung und eines heimlichen Leidens? Ein warmes Gefühl stieg in Schiereisen auf. Er war glücklich darüber, daß er schon vorher diesen Mann hatte freisprechen dürfen. Dieser prächtige und aufrechte Mensch hatte seine Zuneigung gewonnen. Wenn er vielleicht von Ahnungen gequält war, so waren sie noch nicht weit vorgedrungen und ins Licht der Bewußtheit getreten. Jetzt aber war nicht Zeit zu Betrachtungen: der Gelehrte mußte wirken.

»Gewiß!« sagte er ruhig, »es wird mir eine Ehre sein, Ihnen dienen zu können. Ich habe schon einige Erfolge. Sehen Sie, da gibt es in dieser Gegend geographische Bezeichnungen, die unzweifelhaft von den Kelten herrühren. Da ist vor allem der Name Kamp … weiter nördlich haben wir einen nicht weniger rätselhaften Flußnamen: Thage. Bei der Rosenburg mündet ein Bach in den Kamp, der heißt Taffa! Was heißt das? Dann ist Gars auch so ein Name …«

»Wissen Sie was?« unterbrach ihn Ruprecht. »Erzählen Sie mir das bei mir … Kommen Sie gleich mit. Sie essen einen Löffel Suppe … und dann können Sie in der Bibliothek des Herrn Dankwardt kramen, soviel Sie wollen …«

»Oh,« widerstrebte Schiereisen, »ich kann doch so ohne vorherige …«

»Ja … Sie können ohne vorherige –,« lachte Ruprecht, »kommen Sie nur.« Und er nahm Schiereisen unter den Arm und schob ihn hinaus.

Als sie unten ankamen, traten eben Rotrehl und Rauß aus der Türe. Rotrehl grüßte steif, Rauß aber sah Ruprecht frech ins Gesicht. Sein Blick mischte Hohn und fanatischen Haß.

Ruprecht machte sein Pferd vom Zaun los und schritt neben Schiereisen den Berg hinab.

Da begann man eben unten im Dorf zu Mittag zu läuten. Der Klang wölbte sich groß und ehern über das Tal, stieg in den Sonnenschein und verlor sich zwischen den weißen Lämmerwolken des Frühlingshimmels. Immer wieder aber quoll es von unten empor, klingend und ehern, bis die ganze Welt voll war.

»Das wird auch sein End' finden,« sagte Rauß gehässig, »diese ganzen G'schichten, die Läuterei und die Beterei und Prozessionen und Fahnen … bis der dröhnende Schritt der Arbeiterbataillone über die Erde hingehen wird, und bis das Proletariat alles wegfegen wird, alles, was sich nicht zur rechten Zeit besonnen hat. Da wird es dann kein Kapital geben und keine Titel und kein ›Herr von‹ … alles muß weg … der da unten auch …«

Rotrehl gab keine Antwort und schaute in den Himmel, als sähe er den verflatternden Zeitungsphrasen nach.

»Du, Krampulljon,« sagte Rauß und faßte den Geigenmacher am Rockkragen, »überleg' dir's net so lang. Geh mit uns. Du bist doch auch nur ein Proletarier, wenn du auch dein eigenes Häusel hast. Wir müssen alle gegen die Ausbeuter zusammenstehen. Die Bauern sind so dumm und wollen das net begreifen. Für wen arbeiten denn die blöden Mostschädeln? Wenn's die Steuern gezahlt haben und die Zinsen für die Wucherer, was bleibt ihnen? Kaum genug zum Leben. Und dabei stiften die Herrschaften Kirchenfahnen! In unserer Zeit … anstatt für eine anständige Altersversorgung einzuzahlen. Oder Krankenhäuser zu bauen … oder Straßen … Aber wir werden's ihnen einsalzen. Die Kirchenfahne wird ihnen teuer zu stehen kommen.«

Rotrehl schüttelte jedoch seinen Napoleonskopf. »Ich bin für solche Sachen net. Laßt's mich aus. Ich bin net für die Kirchenfahne und ich bin net für die Proletarier. Ich gehör' überhaupt net daher … Das französische Blut in mir …«

»Hab' mich gern mit deinem französischen Blut,« schrie Rauß wütend, »… laß dir's sauer einmachen, dein französisches Blut … du … du Kasper.« Es sah aus, als wolle er dem Geigenmacher die Faust ins Gesicht setzen. Aber er besann sich, riß den Hut an der Krempe rabiat nach vorne, spuckte einmal nach links und einmal nach rechts und ging dann davon.

Rotrehl aber stand da wie versteinert. Er konnte sich nicht rühren. Ja – was war denn das, wenn diese Menschen nicht einmal mehr vor der Blutmischung Respekt hatten? Wohin trieb die Welt? Das war ihm noch nicht begegnet. Als er sich endlich ein wenig gefaßt hatte, suchte er mit zitternden Händen seine Pfeife hervor, stopfte sie und zündete an. Aber nach ein paar Zügen vergaß er weiterzurauchen und ließ das Rohr kraftlos zwischen den Zähnen …

Langsam ging er in sein Zimmer, trat vor die Lithographie Napoleons des Ersten und forschte angstvoll in ihren Zügen, ob er die Lästerung nicht etwa gehört hatte. –

Frau Helmina hatte ihren Spaß mit dem Mittagsgast, den Ruprecht gebracht hatte. Sie erkannte in ihm den komischen Menschen, der unlängst vor ihren Wegen aus dem Wald gebrochen war. Ein Gelehrter, wie er in den Witzblättern stand. Er führte sich mit großer Umständlichkeit ein und mit einer unbeholfenen Feierlichkeit, die nicht verbergen konnte, wie unsicher er war. Schon die Sorgfalt, mit der er seine Schuhe reinigte, bevor er ein Zimmer betrat, war sehenswert. Er hielt sich immer auf dem Teppich und hatte eine angstvolle Scheu vor dem unbedeckten Boden.

Als er Frau Helmina vorgestellt worden war, bemerkte sie boshaft, daß sie schon das Vergnügen gehabt hätte …, und nun wurde Herr Schiereisen noch röter und stotterte Entschuldigungen. Helmina ließ ihn meckern und half ihm mit keinem Wort. Ihr lächelndes Zuhören war unerbittlich. Ruprecht mußte eingreifen. Er wollte den Mann nicht ganz vernichten lassen. Irgend etwas zog ihn zu diesem einfachen Menschen hin, ein Gefallen, der Wunsch, jemanden zu gewinnen, mit dem er sprechen konnte. Er fühlte ein Vertrauen keimen.

Dann setzte man sich zu Tisch. Helmina bemerkte, wie ihr Gast ängstlich darauf achtete, keinen Verstoß zu machen. Er schaute nach rechts und links und berührte kein Gerät, bevor er nicht gesehen hatte, wie es zu handhaben war. Lorenz und der alte Johann warteten auf. Lorenz bewahrte seine eiserne Miene, und der alte Johann war zu wohl erzogen, um zu zeigen, daß er den Gast kannte. Aber Herr Schiereisen nickte dem Alten verlegen zu, wie einer, der nicht weiß, ob er sich zu einer solchen Beziehung bekennen soll. Dieser Mensch war ein Prachtexemplar, fand Helmina.

Nach der Mahlzeit zeigte Ruprecht dem Keltenforscher seine Bibliothek. Sie lag zwischen dem Arbeitszimmer und dem indischen Tempel. Nun konnte Schiereisen aus sich herausgehen. Er stöberte in den Büchern, stieg auf Stehleitern zu den oberen Fächern empor, kramte mit beiden Armen, rot vor Eifer, und führte ein Gespräch, das mehr für ihn selbst als für Ruprecht bestimmt war. Er plätscherte in Schmökern und Scharteken wie ein Fisch im Wasser. Man sah, wie er sich wohlfühlte.

Ruprecht stand unten und sah ihm lächelnd zu. »Hoffentlich finden Sie etwas Brauchbares,« sagte er, »kommen Sie nur, sooft Sie wollen. Benutzen Sie die Bibliothek nach Gefallen. Sie müssen sich Zeit lassen.«

Nach einer Stunde setzte sich Schiereisen schweißtriefend und erschöpft auf einen Stuhl neben einen Stoß von Büchern, die er aufgestapelt hatte. »Ja – Sie müssen es mir gestatten, recht oft zu kommen, da sind ja ganz prächtige alte Sachen …«

»Ich glaube, der Grundstock der Bibliothek ist von dem Grafen Moreno gelegt worden. Es wird wohl noch einiges aus dessen Besitz vorhanden sein.«

»Das ist wohl das Wappen der Moreno?« fragte Schiereisen, indem er ein altes verstaubtes Kupferwerk aufschlug, auf dessen erster Seite ein Stempel war.

»Ja … Herr Dankwardt selbst hat sich besonders für indische Philosophie interessiert. Das ist auch mein Fall. Ich kenne das Land, und ich versuche ein wenig davon zu verstehen. Ich bin allerdings nur Dilettant. Sehen Sie, hier ist der indische Tempel, den sich Herr Dankwardt eingerichtet hat.«

Schiereisen folgte Ruprecht in den Nebenraum und besah alles mit freundlicher Aufmerksamkeit. Aber man konnte doch bemerken, daß sein Herz keinen Anteil nahm. Das hing an den alten Kelten und hatte daneben für keine anderen Völker Raum. Während Ruprecht noch erklärte und die gemalten Landschaften und die absonderlichen Gerätschaften mit kleinen Erinnerungen belebte, trat Jana ein. Er meldete, daß ein Bote von einem entfernten Meierhof mit einer dringenden Nachricht gekommen sei. Dann wanderte sein Blick von seinem Herrn auf dessen Gast.

Ah, dachte Schiereisen: Es ist dieser Malaie, der Indianer – wie sie ihn nennen. Er hat schon einmal seinen Herrn gerettet. Ich wollte wissen, was er weiß. Wie er mich ansieht. Das ist der Blick eines mißtrauischen Hundes. Er prüft jeden, der in die Nähe kommt. Man merkt, daß er über seinen Herrn wacht.

Ruprecht entschuldigte sich einige Minuten mit dem unaufschiebbaren Geschäft. Kaum war er, von Jana gefolgt, draußen, als Schiereisen in die Bibliothek zurückkehrte. Er machte sich sogleich wieder über seine Bücher. Er ließ die Wissenschaft über sich zusammenschlagen. Der Staub umwirbelte ihn in kleinen Wolken. Dann suchte er wieder in den Fächern. Hier oben rechts hatte er vorhin hinter den dicken Wälzern des Theatrum Europaeum ein kleines Büchlein entdeckt, das ihm von allen weitaus am wichtigsten war. Das eine Buch war die Krone und der Preis seines Suchens, es wog alle gelehrten und umfangreichen Schmöker über die Keltenfrage auf. Schiereisen hatte das schmale Heftchen ein wenig aus seiner Reihe vorgezogen, um es später gleich wiederzufinden.

Es war eine Handschrift, sauber in rotes Leder gebunden und mit goldgepreßten Arabesken im Geschmack des Barock verziert. Auf der ersten Seite war eine Ansicht des Schlosses von Vorderschluder in Wasserfarben. Die Ausführung war nüchtern, doch ziemlich genau. Auf der zweiten Seite folgte der Titel: »Sonderliche und kuriose Beschreibung des hochgräflich Morenoschen Schlosses zu Vorderschluder, insonderheit aller vorhandenen geheimben Gäng, Treppen, Zimmer, verborgenen Türen und ansonstigen Merkwürdigkeiten zur Feier von seiner hochgräflichen Gnaden Louis Juan de Mereus fünfzigsten Geburtstag zusammengestellt und ans Licht gebracht von Adam Zeltelhuber, gräflichem Instruktor, 1681.«

Eine Hauslehrerarbeit aus dem siebzehnten Jahrhundert. Schiereisen mußte dem braven Zeltelhuber dankbar sein. Ehre Zeltelhubers Andenken! Schiereisen konnte sich nicht enthalten, rasch einen Blick in das Manuskript zu werfen. Da waren dem Text saubere Pläne und Durchschnitte beigegeben, mit Buchstaben und Maßzeichen wohl versehen, daß man sich nicht irren konnte. Es war ein köstlicher Fund.

Als Schiereisen im Nebenzimmer Schritte hörte, schob er sein Buch rasch in die Brusttasche. Ruprecht fand den Keltenforscher inmitten der dicken Folianten, von Staub hundertjähriger Gelahrtheit umwirbelt.


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