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Drittes Kapitel

Das niederösterreichische Waldviertel ist etwas für die Beschaulichen. Es bietet keine Überraschungen für nervöse Reisende, die an jeder Wegbiegung eine neue Sensation haben müssen, weil sie sich sonst langweilen. Man darf von ihm weder die dramatische Spannung wuchtiger Felsgebilde, ragender Gipfel, finsterer Klammen, noch die Unendlichkeitsgefühle erwarten, wie sie das Meer auslöst. Aber es hat eine Fülle feiner und bestrickender Schönheiten, die Anmut sachte gewellter Waldhügel, die Reize gewundener Flußläufe, an denen alte Burgen und kleine Städtchen liegen, die ganz verstaubt und von der Geschichte vergessen scheinen.

Durch das Kremstal geht eine Eisenbahn. Alle halben Stunden hält der Zug an, schnauft ein wenig, schüttelt ein paar Passagiere aus, die langsam aussteigen und langsam den Bahnsteig verlassen, um langsam in die verstaubten Städtchen zu gehen.

Ruprecht von Boschan stand auf einem der Waldhügel und schaute ins Tal, wo sich ein Züglein eben wieder in Bewegung setzte, mit einem Stöhnen, als wollte es das Mitleid der Menschen anrufen. Ruprecht suchte die Formel für diese Landschaft. »Sie singt die grüne Wälderweis'«, dachte er. »Sie ist wie ein Volkslied. Innig und so, als ob man es seit jeher kannte. Man hört ein Herz schlagen.« Dann schwenkte er von der Lichtung ab, auf die er hinausgetreten war, und setzte seinen Weg durch den Wald fort. Er war im Touristengewand. »Denn ich bin ein Suchender,« sagte er zu sich, »ein Suchender mit dem Stab in der Hand.«

Mit diesem Stab schlug er ab und zu an die Baumstämme, daß es durch den Wald schallte. Es war eines der Geräusche, die er liebte; wenn die Bäume einander hallend zuriefen und der Schall von einem fortlief, immer tiefer in die grüne Dunkelheit hinein. Von Zeit zu Zeit nahm er seine Landkarte hervor, um sich seines Weges zu vergewissern.

Vor ihm ging ein Bauer.

»He, Vetter!« rief er den Mann an. Der aber wandte sich nicht um. Nach einer Weile hatte ihn Ruprecht erreicht. »He, Vetter!« sagte er noch einmal. »Geht's auch nach Vorderschluder?« Und als der Bauer auch jetzt nicht antwortete, brüllte ihm Ruprecht in die Ohren: »Seid's taub?«

Der Mann sah ihn jetzt an: »Sie brauchen nicht zu schreien,« sagte er mit einem leichten dialektischen Klang, »ich hör' Sie schon. Es paßt mir nur nicht immer zu antworten. Im Wald bin ich schon am liebsten allein.«

Aha, ein Besonderer! dachte Ruprecht. Und ein wenig sonderbar war auch das Aussehen des Mannes. Der Kopf und dieser vierschrötige Bauernkörper fügten sich schlecht zueinander. Das war kein Bauerngesicht, mit dieser scharfen Nase, den klugen Augen und dem merkwürdigen Knebelbart von französischem Schnitt. Eine Ähnlichkeit mit dem dritten Napoleon ließ Ruprecht lächeln. Aber die Augen waren himmelblau. Ein Napoleonskopf mit himmelblauen Augen auf einem Bauernkörper – die Natur gefällt sich oft in den groteskesten Spielen, dachte Ruprecht zum Abschluß.

»Könnt's schon allein sein, wenn's wollt's!« sagte er dann.

So schritten sie schweigend nebeneinander her. Nach einer Weile aber begann der Bauer selbst zu sprechen. Ruprecht hatte bemerkt, daß er vorher verstohlen und mit aller Vorsicht von der Seite beobachtet worden war. So war er also vertrauenerweckend genug, einer Ansprache gewürdigt zu werden. Ob er denn selber nach Vorderschluder wollte, lautete die Frage. Und dann, was er dort zu tun habe.

»Ja, nur a Tourist. So, so! Halt wegen der Gegend! Na ja … wir haben halt auch a Gegend.« Und der Mann deutete mit seiner Pfeifenspitze voraus, wo in einer Waldlücke ein Turm und ein brennrotes Kirchendach sichtbar geworden waren, um sogleich wieder hinter der grünen Waldwand zu verschwinden. »Dort hätten wir schon den Ort.«

Wie denn das Dorf sei, fragte Ruprecht.

Halt ein Dorf wie jedes andere.

Gar nichts Besonderes?

Was denn? Halt ein Schloß und eine Fabrik, sonst nichts.

Und wem denn das Schloß gehöre?

Halt der Frau Dankwardt. Nun war er an dem Punkte, wohin Ruprecht gestrebt hatte. Er hatte dem bäuerlichen Napoleon den Zweck seines Besuches in Vorderschluder verschwiegen, um mehr zu erfahren. Aber nun ging's nicht weiter. Hier schien eine Hemmung einzugreifen. Auf Ruprechts Frage, wer denn das sei, die Frau Dankwardt, wurde ihm ein mißtrauischer Blick zuteil. Dann begann der Bauer heftig an seiner Pfeife zu ziehen, obzwar er schon die längste Zeit kalt rauchte. Hierauf brachte er den Tabaksbeutel und ein Taschenfeuerzeug ältester Art zum Vorschein, stopfte die Pfeife frisch und entzündete den Tabak. »Na ja!« brummte er in die ersten blauen Wolken hinein.

Herr von Boschan hatte genug Erfahrung im Umgange mit Bauern, um nach diesen Umständen zu schließen, daß man Frau Dankwardt im Dorfe keine besondere Liebe entgegenbrachte.

»Kennen Sie s' leicht?« fragte der Mann und schaute Ruprecht durch den Qualm seiner Pfeife mit Augen an, die wie zwei Stück blauen Himmels hinter Wolken waren.

Hier mußte gelogen werden. »Nein«, sagte Ruprecht.

»Na … schön ist sie ja. Sehr schön. Es waren schon viele in sie verliebt. Ihre drei Männer waren wie die Narren auf sie. Und die Beamten aus der Papierfabrik, alle … und der Herr Baron Kastelli, der kommt jeden zweiten Tag von Rotbirnbach herüber. Sehr schön ist sie.«

Ach, wie schön sie war, das wußte Ruprecht selbst am besten, der ihr einen Altar errichtet hatte und in Bewunderung und Andacht verzückt war. Und daß man sehr verliebt sein konnte, begriff er nur zu gut. Nun war es ihm aber darum zu tun, das große Aber zu kennen, das hinter diesem Lob verborgen war.

»Aber …,« fuhr der Bauer nach einer Weile stillen Paffens fort, »aber sie ist kein guter Mensch. Nicht, daß sie nicht in die Kirche geht. Oh, sie fehlt keinen Sonntag. Und sie gibt dem Pfarrer zu Weihnachten auch Geld für die Armen. Das ist aber alles nur so obenauf. Es traut ihr doch niemand. Ich möcht' nicht ihr Mann sein.«

Ruprecht lächelte bei diesem Gedanken, der den bäuerlichen Napoleon neben die schöne, schlanke, geistvolle Frau stellte. Aber er unterdrückte das Lachen sogleich; es galt den Mann nicht mißtrauisch zu machen. »Warum denn nicht?« fragte er ganz harmlos.

»Na …«, drei große blaugraue Rauchballen quollen aus dem rechten Mundwinkel des Bauern, »… wenn Sie längere Zeit da unten wären, so wüßten Sie's auch schon.«

Richtig! Daran war nicht zu rütteln.

»Weil halt die Leut' sagen, sie ist eine Trud. Wissen Sie, so eine Hex', die bei Nacht kommt und den Leuten das Blut aussaugt. Das ist ein Unsinn, das gibt's nicht. Wenn auch der Maradi, der Wirt von Weißenstein, sagt, daß er sie einmal bei der Nacht im Wald gesehn hat … nackt, wie halt schon die Hexen sind. Aber der Maradi hat auch schon einmal den Wassermann gesehn … und dann war's eine Fischotter. Das ist aber wahr, daß ihre Männer kein gutes Leben gehabt haben bei ihr … der letzte, der Herr Dankwardt, so ein guter Herr … still und brav und nur für die Bücher und für die Familie. Jeder hätt' sich an ihm a Muster nehmen können. Und die zwei ersten waren auch recht brave Männer. Und alle drei hat sie umgebracht …«

Der Mann hielt inne, ganz erschrocken, dem Fremden so viel anvertraut zu haben. Das Wort schien plötzlich mit einem roten, blutigen Mäntelchen angetan, vor ihnen herzuschweben, wie ein unheilvoller Vogel.

»Umgebracht?« fragte Ruprecht befangen, unangenehm berührt, von dem überzeugten Ton getroffen.

Der Bauer qualmte wie eine Maschine, die eine ganze Menge von Lastwagen hinter sich herziehen muß. »Na ja!« brummte es in der Wolke. »Die Leute werden halt so … wie man halt so redet. Es ist natürlich nicht so gemeint … sie hat halt ihre Männer durch den ewigen Zank und Streit unter die Erden gebracht, so ist es gemeint. Der erste ist nach Tirol gegangen und nicht mehr zurückgekommen. Den zweiten hat nach so ein' Auftritt der Schlag getroffen. Und der dritte, der hat sich über alles das so gekränkt, daß er immer schwächer und schwächer geworden ist, als ob er ausgeronnen wär' … immer hat er Kopfschmerzen gehabt, und auf einmal war er tot. So ist es gewesen.«

Die beiden Männer waren aus dem Wald gekommen und sahen das Dorf unter sich. Da lag das Schloß jenseits des Flusses, über den eine alte steinerne Brücke führte. Es hielt sich von den Häusern des Dorfes in einiger Entfernung, wie ein vornehmer Herr, der sich das Volk nicht gerne zu nahe kommen läßt. Auf der einen Seite des Dorfes, nur ein kleines Stückchen unterhalb der letzten Häuser, stand der viereckige, häßliche, gelbe Kasten der Papierfabrik. Die bewaldeten Hügel schlossen sich rings zu einem Kessel, auf dessen Grund die Windungen einer silbernen Schlange lagen. Der Kessel war ganz voll Sonne und voll Rauschen der Wälder auf den Hügelhängen und voll eines Summens, mit dem das Dorf sich bemerkbar machte.

»Also, Adjeh!« sagte der Bauer, »Sie gehen ins Dorf hinunter, ich muß dort hinüber. Mein Häusel liegt dort drüben am Wald. Ich bin der Geigenmacher Rotrehl, damit Sie's wissen, wenn Sie vielleicht einmal eine gute Geigen wollen. Weil meine Geigen nämlich sehr berühmt sind.« Die blauen Augen lächelten den Stolz eines Künstlers.

»Rotrehl?« sagte Ruprecht, »sagt's einmal, war in Eurer Familie nicht einmal ein Franzos'?«

Da kam ein ernstes Lächeln in das Gesicht des Geigenmachers: »Aha … Sie meinen wegen der Ähnlichkeit! Finden Sie das auch? Ja … das sagt jeder!« Dann strich er den französischen Knebelbart: »Ob … ein Franzos'? Franzosen sind ja einmal da durchgekommen. Aber das muß schon bald hundert Jahr her sein … Das steht in meinen Büchern. Aber dem Napoleon schau ich ähnlich, was? Im Dorf nennen's mich den Krampulljon, die Lackeln wissen's nicht besser. Also adjeh!«

Damit ging er. Als er aber einige Schritte getan hatte, wandte er sich noch einmal um: »Gehen Sie im Dorf zum ›Roten Ochsen‹? Der hat einen Wein, den man schon trinken kann.« Das war sein Dank dafür, daß der Fremde die Ähnlichkeit gefunden hatte. –

Ruprecht kehrte auch wirklich beim »Roten Ochsen« ein und fand eine freundliche Wirtin, die ihm ein Stück Hausselchfleisch und ein Glas Wein mit einem Lächeln vorsetzte, das auch einen schlechten Tropfen annehmbar gemacht hätte. Dann ging er, also gestärkt, über die steinerne Brücke. Da standen vier gewundene Barockheilige, zwei an jedem Brückenende, und sahen Ruprecht an. Er pfiff sich eines zwischen ihnen hindurch und ging den Burgberg hinan. Das Schloß hatte ein massives Tor, mit einer Pechnase über dem Bogen. Man sah es dem Bau an, daß seine modernen Mauern auf die Reste der alten aufgesetzt waren. Dieselbe Mischung des Alten und des Neuen prägte sich im Hof aus. Das Hauptgebäude zeigte in seinem Oberstock sogar noch eine Stellung von romanischen Doppelfenstern, während es sonst ganz nach den Bedürfnissen der Gegenwart umgebaut schien. Eine schöne, alte Linde stand mitten im Hof und überschattete einen Ziehbrunnen. Auf der Bank unter dem Baum – ein helles Kleid. Ruprechts Herz klopfte. Es war aber nicht die Schloßherrin, sondern die Miß.

Ruprecht näherte sich mit abgezogenem Hute. Da stürmten aber auch schon zwei kleine Mädchen heran und hingen sich an ihn. Ruprecht war ganz gerührt. Sie hatten ihn also erkannt, sie erinnerten sich seiner. Er hob sie auf und küßte sie.

Ob er damals noch lange in Abbazia geblieben sei, fragten sie ihn, und was er dann gemacht habe. Sie hätten der Mama noch oft von ihm gesprochen.

Da hob er die dreijährige Lissy auf die Schulter, tanzte mit ihr im Kreis herum und sang ihr nach irgendeiner kindlichen Melodie vor:

»Ha! – Ha! – Ha!
Wo habt ihr die Mama?
Ist denn eure Mama nicht da?
Ha! – Ha! – Ha!«

»Ja … die Mama ist ausgefahren«, antwortete die fünfjährige Nelly anstatt der kleineren Schwester, die so vergnügt war, daß sie nur krähen konnte. »Sie ist mit dem Onkel Norbert im Wagen fort. Aber wir können ihr entgegengehen, ich weiß, auf welchem Weg sie zurückkommen.«

»Hurra, wir gehen ihr entgegen! Wir drei allein! Das Fräulein muß zu Hause bleiben.«

Aber das wäre doch dem Herrn von Boschan zu viele Mühe, meinte die Miß. Sie wurde überstimmt, niedergezischt und, als sie sich erheben wollte, von den Kindern gewaltsam wieder auf die Bank gesetzt. Dann wurden die breitrandigen Strohhüte aufgestülpt, und den Onkel Ruprecht in der Mitte ging's den Schloßberg hinab. Sie liefen bis zum Bach, und Ruprecht tat so, als wolle er geradeswegs ins Wasser hinein. Da schrien die Kinder auf, aber der neue Onkel hielt plötzlich und nahm das eine links, das andere rechts unter den Arm und sprang mit einem mächtigen Satz hinüber. Das war ein Abenteuer! Drüben auf der Wiese jagten sie weiter und kümmerten sich gar nicht darum, daß die Schuhe im Sumpf quatschten. Beim Waldrand hörten sie auf zu laufen, sahen sich an, lachten, rot und erhitzt, und schlugen dann den Fußweg zur Straße ein, die in einem großen Bogen um einen Waldhügel und auf der Brücke über den Fluß kam.

»Mit wem ist die Mama ausgefahren? Ach ja, mit dem Onkel Norbert! Was für ein Onkel ist das eigentlich?« Ruprecht schämte sich zwar ein wenig, daß er seine Kundschaft bei den kleinen Mädchen holte. Aber es war doch notwendig, zu wissen, mit wem man zusammentreffen würde.

In Nellys blondem Kopf arbeitete es: »Der Onkel Norbert … der Onkel Norbert … das ist ein Onkel Baron …«

Der besagte Kastelli, dachte Ruprecht. »Und habt ihr den Onkel Norbert auch recht lieb?« fragte er weiter.

Da antworteten die beiden Mädchen zugleich in überzeugtem Ton: »Nein – gar nicht!«

»Warum nicht?«

»Er spielt niemals mit uns. Er kümmert sich gar nicht um uns. Er macht nur immer so große Augen auf die Mama, als ob er sie fressen wollte.«

Rüsten wir uns zum Kampf mit diesem Kastelli, sagte sich Ruprecht, er soll uns eure Mama nicht wegfressen.

Sie waren auf der Straße noch gar nicht weit gegangen, als Frau Dankwardts Wagen um die Ecke kam. »Die Mama! Die Mama!« schrien die Kinder. Ruprecht stellte sich an den Straßenrand und schwenkte den Hut.

»Mein Gott, Sie sind's; das ist schön!« sagte Frau Dankwardt, beugte sich über den Wagenschlag und reichte Ruprecht die Hand. Ihre Augen sagten: Hast du mich gefunden? Ich weiß, daß du mich gesucht hast. Ruprecht küßte den grauen Handschuh. Da war dieser Geruch wieder, diese Mischung der Gerüche von fauligem Obst, Heu und trocknendem Blut. Ach, das war dieser verwirrende, gefährliche Geruch. Man mußte sich beherrschen, man mußte vorsichtig sein, da war ein schmaler Flug am Abgrund hin, der mit tausend heilig unheiligen Kräften zog und lockte.

»Ich bin auf einer Wanderung in die Nähe Ihres Schlosses gekommen. Es ist ein Magnetberg, der mein Schiff angezogen hat.«

Das war eine Huldigung hinter einer Phrase versteckt.

Frau Dankwardt stellte vor. Dem Namen des Barons Kastelli fügte sie hinzu: »Ein guter Bekannter!« Ruprecht nannte sie: »Ein alter Freund!« Ich glaube, ein alter Freund ist mehr als ein guter Bekannter, dachte Ruprecht, wir wollen sehen, Herr Baron, wir wollen sehen.

Dann stieg man ein. Ruprecht saß Frau Dankwardt gegenüber und hatte Lissy auf dem Schoß. Nelly war auf den Kutschbock geklettert. In einem großen Glücksgefühl empfand Ruprecht, wie alle Ströme von Energie in ihm wach und lebendig waren. Er erzählte, was er nach seiner Abreise von Abbazia getan hatte. Geschäftliche Angelegenheiten hatten ihn zunächst in Anspruch genommen. Er war ja jahrelang auf der Reise gewesen und sein Advokat hatte ihm eine Anzahl wichtiger Fälle zur Entscheidung vorgelegt. Dann hatte man einigen alten Freunden Lebenszeichen geben müssen. Und zuletzt hatte Ruprecht das Bedürfnis gefühlt, sich auf einer Fußwanderung durch die bunte Herbstwelt zu erfrischen. Das Stillsitzen war nichts für ihn, man mußte die Glieder regen.

Frau Helminas Augen aber hafteten fest auf seinem Gesicht und wiederholten: Ich verstehe, du hast mich gesucht, hast mich immer gesucht.

Inzwischen aber spürte der Baron Kastelli eine Faust an seiner Gurgel. In seinem Kopf dröhnte ein wilder Gesang: es ist ein Einverständnis, gewiß; dieser Mensch macht Anstalten, mich zu verdrängen.

Im Schloßhof angekommen, sprang Ruprecht aus dem Wagen und half Helmina beim Aussteigen. Die Miß knisterte in ihrem schwarzen Seidenkleid herbei und übernahm die Kinder. Während Frau Helmina mit ihr sprach, machte sich Ruprecht an den Baron. Mein Gott! dieses blutjunge Bürschlein mit den spärlichen weißblonden Haaren auf dem länglichen Schädel und der faltigen, gelben Haut im Genick! Hochvornehm offenbar, aber gänzlich unbedeutend. Er wird uns Frau Helmina nicht fressen.

Sie wechselten einige Redensarten.

»Sie sind natürlich mein Gast,« wandte sich Frau Helmina an Herrn von Boschan, »machen Sie keine Umstände.«

Ruprecht machte keine Umstände. »Ich habe es nicht anders erwartet,« sagte er, »… unter so guten, alten Freunden …« Er lächelte. Auch Frau Helmina lächelte. Ihre Blicke drängten sich aneinander. Der Baron erblaßte.

»Sie dürfen meinen Wagen benutzen, Herr Baron,« sagte Helmina, »Ihr Kutscher kommt wieder zu spät, wie immer. Auf Wiedersehen! Kommen Sie, Herr von Boschan. Der Kammerdiener wird Sie auf Ihre Zimmer führen.«

Als Frau Helmina mit den anderen und der Miß allein war, nahm sie Lissy zwischen ihre Knie. Nelly lehnte an ihrer Schulter: »Sagt einmal,« fragte sie, »möchtet ihr wieder einen Papa?«

»O ja!« rief Lissy eifrig, aber Nelly sagte bedächtig: »Aber nicht den Onkel Norbert!«

»Wen denn?«

»Den Onkel Ruprecht!« lärmten Lissy und Nelly zugleich.

Frau Helmina wandte den Kopf nach der Miß: »Hören Sie nur, was die Kinder sagen!«


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