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Zehntes Kapitel

Lorenz kam zwei Tage später von seinem Urlaub zurück. Er kam aus Wien; aber da er gesagt hatte, er fahre nach Linz, so ging er ein paar Stationen über Hadersdorf hinaus und kehrte dann mit dem Linzer Zug zurück, um mit dem Anschluß der Kamptalbahn weiter zu gondeln.

Man konnte nicht genug vorsichtig sein. An Ruprecht war zwar keine Spur des Mißtrauens zu bemerken, aber dieser heimtückische Indianer schwieg so bedrohlich, daß man gar nicht an ihn heran konnte.

Als Lorenz auf das Schloß kam, ging der Maurerwenzel eben über den Hof. Er war in der blauen Schürze und hatte seine bedächtige Gründlichkeit im Aufsetzen der Füße, die bewies, daß er in der Arbeit war. Der Maurerwenzel hatte nämlich zwei Gangarten, die voneinander sehr verschieden waren. Wenn es in die Arbeit ging, so hatte er »'s Langsame«, und wenn er aus der Arbeit ins Wirtshaus steuerte, »'s Geschwinde«. Denn der Maurerwenzel war Sozialdemokrat und wußte den Wert seiner Tätigkeit wohl abzuschätzen. Er wußte, was er der Organisation schuldig war und daß man sich dem Kapital nicht so verkaufen durfte.

»Was is denn los, Wenzel?« fragte Lorenz. Das war im Ton jener Leutseligkeit gesprochen, mit der sich der Kammerdiener bei der »Bevölkerung« beliebt zu machen wünschte.

Der Maurerwenzel spuckte aus. Das war ein Satzzeichen vor Beginn der Rede. »Arbeiten tuar i«, sagte er mit einem Nachdruck, der der Wichtigkeit dieses Ereignisses entsprach.

»Was is denn zu tun?« Wenn Lorenz mit der »Bevölkerung« sprach, so färbte er seine Worte mit leichtem Dialekt. Immerhin nur so viel, daß man immer verstand, er tue es aus Leutseligkeit.

Der Maurerwenzel schielte den Kammerdiener unter der Hutkrempe hervor an. »'s Schloß hat a Loch kriagt,« sagte er dann … »'s Wasser is über'n Wein kommen …«

»Wieso denn?«

»Na, weil's Schloß a Loch kriagt hat … Die alten Schlösser halten nix mehr … Die Fundamenter wackeln … ja, mei Lieber, so is … Das macht die neuche Zeit …« Die hohe Symbolik dieser Rede war dem Maurerwenzel ein Labsal.

Lorenz sah den Mann bestürzt an. Der Maurerwenzel schielte ihm hinwiederum unter der Hutkrempe entgegen. »Das Wasser is also in den Keller eingedrungen – – –«

»Ja … kommen S' mit, schauen S' Ihnen die Batali an.«

Schaukelnden Ganges trottete der Maurer vor Lorenz her, über den Hof, durch das Tor und außen um die Mauer herum, bis sie an den hinteren Teil des Schlosses kamen. Hier stieg der Berghang steil an. Er war von vielen Rinnsalen zerfurcht, die den Lehmboden bloßgelegt hatten. Zwischen dem Abhang und der gewaltigen, hier noch höher strebenden Mauer des Schlosses hatte sich im Laufe der Zeit ein Bachbett gebildet, in dem sich die Rinnsale vereinigten. Die Wasser des Frühlings und des Herbstes und der sommerlichen Gewitterstürme hatten den alten Mauern seit Jahrhunderten zugesetzt. Jetzt gurgelte und brodelte es allenthalben in den Rissen und dem Bachbett. Die Schmelzwasser schossen zu Tal, dem Kamp zu.

Der Maurerwenzel hatte den Bach ein wenig oberhalb der schadhaften Stelle abgedämmt. »Sehn S', hier is das Loch«, sagte er. Zwischen den Steinen der Schloßmauer klaffte ein Spalt, dessen Ränder abgeschliffen waren. Man sah, daß das Wasser hier lange gearbeitet haben mochte.

»Und is im Keller nix g'schehn …?«

»Na, fürchten S' Ihnen nit, es is noch gnug Wein drin blieben. Das Wasser is wieder durch ein anderes Loch 'raus.«

Lorenz wollte doch lieber gleich selber nachschauen, es war ihm ein wenig unheimlich zumute, obzwar er nicht wußte, was ihm hätte unmittelbar Besorgnisse machen können. Aber er hatte es nicht gerne, wenn fremde Leute da am Schloß herumhantierten und in alle Winkel die Nase steckten.

Als er aber den Schaden im Keller besah und fand, daß das Wasser einen Eingang zu anderen Räumen freigelegt hatte, von denen ihm selber nichts bekannt war, da gab es ihm einen Riß. Er machte sich sogleich daran, alles genau zu untersuchen. Und als er nach einer halben Stunde zurückkehrte, da zitterte die Laterne in seiner Hand, und es machte ihm Mühe, das Vorhängeschloß vor das hölzerne Gatter zu legen.

Er ging sogleich zu Frau Helmina hinauf, und es war gut für ihn, daß er sie allein traf. Er konnte seine Aufregung nicht verbergen.

»Es ist ein Glück, daß ich so bald zurückgekommen bin«, sagte er.

»Na, was gibt's denn wieder? Du bist in der letzten Zeit immer aus dem Häuschen. Es macht dir wohl Vergnügen, mich zu erschrecken?« Frau Helmina war verdrießlich. Ein Brief ihres Wiener Advokaten hatte ungünstige Nachrichten über ihren Prozeß gebracht.

»Weil ich spüre, wie sich etwas zusammenzieht. Ich spüre es in allen Gliedern.«

Lorenz wischte sich den Angstschweiß von der Stirne und setzte sich schwer in ein zierliches Rokokostühlchen. »Du natürlich … Du sitzt hier oben und kümmerst dich um nichts … wenn ich die Augen nicht offen halte! Seit der mißlungenen Geschichte damals habe ich keine ruhige Minute. Und wirklich, man braucht nur einmal aus dem Hause zu gehen … und gleich passiert etwas. In den Weinkeller ist Wasser eingedrungen …«

»Ich weiß, das ist ein schreckliches Unglück …« sagte Helmina spöttisch.

»Ja … es ist ein Unheil. Und wenn nichts geschehen ist, so kann man von einem Wunder reden. Das Wasser hat einen Weg in einen zweiten Keller freigemacht, und da gibt es noch immer wieder einen weiteren Keller … und das zieht sich so bis unter den Turm … und durch ein Loch in der Mauer sieht man in den Turm hinein …«

Helmina war erblaßt. Sie legte die Nagelfeile weg. »Man sieht …?« sagte sie …

»Ja … jetzt geht's dir ein. Dieses niederträchtige Nest hier ist unterwühlt wie ein Maulwurfshaufen … ich habe von alledem nichts gewußt …«

»Na, wenn es nur auch niemand anderes weiß,« sagte Helmina und nahm die Nagelfeile wieder auf: »es kommt ja niemand in den Weinkeller als du.«

»Das ist es eben,« erwiderte Lorenz wütend, »ich hätte den Schlüssel niemals aus der Hand geben sollen. Vorgestern war dieser Indianer unten, dieser Jana, dem ich nicht traue … er hat Wein geholt.«

Jetzt sprang die Angst auf Helmina zu und setzte sich in ihrem Nacken fest. Helmina schaute Lorenz mit weitgeöffneten Augen an.

»Er war es ja, der den Schaden gefunden hat … jetzt wissen wir nicht, ob er etwas entdeckt hat … ob er weiter gegangen ist …?«

»Nein,« sagte Helmina, nachdem sie sich gefaßt hatte, »er hat gewiß nichts gesehen.«

»Du weißt es natürlich wieder ganz genau! Gib mir einen Kognak … mir zieht sich der Magen zusammen … aber rasch …« Lorenz reckte sich nach hinten und holte einigemale tief Atem.

Während Helmina ein Gläschen mit Kognak vollgoß, brummte er: »Du weißt es … natürlich, du weißt es wieder ganz genau.«

»Ich weiß es nicht,« sagte Helmina demütig, »aber ich glaube es sicher. Wenn Jana etwas gemerkt hätte, so hätte er es schon Ruprecht gesagt … und wenn Ruprecht etwas wüßte, so hätte ich es schon merken müssen. So verstellen kann er sich nicht.«

»Auf solche Sachen verlasse ich mich nicht. Da ist man schon gefroren, wenn man solche Beweise austüftelt.«

Helmina sah nachdenklich vor sich hin: »Und selbst, wenn er etwas weiß …« sagte sie langsam … »ich glaube nicht, daß er dann … nein, wir können auf alle Fälle ruhig sein.«

»So«, machte Lorenz mit spöttischer Dehnung. Dann schlug er auf die Knie, daß zwei kleine Staubwölkchen in die Sonne wirbelten: »Nein, meine Liebe, die Geschichte hier muß ein Ende haben. Das geht nicht mehr länger. Das sagt auch Anton … und überhaupt, er läßt dir sagen, du sollst nach Wien kommen. Er will alles mit dir besprechen. Aber nicht in sein Bureau, sondern in seine Wohnung …«

Eine Tür schlug irgendwo zu. Ein Kinderlachen klingelte hell. »Es ist gut,« sagte Helmina hastig, »steh auf … ich fahre nach Wien. Ich muß ohnehin zu meinem Advokaten …«

Als die Kinder, von der Miß gefolgt, ins Zimmer kamen, stand Lorenz kerzengerade vor der Mama und nahm den Befehl entgegen, für übermorgen den kleinen Koffer für eine Reise nach Wien zu packen.

Wenn Frau Helmina in Angelegenheiten ihres Prozesses den Advokaten besuchen mußte, dann zog sie es vor, mit Ruprecht nicht viel darüber zu sprechen. Eine kurze Andeutung genügte. Ruprecht hörte noch immer nicht gerne von der Sache. Diese Erbschaftsaffäre war ihm peinlich. Wenn er auf seinen Ritten über Feld nur die Dächer von Rotbirnbach sah, so krabbelte schon der Ärger in ihm. Aber in diesem Belang war mit Helmina nichts zu machen. Sie hielt hartnäckig fest.

Aber Doktor Weinberger konnte nur die ungünstigen Nachrichten in seinem Brief bestätigen. Alle Hartnäckigkeit würde nichts nützen. Man war im Verlieren und wurde zurückgetrieben. Eine Stellung nach der anderen mußte aufgegeben werden. Helmina sprühte helle Wut. Die Seide ihrer Röcke knisterte drohend, als sie vor dem Haus des Advokaten in ihren Wagen stieg. Es war wie eine Atmosphäre von elektrischer Spannung um sie. Man hätte Funken aus ihr ziehen können, Funken und kleine Blitze von Worten. Während sie aus der inneren Stadt nach Hernals hinausfuhr, riß sie ihr Batisttaschentuch in kleine Fetzen. Die monumentalen Gebäude und Straßen Wiens wichen vorbei und glitten hinter dem Wagen wieder zusammen. Die nüchternen Häuser der schmucklosen Viertel kamen entgegen.

Es besserte Helminas Laune nicht, daß sie beim Aussteigen aus dem Wagen mit dem Besatz ihres Rockes hängenblieb und sich ein Stück davon abriß. Mit einem wütenden Blick auf den Kutscher knisterte sie in Sykoras Haustor.

Die Wohnung des Chefs der »Fortuna« war im ersten Stock gelegen und mit allerlei vertrauenerweckenden Dingen geziert. Mit Ehrenurkunden in prunkvollen Rahmen, mit Diplomen und Abzeichen verschiedener frommer und wohltätiger Vereine, mit Gruppenbildern von Festen und mit Photographien glücklicher Ehepaare, die dem Stifter ihres Bundes ihre Dankbarkeit zeigen wollten. Wenn jemand von Sykoras Klienten ausnahmsweise hier empfangen wurde, so mußte er wirklich den erhebenden Eindruck haben, in der Wohnung eines Wohltäters der Menschheit zu sein.

Sykora erwartete Helmina auf dem Sofa unter einem großen Öldruck der Gnadenkirche von Mariazell.

»Es ist empörend,« sagte Helmina nach einer flüchtigen Begrüßung, »es ist unglaublich, ich werde meinen Prozeß verlieren.«

»Ich habe nie viel Vertrauen zu dieser Sache gehabt«, antwortete Sykora ruhig.

»Und da habe ich mich also umsonst geplagt,« wütete Helmina, »es war keine kleine Arbeit, diesen Baron Kastelli dahin zu bringen … ich habe ihm das mühsam suggerieren müssen, daß das seine Rache ist … und jetzt soll ich darum gebracht werden!«

Anton Sykora trommelte bedächtig und mit Genuß auf dem Tisch. »Das ist kein Unglück! Überlege dir die Sache doch nur. Was hast du von Rotbirnbach …? Was willst du mit diesem Schloß anfangen …? Du sagst ja selbst, daß du viel Geld brauchst, um das Gut heraufzubringen. Was hast du also davon? Sei nicht eigensinnig, Helmi! Laß Rotbirnbach fahren. Und außerdem: du wirst keine Zeit haben, dieses Gut zu einem Ertrag zu bringen. Weg mit allem falschen Ehrgeiz. Wir wollen praktisch sein. Es ist notwendig, hier zu einem Ende zu kommen.«

»Das hat Lorenz auch gesagt«, entgegnete Helmina störrisch.

»Er weiß nicht einmal, wie dringend es geworden ist. Heute hat mir der Diamant wieder zugesetzt. Der Kerl wird immer ekelhafter. Seine Anspielungen werden immer deutlicher. Es scheint, daß er Material gegen uns in Händen hat. Wir waren doch nicht genug vorsichtig. Er hat von verschiedenen wohlhabenden Ausländern gesprochen, die unsere Vermittlung mit wenig Glück in Anspruch genommen haben. Was kann das anderes heißen, als daß er wenigstens ahnt …? Kurz und gut, er fängt an zu drohen. Vielleicht will er unser Kompagnon werden … wir müssen fort. Deine Sache muß rasch in Ordnung gebracht werden.«

Helmina spielte nervös mit ihrem Täschchen. Sie öffnete es und schloß es, und jedesmal gab es einen kleinen Knall. Es war unerläßlich, Sykora zu sagen, was Lorenz befürchtete.

Er hörte mit offenem Mund zu. Dann, als sie zu Ende war, klappten die Kinnladen zusammen und begannen sich kauend zu bewegen. Die Augenbrauen rückten auf die Stirn hinauf. Sykora dachte nach. »Na also,« sagte er dann, »das Idyll von Vorderschluder muß ein Ende haben, Helmi. Alles drängt zum Schluß. Es tut mir leid, daß ich darauf bestehen muß; Lorenz meint, es wird dir schwer …«

Helmi sah ihn gehässig an: »Ich lasse mir keine Vorwürfe machen. Du weißt, ich bin nicht schuld daran, daß dieses Idyll nicht schon beendet ist.«

»Ja, ja … ich weiß,« wehrte Anton Sykora gemütlich ab, »du meinst also … es ist … es ist keine unmittelbare Gefahr … na ja! Vielleicht ist dein Gatte schlauer, als du glaubst.«

Helmina lachte höhnisch und wickelte die Kette ihres Täschchens um den Zeigefinger. »Jedenfalls … ist dieser Malaie ein Hindernis. Er muß fort.«

Achselzuckend sah Helmina an Sykora vorbei zum Fenster hinaus. Drüben beugte sich ein junges Mädchen aus dem Fenster und lachte jemandem auf der Straße zu. Helmina war wütend auf dieses junge Mädchen. Sie haßte es.

»Mach', was du willst«, sagte sie.

»Na … also … wenn du dich nicht beteiligen willst, so schick' mir den Lorenz. Wir werden alles besprechen. Aber bald, hörst du … so bald als möglich …«

»Ja … Ja!«

»Dann sind wir ja im reinen …« sagte Anton Sykora und hob sich riesenhaft von seinem Sitz. »Bleibst du heute abend noch in Wien? Ich habe eine nette Loge für Ronacher. Komm mit! Es sieht dich niemand …«

»Nein, danke … Ich fahre noch nachmittag nach Haus.«

»Wie du willst. Also Servus, Helmi. Halte die Augen offen! Und schick' mir gleich den Lorenz.« Schmunzelnd begleitete er Frau Helmina zur Türe.

Frau Helmina hatte keinen Vorwand gebraucht. Sie fuhr nachmittags wirklich nach Haus.

Als ihr Wagen um die letzte Waldecke der Hochebene bog und das Schloß schon vor ihr lag, schraken die Pferde auf einmal zusammen und fuhren schnaubend zurück. Ein Mensch war plötzlich aus dem Walddickicht getreten und mit einem gewaltigen, ungeschickten Satz über den Straßengraben gesprungen. Gerade vor den Pferden war er mit baumelnden Füßen und schlenkernden Händen angekommen. Der Kutscher fluchte und stemmte sich auf seinem Bock nach hinten.

Der Fremde sah, was er angerichtet hatte und wurde sehr verlegen. Er zog seine braune Reisekappe und stammelte irgend etwas, das vom Fluchen des Kutschers überwältigt wurde. Helmina besah sich den Menschen mit einem ärgerlichen Lächeln. Er war in einen gelben Überzieher geknöpft, der ihm so eng war, daß sich um die Knöpfe Zugfalten bildeten und daß ihm die Arme in sanfter Krümmung vom Leib abstanden. Er sah aus wie in eine Wursthaut eingefüllt. Den Kragen hatte er aufgestellt, und aus dieser Umrahmung blickte ein glattrasiertes Gesicht mit blauäugiger Bestürzung und demütiger Bitte um Verzeihung. Der ganze Mensch stand auf zwei tüchtigen Tretern von amerikanischer Eckigkeit. Selbst wenn er den grauen Regenschirm nicht gehabt hätte, so hätte Helmina keinen Augenblick gezögert, ihn für einen Schulmenschen zu halten.

Jetzt zogen die Pferde wieder an. Der Fremde bat noch immer mit abgezogener Mütze am Straßenrand um Vergebung. Als der Wagen sich in Bewegung setzte, nickte ihm Helmina flüchtig zu.

Der kühne Springer sah ihr nach. Das also war Frau Helmina von Boschan. Er pfiff durch die Zähne. Oh – sie rechtfertigte ihren Ruf als schönste Frau. Langsam veränderten sich die Mienen des Mannes. Aus der Demut schob sich ein harter, entschlossener Wille vor, die verwirrten blauen Augen wurden kalt und klar und grau. Jetzt war der Wagen unten im Flußtal und tauchte in die vielfachen Windungen des letzteren Teils des Weges.

Der Fremde wandte sich und schritt in entgegengesetzter Richtung davon. Die Wellen der Hochebene streckten sich vor ihm hin. Felder waren in einem Wechsel von Schwarz und schmutzigem Schneegrau ausgebreitet. An günstigen Stellen hatte sich schon das Grün der Wintersaaten befreit. Die Luft war stark und die Erde voll von Drängen. Über schmale Feldwege hin, auf denen sich die feuchte Erde in Klumpen an die Schuhe ballte, ging der Mann in der Wursthaut seinem Ziele zu. Endlich hob sich der Turm von Sankt Leonhard am Horner Wald über eine Bodenwelle. Drei oder vier Häuser hatten sich in der Nähe der Kirche zusammengefunden. Die übrigen Gehöfte des Ortes waren weithin über die Ebene verstreut. In den Mulden dunkelte überall der Wald.

Die Häuser um die Kirche waren, wie es sich gehört, zwei Wirtshäuser und ein großer Kramladen, in dem alles zu haben war, was auf einem Bauernhof gebraucht wird.

Als der Fremde in die Wirtsstube des Alois Fürst trat, saßen einige Fuhrleute am Ofen und sprachen vom Wetter. Das Gespräch wurde sogleich unterbrochen, um den Angekommenen mit mehr Aufmerksamkeit mustern zu können.

Endlich sagte der Mathes Dreiseidel aus Vorderschluder, indem er mit der Pfeifenspitze auf den Fremden deutete, zu seinem Nachbarn: »Dös is a narrischer Professor, der bei uns wohnt.«

»A Professor?« fragten die andern mit einem kratzigen Flüstern, »der kann den Summer nit derwarten.«

»Er is ka Summerfrischler nit. Er macht da hörich Studien in unserer Gegend.«

»So … So!«

Sie schwiegen wieder und betrachteten den Professor, der seine Wursthaut aufgeknöpft hatte und am Nebentisch saß. Aus den Pfeifen krochen große blaue Wolken. Mathes Dreiseidel trank sein Glas aus und bestellte durch Klappern auf dem Tisch ein neues Viertel.

»Ja, sagt's,« setzte der Wirt aus Wegschaid, der zweimal in der Woche mit seinem Wagen durch Sankt Leonhard nach Gars fuhr, das Gespräch fort, »mit unsaren Straßen is halt a Gfrett. Ich sag euch, da gibt's Leut, die in alles dreinreden. Wer a großes Maul hat, dem machen s', was er will. Wenn ma sich unsare Straßen anschaut, so wird ma finden, daß sie net gebaut werden, wie's für alle am besten is, sundern, wie's denen paßt, die's große Maul haben. Da macht die Straßen an großen Bogen. Warum? Weil dort aner a Wirtshaus hat, bei dem muß die Straßen vorbei. Ich nenn' kan Namen. Wer durch's Wolfshofener Amt kommt, weiß eh, wen ich mein?«

»Ja … ja … is schon wahr«, bestätigten die anderen. Und der Fleischhauer aus Idolsberg setzte hinzu: »Da bei uns wär' schon viel zu machen. Könnt'n die Herrschaften nit von der Rosenburg bis Wegschaid a Straßen bauen? Ich hab' mir das Kamptal ganz genau ang'schaut. Zwa Sprengungen müßten's machen, mehr net. Das wär' nur gut für die Herrschaft selber. Da müssen s' jetzt das Holz aus den Wäldern bis nach Rosenburg flößen. Wieviel geht dabei verloren? Gute zwanzig Perzent. Und von dem, was ankommt, is de Hälft' ausg'schwemmt.«

»Entschuldigen die Herren«, mischte sich der Fremde in das Gespräch. »Sie sprechen da vom Kamp. Wissen Sie vielleicht, warum der Fluß so heißt?«

Mathes Dreiseidel aus Vorderschluder gab dem Fleischhauer aus Idolsberg einen Stoß in die Seite. Der Fleischhauer brummte. Er hatte verstanden. Das waren die Studien. Aber was sollte man auf eine solche dalkete Frage antworten?

Der Wirt aus Wegschaid nahm das Wort und begab sich ins Hochdeutsche: »Alsdann, wann dör Hörr schon fragen tut, so muß ma sagen, daß mir dessen nicht bewußt sind. Dör Fluß heißt schon immer so. Und auf dör Landkarten steht er auch alsdann als Kamp verzeichnet.«

»So is«, brummte der Fleischhauer.

Der Professor aber war nicht zufrieden. »Sagen Sie, haben Sie nicht von alten Leuten einen anderen Namen für diesen Fluß gehört? Idolsberg ist übrigens auch so ein interessanter Name. Es gibt eine Menge so uralter Namen.«

»Na!« sagten die Fuhrleute. Der Wirt aus Wegschaid aber, der vor vielen Jahren Speisenträger im »Goldenen Elefanten« in Graz gewesen war, sagte: »Neun! Es hat sich keine Erinnerung daran aufbewahrt.«

»Hm!« machte der Professor. Dann fuhr er fort: »Übrigens mit dem, was Sie vorhin gesagt haben, sind Sie ganz im Recht. Im Kamptal fehlt eine Straße. Die würde den Verkehr gleich noch ganz anders beleben.«

»Na ja, aber der Rosenburger tut halt nix. Der fahrt nur allerweil in Afrika 'rum.«

»Es sind ja noch andere Gutsbesitzer da. Rotbirnbach hat doch auch ein Interesse daran. Und der Herr von Boschan in Vorderschluder vielleicht am allermeisten. Der soll doch ein sehr tüchtiger Mensch sein.«

Die Bauern sahen sich an. »Der Herr von Boschan is erst a paar Monat in Vorderschluder,« sagte der Idolsberger Fleischhauer, »wenn der länger aushalt, so wird er auch vielleicht was machen.«

»Wieso? Wie meinen Sie? Geht es ihm finanziell nicht gut?« Darauf folgte ein kleines Schweigen. Aber der Wirt von Wegschaid wollte die Gelegenheit nicht versäumen, sich als weltläufiger Mensch zu zeigen: »Alsdann«, sagte er, »das Göld wäre genug vorhanden, aber man sagt halt so, daß er nicht lange aushalten tun wird, weil die Männer von der Frau von Boschan alle nicht ausgehalten haben.«

Der Professor lächelte: »Ja, ich erinnere mich jetzt. Man hat es mir ja erzählt. Er ist der dritte Mann.«

»Pardohn! Verzeihen schon! Alsdann er ist dör vierte.«

»Richtig: der vierte. Ja! ja! Und der letzte war, wenn ich nicht irre, ein gewisser Herr Sangwart.«

»Dankwardt war sein Name. Er war ein sehr lieber Hörr, abör von der Wirtschaft hat er nix verstanden. Er hat immer nur mit den Büchern zu tun gehabt.« Und nun erzählte der Weltmann aus Wegschaid, was er von Herrn Dankwardt wußte.

Die anderen hüllten sich in Rauch und Schweigen. Der Professor senkte den Eimer seiner Fragen immer wieder in den Brunnen der Beredsamkeit des Wirtes.

Es war Abend geworden. Ein roter Himmel sah bei den Fenstern hinein. Der Fleischhauer aus Idolsberg fand als erster, daß es Zeit wäre, nach Hause zu fahren. Er klopfte seine Pfeife aus, spuckte auf den Boden und erhob sich.

Mathes Dreiseidel trug dem Professor einen Platz auf seinem Wagen an. Sie fuhren in die Dämmerung hinein. Dreiseidel rauchte auf dem Bock, der Professor machte hinten im Wagen auf der Strohschütte Notizen in ein rotes Buch, so gut es bei dem Gerüttel gehen wollte.

Beim Achenwald klopfte er dem Bauern auf die Schulter.

»Ich dank' schön, Herr Dreiseidel,« sagte er, »ich gehe jetzt durch den Wald, da habe ich es bedeutend näher.«

»Kennen S' denn die Steig' im Wald? Es is ja schon ganz finster.«

»Wenn man so viel herumlaufen muß wie ich, so ist man vorbereitet. Ich habe meine Taschenlaterne mit.« Damit kletterte er vom Wagen. »So, also, dank' schön noch einmal. Nächstens fahren Sie auf meinem Wagen.«

Mathes Dreiseidel holperte und knatterte davon. Langsam sog die Nacht das Gepolter in sich. Der Professor stand in der Finsternis allein. Er nahm bedächtig seine Klapplaterne aus dem Wachstuchfutteral, ließ sie aufschnappen und versah sie mit einer Kerze. Dann fauchte ein Zündholz auf, und nach einigem Bemühen fing der verkrümmte Docht.

Der Professor schlug sich in den Wald. Auf dem engen Pfad sprang das Licht in abenteuerlichen Sätzen vor ihm her. Mit sicheren Schritten verfolgte der Fremde seinen Weg. Sein Gang war zuversichtlich und elastisch. Er dachte über alles nach, was er heute aus dem Wegschaider Brunnen geschöpft hatte.

Nachdem er eine Weile so gegangen war, blickte er überrascht auf. Ein Lichtschein kam ihm durch den Wald entgegen. Es zuckte zwischen den Stämmen. Der Professor trat beiseite. Da kam ein Mann in einem kurzen Jagdrock und Röhrenstiefeln. Ein freudiger Schreck schrillte in dem Professor. Das war ja, bei Gott, niemand anderes als Herr von Boschan.

Der Professor trat wieder auf den Pfad, ließ die Schultern sinken und trabte mit einer Miene der Verzweiflung weiter. Als er vor Herrn von Boschan stand, hob er seine Laterne: »Entschuldigen Sie«, sagte er.

Auch Herr von Boschan hob seine Laterne. Er sah ein bestürztes und klägliches Gesicht.

»Entschuldigen Sie, lieber Herr,« sagte der Professor noch einmal, »können Sie mir sagen, ob ich auf dem richtigen Weg bin?«

»Wohin wollen Sie denn?« fragte Herr von Boschan belustigt. Was wollte der Mensch in seinem gelben Überzieher hier in dem stockfinsteren Wald?

»Ich glaube, ich habe mich verirrt. Ich bin erst seit kurzer Zeit hier und kenne mich noch nicht aus.«

»Wo wohnen Sie?«

»Beim Geigenmacher Rotrehl. Man hat mir gesagt, daß ich hier durch den Wald ein großes Stück abschneide.«

»Sie sind auf dem richtigen Weg. Gehen Sie hier nur immer weiter, bei allen Abzweigungen halten Sie sich links, zuletzt an der Waldlisiere links hinunter.«

»Das ist mir sehr angenehm, daß ich auf dem rechten Weg bin. Ich kenne mich hier noch wenig aus, wie gesagt … also immer links! Ich danke Ihnen schön, Herr! Gestatten Sie – Schiereisen … aus Wien!«

Ruprecht verneigte sich kurz: »Boschan!«

Herr Schiereisens breiter Mund klafterte auseinander: »Wie, bitte? Herr von Boschan? … Es ist mir eine Ehre und ein Vergnügen … wahrhaftig. Solange ich hier bin, habe ich schon gewünscht, Ihre werte Bekanntschaft zu machen … Und nun führt uns der Zufall mitten in der Nacht und im Wald zusammen … ha … ha! Nicht wahr? Ich bin nämlich studienhalber hier. Die Gegend ist nämlich außergewöhnlich interessant, ich vermute nämlich, daß hier …«

Er ist imstande, mir hier einen Vortrag zu halten, dachte Ruprecht und schob ein Hindernis vor: »Ich habe sofort gesehen, daß Sie ein Professor sind …«, sagte er lächelnd.

»Wieso? Aber, Sie haben nicht ganz recht. Ich bin mehr Privatgelehrter, Forscher zu meinem Vergnügen. Ich habe mich dem Staat nicht verkauft. Wenn man sich einmal Professor schimpfen lassen muß, so ist es aus mit der freien Forschung. Sehen Sie sich nur einmal die Zustände in unserem lieben Österreich an. Was sagen Sie dazu? Da verzichte ich doch lieber auf alle Titel und Würden, nicht? Und bleibe für mich. Da kann ich doch tun und schreiben, was ich will … Da muß ich mich nicht bevormunden lassen. Ich schreibe an einem Werk über das Kulturtum Mitteleuropas, und gerade in Ihrer Gegend …«

»Verzeihen Sie,« sagte Ruprecht ein wenig ungeduldig, »ich werde zu Hause von meiner Frau erwartet. Ich habe mich in einem Steinbruch verspätet …«

Schiereisen legte seine Hand auf Ruprechts Arm: »Nur noch ein Wort, Herr von Boschan … ich lasse Sie sogleich ziehen … ich freue mich außerordentlich, Sie kennengelernt zu haben … Da ist … he … he … auch ein bißchen Egoismus dabei. Ich habe nämlich gehört, daß Ihr Vorgänger, Herr Dankwardt, eine sehr große Bibliothek besessen haben soll und ein Freund von Büchern gewesen ist. Es wäre nur ganz begreiflich, wenn sich unter diesen Büchern auch das oder jenes fände … ich meine also, er dürfte sich wohl auch für die Vorgeschichte dieses Landes interessiert haben, und da könnte ich vielleicht wertvolle Behelfe finden. Oft fallen dem interessierten Laien Bücher in die Hand, die der Fachmann vergebens sucht. Wenn Sie also …«

»Es wird mir ein Vergnügen sein, Ihren Besuch zu empfangen. Ich stelle Ihnen die Bibliothek selbstverständlich gerne zur Verfügung.«

Das Gespräch auf einem von zwei Laternen beleuchteten schmalen Waldpfad war zu Ende. Die Männer reichten einander die Hände und setzten ihre Wege fort. Schiereisens Kerze war herabgebrannt. Er blieb nach einigen Schritten stehen und rückte sie höher. Dazu pfiff er mit lächelndem Mund leise vor sich hin. Das Marienglas seiner Laterne knisterte in der Hitze.

Dann griff er tüchtig aus, um endlich nach Haus zu kommen.

Am selben Abend noch schrieb er einen Brief an Herrn Peter Franz von Zaugg, Sektionsrat im Eisenbahnministerium. Der lautete: »Sehr geehrter Herr! Es gereicht mir zur aufrichtigen Befriedigung, Ihnen mitteilen zu können, daß ich nach verhältnismäßig kurzem Aufenthalt schon auf einige nicht unbedeutende Erfolge zurückblicken kann. Ich habe bis jetzt fleißig Material zusammengetragen. Sie werden begreifen, daß dies in dem seltsamen Fall, mit dessen Erforschung Sie mich zu betrauen die Güte hatten, keine geringen Schwierigkeiten bereitet. Mich über alles dies im Zusammenhang zu äußern, behalte ich einer späteren Gelegenheit vor. Heute möchte ich Ihnen nur rasch mitteilen, daß mich ein glücklicher Zufall mit Herrn von Boschan bekannt gemacht hat. Ich habe mir nun auf ganz unauffällige und harmlose Weise Zutritt in das Schloß verschafft, und Sie können überzeugt sein, daß ich jede sich darbietende Gelegenheit, meinem Ziel näher zu kommen, voll ausnützen werde. Ich hoffe nun in die Lage versetzt zu sein, Ihnen und Ihrer werten Frau Gemahlin über alle dunklen und geheimnisvollen Umstände im Schicksal Ihres verstorbenen Schwagers recht bald Aufklärung geben zu können und, falls Ihr Verdacht begründet sein sollte, alles vorzukehren, um einem abscheulichen Verbrechen seine Sühne zu verschaffen. Mit dem Ausdruck vorzüglicher Hochachtung Ihr sehr ergebener Josef Tängler.«


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