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Siebentes Kapitel

Als Ruprecht am nächsten Mittag aus Krems kam, teilte ihm Helmina mit, daß Herr Anton Sykora hier gewesen sei, ein alter Freund ihres verstorbenen letzten Gatten. Er habe sehr bedauert, Ruprecht nicht getroffen zu haben, indessen hätten ihn seine Geschäfte gezwungen, heute morgens schon wieder abzureisen.

Ruprecht hörte mit halbem Ohr zu und sagte: »So, so!« Er hatte den Kopf mit landwirtschaftlichen Angelegenheiten voll. Mit vollem Eifer hatte er sich in die Arbeit gestürzt. Da gab es eine Menge zu tun. Herr Augenthaler merkte bald, daß der neue Herr die Zügel fest anzog. Das goldene Zeitalter war vorüber und das eiserne begann. Ruprecht war überall, man konnte ihm nichts vorschwindeln, er hob überall die Decken ab und sah, was darunter war. Selbst jetzt im Winter duldete er keinen Müßiggang. Im theoretischen Wissen seiner Gutsbeamten hatte er Lücken entdeckt; die sollten ausgefüllt werden. Da hatte er wieder eine Menge landwirtschaftlicher Bücher und Broschüren aus Krems mitgebracht, die er an seine Leute verteilte.

Seufzend schleppte der Verwalter einen ganzen Stoß Wissenschaft über den Hof. Der Adjunkt saß in der Kanzlei, drehte an einer Zigarette und schaute nach der Fensterreihe Helminas. Er wünschte, daß sie ihm irgendwo erscheinen möge.

Als ihm der Verwalter die für ihn bestimmten Bücher übergab, warf er sie auf den Tisch und schlug mit der Faust darauf: »Lächerlich,« schrie er, »das soll man in sich hineinkümmeln … als erwachsener Mensch – – ich bin kein Schulbub mehr. Er ist ein Pedant.«

»Schreien Sie nicht so,« sagte der Verwalter, »was fällt Ihnen ein! Und reden Sie nicht so despektierlich von unserem Herrn.« Eigentlich aber freute er sich darüber, daß der Adjunkt das gesagt hatte, was er selbst dachte.

Helmina kümmerte sich wenig um die Bemühungen ihres Gatten. Diese Dinge waren ihr immer fremd gewesen. Die Scholle hatte kein Leben und keine Bedeutung für sie. Wachsen und Vergehen, Blüte und Frucht verstanden sich von selbst. Da war für sie nichts Wunderbares daran. Wenn Ruprecht in seinem Arbeitszimmer saß, ging sie aus einem Raum in den andern, spielte mit den Kindern, unterhielt sich mit der Miß oder sang ein bißchen mit einer nicht unangenehmen, aber wenig geschulten Stimme. Im Grunde langweilte sie sich. Sie dachte manchmal an Dankwardt, der war auch nicht anders gewesen. Nur daß er indische Philosophie betrieben hatte, während Ruprecht sich mit Pflanzenphysiologie und Agrikulturchemie abgab, Rechnungen prüfte oder Wirtschaftspläne entwarf. Manchmal ging er auch in den indischen Tempel. Das war ein Zimmer, das Dankwardt ganz mit Erinnerungen an eine indische Reise ausgestattet hatte. Zwischen gemalten Lotossäulen sah man auf eine gemalte Landschaft mit Palmen und einem breiten Strom in der Ferne. Eine kleine Bücherei bewahrte Reisewerke und die wichtigsten Literaturdenkmäler Indiens zwischen duftenden Brettern aus Zedernholz. Schöne Ampeln hingen von der Decke. In den Winkeln glotzten Buddhastatuen auf ihren Nabel. Wenn die Türe aufging, so klapperte eine Gebetmühle, die durch eine Zugschnur mit der Klinke verbunden war.

Da war denn jeder Unterschied zwischen Ruprecht und Dankwardt beseitigt, wenn der Gatte im indischen Tempel saß. Frau Helmina wanderte an der Türe vorbei und warf böse Blicke auf sie. Er sollte sich hüten, sie der Langeweile zu überlassen. Dieser Mann war auch nicht klüger als die andern. Manchmal war es doch gewesen, als dränge sein Blick in ihre Tiefen und holte dort heraus, was darin verborgen lag. Und es durchbebte Helmina dann. Rührte er wirklich an ihre Geheimnisse, zog er wirklich die verhüllenden Schleier fort? Manchmal, nach heißen Liebesnächten, kam ein seltsamer Drang über sie. Da war es ihr, als müsse sie die Maske abwerfen, als müsse sie ihm alles sagen, als müsse sie mit nackter Seele vor ihm stehen. Mochte sich dann zeigen, ob er sie so liebte, daß er ihr auch dahin zu folgen imstande war, wo die Schrecknisse begannen. Es wurde ihr schwer, in solchen Stunden zu schweigen.

Wenn dann Ruprecht an seine Arbeit gegangen war, so beglückwünschte sie sich zu ihrer Festigkeit. Ihr geringschätziges Lächeln galt ihrer Schwärmerei und ihm, der die selbst übernommenen Pflichten erfüllte wie ein ehernes Muß.

»Es ist mir ein Bedürfnis,« sagte Ruprecht, der ihren leisen Hohn verstand, »ich kann nicht anders. Ich kann nicht auf der Bärenhaut liegen. Ich brauche Bewegung und Arbeit. Früher bin ich durch die Welt gewandert, da war ich beschäftigt mit Schauen und kräftigem Erleben. Ich hatte damit zu tun, mir alles anzueignen, was da war. Jetzt sitze ich auf einem Fleck. Um so betriebsamer muß ich sein. Das ist das Gesetz der Erhaltung der Energie.«

Es machte Helmina Vergnügen, in Ruprechts befestigtes Lager zu brechen. Sie entriß ihn seiner Arbeit, sie bestürmte ihn und triumphierte, wenn sie seinen Götzen Pflicht gestürzt hatte. Dann lachte sie ein böses Lachen. Ruprecht bemerkte es und nannte es ein Nixenlachen.

Die Weihnachtsfeiertage kamen heran. Der Schnee lag dicht und tief auf den Bergen, so wie es sich für das Fest gehört. Im Tal zogen schwarze Wagenspuren neben dem vereisten Fluß zwischen ächzenden Fichten, die sich vor ihren Mördern ängstigten. Die Bauern stapften durch die Wälder, Sägen und Hacken in den dicken Fäustlingen, und klopften den Schnee von den Fichten und Tannen. Sie suchten Weihnachtsbäumchen. Wenn sie ein Opfer gefunden hatten, dann bissen sich die eisernen Zähne durch die Rinde und das erstarrte Mark. Die Hacken trafen den Stamm, und dem Fall antwortete rings im Wald ein furchtsames Seufzen.

Ruprecht und Helmina liefen auf Schneeschuhen über die steilen Hänge. Ruprecht zeigte seiner Frau alle Vorteile, die er in Norwegen von den Jägern gelernt hatte. Er lehrte sie springen und freute sich, daß sie ganz furchtlos war. Sie schloß die Beine eng zusammen und sprang. Der kurze Rock schlug um die Knöchel und Knie. Wenn sie stürzte, dann raffte sie sich auf, bevor Ruprecht ihr helfen konnte. Lachend stäubte sie den Schnee von der roten Jacke. Da vergaß er oft das böse Lächeln und dachte an keine Gefahr.

Vom Amnisbühel herunter gab es eine prächtige Rodelbahn. Ruprecht und Helmina fuhren auf einem Zweisitzer sausend zu Tal. Die schwarzen Fichten wurden zu einer breiten, festen Wand. Der Schnee spritzte auf, sprühte in wilden, beißenden Funken um das Gesicht, wirbelte als weiße Wolke hinterdrein. Die Kinder hatten ihr kleines Rodel und durften auch fahren. Sie warfen um, kollerten ein Stück im Schnee bergab und lagen dann mit dem Rodel zuhauf. Das gab ein Quieken und ein Gelächter. Das Umwerfen war doch das schönste am Rodeln.

Zwei Tage vor Weihnachten sahen die Kinder einen ganzen großen Schlitten voll junger Fichten und Tannen unten auf der Straße. Die Kufen knirschten über den harten Schnee, die Geschirre der Pferde klirrten, der Fuhrmann ging in hohen Röhrenstiefeln und einem kurzen Pelz nebenher und stieß runde, ganz grellblaue Rauchballen aus.

»Wohin kommen die vielen kleinen Bäume …?« fragte Nelly.

»Die kommen in die Städte … vielleicht gar nach Wien, damit das Christkind sie für die Kinder aufputzen kann. Jedes brave Kind bekommt einen solchen Christbaum.«

Nelly sah traurig vor sich hin. Dann sagte sie schüchtern: »Uns hat das Christkind noch niemals einen Christbaum aufgeputzt.«

Da hob Ruprecht das kleine Mädchen auf und küßte es. Er wußte, daß die Kinder noch niemals die rechte helle, heitere Weihnachtsfreude kennengelernt hatten, den Baum, dessen Wunder mehr wert sind als alle Geschenke. Helmina hatte es nicht gewünscht. »Ich habe schon mit dem Christkind gesprochen,« sagte er, »diesmal bekommt ihr sicher einen.«

Am Abend begann er mit Miß Nelson den Baum zu putzen. Er war geschäftig und kindlich vergnügt, mit jenem Ernst bei der Sache, der ein richtiges Spiel begleiten soll. Die glitzernden bunten Dinger reihten sich auf die Äste.

Helmina saß im Hintergrund des Zimmers und sah mit kalten Augen untätig zu. Ihr böses Lächeln lag um die Lippen. Auf ihrer Stirne wetterleuchtete es. Wie diese Miß Nelson bei der Arbeit lebendig wurde. Alle Steife und Gemessenheit war fort. Sie streckte und reckte sich, um die höheren Äste zu erreichen, sie bückte sich, um die unteren zu schmücken. Das gab ihrem schlanken Körper ein Spiel schöner Linien. Sie war ganz Eifer, keiner der beiden kümmerte sich um sie. Sie taten, als ob außer ihnen niemand im Zimmer wäre. Ernsthaft berieten sie, wo diese Kette und jene Glasglocke unterzubringen sei.

»Ach, wie lange habe ich kein Weihnachtsfest mehr erlebt,« sagte Ruprecht, »so ein rechtes deutsches Weihnachtsfest. Das ist etwas Einziges. Kein andres Volk hat etwas Ähnliches. Ich war in den letzten Jahren immer irgendwo unten im Süden. Da war die Sehnsucht groß. Was hätte ich darum gegeben, nur in ein Fenster hineinschauen zu dürfen, hinter dem ein Christbaum brennt.«

Die Miß erzählte vom Weihnachtsfest in England. Sie stieg auf einen Stuhl, um einen kleinen Porzellanengel mit Flügeln aus Flittergold hoch oben zu befestigen.

Mein Gott, sie spricht, dachte Helmina. Ein Wunder. Sie beginnt ungefragt zu sprechen. Es ist gut. Mag Ruprecht versuchen, mich mit ihr zu betrügen. Beim ersten Anzeichen ist er verloren. Was hält ihn noch? Was haben wir noch Gemeinsames als jene heißen Nächte? Liebe ich ihn denn?

So begann es immer bei ihr. Sie hatte ein Gefühl der Überlegenheit, als brauche sie nur die Hände auszustrecken, um mit dem Mann spielen zu können. Ah – wie köstlich das war. Vor Jahren hatte man ihr einmal ein paar weiße Mäuse geschenkt. Sie hatte die Tiere einige Wochen gut gehalten und gefüttert. Eines Abends in der Dämmerung hatte sie dann den Mäusen den Käfig geöffnet und den gelben Kater hereingerufen.

Ruprecht wandte sich und warf Helmina einen kleinen Chenilleaffen scherzend in den Schoß. Aber Helmina liebte solche Scherze nicht. Ihr Gesicht veränderte sich nicht, und sie sagte kein Wort. Es war wie eine Beleidigung, daß man ihr solche Harmlosigkeiten zu bieten wagte. Ruprecht sah ihr scharf und forschend in die Augen. Sie erwiderte den Blick. Nun gut, er mochte wenigstens ahnen, was sie dachte. Während er sich wieder dem Baum zuwandte, zerdrückte sie den armen Chenilleaffen zwischen ihren Fingern. –

Am Weihnachtsabend strahlte der Baum in heller Pracht. Ein Wintermärchen. Noch heller aber strahlten die Kinder. Sie fragten gar nicht nach ihren Geschenken, sie standen nur in scheuer Andacht. Vier kleine Weihnachtsbäume glitzerten aus vier Kinderaugen. Vier kleine Fäuste waren krampfhaft vor Glückseligkeit geschlossen.

Auch Ruprecht stand andächtig vor dem Baum. Er war ganz in Licht gehüllt, er fühlte sich leicht, schwebend, vollkommen.

Indessen war Helmina zu ihrem Geschenktisch getreten. Nachlässig kramte sie in den Dingen, die da lagen. Alle ihre Wünsche, die ihr in der letzten Zeit angeflogen waren, fand sie erfüllt – die Amethystgarnitur, die Laliquebrosche … die zwei Tiffanyvasen, … alles war da. Zu unterst lag noch ein schweres eckiges Paket. Sie öffnete die Umhüllung. Es war ein Buch: »Volkswirtschaftliche Studien im Orient von Ruprecht von Boschan.« Dieses Buch trug auf der ersten Seite ihren Namen: »Meiner lieben Frau Helmina!«

Ruprecht trat zu ihr: »Ich weiß, daß dich diese Dinge nicht interessieren. Aber immerhin – es ist eine Erinnerung an unsere Brautzeit. Ich habe es damals vollendet und ihm deinen Namen als Talisman mitgegeben. Ich habe dich schon im voraus meine Frau genannt. Jetzt ist das Buch gerade zu Weihnachten zurechtgekommen.«

»Ich danke dir für alles«, sagte Helmina und gab ihm eine kühle Hand. Ah, Ruprecht häufte Sentimentalitäten auf Sentimentalitäten. Der Weihnachtsbaum! Die Widmung aus der Brautzeit! Was noch alles!

Ruprecht hatte gesagt, er wisse, daß sein Buch Helmina nicht interessieren werde. Aber er hatte es nun doch einmal geschrieben und war in die Gilde eingetreten, deren Kompaß nach den Polen des Lobes und Tadels gerichtet ist. Als Helmina bis in den halben Januar hinein mit keinem Wort auf die volkswirtschaftlichen Studien aus dem Orient zurückkam, wurde Ruprecht ungeduldig. Auf seinem Haupte lag die Morgenröte des Ruhmes, und Helmina tat, als bemerke sie nichts.

Eines Tages sagte er mit gelassenem Ton: »Ich habe heute einen Brief von Professor Zwicker bekommen … Professor Zwicker von der Wiener Universität … Nationalökonomie hat er … er findet mein Buch sehr bedeutend.«

»Soo!« antwortete Helmina gleichgültig. Mochte er sich nur ärgern. Und gleich darauf sagte sie: »Den ganzen Fasching will ich aber nicht hier in der Einöde sitzen. Wir wollen einige Male nach Krems fahren, wenn dort was los ist. Und nach Wien – mindestens ein- oder zweimal. Zum Ball der Stadt Wien … und zum Konkordiaball.«

»Wie du wünschst«, entgegnete er gereizt.

Sie fuhr mit der Gabel über den Teller hin, daß es ein quietschendes Knirschen gab. Sie wußte, daß er das nicht leiden konnte. »Wenn es dir nicht paßt, kannst du ja zu Haus bleiben.«

»Ich komme schon mit,« sagte er, »du glaubst doch nicht, daß ich über solche Dinge erhaben bin. In einem warmen, hellen Ballsaal, in schönen festlichen Frauen, in einer weichen Musik ist viel Kraft und Pracht des Lebens.«

Er wünschte nur, Helmina hätte bei einer anderen Gelegenheit davon zu sprechen begonnen. Helmina beobachtete ihn und wußte, was er dachte. Es war wie die Vorbereitung zu einem Ringen. Sie standen einander gegenüber und spähten nach ihren Schwächen aus, bereit, mit festem Griff zuzupacken, wo eine Blöße geboten wurde. Wenn aber der Abend einbrach, wenn die Müdigkeit des Willens kam und die Nacht näher rückte, dann erwachten die Sinne. Der Drang der Leiber wurde mächtig in ihnen, sie schlossen Frieden, um den Kampf auf einem andern Gebiete zu beginnen.

Eines Abends in der zweiten Januarhälfte, als Lorenz einen Augenblick mit Helmina allein war, sagte er: »Der Bruder schreibt. Er will nicht länger warten. Du mußt handeln.«

Helmina besann sich ein wenig: »Gut, morgen!« sagte sie entschlossen. Der nächste Morgen brachte den herrlichsten Wintertag. Als Helmina mit den Kindern am Frühstückstisch saß, hörte sie im Vorraum das Klappern der Schneeschuhe. Ruprecht trat ein. Er war zeitig draußen gewesen und kam nun, vergnügt über seine junge Kraft, im Besitz aller Reichtümer der Welt. »Willst du nachher mitkommen?« fragte er. »Heute ist ein ideales Skiwetter.«

Helmina war einverstanden, kleidete sich nach dem Frühstück rasch um und fuhr mit Ruprecht in die Wunder des Winters hinein. Es war frischer Schnee gefallen, dann hatte ein rascher Frost die Oberfläche verkrustet. Nun glitt man mit der Geschwindigkeit eines Vogels hin. Man erhöhte sich selbst, man befreite sich von allen Unzulänglichkeiten, man wurde lustig in diesem raschen Ausströmen der Kraft, dieser reißenden Bewegung.

Ruprecht ließ Helmina vorausfahren. Die rote, gestrickte Jacke jubelte auf dem weißen Schnee. Helmina sprang einen Abhang hinab, mit geschlossenen Beinen und angezogenen Knien, und sauste unten weiter. Dann ging es einen sanften Berg hinan. Ganz oben vor dem Waldrand steckten ein paar blaue Dinger im Schnee. »Das sind Soldaten«, sagte Ruprecht, dessen Augen auf den weiten Pampas Südamerikas geschärft worden waren. Es waren wirklich Soldaten. Vier Mann und ein Freiwilliger, die da auf Vorposten froren. Alle fünf machten große Augen, als Frau Helmina an ihnen vorbeisauste. Die größten Augen machte der Freiwillige. Seine Bewunderung kristallisierte sich zu einem Ausruf: »Sapperment!«

Aber die beiden waren schon vorüber und zwischen den Stämmen der Bäume verschwunden.

»Es wird ein Wintermanöver sein«, vermutete Ruprecht. In der Talfurche hinter dem Wald trafen sie einen zweiten Posten. Dann leiteten Fußstapfen die jenseitigen Höhen hinauf. Frau Helmina folgte ihnen. Oben auf der Hochebene lag am Ende eines bräunlichen ausgefahrenen Hohlweges ein Dorf. Es hatte sich vor der Kälte bis zu den Fenstern der Häuschen in den Schnee verkrochen, die Hütten waren wie zusammengebacken, um sich zu wärmen. Zu beiden Seiten des Hohlweges vor dem Dorf war ein blauschwarzes Gewimmel. Ein ameisenhaftes Durcheinanderlaufen. Ruprecht und Helmina glitten am Rande des Hohlweges hin, wo der Schnee noch weniger zertreten war. Unten, zu ihren Füßen, marschierte es. Sie liefen an unzähligen Gesichtern vorüber, die alle nach oben gekehrt und ihnen zugewendet waren. Es war ein Strom von Gesichtern. Dann aber kam eine breite, leere Lücke und jenseits ein Knäuel, eine Stockung. Der Hohlweg war gestopft voll Soldaten, die leise miteinander sprachen und sich nach vorne drängten. Da war irgend etwas geschehen.

Soldaten standen auch oben an den Rändern des Weges und schauten hinein, so daß es schwer war, durchzukommen. Da war etwas geschehen. An einer Stelle, wo der Hang weniger steil war, drängte sich Helmina hinab in die Mulde. Die Soldaten sahen sich verwundert um. Der kurze, scharfe Knall eines Revolverschusses platzte in diesem Augenblick aus dem dichten Haufen vor ihnen empor. Helmina stieß die Soldaten zur Seite, arbeitete sich mit ihrer Skistange vorwärts, ruderte in der Menge. Eine heftige Gier trieb sie an. Auf ihrem Gesicht flammte es auf.

So lief sie fast einem langen Major in die Arme. Er sah die Dame, die da plötzlich im Haufen der Landsknechte erschien, zuerst erstaunt an, dann erkannte er sie und grüßte mit ausnehmender Höflichkeit. Auch Helmina erkannte ihn. Es war der Major Zivkovic, einer aus dem Gefolge der Beherrscherin von Abbazia.

»Was gibt's denn da? Was ist hier geschehen?« fragte Helmina hastig. Der Major stellte sich so, daß er Helmina den Ausblick verdeckte: »Oh, nichts für Damen! Nein – bitte, schauen Sie nicht hin. Es ist nicht schön … Sie könnten davon träumen.«

Eine wilde Lustigkeit glühte auf Helminas Gesicht: »Ist ein Unglück geschehen?« »Ja – ein sehr bedauerlicher Unfall … nein, wirklich, Gnädige, ich bitte – schauen gefälligst nicht hin … ich könnte keine Verantwortung …«

Helmina lachte: »Ja – für wen halten Sie mich, mein lieber Major? Glauben Sie, ich werde in Ohnmacht fallen … oder ich werde Krämpfe kriegen …«

»Da müssen Gnädige aber schon gute Nerven haben.«

»Ich glaube, Sie könnten es aus Abbazia wissen, daß ich gar nicht nervös bin. Lassen Sie mich nur hin …«

Achselzuckend gab der Major den Weg frei. Da lag inmitten des Haufens von Soldaten ein umgestürzter schwerbeladener Trainwagen, der ganz zertrümmert war. Der Schnee ringsum war ganz zertreten, mit Kot gemischt und an einzelnen Stellen von rötlicher Färbung. Etwas abseits lagen unter groben Wagenkotzen zwei Körper in einer Blutlache. Die drei Pferde waren gräßlich verstümmelt und zerrissen, ihre Beine waren gebrochen. Zwei waren bereits tot, eines lebte noch und warf sich so rasend herum, daß man ihm nicht den Gnadenschuß geben konnte. Ein Oberleutnant stand mit dem Revolver neben ihm und bemühte sich vergebens, einen günstigen Augenblick zu erhaschen.

Der Major erklärte, daß der Wagen unvorsichtig gefahren, dem Hohlwegrand zu nahe gekommen und abgestürzt war. Die zwei Fahrer waren sogleich zermalmt worden, und auch die Pferde waren verloren.

Helmina hatte die Schneeschuhe abgebunden und trat zu dem Oberleutnant. »Geben Sie mir den Revolver«, sagte sie in befehlendem Ton. Ruprecht sah eine unerbittliche Grausamkeit auf ihrem Gesicht, eine wütende Begierde, zu töten. Ein barbarischer Instinkt brach aus dem Urgrund ihres Wesens hervor.

Verblüfft widersetzte sich der Oberleutnant: »Aber Gnädige wollen doch nicht …«

»Geben Sie mir den Revolver«, befahl Helmina noch einmal. Der bartlose junge Mann wagte keinen Widerspruch mehr und überließ ihr die Waffe. Aus seinen Augen kroch das Entsetzen. Helmina faßte den Revolver, richtete sich auf und trat lächelnd vor das Pferd. Dieses Lächeln war schrecklich. Sie stand eine Weile und sah das Pferd scharf an. Dann hob sie langsam die Waffe, zielte ruhig und feuerte in einem Augenblick, in dem das Pferd den Kopf zu ihr herumwarf, gerade zwischen die Augen des Tieres. Es zuckte, krampfte sich zusammen und streckte sich dann aus. Es war tot.

»Ich danke, Herr Oberleutnant«, sagte Helmina und reichte lächelnd dem Offizier seine Waffe zurück.

»Sie sind eine waghalsige Amazone, Gnädige«, sagte der Major, der etwas blaß geworden war, mit einer eingetrockneten Stimme. Dann räusperte er sich. Ein Wortspiel war ihm eingefallen, das die Situation retten konnte: »Wahrhaft wehrhaft … ha … ha!« sagte er. Er besaß einen eingealterten Ruf als Witzbold.

»Christenpflicht, lieber Major,« entgegnete Helmina, »man kann doch das Tier nicht so lange leiden lassen.«

»Wie den Menschen«, fügte der Major hinzu, mit einer galanten Wendung, auf die er sich etwas zugute tat. Hierauf machte ihn Helmina mit Ruprecht bekannt. Das war ihre Antwort.

»Sie sind also wenigstens auch gegen einen Menschen barmherzig gewesen«, sagte der Major. Dann erkundigte er sich mit ungemeiner Liebenswürdigkeit nach Ruprechts Befinden. Ruprecht mußte lächeln. Dieser lange Mensch mit seinen gewohnheitsmäßigen Galanterien, mit seinem unverbesserlichen ritterlichen Minnesängertum, der im Grunde so harmlos war wie ein Kind, gefiel ihm. Er lud ihn ein, einmal auf Schloß Vorderschluder seinen Besuch zu machen.

Helmina hatte ihre Schneeschuhe angeschnallt, verabschiedete sich von den Offizieren und lief Ruprecht voran, den Hang hinauf, wo sie vorher heruntergekommen waren. Das blaue Gewimmel blieb bald hinter ihnen zurück. Von den Bergen jenseits des Kamps leuchtete die Wallfahrtskirche von Dreieichen im Sonnenschein.

Keiner der beiden sprach.

Nur das weiche Schaben der Schneeschuhe war da und dann das Krächzen einer großen Krähe, die sie aus einer Ackerfurche aufgescheucht hatten. Nach einer Weile hielt Helmina an, bückte sich und nahm eine Handvoll Schnee auf. Sie hatte ihren derben Skifäustling, den sie vorher ausgezogen hatte, noch nicht wieder angelegt. Auf ihrer linken Hand war ein feiner Blutspritzer. Nun rieb sie ihn mit Schnee ab. Die weiche, weiße Masse bekam eine schwach rötliche Färbung.

Ruprecht erinnerte sich des Tages, an dem Helmina an der Leiche des Barons Kastelli gestanden hatte. Auch damals hatten ihre Finger eine Blutspur davongetragen.

»Ach ja!« sagte Helmina, indem sie ihre Hand an dem Taschentuch abtrocknete, »es fällt mir eben ein. Ich wollte schon längst etwas Geschäftliches mit dir besprechen. Es ist eine ziemlich dringende Sache, du solltest dich an einem Geschäft beteiligen, das ich machen will. Ich bin vollkommen sicher davon unterrichtet, daß mit galizischem Petroleum viel Geld zu verdienen ist. Die Leute haben nur kein Kapital. Diese Erdöl- und Naphthagruben werden nur sehr primitiv ausgebeutet. Da muß eine andere Hand darüberkommen. Über Nacht kann man noch einmal so reich werden.«

»Ich muß dir sagen, daß ich keinen Unternehmungsgeist habe. Du weißt, daß ich mein Geld lieber in ganz sicheren Werten anlege.«

»Du bist wirklich in diesem Punkt ein Hasenfuß. Wer gewinnen will, muß wagen. Ich habe Unternehmungsgeist für zwei. Und du kannst mir wirklich vertrauen, wenn ich sage, daß es ein gutes Geschäft ist.« Und nun begann Helmina Ruprecht Einzelheiten auseinanderzusetzen. Sie zeigte so viel Verständnis und Kenntnisse, daß man hätte glauben mögen, sie spreche auf Grund jahrelanger Studien. Sie kam in Eifer, sie versuchte zu überzeugen, sie warb und lockte.

Das Gespräch wollte nicht in die Landschaft passen. Drüben schimmerte die Turmfront von Dreieichen. Unten lag der Kamp wie eine Arabeske aus Silber zwischen blauschwarzen Wäldern. Und Helmina sprach von galizischem Petroleum.

Ruprecht bewunderte Helmina. Alles, was sie war, war sie ganz. Diese Frau war wie ein vielflächig geschliffener Edelstein, an dem jede Fläche in einem anderen Feuer strahlt. Ruprecht hätte sich vielleicht überreden lassen. Aber da gedachte er des Augenblicks, in dem Helmina dem Oberleutnant den Revolver abgefordert hatte. Er sah sie kaltblütig und lächelnd neben dem zuckenden Pferd stehen.

»Nein,« sagte er ruhig, »ich werde mich doch lieber nicht beteiligen.«

»Oh! … Du bist aber nicht ein bißchen galant.«

»Galanterie in Geldsachen, Liebste? Nein! Muß ich dich erinnern, was wir ausgemacht haben? Wir wollen uns doch unsere Selbständigkeit wahren, auch in diesen Dingen.«

Helmina sagte achselzuckend: »Es ist dein eigener Schaden, wenn du es nicht tust.«

Ruprecht versuchte, ihr ins Gesicht zu sehen. Aber sie fuhr eben einen Abhang hinab und ihm voran.

»Übrigens«, sagte er, als er sie wieder eingeholt hatte, »will ich doch wenigstens Siegl fragen – damit du meinen guten Willen siehst.« –

Siegl aber fiel es nicht ein, Ruprecht zu diesem Geschäft zu ermuntern. Ruprecht sah seinen Bankier in diesem Brief wie in einem Spiegel vor sich. Das Format des Papiers, seine Wasserlinien, der Firmaaufdruck, die Schnörkel der Unterschrift ließen ihn einen tanzenden Zwicker auf einer dicken Nase, einen regelmäßig dünenden Bauch in einer weißen Weste, die schöne Rundung der Beine sehen. Herr Siegl schrieb: »Lassen Sie doch Ihre Hände von solchen Sachen. Was geht Sie das galizische Petroleum an? Wie kommen Sie auf solche ausgefallene Geschichten? Das ist nichts für Sie.« Der Brief war nicht mit der Schreibmaschine geklappert, sondern von Siegl privatest und intimst eigenhändig geschrieben. Er sprach durch ihn zu Ruprecht sozusagen mit den Daumen in den Westentaschen.

»Du siehst, Helmina,« sagte Ruprecht, nachdem er seiner Frau dieses Schreiben vorgelesen hatte, »Siegl ist dagegen. Er ist mein Orakel. Ich muß mich ihm fügen.«

»Dann werde ich mich allein beteiligen,« antwortete Helmina, »ich gebe eine solche Chance nicht aus der Hand. Man hat mir ein sehr vorteilhaftes Angebot gemacht.«

»Ich wünsche dir allen Erfolg dazu. Ich werde dich nicht beneiden, wenn du recht viel Glück hast.«

Nach dem Abendessen, als die Kinder weggebracht worden waren und sich Ruprecht auf einen Augenblick entfernt hatte, fragte Lorenz, indem er den Tee servierte, leise: »Was hat er also gesagt?«

»Er will nicht.«

»Dann muß er fort.«

»Ich fürchte nur, daß es diesmal sehr viel Aufsehen machen wird. Wir sollten noch warten …«

»Aber wir haben keine Zeit dazu …«

»Dann wenigstens noch drei Tage …« warf Helmina ein.

»Du willst sagen: drei Nächte,« murmelte Lorenz, »ich habe es ja gesagt, daß du verliebt bist.«


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