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Zwölftes Kapitel

Herr Schiereisen hielt ein feines Gespinst in Händen. Er sah Frau Helmina schon verstrickt. Ein Faden leitete nach Wien. Es war notwendig, ihm nachzugehen und ihn an das rechte Ende zu knüpfen. Die Sache gewann an Bedeutung und wuchs über den einzelnen Fall hinaus. Schiereisens treffliche Instinkte ließen ihn etwas ganz Großes ahnen.

Am zweiten Tag seiner Anwesenheit in Wien suchte er den Sektionsrat im Eisenbahnministerium, Herrn von Zaugg, auf. Der vornehme, blasse, etwas vornübergebeugte Herr empfing ihn mit ungewöhnlicher Belebtheit seiner Mienen. »Was können Sie mir berichten?« fragte er hastig, »haben Sie etwas gefunden?«

Schiereisen gab ungern Rechenschaft über seine Tätigkeit, bevor er das Material vollkommen beisammen hatte. Er bat den Sektionsrat, von Einzelheiten absehen zu dürfen und sich mit der Versicherung zu begnügen, daß alles sehr gut vorwärts ging. »Sie haben doch Vertrauen zu mir?« fragte er lächelnd.

Der Sektionsrat beugte sich im Klubsessel vor und besah seine Fingerspitzen. »Ich halte Sie für den tüchtigsten Detektiv Wiens,« sagte er liebenswürdig, »wenn jemand in diese dunkle Geschichte Licht bringen kann, so sind Sie es. Ich unterwerfe mich Ihnen vollkommen.«

»Ich will nicht umsonst meinen schönen Bart geopfert und meine längst eingerosteten Kenntnisse in der Prähistorie frisch geölt haben. Sie können überzeugt sein, daß mir Ihr Auftrag zur Ehrensache geworden ist und daß ich alles daransetzen werde, ihn durchzuführen.«

»Ich danke Ihnen! Sie wissen, es handelt sich mir nicht so sehr um das Vermögen meines Schwagers, obzwar ich natürlich den vollständigen Entgang der von meinem Schwiegervater angeordneten Vermächtnisse zugunsten meiner Frau schwer verschmerzt habe. Vor allem möchte ich festgestellt wissen, ob nicht ein Verbrechen vorliegt. Meine Frau behauptet es. Sie hat diese Frau Helmina mit ihrem merkwürdigen Vorleben niemals recht leiden können. Ich möchte ihr endlich Gewißheit verschaffen, damit sich ihre Nerven beruhigen. Aber ich bitte Sie nochmals, mit aller Vorsicht vorzugehen. Wir wollen doch die Frau, die einmal den Namen Dankwardt getragen hat, nicht durch einen Skandal kompromittieren, wenn unser Verdacht unbegründet ist. Man könnte ja durchsetzen, daß die Leiche meines Schwagers exhumiert wird. Aber das ist nur ein alleräußerstes Mittel, das erst angewandt werden soll, wenn sonst die Beweiskette lückenlos geschlossen ist …«

Schiereisen nahm eine Repräsentationshavanna von ungewöhnlicher Form in Empfang und war entlassen. Er begab sich sogleich an die Arbeit. Sein ganzer Scharfsinn war angespannt. Nie hatte er einen Fall mit gleichem Eifer verfolgt. Ein persönlicher Anteil war hinzugekommen. Da befand sich ein prächtiger Mensch in Gefahr. Das Werk der rächenden Gerechtigkeit war zugleich ein Rettungswerk.

In dieser Zeit tat Schiereisen etwas, dessen sich seine Vorderschluder Bekannten gewiß nicht von ihm versehen hätten. Er bekam auf einmal Heiratsgelüste und wandte sich an eine Vermittlungsanstalt, die einen außerordentlichen Ruf besaß. Er besuchte den Chef der »Fortuna«, Herrn Anton Sykora, und trug ihm seine Wünsche vor. Eine bescheidene Häuslichkeit, eine kluge, nicht allzu junge Frau, die der Wirtschaft vorzustehen imstande war, ein paar tausend Kronen Vermögen als nicht ungern gesehene, aber nicht unbedingt erforderliche Beigabe. Es wäre wichtiger, eine sympathische Persönlichkeit zu finden, mit der man seelisch übereinstimmen könnte. In Sykoras Liste trug sich Schiereisen als Johann Nähammer, pensionierter Bankbeamter, ein. Die Verhandlungen dauerten länger als eine Woche, und Schiereisen war fast täglich auf dem Bureau der »Fortuna«. Wenn der Chef der »Fortuna« nicht zugegen war, so verhandelte er mit dem Sekretär und zeigte sich sehr für den Betrieb interessiert. Aber man kam zu keinem Ergebnis. Herr Johann Nähammer fand keine passende Braut und reiste nach vierzehntägigem Aufenthalt in Wien wieder ab.

Das Kamptal war voll Frühlingsjubel und Sonnenglück, als er es wiedersah. Alles war grün geworden, und der Fluß sang laut und brausend zwischen seinen felsigen Ufern. An den alten Mauern der Burg von Gars lehnten die jungen Birken sehnsüchtig und verträumt wie Madchen. Die Buchen in den Wäldern waren wie Scharen von jungen Turnern, die mit hellen Augen um sich blicken und Säfte in allen Adern fühlen.

Rotrehl empfing seinen Mieter mit aufrichtiger Freude. Dann machte er ein ernstes Gesicht: »Haben S' schon g'hört … auf dem Schloß ist ein Unglück passiert. Der Indianer hat sich erschlagen.«

Schiereisen wich zurück: »Erschlagen? … der Malaie? Ja – wie ist denn das geschehen?«

»Er ist irgendwo heruntergefallen … vom Turm oder so … der alte Johann is ja ganz konfus … man kennt sich gar nicht aus, wie er die G'schichte erzählt.«

»Wann – wann ist denn das geschehen?«

»Vorgestern, die Kommission war schon oben.«

»Und er war gleich tot?«

»Maustot. Gar nichts mehr zu machen …«

Der Wächter war also beseitigt. Es stand bei Schiereisen sogleich fest, daß dies kein unglücklicher Zufall gewesen war. Der Malaie hatte schützend und wachend vor Ruprecht gestanden, er hatte fort müssen.

Eine Stunde später war Schiereisen auf dem Schloß. Er fand Ruprecht in seinem Arbeitszimmer. Herr von Boschan saß am Schreibtisch, hatte die Arme aufgestützt und das Gesicht in den Händen. Er sah nicht auf, als Schiereisen eintrat. Langsam näherte sich der Besucher und blieb hinter Ruprecht stehen. Er bemerkte auf dem gesenkten Kopf eine gerötete Stelle, die von wenigen Haaren bedeckt war, als ob hier eine Krankheit einen Haarausfall bewirkt hätte.

Noch immer schien Ruprecht nicht zu wissen, daß jemand im Zimmer war. Auf ein kräftiges Räuspern fuhr er plötzlich herum, wie in einem Erschrecken, und seine Hand machte eine Bewegung, als wolle er eine halb offenstehende Lade des Schreibtisches ganz aufreißen.

»Ach, Sie sind es … Herr … Schiereisen«, sagte er. Es war, als müsse er erst nachsinnen, um den Namen zu finden.

Schiereisen stand ganz ergriffen. Er sah in ein müdes, schlaffes Gesicht mit erloschenen Augen und hängenden Backen. Die Stirn war faltig geworden und die Muskeln um den Mund wie aufgeweicht und eingefallen, daß die Nase spitz hervortrat. »Mein Gott,« sagte er, indem er Ruprechts Hand erfaßte, »wie sehen Sie aus? Es hat Sie sehr angegriffen. Es ist ja auch furchtbar …«

Ruprecht nickte langsam und steif, als ob die Sehnen des Halses seinem Willen nicht recht gehorsam wären: »Sie wissen es also schon!« Auch in seiner Art, zu sprechen, bemerkte Schiereisen eine Veränderung, die Worte schienen sich schwer zu bilden und kamen zögernd hervor.

»Man hat es mir erzählt,« sagte Schiereisen, »aber ich weiß noch gar nicht, wie es sich zugetragen hat … Er war Ihnen sehr ergeben, der arme Mensch … Ich kann Ihnen sagen, auch ich bin ganz aufgeregt … wenn ich mir das vorstelle … wie haben Sie ihn denn gefunden?«

Mit hängendem Kopf saß Ruprecht vor Schiereisen. Seine Augen suchten die Platte des Schreibtisches ab. »Ja! … gefunden? Gefunden haben wir ihn unten im Garten, zwischen dem alten Turm und dem … Seiten … dem Seitenflügel. Mit zerschlagenem Kopf und zerbrochenen Gliedern …«

»Schrecklich … und wie hat das geschehen können?« Schiereisen sah Ruprecht an, wie schwer es ihm wurde, zu antworten, aber er konnte ihn jetzt nicht schonen.

»Er ist gest… gestürzt … hinuntergestürzt …«

»Von wo … vom Turm?«

»Nun, von der Galerie … Es geht eine hölzerne Galerie vom Schloß zu dem Turm.«

»Ach, ich erinnere mich, ich habe sie gesehen, und da ist Ihr Diener heruntergestürzt? Die Galerie ist doch gedeckt. Wie ist denn das möglich?« Es waren keine Vorsichten nötig. Er konnte ohne Umschweife fragen, ohne befürchten zu müssen, daß es Ruprecht auffallen könnte. Der dachte heute nicht so scharf und klar, er war in einer Verwirrung, die ihm alle Ausblicke auf seine Umgebung raubte. Er stand in einem Nebel von Schmerz eingehüllt und antwortete mühsam auf die Fragen, die von außen zu ihm drangen. Vielleicht auch war in diesem Zustand eine noch unbestimmte Furcht, die Ahnung eines Schrecklichen.

Ruprecht besann sich: »Wie das möglich …ch war? Ja … das ist ganz einfach…ch … der Jana ist durchgebrochen … durch den Boden der Galerie … nämlich…ch der Boden muß schon ganz verfault gewesen sein. So viel hundert Jahre, nicht wahr?«

»Ja, ja – gewiß!«

»Vielleicht ist er ohne … Feuer – ohne Licht gegangen. Hat nicht bemerkt, daß der Boden ganz verfault ist … und ist durchgebrochen … das ist doch ganz leicht begreiflich. Die Komm…mm…mission hat es auch so festgestellt.«

»Die Kommission hat es so festgestellt? Na ja … da kann wirklich niemand dafür. Aber hören Sie, Herr Baron, könnte ich nicht auch den Unglücksplatz sehen?«

Ruprechts Kopf war ganz auf seine Brust gesunken. Jetzt hob er ihn wieder und sah Schiereisen mit seinen matten Augen an: »Warum wollen Sie ihn sehen? Was haben Sie davon?«

In Ruprechts Blick hinein ließ Schiereisen eine Verlegenheit spielen. »Na … solche Geschichten sind ja schrecklich … aber interessant,« wand er sich, »man ist doch ein Mann, man fürchtet sich doch nicht vor ein bißchen Blut.«

»Also – meinetwegen, wenn Sie es wollen … gehen wir!« Als sich Ruprecht erhob, sah Schiereisen, daß er ein wenig wankte und erst eine kleine Weile stehenbleiben mußte, als wolle er erst die Schwerkraftsverhältnisse seines Körpers in Ordnung bringen. Dann setzte Ruprecht ungeschickt und tappend einen Fuß vor den andern. »Kommen Sie,« sagte er, »ich habe den Schlüssel bei mir.«

Was war mit diesem Menschen vorgegangen? Wie war dieser Zustand zu erklären? Das war doch nicht einzig die Wirkung des Unglücksfalles. Da war auch eine körperliche Veränderung vorgegangen, man konnte deutlich eine Zerrüttung seiner Kräfte bemerken. Schiereisen erschrak. Hatte man sich vielleicht auch schon an Ruprecht herangemacht? Dann war es höchste Zeit, zu handeln, dann konnten ihn keine Rücksichten auf seinen Auftraggeber mehr zurückhalten, zuzugreifen, selbst wenn die Kette der Beweise noch nicht ganz lückenlos war.

»Wissen Sie,« sagte er, indem er hinter Ruprecht herging, »das sind so atavistische Instinkte. Jeder von uns ist ein am Ausleben verhinderter Wüterich. Das Interesse für Unglücksfälle wird durch urälteste Triebe hervorgerufen. Auf diese Triebe gründen sich die Erfolge der illustrierten Schundblätter. Sie setzen dem Publikum Abbildungen der neuesten Mord- und Greueltaten vor. Und das Publikum genießt sie mit angenehmem Grauen. Das gehört bei den meisten zum Behagen des Lebens.« Daß diese Ausführungen nicht zu dem betriebsamen und beflissenen, ein wenig weltungeschickten Kulturforscher stimmten, verschlug Schiereisen in diesem Augenblick nichts. Es handelte sich darum, zu sprechen, Ruprecht zu betäuben, nicht zum Nachdenken kommen zu lassen.

Sie stiegen in das obere Stockwerk und wandten sich dem Seitentrakt zu. Niemand begegnete ihnen auf den Gängen und Treppen. Es war, als meide alles Lebende im Schloß die Nähe des Unglücksortes. Durch eines der offenen Fenster aber kam der Frühlingsgesang des Flusses und das vom warmen Wind herangetragene Bruchstück eines Liedes von nahen Hügeln. Nur düsterer und drohender wurde dadurch die Stille des Schlosses.

Ruprecht schloß eine eiserne Tür auf. Es war zu sehen, daß es ihm Schwierigkeiten machte, den Schlüssel umzudrehen. Sie traten in die Galerie ein. Das Sonnenlicht brach durch zwei kleine staubblinde Fenster auf der linken Seite, von hinten aber kam eine saubere Helligkeit durch ein großes Loch im Boden.

»Geben Sie acht,« warnte Ruprecht, »man muß sich vorsehen!«

Schiereisen hatte sich schon auf die Knie niedergelassen und war dem Loch nähergekrochen. Die Tragbalken der Galerie waren wurmstichig, aber schienen noch dauerhaft genug. Auch der Bretterboden schien trotz einzelner schadhafter Stellen im ganzen haltbar. Schiereisen bemerkte hier und da morsche und zerfressene Fasern, aber nirgends in solcher Ausdehnung, daß sie den Widerstand des gesunden Holzes hätten überwinden können. Das siebente und achte Brett von der Türe an fehlten ganz. Nur einige Splitter hingen noch an den Tragbalken. Sie waren unzweifelhaft vermorscht und von Wurmmehl bedeckt. Da waren die Bretter wirklich schon recht bedenklich schwach gewesen.

Plötzlich sah Ruprecht, wie sich Schiereisen weit vorbeugte und eine Stelle des Tragbalkens betastete. Schiereisen zog sich zurück und besah seine Fingerspitze. Was da haften geblieben war, das war ein feiner gelblicher Staub, eine Spur von Sägemehl. Der Überrest einer Arbeit an ganz gesundem Holz. Der Unterschied zwischen diesem Staub und dem gelben, pulverartigen Wurmmehl zermahlener, durch die Kiefer von Holzwürmern gegangener Holzfasern war nicht zu verkennen. Schiereisen zog ein Papier hervor und fegte den gelben Staub sorgsam hinein. Dann verschloß er es in der Art eines kleinen Briefchens und schob es in sein Notizbuch.

Wortlos hatte ihm Ruprecht zugesehen.

Aber Schiereisen ging noch nicht. Er untersuchte jeden Fleck des Holzwerkes in dieser Galerie. Es leuchtete im einfallenden Sonnenschein unter seiner Staubschicht in einem schönen, goldigen Braun. Schiereisen fuhr mit der Hand darüber hin und hatte das Gefühl samtartiger Weichheit. Unter seinen Fingern bildeten sich große Staubflocken. In der Schicht blieben die Spuren der schleifenden, tastenden Hände zurück. Mit einem Male fühlte Schiereisen glattes, staubloses Holz. Er sah genauer zu. Hier glänzte das Goldbraun des Holzes viel heller und jünger. Es hatte sogar eine ganz leichte Spiegelung. Ein großer Fleck war hier vom Staub befreit, abgewischt oder – angewaschen.

Jetzt richtete sich Schiereisen auf. Dabei fiel sein Blick auf ein Zeichen. Ungefähr in der Höhe seines Kopfes war auf der Staubschicht ein kleiner Spritzer von rostroter Farbe. Eine winzige Kruste von einer Flüssigkeit zusammengebackenen Staubes – aber ein Zeichen, das jeden Zweifel beseitigte.

»Wer hat den Verunglückten gefunden?« fragte Schiereisen. Jetzt hatten auch Ruprechts Augen zu fragen begonnen. Man sah, wie sein Körper wieder einem Willen zu gehorchen anfing. »Wir haben eine alte Frau im Schloß. Sie ist nicht ganz richtig im Kopf. Ganz zeitig am Morgen geht sie immer in die Kirche. Auf dem Weg hat sie Jana gefunden.«

»Er war schon tot?«

»Ja.« Ruprechts Blicke wichen nun nicht mehr von Schiereisens Gesicht. Sie senkten sich nicht mehr, sie suchten angestrengt.

»Und wer war als zweiter bei ihm?«

»Mein Kammerdiener Lorenz.«

»So! – wir wollen noch hinuntergehen«, sagte Schiereisen. Lorenz und der Schaffer standen auf dem Hof, als Herr von Boschan mit seinem Gast vorüberkam. Sie hatten von Jana gesprochen. Der Schaffer bedauerte ihn: ein so stiller, ruhiger Mensch, der niemanden etwas in den Weg legte. Man hatte ihn gut leiden können, wenn er auch ein Heide war. Die Mädchen im Dorf waren wie närrisch hinter ihm her gewesen. Einmal hatte ihn der Schaffer im Garten angetroffen. Da hatte er ganz still vor sich hingesehen und hatte mit seinen braunen Fingern auf einen Stein Zeichen gemacht, als ob er schreiben wolle.

»Ich glaube, er hat sich sehr nach seinem Vaterland gesehnt,« sagte Lorenz, »der arme Kerl! Na, jetzt hat er Ruhe und Frieden gefunden.«

Dann verstummten sie, richteten sich auf und ließen den Herrn an sich vorüber.

»Wer ist denn der Mensch?« fragte der Schaffer.

»Ein Gelehrter. Das ist nämlich jemand, der alles wissen will, was ihn nichts angeht.«

»Also ein halbeter Narr«, schmunzelte der Schaffer. In diesem Augenblick aber fand Lorenz, daß Schiereisens Wißbegierde peinlich war. Herr von Boschan und der Gelehrte waren in den Garten eingetreten.

»Aha, der will schauen,« sagte der Schaffer, »wo sich der Jana derfallen hat.« Unter der hölzernen Galerie, zwischen Turm und Schloßbau, führte ein breiter gepflasterter Weg zu einem versteckten Gartenhäuschen, in dem allerlei Werkzeug aufbewahrt wurde. Auf die Steine dieses Weges war Jana gefallen. Schiereisen maß die Höhe. Sie war nicht so beträchtlich, daß sich ein Mensch bei einem solchen Fall hätte erschlagen müssen. Man hatte das Blut abgewaschen. Doch konnte man in den Fugen zwischen den Steinen noch seine Spuren bemerken. Der Rasen zu beiden Seiten des Weges war arg zertreten. Aber ein Stückchen weiter, links und rechts, blühten Himmelschlüssel und Krokus. Und dann kamen dichte Rosenhecken voll früher Knospenahnung.

Schiereisen hatte alles mit raschen Blicken voll äußerster Spannung überschaut. Dann aber sah Ruprecht, wie sich sein Ausdruck veränderte, der Gelehrte sah entsetzt, bekümmert und sehr unglücklich aus. Er glich einem Menschen, dem Unerträgliches zugemutet wird. »Nein,« sagte er, »es ist schrecklich, ich kann das nicht sehen … das ist ja schauerlich. Kommen Sie fort.« Und er zog Ruprecht am Arm mit sich.

Schiereisen hatte bemerkt, daß sie einen Zuschauer hatten. Lorenz stand an der niedrigen Mauer, die den Garten vom Hof trennte, und sah hinüber. Jetzt wandte er sich langsam und ging über den Hof, als ob ihn nur ein Zufall an die Gartenmauer geführt habe. Nein, dachte er hämisch, dieser Mensch war nicht aus Eisen, er war ein altes Weib wie alle Gelehrten, wie auch Dankwardt eins gewesen war.

Vor dem Eingang zum Haupttrakt des Schlosses blieb Ruprecht stehen. Er erwartete, daß sich Schiereisen nun verabschieden würde. Aber der trat wieder ein und ging Ruprecht nach dessen Arbeitszimmer voran. Und in dem Renaissancestuhl Ruprecht gegenübersitzend, begann er von neuem zu fragen:

»Sagen Sie einmal, Herr Baron, wohin sind die … verfaulten Bretter gekommen, die mit Jana heruntergebrochen sind?«

Ruprecht überlegte eine Weile, ehe er antwortete. Seine Aufmerksamkeit war erwacht, die Schwäche seines Körpers wieder einmal überwunden, durch eine gewaltsame Aufrichtung des Geistes, der sich nicht besiegen lassen wollte. Er beschloß, zu antworten, um zu sehen, wohin Schiereisens Fragen führen würden.

»Die Bretter? die sind gleich weggeschafft worden … ich glaube, Lorenz hat sie weggeschafft. Er war ja bald nach der Entdeckung des Unglücks da …«

»Die Kommission hat also diese schadhaften Bretter nicht zu sehen bekommen?«

»Wahrscheinlich nicht.«

»Finden Sie nicht, daß dies der Vollständigkeit der Untersuchung geschadet hat? Wie konnte die Kommission feststellen, auf welche Art sich ein Unfall zugetragen hat und ob es – ein Unfall gewesen ist, wenn das Material der Untersuchung nicht vollständig ist?«

Ruprecht sagte langsam und bestimmt: »Es hat niemand gezweifelt, daß ein Unfall vorliegt.«

»Nun, ich meine ja auch nur … so im allgemeinen. Noch etwas ist bei dieser Sache von Wichtigkeit … hat niemand der Herren der Kommission gefragt, was Ihr Diener nachts auf der Galerie zu suchen hatte? Sie haben ihn wohl irgendwohin geschickt …?«

»Nein, ich habe ihn nicht geschickt.«

»Das ist doch sonderbar, nicht wahr? Was hat Jana dort oben gemacht? Er hat doch sein Zimmer zur ebenen Erde gehabt, wie die anderen Bediensteten. Nun denken Sie einmal nach: muß man nicht fragen, was ihn dort hinauf geführt hat? Er verunglückt nachts auf einer Galerie, die einen sonst leeren Flügel des Schlosses mit einer Turmruine verbindet. Es sind noch verschiedene andere Umstände da, die man vergessen hat, zu untersuchen. Hatte Jana ein Licht bei sich? Ist es anzunehmen, daß er im Dunkeln gegangen ist? Und wenn, warum hat er das wohl getan? Wollte er nicht gesehen werden? Oder, wenn er ein Licht bei sich gehabt hat, wo hat man es gefunden?«

»Ich weiß es nicht.«

»Endlich: wann ist Jana verunglückt? Auf dem Hinweg oder auf dem Rückweg? Ist er schon im Turm gewesen? oder wollte er erst hin?«

Ruprecht zuckte die Achseln.

Schiereisen stand vor einer undurchdringlichen Mauer. War Ruprecht so vollkommen blind, so gänzlich harmlos, vertrauensselig, daß er den Verdacht nicht zu erfassen vermochte, den ihm Schiereisen so nahegebracht hatte? Das waren Fragen, die jedem hätten auffallen müssen. Oder aber – wollte er nichts wissen, nichts sehen, keinen Verdacht fassen? Was bewog ihn dann dazu?

Er schwieg lange, und auch Ruprecht unterbrach das Schweigen nicht. Sein Kopf war wieder vornüber gesunken. Schiereisen sah die gerötete Stelle auf seinem Scheitel, die welken, wie versengten Haare.

»Hören Sie, Herr Baron,« sagte er plötzlich, »Sie sind krank.«

Überrascht hob Ruprecht den Kopf. Dann konnte er lächeln: »Sie irren …« sagte er, »ich bin nicht krank.«

Unerschüttert fuhr Schiereisen fort: »Sie sind krank. Sie wollen es bloß nicht zugeben. Ihre ganze Stimmung, die Müdigkeit, die Sie nicht verbergen können … diese Schlaffheit … Sie sollten einen Arzt fragen …«

»Ich bin nicht krank. Ich habe es nicht nötig, einen Arzt zu fragen.«

»Folgen Sie mir, lieber Baron, fragen Sie einen Arzt. Alle Kranken sind eigensinnig. Sie wollen keinen Rat annehmen.« Schiereisen beugte sich vor und sah dem Baron fest ins Gesicht, während er jedes Wort nachdrücklich betonte: »Bis – es – manchmal zu – spät ist.«

»Aber ich sage Ihnen, daß ich nichts von einem Arzt wissen will.«

»Verzeihen Sie, aber ich muß feststellen: es ist kein Zeichen von Kultur, sich vor einem Arzt zu fürchten. Kleine Kinder und Bauern reißen aus, wenn man ihnen vom Doktor spricht. Was ist denn dabei? Was wird Ihnen denn geschehen? Er wird Sie untersuchen. Und er wird entweder feststellen, daß Sie gesund sind. Oder aber, wenn Sie krank sind, wird er Ihnen sagen, wie Sie sich zu halten haben, um wieder gesund zu werden. Vielleicht verschreibt er Ihnen auch bloß eine Diät. Eine richtige Diät wirkt oft Wunder. Sie sind wohl mit dem Essen nicht genug vorsichtig?«

In diesem Augenblick fand eine geheimnisvolle Vereinigung statt. Die Blicke der beiden Männer flossen ineinander. Ruprecht verstand; dies war das Ziel, dem Schiereisen zustrebte. Und Schiereisen fühlte, daß er endlich verstanden wurde. Eine Sekunde lang war der innere Rhythmus der beiden ganz gleich in Auftakt und Rückschlag.

»Ja,« sagte Ruprecht nach einer Weile, »ich esse freilich von allem, was auf den Tisch kommt … wenn ich überhaupt bei Appetit bin. Von allem, von dem auch die andern essen,« setzte er hinzu, »ich halte es nicht für nötig, eine besondere Diät zu beachten.«

Ah – er entfernte sich wieder. Er glitt hinweg. Aber Schiereisen setzte ihm unerbittlich weiter zu: »Aber Ihr Zustand ist dennoch bedenklich. Vielleicht handelt es sich auch nur um eine schwere Störung des Nervensystems. Der Tod Ihres Dieners hat Sie sehr angegriffen. Der Arzt wird Ihnen vielleicht anraten, eine kleine Reise zu machen. Das wäre sehr gut für Sie. Sie sind gewohnt gewesen, den größten Teil des Jahres auf Reisen zu verbringen. Jetzt sitzen Sie hier. Lassen Sie doch einmal Ihre Pflichten als Ehegatte und als Landwirt im Stich. Es wird Ihnen nur gut tun, wenn Sie einmal ein paar Wochen nicht auf Vorderschluder sind.«

Ruprecht parierte mit einem Lächeln: »Ich habe hier vieles übernommen, das ich erst durchführen muß. Ich kann keine halbe Arbeit tun.«

»Aber, mein Gott, lieber Baron, ich weiß doch, daß Sie sehr nervös sind. Sie haben doch auch aus diesem Grund ein abgesondertes Schlafzimmer bezogen.«

»Ja – das ist wahr. Ich wollte meine Frau nicht stören. Aber daraus dürfen Sie keine Schlüsse auf meinen Zustand ziehen. Das werde ich bald überwunden haben.«

Schiereisen stützte den Kopf auf die Hand. Unter der vorgewölbten Stirne spähten die klugen Augen. »Sagen Sie einmal, Baron, welches Zimmer haben Sie eigentlich zum Schlafen ausgewählt?«

Verwundert sah Ruprecht den Gelehrten an. Der Sinn dieser Frage wurde ihm nicht sogleich klar. Zögernd antwortete er: »Ein Zimmer in diesem Stockwerk. Das letzte im Gange links.«

Eine Weile dachte Schiereisen nach, dann nickte er: »Das ist gut. Das ist ein stilles Zimmer. Dort können Sie nicht gestört werden.«

»Wie meinen Sie das?«

»Nun, ich meine … Sie haben doch hier in Ihrem Schloß eine Menge von verborgener Romantik. Vorderschluder ist in dieser Beziehung ein Muster. Es gibt doch so viele versteckte Türen und Gänge hier. Gerade Ihr Schlafzimmer aber hat nichts davon. Es wird von vier festen Wänden umschlossen.«

In den klaren Gleichmut Schiereisens strömte Ruprechts Erstaunen: »Woher wissen Sie das?« fragte er hastig.

»Das ist sehr einfach. Ich habe in Ihrer Bibliothek ein Buch gefunden, das alles das genau beschreibt. Ein außerordentlich interessantes Buch, sage ich Ihnen. Ich kann Ihnen den Grundriß des Schlosses aus dem Gedächtnis aufzeichnen. Ich weiß ziemlich genau Bescheid. So weiß ich zum Beispiel auch, daß man aus dem Zimmer Ihres Kammerdieners Lorenz auf solchen Wegen zu der hölzernen Galerie gelangen kann, auf der Jana verunglückt ist.«

»Sie studieren also auch solche Dinge?«

»Was wollen Sie?« antwortete Schiereisen lächelnd, »man hat nun einmal seine antiquarischen Neigungen. Um übrigens auf Ihr Schlafzimmer zurückzukommen, das sozusagen eine feste Burg ist, so halte ich es, wie erwähnt, vortrefflich geeignet, einen ruhigen Schlaf zu fördern. Indessen sollten Sie es doch nicht versäumen, auch den Nebensachen Ihre Beachtung zu schenken. Da sind selbst die kleinsten Dinge von Wichtigkeit. Das Bett soll frei im Zimmer stehen. Es ist eine schlechte Gepflogenheit, das Bett an eine Wand anzuschieben. Und das Bett überhaupt … es sollte in jeder Beziehung einwandfrei sein. Am liebsten wäre es mir, wenn Sie mir gestatten würden, Ihr Schlafzimmer anzusehen. Ich bin in diesen Dingen Fachmann. Wenn man wie unsereiner den Schlaf so notwendig braucht, so lernt man auf alles achten … man baut sich eine praktische Weisheit auf …«

»Ich danke Ihnen,« entgegnete Ruprecht, »ich will Sie doch nicht bemühen. Nein, nein, das wäre zuviel … ein Gelehrter, der den alten Kelten nachspürt, als Kammerzofe! Sie vergessen immer, daß ich jahrelang in wilden Gegenden gelebt habe, wo ich immer mein eigener Diener war. Es ist mir zur Gewohnheit geworden, mich gut umzusehen, bevor ich schlafen gehe.«

Schiereisen verbeugte sich und stand dann auf. »Ich will Sie nicht länger aufhalten, Baron! Aber gestatten Sie mir, meine Studien in Ihrer Bibliothek fortzusetzen.«

»Ich weiß nicht, ob ich wünschen soll, daß Sie bald zu einem Abschluß Ihrer Studien kommen. Das würde mich einer Gesellschaft berauben, die mir sehr wert geworden ist.«

Als Schiereisen die Treppe hinabstieg, kam ihm Frau Helmina entgegen. Sie war auf dem Tennisplatz neben der Papierfabrik gewesen und hatte mit den Beamten gespielt. Sie strömte die Frische und Kraft gesunder Bewegung aus. Schiereisen blieb vor ihr stehen und zog den Hut. Sein Gesicht trug die schüchterne Gutmütigkeit des Gelehrten. Er murmelte etwas von herzlicher Anteilnahme an dem Unglücksfall. Zuerst sah ihn Helmina erstaunt an, dann sagte sie: »Ach ja, Jana …!« und legte ihre Fingerspitzen in Schiereisens Hand. Eine Lust überkam ihn, zuzugreifen, seine Muskeln spielen zu lassen und diese schlanken Finger zu zermalmen. Aber er beherrschte sich, sah noch trauriger drein, schüttelte den Kopf und ging wortlos davon. Er war ein weltfremder Kulturforscher, der nicht weiß, daß der Tod eines Dieners kein Trauerfall in der Familie ist.

Zwischen den frischbegrünten Kastanienbäumen schritt er den Schloßberg hinab und wandte sich über die Brücke mit den gewundenen Barockheiligen dem Friedhof zu, um sich in der Totenkammer Janas Leiche zeigen zu lassen.


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