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Die sieben guten Jahre

Monsieur Voltaire, Kammerherr bei Friedrich dem Grossen, Inhaber des sehr geschätzten Ordens Pour le Mérite, Akademiker und anderes mehr, war im dritten Jahr Gast zu Sanssouci bei Potsdam. Im Flügel, in dem er wohnte, war er in dieser schönen Abendstunde damit beschäftigt, einen Brief zu schreiben. Die Luft war still und warm, so dass der empfindliche Franzose, der immer fror, das Fenster offen halten konnte.

Der Brief, zur Hälfte geschrieben, war an die Marquise, die Freundin des Kardinals Fleury, gerichtet, die durch ihren Briefwechsel mit dem Ausland feinere Spionagedienste leistete.

»... Alles ist nämlich vergänglich, schrieb die Feder, und dass dies nicht dauern würde, war klar. Ich soll wie ein Magister dasitzen und seine schlechten Verse korrigieren, wo er weder deutsch noch französisch kann. Boshaft wie ein Affe, hat er Satiren über alle Fürsten Europas zusammengeschrieben, die allerdings nicht für den Druck bestimmt, aber ganz gemein und ungerecht sind ... Im Gedanken an das, was bevorsteht, liebe Freundin, habe ich sein Pamphlet kopieren lassen; in dem Augenblick, in dem er zuschlägt, schlage ich zurück. Wenn ihr wüsstet, was dieses Preussen ist und werden kann! Ein im Umriss gezeichneter Adler, der die eine Flügelspitze am Rhein (Jülich-Berg) und die andere an der russischen Grenze hat. Es sind Lücken hier und dort in der Zeichnung; wenn die aber ausgefüllt sind, wird das ganze nördliche Deutschland wie ein Geier über Österreichs zweiköpfigem Kaiseradler liegen. Frankreich müsste seinen Hass gegen Habsburg bezwingen und nicht mit den Hohenzollern Vergleiche schliessen, denn ihr wisst nicht was ihr tut! Man hört hier so viel von Plänen, aber ich wage nicht alles niederzuschreiben, denn mit ihm ist nicht zu spassen ...«

Jetzt war vom Schloss der durchdringende Laut einer Terzflöte zu hören, der lief und trillerte.

Der Alte, denn er war jetzt im sechzigsten Jahr, hielt sich zuerst mit den Händen die Ohren zu, fuhr aber sogleich im Schreiben fort.

»... Und dann diese verd... Flöte! Jetzt eben quinkeliert er ... das bedeutet, dass wir alle nach seiner Pfeife tanzen sollen! – Aber noch schlimmer als die Flöte ist etwas, das sich Fuge nennt; ich weiss nicht, ob mans Musik nennen kann, aber – jetzt bläst er Doppelzunge, und das kleidet ihn wie eine Schlange. – Gestern war Sebastian Bach hier, der Grosse natürlich, und hatte seinen Sohn Philipp Emanuel bei sich; sie spielten den ganzen Nachmittag sogenannte Fugen, dass ich mich ins Bett legen und Arznei nehmen musste.

– Was die Pläne angeht, so will ich nur einige andeuten. Ein Plan ist, Österreich zwischen Frankreich und Preussen zu teilen; er aber ist zu schlau, ihn mitzumachen, denn er braucht noch ein Österreich gegen die Franzosen. Ein zweiter Plan ist: Preussen zwischen Russland und Österreich zu teilen, und von einem dritten habe ich munkeln hören: Polen zwischen Russland, Preussen und Österreich zu teilen. (Die Flöte ist verstummt, und eine selige Ruhe breitet sich über Sans-Souci, das ich künftig Cent-Soucis buchstabiere, denn hundert kleine Verdriesslichkeiten drohen hier mein Leben zu verkürzen!) – Unsere Tafelrunde, die bisher nur von Talenten bevölkert war, Maupertuis, La Mettrie, Algarotti, D'Argens und ihresgleichen, ist jetzt durch Gardisten aus Potsdam rekrutiert worden und im Begriff, zu einem Tabakskollegium auszuarten. Ziethen und der Dessauer finden sich mit Schmierstiefeln ein und schwadronieren von den fünf Siegen. Vorgestern nahmen sie sich Freiheiten heraus, brachten jedes vernünftige Gespräch zum Schweigen und schliesslich wollten sie mit mir ihre Possen treiben. Was mich am meisten reizte, war, dass er sein Gefallen daran nicht verbergen konnte ... Alles in allem, der Aufzug der Schmierstiefel bedeutet Krieg ... natürlich gegen die Dame (das ist Maria Theresia). Die andere Dame, Kaiserin Elisabeth von Russland, nennt er mit einem andern hässlichen Namen. Das ist der Damenwalzer, und er ist Frauenheld geworden, der schlimme Frauenhasser. Seine Gattin Elisabeth Christine ist noch immer in Schönhausen eingeschlossen ...«

Ein Kopf blickte ins Fenster hinein, und der König grüsste:

– Guten Abend, Monsieur; so fleissig?

Wie ein Schulknabe, der beim Abschreiben überrascht wird, warf der Briefschreiber seine Papiere durcheinander und nahm einen halben Bogen Holländisches vor.

– Ja, Sire, ich habe eben ein Gedicht an den Kaiser Kian-Loung beendigt, das eine Antwort auf seine Eloge de Mukden ist.

– An den Kaiser von China! Ihr habt feinere Bekanntschaften als ich!

– Sie haben doch mich, Sire!

Das äusserte er mit einer überlegenen Selbstironie, als wolle er sich über seine bekannte Eitelkeit lustig machen.

Der König nahm den Scherz als Scherz hin:

– Ja, Monsieur Voltaire gehört zu meinen ehrenvollsten Bekanntschaften, aber zu den feinsten, das möchte ich nicht behaupten.

– Ist das die Affaire Hirschel?

– Ja, die war schmutzig!

– Darf ich jetzt mein Gedicht an den chinesischen Kaiser lesen? Erlauben Sie, Sire?

– Hülfe es etwas, wenn ich es nicht erlaubte? vorlauter Mensch!

– Also:

Recois mes compliments, charmant roi de la chine!

– Kaiser ist er doch!

– Ja, aber das ist eine Höflichkeit gegen Sie, Sire, der Sie nur König sind!

– Nur!

– Ich fahre fort:

Ton trône est donc placé sur la double colline!
On sait dans l'Occident, que malgré mes travers
J'ai toujours fort aimé les rois qui font des vers!

– Ich danke!

O toi que sur le trône un feu celeste enflamme,
Dis-moi si ce grand art dont nous sommes épris,
Est aussi difficile à Pékin qu'à Paris.
Ton peuple est-il soumis à cette loi si dure
Qui veut qu'avec six pieds d'une égale mesure
De deux Alexandins, côte à côte marchants,
L'un serve pour la rime et l'autre pour le sens?
Si bien que sans rien perdre, en bravant cet usage,
On pourrait retrancher la moitié d'un ouvrage.

– Bravo! Sehr gut! fiel der König ein, der den Stachel fühlte, sich aber beherrschen konnte. Aber glaubt Ihr, dass der Kaiser das verstehen wird, nämlich so, wie Ihrs meint!

– Versteht er's nicht, dann ist er ein Dummkopf ...

– Versteht er's aber, könnt Ihr eine Kriegserklärung erwarten ...

– China gegen Voltaire!

– Was würdet Ihr da machen?

– Ich würde sie schlagen, wie Ihr pflegt, mit meinen Truppen natürlich!

– Wenn aber der Kaiser mehr Truppen als Ihr hat?

– Dann fliehe ich natürlich, wie Sie, Sire ... oder ich lasse mich in die Flucht treiben, dann rette ich die Kriegsehre ...

Der König war an Voltaires Naseweisheiten gewöhnt, und er verzieh sie für den Augenblick, sammelte sie aber im Gedächtnis.

– Jetzt aber nicht in der Stube hocken und kramen, Monsieur, sondern hinauskommen und mit mir spazieren gehen. Wir wollen in der Abendkühle philosophieren. Ich habe so viel zu sprechen und muss meine Gedanken für die grosse Arbeit ordnen ...

– Sire, ich werde sofort ...

– Nein jetzt; ich warte!

Monsieur Voltaire wurde nervös und räumte seinen Schreibtisch auf, zog Schubladen heraus und wurde nicht fertig. Der König aber stand wie auf Posten und bewachte ihn mit den Augen.

Schliesslich musste der Alte mit dem Aufräumen aufhören und hinauskommen, aber seine Glieder zuckten und er schüttelte sich, als wolle er etwas abschütteln.

Der König führte ihn auf die dritte Terrasse hinunter und bog nach rechts in den Park ab, wo sie die grösste Allee fanden, die auf ein kleines Rundell mit einem Tempel der Freundschaft mündete.

Das Schweigen war von der unangenehmen Art, aber Friedrich, der Selbstbeherrschung gelernt hatte, fand zuerst den Faden, den sie verloren; war jedoch gezwungen, an die Gegenwart und Umgebung anzuknüpfen.

– Welch friedlicher Abend, Monsieur! Friede in der Natur und im Menschenleben! Habt Ihr darüber nachgedacht, dass die Welt sieben Jahre lang keinen Krieg gehabt hat, nämlich seit dem Frieden von Aachen.

– Nein, daran habe ich nicht gedacht! Nun, dann können Sie bald die sieben mageren Kühe erwarten, ich meine Jahre.

– Wer weiss! – Ihr spracht von Kian Loung, das ist der Friedensfürst, der philosophiert und Verse über die Teeblüte schreibt; der seinem Volk dient und seine Nation glücklich macht. Sein Nachbar Japan geniesst Friede seit hundert Jahren. In Indien wetteifern Franzosen und Engländer im Handel. Das ist der grosse Osten, mit dem wir bald rechnen müssen. – Denken wir an unsern Weltteil, zu dem ich Egypten rechne, so liegt dies im Schlaf unter Paschas und Mamelucken. Griechenland, unser Mutterland, ist in die ewige Ruhe eingegangen; das Athen des Perikles ist dem Harem des Sultans Leibgeding und wird von schwarzen Eunuchen regiert. Rom, richtiger Italien, ist in Majorate für Lothringen, Bourbon, Savoyen zerstückt. Aber in Rom sitzt mein Freund Benedikt XIV.; auch ein Mann des Friedens (der erste Papst übrigens, der den König von Preussen anerkennt); duldet Protestanten, fördert Wissenschaft, hat einen Meridiangrad messen lassen ...

– Und die Jesuiten hinausgeworfen, die Sie, Sire, aufgenommen haben; das hätten Sie nicht tun sollen.

– Was wisst Ihr von den Jesuiten? – In Spanien haben wir Ferdinand VI., der ein guter Regent ist, die Schätze der Erde hebt, gegen die Inquisition kämpft, die Wissenschaften pflegt ...

– Die Schreibsucht scheint wie die Pest über die Erde zu gehen.

– In England arbeitet mein Oheim Georg, der Schüler von Adam Smith, nur an dem geschäftlichen Wohlstand des Landes. Die andern kennen wir. Aber wir wollen uns an die grossen Erfindungen unseres Jahrhunderts erinnern: Feuermaschine, Thermometer, Blitzableiter, Ankeruhr ...

– Das ist wohl das goldene Zeitalter, das auf unsere alten Tage wiedergekommen ist!

– Denkt nur an die Feuermaschine, die man jetzt Dampfmaschine nennt. Und an den Telegraphen ... Was können wir jetzt erwarten!

– Krieg natürlich!

– Ich habe niemals den Krieg geliebt, das wisst Ihr, aber ich bin dazu getrieben worden ...

– Mit dem Stock ...

Der König wurde nicht böse, aber er wurde betrübt, dass ein bedeutender Mann, der sein Freund und Lehrer gewesen, sich einer solchen Roheit schuldig machte.

– Ihr habt recht, es war der Stock meines Vaters, und ich segne den! Aber, wenn ich auch nicht glaube, dass das Alter Saturns vor der Tür steht, sehe ich doch eine hellere Zukunft in der Ferne ...

– Ich sehe nur Wolken, die Erdbeben verkünden. Frankreich ist untergraben, Amerika rührt sich; ganz Europa ist dabei, das Christentum abzuwerfen, wie der Krebs seine Schale; die Ökonomie wird Wissenschaft, die Natur wird durchforscht. Wir stehen vor etwas Neuem, Gewaltsamem; ich fühle es schon an den Hühneraugen.

– Auch ich! Mein Otium nähert sich seinem Ende, mein Tuskulum soll geschlossen werden, und alle Schrecken warten!

Des Königs Angesicht drückte in diesem Augenblick einen so unendlichen Schmerz aus, als habe er den siebenjährigen Krieg vorausgesehen, der ja unmittelbar auf die sieben guten Jahre folgte; und er stand da, gegen die Erde gedrückt, das Schicksal seines Landes und die Zukunft auf seinen Schultern tragend:

– Sire, Sie hätten etwas Religion in solchen Augenblicken nötig.

– Meine Religion ist meine Pflicht! Mein Gott ist die Vorsehung, welche die Schicksale der Völker leitet, aber die einzelnen Menschen sich selber überlässt! Was sind die Menschenkinder, dass du dich dieser Ameisen annehmen solltest?

Das Gespräch wurde von einem Individuum unterbrochen, das im Hintergrund der Allee auftauchte und einem Gerichtsdiener glich. Voltaire sah, wer es war und wurde wild vor Wut.

– Majestät, wie können Sie Kreti und Pleti in den Schlosspark lassen? Warum schliessen Sie ihn nicht mit eisernen Gittern und Pforten ab?

– Nein, antwortete der König; ich besitze nicht meine Person, und noch weniger dieses Schloss; alle aber besitzen Rechte auf mich!

– Aber das ist unerhört! Darf ich ihn hinausjagen?

– Nein! das dürft Ihr nicht!

Der König winkte, und der Fremde näherte sich mit dem Hut in der Hand.

– Was willst du, mein Freund? fragte der König.

– Nur Herrn Voltaire ein Aktenstück überreichen.

– Dann tue deine Pflicht!

Der Mann überreichte Voltaire ein Aktenstück und entfernte sich.

Als der Alte es geöffnet und gelesen hatte, fiel er vorm König auf seine Knie nieder und rief aus:

– Retten Sie mich, Sire!

– Das ist Euer Prozess mit Hirschel über die sächsischen Staatspapiere! Ihr dachtet einander und das Publikum zu betrügen; aber der Jude liess sich von Euch nicht anführen, Monsieur, und jetzt steht Ihr als Fälscher da!

– Retten Sie mich, Majestät!

– Wie kann ich das?

– Mit einem Wort, einem guten Wort vor Gericht ...

– Schämt Euch, alter Mann! Glaubt Ihr, ich kann das Recht beugen? Wollt Ihr, dass ich die Richter bestechen soll? Nein, Monsieur, es gibt Richter in Berlin, und zwar unbestechliche! Mein Wort bedeutet ebenso wenig wie das des Geringsten! Steht auf, geht auf Euer Zimmer und trefft mich beim Souper!

– Sire! Ich bitte, heute abend nicht zum Souper kommen zu brauchen!

– Gut! Dann treffen wir uns morgen!

 

Als Voltaire auf sein Zimmer kam, begann er sofort in seinen Papieren, die er in Unordnung gelassen, zu suchen. Er suchte eine ganze Stunde seinen vorhin geschriebenen Brief an die Marquise, ohne ihn zu finden.

Da verstand er, dass der Brief aufgefangen war, und er fasste Verdacht gegen den König. Er fiel zusammen und raste im Zimmer umher, bis es draussen dunkel geworden war. Er fühlte, dass es aus war mit Freundschaft und Gastfreiheit, mit Glanz und Ehrenstellung; dass er reisen, vielleicht fliehen musste. Darum schloss er die Fensterläden und machte Feuer im Kamin, um gefährliche Papiere zu verbrennen. Und als er damit fertig war, ging er zu Bett, und klingelte nach einem Bedienten.

– Bitte Herrn La Mettrie, herzukommen; ich bin krank! befahl er.

La Mettrie, der Verfasser von l'Homme Machine, der folgerichtigste Materialist und Atheist, genoss seiner Schriften wegen Friedrichs Gunst; der König hielt selber nach seinem Tod die Trauerrede in der Akademie. Voltaire war eifersüchtig auf ihn wie auf alle, die ihm im Wege standen, aber La Mettrie war Arzt, und wenn Voltaire einen Menschen nötig hatte, nahm er mit jedem fürlieb.

Der Doktor kam, nicht aus Menschenfreundlichkeit, sondern aus Neugier und einer gewissen Schadenfreude, den Günstling in Ungnade zu sehen.

– Mein lieber Freund, sagte der Alte, ich bin krank an Leib und Seel.

– Eine Seele habt Ihr nicht.

– Aber es sitzt im Herzen!

– Cor, cordis, das Herz; dann habt Ihr zu viel gegessen! Abführen, Monsieur, dann wird der Sinn leichter als der Leichtsinn selbst.

– Verordnet etwas Ordentliches, Mensch; ich liege im Sterben!

– Dann fahrt in einen Badeort!

– Wie ein Minister, der in Ungnade ist; nein danke!

– Reist nach Haus in Euer Land; Ihr leidet an Heimweh!

– Ja, da habt Ihr recht! Hier ist nicht die rechte Luft.

– Sie beginnt etwas dick zu werden!

– Was soll das heissen?

– Und die Marquisen sehnen sich nach Euch ...

– Tun sie? Nein, was Ihr sagt! Aber wir müssten einen Badeort haben.

– Dann nehmt Plombières! Dort trefft Ihr den Hof!

– Das ist eine ausgezeichnete Idee! Plombières! Aber ich komme natürlich wieder.

– Natürlich!

– Ich werde in drei Wochen zurück sein, sagen wir einen Monat. Wenn nur der König nicht verdriesslich wird ...

– Lasst mich Euch versichern, der König wird sich trösten ...

– Ja, ja! Ich werde mir die Sache überlegen! – Hört, er ist doch nicht böse auf mich?

– Wer?

– Der König!

– Der wird nicht böse auf Euch, dann wäre er es längst geworden! Nein, daran habt Ihr zu spät gedacht.

– Gebt mir ein Schlafpulver, so könnt Ihr gehen!

Der Doktor nahm ein Pulver und goss es in ein Glas voll Wasser.

Der Alte trank allerdings, aber seine beiden grossen Augen folgten dem Mienenspiel des Doktors, das sehr lustig aussah. Er traute ihm nicht mehr als billig.

– Herr Voltaire, sagte der Doktor, wenn Ihr im Kamin feuert, so zieht die kleinen Ofenklappen auf, sonst raucht es zu sehr. Die Feuerwehr in Potsdam wäre beinahe alarmiert worden ...

– So! Auch das! Nun: La comedia é finita! Gute Nacht!

Sic transit gloria mundi! Schlaft gut!

 

Voltaire schlief die Nacht, aber nicht gut, und er erwachte am folgenden Morgen bei Gewehrsalven von Potsdam; aus denen schloss er, dass der König Manöver abhielt. Er sah auch nicht einen Schimmer vom Monarchen; gegen Mittag aber erhielt er einen Brief, der mit der königlichen Krone gestempelt war. Darin stand zu lesen:

 

Monsieur!

Doktor La Mettrie hat mir Euren Beschluss, in ein Bad zu reisen, mitgeteilt. Obwohl ich Eure angenehme und lehrreiche Unterhaltung vermissen werde, will ich mich Euerm Wunsch nicht widersetzen, da ich überzeugt bin, dass eine gründliche Kur Eure Nerven und Euer schlechtes Herz verbessern wird.

Eine gute Besserung wünschend oder wenigstens in der Hoffnung, dass Ihr nicht schlechter werdet, als Ihr seid, bin ich

F. R.

 

Das war der Reisepass! Am selben Abend reiste Voltaire nach Leipzig, wo er aus Friedrichs Satirensammlung vorlas; die er auch zu drucken gedachte.

In Frankfurt aber wurde er festgenommen, und des kostbaren Manuskripts beraubt, das Friedrich noch mehr Feinde hätte zuziehen können, als er später bekam.

Bestraft und wieder freigelassen, floh Voltaire zuerst nach Frankreich, wo er im Dictionnaire Historique die abscheulichsten Angaben über Friedrichs Privatleben drucken liess.

Ein paar Jahre später sass er in Ferney am Genfer See, als Multimillionär, Patriarch und König.

Viele Jahre später sass der uralte Voltaire noch auf seinem Sans-Souci genannten Ferney und war König. Ebenso tätig wie früher, ebenso unruhig und eitel.

Sein kleines Chateau war ein bescheidenes zweistöckiges Gebäude mit einem Rundell auf dem mit Bäumen bepflanzten Hof. Links von der Einfahrt stand eine kleine Kapelle aus Stein. Auf einer Tafel über der Tür war die Inschrift »Deo erexit Voltaire« zu lesen, die ihm das Gelächter seiner literarischen Freunde und den Hass der Kirchlichen zugezogen hatte.

Unten im Garten hatte er einen Laubengang aus lebenden Hainbuchen, gedeckt und einem langen Saal ähnlich, mit ausgeschnittenen Fenstern nach der Seeseite. Von dort konnte er den Mont-Blanc sehen, der besonders bei Sonnenuntergang sich in all seiner Pracht zeigte; und den blauen Teppich des Genfer Sees, der sich bis nach Clarens und dem Rhonetal erstreckte, wo der unglückliche Rousseau geirrt, geliebt und gelitten hatte.

Jetzt in der Abenddämmerung sass der Alte in seinem Laubengang und spielte bezigue mit dem Ortspfarrer, als die Post anlangte. Da waren viele Briefe, und mit glänzenden Siegeln.

– Entschuldigen Sie, Abbé, ich muss meine Briefe lesen!

– Bitte! antwortete der Priester und stand auf, um im Laubengang auf und ab zu gehen.

Nach einer Weile rief der Alte seinen Freund zurück:

– Kommen Sie, Abbé, kommen Sie! Sie müssen etwas hören! O!

Der Abbé, der seiner Gemeinde wegen mit Voltaire in Verbindung stand und sich nach dessen Launen richtete, ohne in den Kämpfen um die Lehre nachzugeben, fand sich auf den Ruf wieder ein.

– Sie müssen einen Brief hören von Friedrich dem Grossen, dem Einzigen, dem Unvergleichlichen. Er hat mir verziehen, und ich schäme mich! – Am letzten Abend in Sans-Souci war ich gereizt, und in meiner Grausamkeit war ich niedrig genug, ihn an den Stock seines Vaters zu erinnern. In dem Augenblick, als mir das Wort entflohen war, fühlte ich seine riposte in der Luft; er hielt sie aber zurück. Er hätte ja nur parieren brauchen mit dem Stock, der eine gewisse Rolle in meiner Jugend spielte, aber er schwieg, ob aus Achtung vor meinen Jahren oder vor etwas anderm. (Verd... eigentümlich ist es, dass der Stock auch seinen Einfluss auf die Entwicklung des grossen Shakespeare und anderer gehabt hat.) Verzeihen Sie, Abbé, die garrulitas senilis – er hat mir verziehen, und schreibt:

 

»Mein alter Freund!

Die Jahre sind vergangen; den sieben guten, die Sie mit mir teilten, folgten die sieben magern, mit dem siebenjährigen Krieg und was dazu gehört. Die Freunde sind von hinnen gegangen, und die grosse Einsamkeit hüllt sich um den Alternden, der jetzt unter anderm anfängt, weitsichtig zu werden, nachdem er früher kurzsichtig war. Er sieht das Leben in der Perspektive, wo jedoch die scheinbar kürzeren Linien die längsten sind. Das weiss er aus Erfahrung und darum lässt er sich nicht mehr anführen. Auf der erreichten Höhe stehend, sieht er gern zurück, jetzt aber kann er auch vor sich sehen.

Was jetzt bevorsteht? Wer kann es sagen? Dieses Jahrhundert, das alle Monarchen an der Spitze der revolutionären Bewegungen gehen sah, ist das kurioseste von allen. Wir Despoten, die den Völkern Aufklärung und Freiheiten aufzwangen, wir waren die Demagogen, und die Völker lohnten uns mit Undank. Das war die verkehrte Welt! Ich habe für meine Lehren und Handlungen gelitten, aber Josefs II. Schicksal ist tragisch. Ihn ermorden sie langsam aber sicher.

Ihr liebet Krieg nicht; ich auch nicht, aber ich wurde von der Vorsehung und der Sorge für mein Land dazu gezwungen. Was ich damit ausgerichtet habe, fragt Ihr? Ich habe eine Flurregelung gemacht, wie die Landmesser es nennen, und aus allen zerstreuten Feldern und Flicken habe ich ein Preussen zusammengesetzt; so dass man jetzt auf eigenem Grund und Boden gehen und fahren kann, ohne dem Nachbarn aufs Feld zu treten. Fürchtet Preussen nicht; Ihr braucht es gegen Russland, das jetzt nach dem Zaren Peter Sitz und Stimme im europäischen Syndikat hat. Ihr missbilligtet meine Teilnahme an der Zerstückelung Polens, aber ich wurde gezwungen sie mitzumachen, denn sonst hätte Russland alles genommen; ich wurde gezwungen! Polen hat seine Aufgabe in der geographischen Ökonomie Europas verloren; es war russifiziert, und seine Rolle vom Sarmaten übernommen ... Schlesien war unser, und danket Gott, dass der Schwede es im westfälischen Frieden nicht bekam, wie er erst verlangte. Übrigens haben wir die Goten in ihr Land heimgeschickt: wir besorgen unsere Angelegenheiten selbst ...«

– Und so weiter! Dann sagt er etwas über Rousseau ...

»Ihr nennt Rousseau einen Schwindler! Das ist wohl etwas hart. Wenn er wirklich ein Bandende oder einen silbernen Löffel gestohlen hat, so ist das nicht der Rede wert ... Seine Liebe zur Natur und seinen Hass gegen die Menschen teile ich. An einem der letzten Abende, als die Sonne unterging, dachte ich: ›Gott, wie schön ist deine Natur, und wie schrecklich sind deine Menschen.‹ Wir Menschen, meinte ich, denn ich nehme mich nicht aus, Monsieur, und Euch auch nicht! Dieses verdammte Geschlecht (cette race maudite) ist ja das des eisernen Zeitalters, wie es Hesiod ausgemalt hat! Und das soll nach Gottes Ebenbild geschaffen sein! Nach dem Ebenbild des Teufels möchte ich sagen! ... Rousseau hat recht, wenn er an ein Zeitalter Saturns glaubt ...

– Was sagt Ihr dazu, Herr Abbé?

– Das ist ja die Lehre der Kirche von dem verlorenen Paradies und dem Sündenfall, die übrigens mit der griechischen Sage vom Prometheus zusammenfällt, der vom Baum der Erkenntnis ass und dadurch die Menschen ins Unglück brachte.

– Was der tausend, ist er auch Freidenker geworden! Schuhmacher, bleib bei deinem Leisten! Seid Ihr Priester, so seid Priester! Aber pfuscht mir nicht ins Handwerk! Und glaubt nicht mir schmeicheln zu müssen wegen Aufbesserung der Gehälter. Doch kehren wir zu Friederich zurück!

»Die Geschichte rollt dahin wie eine Lawine; die Gattung verbessert sich, die Lebensbedingungen werden leichter, aber die Menschen sind sich gleich; gleich treulos, undankbar, lasterhaft; und zur Hölle fahren sowohl Gerechte wie Ungerechte. Die Konsequenzen aus dieser Erfahrung zu ziehen, wage ich auf dem Papier nicht, denn das hiesse Barrabas freilassen und Christus kreuzigen ... Grosse Männer, kleine Schwächen, oder richtiger: grosse Schwächen. Wir, Monsieur, sind keine Engel gewesen, aber die Vorsehung hat uns zu grossen Dingen benutzt. Ist es ihr gleichgültig, wen sie in die Hand nimmt? Ist es ihr einerlei, wie wir im Fleisch leben, wenn wir bloss den Geist hoch halten? Sursum corda!«

– Was sagt Ihr dazu, Abbé?

– Das Gesetz kann nicht erfüllt werden, sagt Paulus, aber durch das Gesetz wird das Schuldgefühl erweckt, und darum ist das Gesetz nur dazu da, um uns zur Gnade zu treiben.

– Das ist nicht so dumm von Paulus gesagt. Aber ich möchte hinzufügen: Im Gefängnis des Fleisches wächst die Sehnsucht nach Freiheit. Wer wird mich armen Menschen von diesem sündigen Leib erlösen? – Ja, Abbé, vanitas vanitatum vanitas! Ihr seid jung, aber Ihr müsst den Alten nicht höhnen, wenn er sich umwendet und hinter sich auf all die Erbärmlichkeit spuckt, die er durchgemacht hat. Möge einmal ein Geschlecht geboren werden das sofort weiss, was das Leben wert ist, sofern es nicht zur Kur gehört, sich mit Schlamm einzuschmieren!

Jetzt kam ein schwarzer magerer Mann auf dem Gartenweg angeschlängelt.

– Sieh da habe ich meinen Jesuiten! sagte Voltaire.

Der Alte hielt es nämlich mit einem Jesuiten, teils weil der Papst sie vertrieben, teils weil Friedrich der Grosse sie aufgenommen hatte; am meisten aber, um jemanden zum disputieren zu haben. Vielleicht wollte er auch seine Vorurteilsfreiheit illustrieren, denn er liebte den unsympathischen Mann nicht.

– Nun, du Kind des Satans, grüsste der Alte was trägst du für Böses im Sinn? Du siehst so schadenfroh aus!

– Ich komme von Genf, antwortete der Jesuit mit einem boshaften Lächeln.

– Was tun sie denn dort?

– Ich sah zu, wie der Henker Rousseaus Emile verbrannte.

– Das können sie meinetwegen tun, und sie hätten den Narren selber ins Feuer werfen können!

– Monsieur Voltaire!

– Ja, Verrückte kann man nicht dulden; es gibt Grenzen!

– Wo!

– Das sagt die gesunde Vernunft.

– Ja, dann sah ich auch, wie sie Herrn Voltaires neue Auflage des Candide verbrannten.

– Ach schämt Euch! Aber das ist ja ein Pack in Genf!

Ein Protestantenpack, mit Verlaub!

– Geniert Euch nicht; ich hasse Protestanten ebenso lebhaft wie Katholiken! Dieser schreckliche Calvin hat ja in Genf seinen eigenen Freund Servet verbrannt, weil er nicht an die Dreieinigkeit glaubte  ... Geniert Euch nicht! Und wäre Jean Calas in Toulouse Katholik und der Sohn Protestant gewesen, so hätte ich die Richter doch angegriffen, obgleich ich – nichts bin. Ich bin nichts; bloss was ich schreibe, ist!

– Dann werden wir einmal ein Denkmal für Herrn Voltaires Schriften errichten, nicht für Voltaire!

– Das braucht ihr nicht; ich habe mein Denkmal selbst in meinen hundert Bänden gesammelter Schriften errichtet. Und wie der alte Esel aussah, das geht die Welt nichts an; daran ist nichts zu sehen! – Meine Schwächen kennen wir: ich habe gelogen, ich habe gestohlen, ich bin undankbar gewesen; etwas Lümmel, etwas Rindvieh! Das ist mein Dreck! Den will ich Jesuiten, Spiessbürgern, Wortklaubern, Anekdotensammlern vermachen. Aber den Geist Gott, der ihn gegeben hat. Und den Menschen: einen guten Willen, ihren Monsieur Voltaire zu verstehen!

Er erhob sich, denn die Sonne war untergegangen.

– Gute Nacht, Montblanc, du hast einen weissen Kopf wie ich, und stehst mit den Füssen in kaltem Wasser wie ich! – Jetzt gehe ich und lege mich nieder! Morgen reise ich nach Paris, wo ich sterben will!


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