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Leontopolis

Eine Karawane hatte sich auf einer Höhe östlich von dem alten egyptischen Heliopolis gelagert. Da war viel Volk, alles jedoch Hebräer. Und die waren auf Kamelen und Eseln von Palästina durch die Wüste gezogen; dieselbe Wüste, welche die Kinder Israel vor tausend Jahren durchstreift hatten ...

Im Abenddunkel beim schwachen Schein des Halbmonds waren die Lagerfeuer zu Hunderten zu sehen, und bei ihnen sassen die Frauen mit ihren kleinen Kindern, während die Männer Wasser trugen.

Noch nie hatte die Wüste wohl so viel kleine Kinder gesehen; und als sie jetzt zur Nacht besorgt werden sollten, hallte das Lager vom Geschrei der Kinder wider. Es war wie eine einzige grosse Kinderstube.

Als aber das Waschen vorüber war und die Kleinen an die Mutterbrust gelegt wurden, verstummten die Schreie, der eine nach dem andern, und es wurde ganz still auf dem Feld.

Unter einer Sykomore sass eine Frau und säugte ihr Kind; daneben stand ein hebräischer Mann und legte seinem Esel Ginsterzweige vor. Als er das besorgt hatte, ging er höher auf den Hügel hinauf und spähte nach Norden.

Ein Fremdling, nach der Tracht zu urteilen, ein Römer, ging vorbei, musterte das Weib mit dem Kind, als zähle er sie mit.

Der Hebräer zeigte Unruhe, und um sie zu verbergen, begann er ein Gespräch mit dem Römer:

– Sag, Wanderer, ist das die Stadt der Sonne dort im Westen?

– Du siehst sie! antwortete der Römer.

– Das ist also Beth Semes?

– Heliopolis, von wo Griechen und Römer ihre Weisheit geholt haben; Platon selbst ist hier gewesen ...

– Ist Leontopolis auch von hier zu sehen?

– Du siehst die Zinnen des Tempels zwei Meilen nordwärts.

– Das ist aber das Land Gosen, das unser Vater Abraham besuchte und das Jakob zugeteilt bekam, sagte der Hebräer, sich an sein Weib wendend, das nur mit einem Neigen des Kopfes antwortete.

Darauf zum Römer:

– Israel wanderte aus Egypten nach Kanaan. Nach der babylonischen Gefangenschaft aber zog ein Teil wieder hierher und liess sich hier nieder. Das weisst du.

– Das weiss ich ungefähr! Und jetzt haben sich die Israeliten bis zu vielen tausend Seelen vermehrt; auch haben sie einen eignen Tempel gebaut; eben den, welchen du in der Ferne siehst. Wusstest du das?

– Ich wusste es ungefähr? Aber das ist also römisches Land?

– Das ist es!

– Alles ist jetzt römisch: Syrien, Kanaan, Griechenland, Egypten ...

– Germanien, Gallien, Britannien; die Welt gehört Rom nach der Voraussage der Cumäischen Sibylle.

– Gut! Aber die Welt soll durch Israel erlöst werden, nach Gottes eigner Verheissung zu unserm Vater Abraham.

– Die Fabel habe ich auch gehört, aber für den Augenblick hat Rom die Verheissung. – Kommst du von Jerusalem?

– Ich komme durch die Wüsten wie die andern, und ich bringe Weib und Kind mit.

– Kind, ja! Warum schleppt ihr soviel Kinder mit euch?

Der Hebräer verstummte. Da er aber annahm, der Römer wisse die Ursache, und da dieser übrigens wie ein wohlwollender Mann aussah, beschloss er die Wahrheit zu sagen.

– Ja, Herodes, der Tetrarch, hörte von weisen Männern aus dem Morgenland die Weissagung, dass ein Judenkönig zu Bethlehem im Land Juda geboren sei. Um der vermeintlichen Gefahr zu entgehen, liess Herodes alle Knäblein ermorden, die in der letzten Zeit in der Gegend geboren waren. Ganz wie Pharao gerade hier unsere Erstgeborenen töten liess. Moses wurde jedoch gerettet, um unser Volk aus der egyptischen Knechtschaft zu befreien.

– Hör mal, dieser König, wer sollte das sein?

– Das ist Messias, der Verheissene.

– Glaubst du, dass er geboren ist?

– Ich kann es nicht wissen!

– Ich weiss, dass er geboren ist, sagte der Römer. Er wird die Welt beherrschen und alle Völker unter sein Zepter bringen.

– Wer sollte das sein?

– Der Kaiser, Augustus.

– Ist er aus Abrahams Samen oder aus Davids Haus? Nein, das ist er nicht! Und ist er gekommen mit Friede, wie Jesaias prophezeit hat! »Auf dass seine Herrschaft gross werde und des Friedens kein Ende?« Der Kaiser ist sicher kein Mann des Friedens.

– Leb wohl, Kind Israels! Jetzt bist du römischer Untertan. Sei zufrieden mit der Erlösung durch Rom; eine andere kennen wir nicht.

Der Römer ging.

Der Hebräer nähert sich seinem Weib:

– Maria! sagte er.

– Josef! antwortete sie. Leise! Das Kind schläft.


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