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XXII.

Der Viererzug, der Meister Josephus bis vor das Haus gebracht, war inzwischen weitergerollt und hielt vor einem der Prunkhotels von St.-Moritz-Bad, die, jetzt zur Hochsaison der gewöhnlichen Menschheit völlig unzugänglich, nur von den Modeopfern der oberen Zehntausend Europas und massenhafter Dienerschaft bevölkert waren. Hier trennte man sich. Es war hohe Zeit, sich in Frack und weiße Binde und in die ausgeschnittene Robe zu werfen.

Prinz Wilfried, der, einen zerknitterten Brief in der Hand, am Kamin gesessen, stand langsam auf, als seine schöne Frau eintrat. Ein Odem von Lebenskraft und Lebenslust wehte mit ihr in das Zimmer, wie sie es mit ihrem gewohnten elastischen Gange durchmaß, hoch aufgerichtet, mit geröteten Wangen und einem gesunden, stählernen Schimmer in den Augen.

Jetzt erst sah sie ihn. »Oh ... da bist du!« sagte sie gleichmütig, Hut und Mantel der Kammerfrau übergebend. »Das war ein herrlicher Tag! Sonne ... frische Luft ... ganz nette Menschen ... bloß ein bäuerlicher Künstler darunter – ich liebe diese Leute nicht. Sie kopieren uns so ungeschickt und haben dabei immer allerhand auf der Zunge, was sie uns nicht sagen. Übrigens ...« sie sah ganz harmlos darein, »es ist der Freund deiner Freundin ... deiner Gefährtin auf euren melancholischen Bergklettereien. Oder vielmehr ihr Freund gewesen. Denn mir scheint, er heiratet nächstens ihre Schwester!«

Der kleine Prinz sah betroffen empor.

»Warum denn nicht?« fuhr sie leichthin fort und knöpfte sich die langen Handschuhe auf. »Ich habe heute auch ein bißchen daran mitgearbeitet, so gut ich konnte. Es macht mir Spaß ...«

»Einen Menschen unglücklich zu machen? Darauf kommt es doch hinaus!«

»Du bist naiv!« sagte sie achselzuckend. »Glaubst du, ich hätte mich noch nie über deine Freundin geärgert, wenn du mit Ihr in Schnee und Eis herumabenteuertest und ich das abgeschmackteste Zeug ausdenken mußte, um dein Ausbleiben zu entschuldigen, und doch genau wußte, wie hinter meinem Rücken ... gut ... das ist die Revanche. Wer mich ärgert, den ärgere ich wieder. Nun ist die Reihe an ihr!«

»Ich glaube, du weißt gar nicht, was das für sie bedeutet!«

»Das ist mir auch sehr gleichgültig!« Virginia öffnete die Türe zum Nebengemach. »Man soll nie so dumm sein, seinen Verdruß zu zeigen. Aber wenn die Zeit da ist, präsentiert man die Quittung! In aller Seelenruhe. Und nun entschuldige mich. Ich muß mich umkleiden!«

Sie blickte in den anstoßenden Raum und stieß einen halblauten Ruf der Überraschung aus. Es stand da alles drunter und drüber, große Koffer rings am Boden und auf Stühlen und dazwischen war die Dienerschaft mit Packen beschäftigt.

Äußerlich brachte sie nichts in der Welt aus ihrem gesunden Phlegma, und sie fragte daher ihren Mann ohne Erregung, nur mit leise hochgezogenen Brauen: »Willst du mir nicht erklären, was das bedeutet?«

»Wir müssen reisen! heute abend noch. Und da du den ganzen Nachmittag fort warst, habe ich alles Nötige angeordnet.«

»Reisen? Bei Jesus! Ja, wohin denn?«

»Nach Thieregg!« Er zeigte ihr den Brief, den er in der Hand hielt. »Ich wollte dir nichts sagen, ehe nicht die Zeit drängte, weil ich weiß, wie übel du es aufnimmst, wenn man dich in deinem Vergnügen stört. Aber jetzt muß ich es tun!«

»Was ist denn geschehen? Ist die Kleine ...«

Er nickte. »Nach dem Briefe, der heute mittag kam, gleich nachdem ihr weggefahren wart, geht es entschieden schlechter. Es will dort niemand mehr die Verantwortung tragen. Es scheint fast, daß es noch schlimmer steht, als man schreibt. Ich war die ganzen Tage hier schon wie auf Kohlen. Aber jetzt gibt es kein Besinnen mehr. Jetzt ist dort unser Platz!«

Sie schwieg verstört.

»Wie wir beide zueinander stehen, ist etwas anderes!« fuhr er fort. »Aber darin sind wir doch eins. Ich weiß ja, daß dir die Kleine auch ans Herz gewachsen ist, und hab' mich eigentlich gewundert, daß du dich auf die paar Wochen hast von ihr trennen können. Sonst fehlte dir ja etwas, wenn du sie nicht den ganzen Tag mit dir hattest und alle Welt das Baby bewundern konnte ...«

»Ja. Aber wie sie davon immer blasser und schwächlicher wurde ... es bekam ihr wirklich nicht!«

»Gewiß nicht. Ich hätte dir das gerne schon früher gesagt, daß das Zigeunerleben im Hotel nichts für solch ein zartes Geschöpf ist. Aber andererseits ... Man kann keiner Mutter zumuten, sich von ihrem Kinde zu trennen, Und eben darum müssen du und ich jetzt so rasch wie möglich hin ...«

Sie schwieg. Er konnte keinen Schrecken, keine Angst auf ihren Zügen lesen, eher eine Art verdrießliches Erstaunen, das dumpf auf dem jugendlichen Römergesicht lag und es noch finsterer und schöner machte als sonst.

»Am Ende ist es nicht so schlimm!« sagte sie nach einer Weile, »die Ärzte übertreiben ja immer!«

»Im Gegenteil! Sie verschweigen, solange sie können und dürfen! Da nimm den Brief und lies! du wirst sehen, was zwischen den Zeilen steht ... was der Arzt erraten läßt ... und wir wissen es ja auch ohne ihn ...«

Sie überflog stirnrunzelnd das Schreiben und legte es dann mit einem tiefen beklommenen Aufatmen auf den Tisch. Die beiden Gatten dachten dasselbe, ohne es sich zu sagen, ohne sich anzusehen: das kleine Wesen dort ferne in dem Waldschloß würde sein erstes Lebensjahr nicht vollenden. Es schwand hin, wie ein winziges Flämmchen sich in sich selbst verzehrt, und unsicher war nur der Zeitpunkt, wann es erlosch.

»Also ... bist du bereit, zu reisen?«

Sie zuckte die Achseln und seufzte wieder, leise, als habe sie Mitleid mit sich selbst. »Gewiß! Ich bin zwar überzeugt, daß der Arzt uns unnötig Angst einjagt, aber ...«

»... aber du fährst heute abend mit mir?«

»Heute abend? Das kannst du nicht verlangen ... wo ich den ganzen Tag unterwegs war ... ich bin wirklich todmüde!«

Sie und müde! Er lächelte bitter.

»Aber morgen früh!« fuhr sie fort. »Ich muß ausgeschlafen haben vor der weiten Reise. Ich habe doch auch Rücksichten gegen mich selbst! Es kommt ja auf den halben Tag nicht an!«

»Es kommt vielleicht sehr viel darauf an, wenn ich den Brief da richtig verstehe ... aber gut ... wie du willst ... also morgen früh ...«

Von unten rief mit dumpfem Schall der Gong zur Table d'hote. Sie fuhr zusammen. »Herrgott ... und ich bin noch nicht umgezogen. Und alles im Durcheinander ...«

Seine melancholischen Augen wurden noch größer als sonst. »Du gehst zur Table d'hote? Heute?«

»Wenn du durchaus willst, können wir ja auch auf dem Zimmer essen!«

»Das ist gleich! Ich meine ... du denkst jetzt an dich und an derlei wie die Table d'hote ... nach diesem Briefe? ...«

Sie begriff ihn gar nicht recht. »In dem Briefe steht doch eigentlich nichts Neues! Leider! Glaubst du denn, daß es um ein Haar besser wird, wenn ich infolgedessen drei Tage faste und mich kasteie? Im Gegenteil ... man muß doch selber gesund und kräftig sein, um anderen zu helfen. Ich will ja alles tun, was ich kann. Aber unnütze Opfer haben doch gar keinen Wert!«

Sie schlüpfte in das Nebenzimmer und begann dort in halblautem Englisch mit der Kammerfrau wegen der wieder auszupackenden Abendtoilette zu verhandeln. Er blieb wie betäubt am Kamin sitzen, dessen Flackerglut allein den dämmernden Raum erhellte.

Es war doch nicht möglich. Eine Mutter, die ihr Kind nicht liebt! Mag ein Mensch gegen seinesgleichen noch so kühl und gefühllos sein, er empfindet doch mit dem eigenen Selbst, mit dem eigenen Fleisch und Blut.

Und sie hatte das kleine Wesen ja auch immer verzärtelt und verhätschelt, mit ihm auf der Promenade und im Bekanntenkreis wie mit einem niedlichen Spielzeug kokettiert und war nie schöner gewesen als mit diesem strahlenden warmen Mutterlächeln auf der sonst so kalten klassischen Schönheit ihrer Züge. Bis dann das zarte Geschöpfchen immer welker und kränklicher wurde und bald gar nicht mehr aus dem Zimmer herausgetragen und der Welt und den Bewunderern seiner Mutter gezeigt werden konnte ...

Und plötzlich begriff er! Wäre ihr Kind gesund und rosig gediehen, so hätte sie es vergöttert! Von dem Hinsiechenden, Absterbenden aber wandte sich ihre strotzende, selbstsüchtige Gesundheit unwillkürlich ab. Sie konnte nicht anders. Sie schauderte vor allem zurück, was ihrem eigenen Wesen fremd war, was einen strahlenden jugendlichen Vollmenschen wie sie mitten im Genuß der Maientage seines Lebens an Krankheit und Tod erinnern konnte. Sie gehörte nun einmal in den Ballsaal, auf den Rennplatz, in das Menschengewühl, und nicht in ein halbdunkles, düsteres Siechenzimmer. Ihm fiel eine Szene neulich in Paris ein, wo ihr Vater, der fromme alte Silberkönig des wilden Westens, austernschlürfend bei Tisch gesagt hatte: »Von kranken, armen und unglücklichen Menschen habe ich mich grundsätzlich mein ganzes Leben hindurch ferngehalten. Derlei ist unter Umständen ansteckend!« und sie hatte ihm, die Champagnerschale an den roten Lippen, gleichgültig über den Orchideenstrauß in der Mitte der Tafel hinweg Beifall zugenickt.

Da rauschte eine schwere Schleppe. Sie trat wieder ein und entzündete mit einer Handbewegung voll nervöser Ungeduld, daß es im Zinnner so finster sei, das elektrische Licht. Ihre weißen, üppigen Schultern blinkten. Weiße Rosen grüßten aus dem wie rote Seide flimmernden Gespinst ihres Goldhaares, und ihre dunklen Augen schauten feucht und warm aus dem matt abgetönten, einer antiken Gemme ähnelnden Antlitz.

»Ich hab' mir's noch einmal überlegt!« sagte sie etwas unruhig. »Vielleicht ist's doch besser, du fährst schon heute abend. Ich sehe ja, wie es dich hindrängt!«

»Und du?«

»Ich komme nach, sowie du mir telegraphiert hast, daß es nötig ist! Dann reise ich auf der Stelle und erspare mir anderenfalls eine zweitägige Fahrt im Landauer und Schnellzug. Ich denke ... so ist es am praktischsten!«

Er stand langsam auf. Ihn fröstelte.

»Treibt dich denn gar nichts dorthin?« fragte er leise. »Fühlst du denn wirklich gar nichts?«

»Aber gewiß! Ich sage dir ja: Telegraphiere mir ›Komme!‹ und ich werde da sein! Ich möchte nur nicht den Verdruß haben, umsonst in diesen Waldwinkel da unten gelockt zu sein – jetzt, wo noch kein Mensch dort ist – und dann die Hände im Schoß dazusitzen. Und du neben mir! Sehr anregend wäre diese Zeit für uns beide wirklich nicht, sondern einfach verloren in Gähnen und Schweigen und bestenfalls ein bißchen Zank dazwischen. Ich liebe es nicht, meine Zeit zu verlieren. Das liegt uns im Blut! Das hab' ich von meinem Vater!«

»Und was gewinnst du hier inzwischen? Macht dich denn das wirklich so glücklich – dieses Hetzen vom Lunch zum Konzert und von der Table d'hote zum Ball mit tausend fremden, gleichgültigen Menschen zusammen?«

»Mein Gott ... man lebt eben so!«

»Oder hast du etwas Besonderes? Gerade jetzt?«

Sie wurde ärgerlich. »Ich wüßte wirklich nicht!« sagte sie und wendete sich ab.

Er überdachte. Und plötzlich durchfuhr ihn ein Schrecken. Natürlich – morgen war ja das große Lawntennisturnier, in dem Virginia und Mr. Owen im Herren- und Damenspiel in die Schranken treten sollten. Sie galten als die beiden besten Kämpen. Sie hatten alle Anwartschaft auf den Sieg, der schon seit Wochen zu scherzhaften Wetten Anlaß gegeben, der durch Eildepeschen im »Figaro« und der Pariser Ausgabe des »New York Herald« der ganzen aristokratischen Jacht-, Turf- und sonstigen Sportwelt Europas und der Vereinigten Staaten verkündet werden würde.

Er sah den englischen Herrenreiter vor sich – das stumpfsinnige Bulldoggengesicht auf dem hageren Herkulesleib. Ein quälender Widerwille wuchs jäh in ihm und ward zum Zorn.

»Du wirst morgen nicht mit deinem Freunde Owen Lawntennis spielen!« sagte er hart und laut. »Ich verbiete es!«

Sie lächelte böse. »Habe ich je gesagt: ›Du wirst morgen nicht mit deiner Freundin auf die Berge steigen! Ich verbiete es!‹ Lasse du mich meine Wege gehen und gehe du deine!«

»Du hast mir nichts zu verbieten!« setzte sie nach einer Weile ganz gelassen hinzu, als bereue sie es, überhaupt auf seinen heftigen Ton eingegangen zu sein. »Versuche es doch nicht immer wieder! Es ist langweilig, wenn ich dich immer wieder in deine Schranken zurückweisen muß!«

Er zuckte zusammen und schloß die Augen. Jawohl – was hatte er zu verbieten? ›der deutsche Prinz‹ der Millionärssippe jenseits des großen Wassers, der erkaufte Gatte ... ihm würgte etwas in der Kehle und er schwieg.

»Also all right!« Sie drehte sich dem Ausgang zu. »Du fährst und telegraphierst mir Nachricht!«

»Und wenn die Nachricht schlimm lautet – wenn vielleicht das Schlimmste eingetreten ist ... dann gibt es wenigstens Gesprächsstoff genug für die nächsten Wochen hier in St. Moritz! Eine Mutter, die hier mit Feuereifer Lawntennis spielt, während dort ihr Kind... o gewiß! das wird deine Stellung in der Gesellschaft wesentlich verbessern!«

Es war ein böser Ausdruck auf seinem müden, blassen Gesicht, während er Virginia lauernd ansah – eine schlimme Neugier: würde das in der Tat auf sie wirken? – das Letzte, das Einzige, das sie anerkannte und dem sie sich beugte – das Urteil der Welt!

Jawohl – sie kam zurück. Langsam und finster, wie eine Sklavin, die man gerufen. »Du hast recht!« murmelte sie. »Ich gehe mit dir!«

Es war still zwischen ihnen. Eine unsägliche Traurigkeit voll Widerwillen und Angst ließ das Herz des kleinen Prinzen unruhig klopfen, wie er da schweigsam neben seiner ebenso stummen marmorschönen Frau saß. Eine Qual des Gefangenseins – des Nichtentrinnenkönnens vor sich selber. Die ewige Demütigung, ein Weib zu lieben, das er haßte und verachtete und das ihn doch festhielt mit den beiden starken Banden – mit ihrem Kind und ihrer Schönheit.

Und immer wieder die drückende Neugier: Was ist das eigentlich, dieser jugendherrliche Leib, der da neben dir atmet? Hat er wirklich keine Seele, nichts, was da drinnen im Menschenherzen pocht und lebt – oder zeigt er seine Seele nur anderen und dir nicht, dem erkauften, verwachsenen ›deutschen Prinzen‹ den sie aus der Fülle ihrer Gesundheit, ihrer Kraft, ihrer Reize und ihres Reichtums heraus kalt verachtet?

Immer stärker war in ihm die große Sehnsucht seines Lebens, frei zu sein – innerlich frei zu sein von ihr, äußerlich frei zu sein von allem, was sie zusammenhielt.

Er hatte eine trübe Ahnung: das äußere Band zwischen ihnen riß bald. Das flackernde kleine Lebenslicht dort in der Ferne war im Verlöschen. Aber das Rätsel blieb. Das zehrende, peinigende Verlangen, einmal hinter die Maske ihrer steinernen Schönheit zu schauen, einmal zu sehen, wer eigentlich das eisige Menschenbild war, das seit zwei Jahren neben ihm lebte und seine Frau hieß. Ein Rätsel, das man löst, wird gleichgültig. Ein Gespenst verschwindet am hellen Mittag. Er bangte seinem Lebensmittag der Erkenntnis entgegen ...

Es klopfte. Der Diener brachte eine Depesche.

Eine Depesche aus Schloß Thieregg ...

Ehe er sie öffnete, wußte er, was darin stand. Und seltsam – es war weniger ein Gefühl plötzlicher Trauer, daß das kleine, schwache Wesen fern von den Eltern die wenigen Monate seines Erdenlebens vollendet hatte und dahingegangen war – an diese Trauer hatte er sich schon seit Wochen gewöhnt – sie lebte schon im voraus Tag um Tag in ihm, als habe sich das Langerwartete, Langgefürchtete bereits erfüllt, das nun eingetreten war – nein – es war ein trübes Aufseufzen der Befreiung, das ihn überkam. Nun hatten sie äußerlich wenigstens nichts mehr gemein – er und seine Frau.

Er reichte ihr stumm das Telegramm und schaute ihr, während sie las, mit finsterer, angstvoller Neugierde ins Gesicht. Darin regte sich nichts. Sie war nicht umsonst die Tochter jenes Silberkönigs drüben, auf dessen ausgearbeiteten, faltenreichen Zügen seit Jahrzehnten kein menschliches Ereignis mehr in Freud und Leid ein Widerspiel erzeugt hatte. Sie beherrschte sich unwillkürlich gleich ihm. Das schöne Antlitz wie aus Stein gemeißelt und nur allmählich bleicher werdend, stand sie bewegungslos da und starrte, die Hand mechanisch um das Telegramm ballend, in die Schatten des Kamins. Eine lange Zeit hindurch. Dann atmete sie tief und gepreßt auf, als wolle sie aufschluchzen. Aber ihre Augen blieben trocken. Sie ließ den Kopf sinken und ging langsam hinüber in ihr Zimmer.

›Wer bist du?‹ schrie es wieder in dem kleinen Prinzen. Selbst die Trauer um den endlichen Tod seines Kindes verschwand vor dieser unheimlichen Neugier. Hatte sie der Schicksalsschlag, den sie ja nicht so rasch erwartet zu haben schien, vielleicht im ersten Augenblick versteinert? Löste sich vielleicht da drinnen in der Einsamkeit ihres Gemaches der Schmerz in Tränen und warf sie weinend auf ihr Bett? Oder konnte sie überhaupt nicht weinen? Gab es überhaupt nichts auf der Erde, das sie zu erschüttern vermochte?

Ein Zeichen – gib mir ein einziges Zeichen, wer du bist! Wer das ist, der mich sein ganzes Leben festhalten will – an sich gekettet wie ein rechtloses Ding, wie eine gekaufte Ware! Lasse mich einmal nur in dein Inneres schauen, daß ich von dir genese – von dir und deiner Schönheit!

Er fühlte, die Genesung war nahe. Sie lag schon in dem Grauen, mit dem er nach der Türe sah, die ihn von seiner Frau trennte – in der fiebernden Angst, mit der er auf jeden Laut, jede Bewegung drinnen lauschte.

Die Kammerfrau schien da herumzuhantieren. Koffer und Stühle wurden gerückt. Dazwischen murmelte die Person, mit der ihre Herrin nur englisch zu sprechen pflegte, allerhand von den Trauerkleidern, die man in Eile aus Wien telegraphisch bestellen müsse, und von warmen Wintersachen. Denn in Schloß Thieregg werde es in den nahenden kurzen Herbsttagen schon bald recht frostig und zugig sein.

Virginia erwiderte nichts.

Dann fing die Dienerin von dem Schicksalsschlag selbst zu sprechen an. Man habe es ja befürchten müssen. So zart und durchsichtig, wie die arme Kleine ihr bißchen Leben hindurch gewesen. Aber freilich – ein schwerer Verlust bleibe es eben doch.

Und nun klang auch Virginias Stimme, tief und halblaut, als murmele sie etwas, in Selbstgespräch verloren, vor sich hin.

» And a lost year

Ein verlorenes Jahr! Plötzlich atmete er tief auf. Wie Schuppen fiel es ihm von den Augen. Das war sie! Diese drei Worte – doppelt schroff und von unheimlicher Klarheit in der fremden Sprache.

Ein verlorenes Jahr! Nicht den Verlust des Kindes betrauerte sie – nein, den Verlust des langen Trauerjahrs, das vor ihr lag und das sie still und zurückgezogen, fern von dem Jubel und Trubel ihrer Welt, verbringen sollte, den Gesetzen der Gesellschaft gemäß, die sie ja allein über sich anerkannte.

Ein verlorenes Jahr! Es war kein Ärger in ihrer Stimme gewesen – aber ein dumpfes, zorniges Mitleid mit ihrem unersetzlichen, blühenden dreiundzwanzigsten Lebensjahr, das sie in Schwarz hüllen, das sie anstandshalber vertrauern mußte, weil ihr Kind zu leben aufgehört, wie sie das Jahr vorher verloren, ehe jenes zum Leben kam.

Kein Aufschrei um ihr Kind – kein Weinen der Erlösung – nein – nur ein finsteres Bedauern ihrer selbst, daß sie dreihundertfünfundsechzig Tage lang nicht alle gewohnten Freuden des Daseins ausschlürfen konnte.

A lost year!‹ Das war sie! Jetzt sah er sie! Er sah durch die schöne Hülle ihres Leibes hindurch und sah drinnen nichts. Sie hatte ihm einfach ihre Seele nicht gezeigt, weil sie keine besaß. Das Weib, das dem Manne mit eisiger Gleichgültigkeit gegenübergestanden, hatte ihm eine heiße Leidenschaft eingeflößt, die Mutter, die beim Hinscheiden ihres Kindes nichts empfand als die ärgerliche Sorge um ihren Lebensgenuß, erfüllte ihn mit einem unermeßlichen, befreienden Widerwillen.

Die Bande lösten sich. Er fühlte Grauen vor ihrer toten Seele und Ekel vor der blühenden Schönheit ihres Leibes.

Ihm war auf einmal frei und leicht. Die beiden Ketten, die ihn hielten, waren gerissen: ihr Kind war nicht mehr und ihre Schönheit verging vor ihm. Und er erkannte, daß sein Kind gestorben war, um ihm selbst ein neues Leben zu geben – fern von ihr, fern von seiner ganzen bisherigen Welt – von ihnen allen als tot betrachtet, verunglückt in den Bergen, die bleich und weiß hoch vom Mondhimmel her durch die Ferne in das Fenster grüßten, und jenseits dieser Berge wieder von den Toten auferstanden, ein neuer Mensch zu neuem Dasein!

 


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