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IV.

Geheimnisvolles birgt der Schoß der Gletscher – unterirdische Eispaläste, riesig, stundenlang in abenteuerlichem Gewirr von Gängen und Nischen, von kalten Kämmerlein und hochgewölbten Schwibbogen, von trichterförmigen Seen, triefenden Treppen, sprudelnden Springbrunnen, von dem Regenbogengefunkel, das die Sonne oben über den Eingangsschlünden des kristallenen Labyrinths spielen läßt, durch seegrüne, märchenhafte Dämmerung bis tief hinab in die ewige, schwarze Kellernacht, in das sich immer gleichbleibende eisige Dunkel, in dem aus unbekannten Fernen, wie aus dem Innern der Erde heraus, als letzter Laut das Brausen unterirdischer, unsichtbar durch die Finsternis sich wälzender Wasser rauscht.

Dumpf und unheimlich dringt das zum Licht empor. Oben über den Dächern der versunkenen gläsernen Stadt liegt der helle Tag. Da weht der Wind, die Quellen sprudeln, die Wolken ziehen und aus ihrem Flor blinzelt ab und zu ein flüchtiger Sonnenstrahl über die regellose Trümmerwelt. Wo er hintrifft, verklärt ein tiefes sattes Blau gleich dem Widerschein des nebelüberspannten Himmelszeltes das kalte Eis und lange noch leuchtet, wenn der Gruß von oben erloschen, die warme Farbe in den durchsichtigen Mauern des Kristallpalastes nach und umsäumt die Gletscherspalten, die klaffenden Pforten der Unterwelt, mit einem glühenden Kranz.

Dort oben ist das Licht – das Leben. Als ein schmaler freundlicher Streifen grauer Luft spannt es sich über dem Abgrund und schaut gleichgültig hinab in den düster gähnenden Schacht, der, da und dort von eingestürzten Schneebrücken halb verschüttet, tiefer, immer tiefer in das Reich des Todes führt. Seine glatten, senkrechten Spiegelwände triefen von niederperlendem Eistau, ein schneidender Frost durchdünstet die Schattendämmerung des offenen Grabs und ganz von unten, aus unheimlicher Weite, gurgelt rastlos und ewig irgendein nächtlicher Fluß.

Und durch sein Rauschen, durch das Strömen des von oben herabstürzenden Schneebachs klingen Stimmen – Menschenstimmen aus dem Kerker. Schwach und undeutlich reichen sie kaum bis zum Lichtrand oben empor. Das Grollen der schwarzen Gewässer ist stärker als sie.

»So hören Sie doch endlich einmal auf zu schreien, Meister Josephus! Ein Kind kann sich doch sagen, daß das nichts hilft!«

»Es muß helfen!«

»Nein! Wenn uns niemand von selbst findet – unsere Hilferufe hört man nicht.«

Der Zillertaler Siegfried erwiderte nichts. Verstört mit den Zähnen an der Unterlippe nagend, trommelte er mit beiden Fäusten auf die Spiegelmauer der Gletscherspalte los, um irgendwie seinen ratlosen Grimm zu betätigen.

»Lassen Sie das doch, Professor!« sagte das junge Mädchen, das erschöpft in ihren Plaid gewickelt etwas abseits kauerte. »Es sieht dumm aus und nützt auch nichts.«

Er schaute flüchtig zu ihr hinüber. »Ich muß irgend etwas tun!« knirschte er. »Sonst wird man ja verrückt in solch einer Lage! Hier zu sitzen! Ein Kerl wie ich! Und Sie! Wären wir doch gleich, ganz hinuntergefallen und hätten uns das Genick gebrochen ...«

»Das find' ich nicht! Es ist doch noch ein Glück, daß wir ziemlich unverletzt geblieben sind und gerade auf diese eingeklemmte Schneemasse hinuntergerutscht, statt da nebenan Gott weiß wie tief.«

»Und wissen Sie denn, wie dick diese Schneefläche ist? Kaum ein paar Fuß wahrscheinlich. Am Ende bricht die auch noch durch und die Reise geht weiter – da hinunter! Wenn ich nur diesen verwünschten Fluß da unten nicht mehr rauschen hörte... und diesen schmalen Streifen Himmel da oben sehen... rein zum Hohn ... als ob er einen auslachen wollte ... da muß man doch irgend etwas dagegen tun –« wieder hämmerte er gegen die gläserne nasse Wand »... man muß etwas tun ... schon um nicht zu erfrieren ... brrr ... die Kälte!«

»Meister Josephus!« Lotte hüllte sich, ebenfalls vor Frost mit den Zähnen klappernd, fester in ihr Tuch. Ihr Atem dampfte in der Luft. »Sie sollten wirklich etwas mehr Haltung bewahren! Ein Mann wie Sie ... es ist ja wirklich unschön ... denken Sie doch an Ihre Freunde und Verehrer! ...«

»Nun eben! ...« Der schöne Mann in Tiroler Stutzertracht wurde zornig. »Gehöre ich hier hinein – in diesen dummen, widerlichen, abgeschmackten Käfig? Oder Sie? Da sollen doch andere hineinfallen! Ich habe Besseres zu tun! Was wird denn jetzt aus meinen Statuen? Herrgott – wenn ich nur an mein Atelier denke! Wie schön könnte ich jetzt vor dem Ton stehen, in Hemdsärmeln, die Pfeife im Mund, und schaffen, schaffen – schaffen! Was hab' ich denn hier unten verloren – möcht' ich nur wissen!« Er begann mit großen Schritten die in etwa zehn Fuß Länge den Gletscherschlund in halber Tiefe überbrückende Fläche von beinhart eingefrorenem Schnee zu durchmessen. »Was soll ich denn hier tun? Ich bin doch der Welt noch etwas schuldig. Ich hab' noch lange nicht alles gesagt. Es kommt noch mehr – viel mehr. Ich hab' noch ganze Meisterwerke da im Kopf und in der Hand. Da kann ich doch nicht ohne weiteres gute Nacht sagen und meinen Hut nehmen und mich empfehlen – auf eine so abgeschmackte Weise!«

»So weit sind wir ja auch noch lange nicht! Es hat noch Zeit mit dem Adieusagen!«

»So?« Er blieb stehen. »Und wer soll uns aus dieser Mausefalle hier heraushelfen?«

»Ich hab's Ihnen ja schon zwanzigmal gesagt: meine Schwester wird schon Rat schaffen. Warten Sie nur! Sie sieht doch unsere Sachen in der Hütte und holt Leute zur Hilfe und ...«

»Und bis dahin ist's Nacht. Und bis morgen erfrieren wir hier! Es ist ja gräßlich kalt!«

Sie stand auf und schlug die schmächtigen Arme umeinander. »Wir müssen uns Bewegung machen! Ja – wenn wir verletzt wären und uns nicht rühren könnten. Aber so werden wir uns schon warm halten, bis die Hilfe da ist ...«

»... bis die Hilfe da ist!« Er schnitzelte mechanisch mit seinem Taschenmesser eine Kerbe in die Eiswand, obgleich er sich selbst sagen mußte, daß das ganz zwecklos war. »...so wie man im Fahrplan nachsieht: um zehn Uhr siebzehn kommt der nächste Zug. Jetzt sind wir schon zwei Stunden hier unten ...«

»Eben! Um so kürzere Zeit müssen wir nur noch hier bleiben!« Er steckte sein Messer ein und sah sie an. »Ja – Sie, mit Ihrem blinden Vertrauen auf Ellinor! Wenn die nicht wäre! Die kann alles – die weiß alles – die macht alles! ...«

»Ja.

»Ich beneide Sie eigentlich darum!« Er wurde etwas ruhiger. »Schließlich ... Sie können recht haben. Noch ist Polen nicht verloren! Ich muß mir etwas mehr Geduld angewöhnen. Ich bin etwas zu nervös – wie immer. Ich muß mich ja fast vor Ihnen schämen!«

»Ach, Meister Josephus,« sagte das junge Mädchen melancholisch und stampfte, von einem plötzlichen Frostschauer gepackt, mit den Füßen auf den Boden. »Wenn Sie sich eben hätten sehen können! Ich weiß ja ... Sie können allerhand Gestalten annehmen, und was Sie eigentlich sind, weiß kein Mensch und Sie selbst wahrscheinlich am wenigsten. Aber die Gestalt von vorhin – die paßte schon gar nicht zu Ihnen. Ein baumlanger Mann, der sich den Kopf hier an den Eiswänden einrennen möchte und gar nicht begreifen kann, daß es schließlich im Notfall auch ohne ihn ginge! Natürlich! Sie denken ja immer nur an sich. Das einzige Wesen, das Sie ängstlich und zärtlich wie eine Mutter hegen und pflegen, ist außer Ihrem Pudel ›Ego‹ doch nur Ihr eigenes wertes Ich! Daß ich hier neben Ihnen sitze, das kümmert Sie kaum! Sie sind eigentlich fast komisch in Ihrer Selbstsucht!«

Er hörte kaum auf sie und griff sich zornig nach dem Nacken. »Jetzt tropft mir auch noch Eiswasser ins Genick!« klagte er. »Und meine Füße spüre ich kaum mehr! Hab' ich denn nicht recht? Ist's denn nicht schade um mich? Und um Sie? Ein schönes, süßes, dummes Mädel von kaum neunzehn Jahren! Wenn ein Dutzend Schneidergesellen hier unten säßen, meinetwegen ... ich werfe gleich noch ein Dutzend hinterher! ... aber wir? ...«

»Sie haben doch auch als Geißbub angefangen, Meister Josephus – ehe Sie Königlicher Akademieprofessor wurden!«

»Aber ich bin's eben geworden! Durch eigene Kraft! Ich bin ...«

»Ja, ja!« sagte das junge Mädchen. »›Ich bin ich!‹ – das ist Ihr Wahlspruch. Und wenn Ihnen jetzt zum Schluß noch etwas leid tut, so ist's, daß Sie nicht mehr Ihre eigenen Nachrufe lesen und den Zeitungen Berichtigungen schicken können. Denn Sie sind ja ebenso empfindlich, als Sie eitel sind! Der reine Heldentenor!«

Der schöne Zillertaler sah sie verblüfft an und runzelte die Stirne. Sie nickte.

»Ich bin riesig froh, daß ich Ihnen einmal, unter so außergewöhnlichen Umständen, gründlich die Wahrheit sagen darf. Ich hab' mich vorhin zu sehr über Sie geärgert. Wie Sie dastanden wie ein ungezogenes riesiges, blondbärtiges Baby – das sind Sie überhaupt, glaub' ich, ganz im Innersten Ihres Wesens – und auf den Gletscher losschlugen! Wie ein Kind, das sich an einem Stuhl gestoßen hat. Nein – gehen Sie ... so mag ich Sie nicht!«

Er lächelte tückisch. Es funkelte in seinen tiefblauen Augen. »Wie soll ich denn sein?«

»So wie jetzt auch nicht! Mit diesem spielerischen Zähnefletschen! Ich kenne Ihre Sammettatzen!«

»Bin ich wirklich so falsch? Das weiß ich ja gar nicht!«

»Ja – Sie sind's. In aller Unschuld. Ganz naiv! Hinterlistig wie ein Karaibe. Ich möchte Sie eigentlich zum Feind haben!«

»Reden Sie nur so weiter! Dann werden wir's noch!«

Sie zuckte die Achseln und sah ihn mitleidig an. » Sie und den Frauen feind! Sie Ärmster! Was wollten Sie denn ohne uns anfangen? Sie hielten es ja ohne uns gar nicht aus im Leben – ohne Ihr Gefolge, Ihre Gemeinde .. . Ihr Spielzeug ... was weiß ich! Das ist's ja, was mich so ärgert, daß Sie uns so wenig ernst nehmen wie irgend sonst etwas auf der Welt! Deswegen sage ich Ihnen endlich einmal, was ich schon so lange auf dem Herzen hab' – hier – das ist so ein Ort, der einem die Zunge löst –.«

»Aber liebe Lotte...« begann er in einem weichen, tiefen Ton, ernst und tröstend, wie man zu einem kranken Kinde spricht, »Sie vergessen...«

»Nein. Sie vergessen! Sie verbrauchen die Menschen so schrecklich schnell! Nicht nur die Frauen. Denen drücken Sie ja später bei einem zufälligen Wiedersehen dann so kameradschaftlich vergnügt die Hand, als sei das ganz selbstverständlich, daß sie Ihnen Ehre und Ruf geopfert haben. Aber auch die Männer! Wie lange dauern denn Ihre Freundschaften? Vier Wochen – dann ist Ihnen der Kerl langweilig – eine ausgepreßte Zitrone! Fort damit! Der nächste! Sie kümmern sich nicht mehr um ihn. Sie sind ihm fremd! Oder schlimmer noch, wenn er Ihnen im Weg ist – und wenn es Ihr bester Freund wäre. Ich weiß, was man sich von Ihren krummen Kriegspfaden erzählt, Sie blonder deutscher Siegfried! Denken Sie an Ihren Kollegen Möller, der sich schließlich erschossen hat, weil er es in einer schwachen Stunde gewagt hatte, im Verein gegen Sie zu stimmen!...«

»So? Habe ich nicht selbst für die Hinterbliebenen ein großes Wohltätigkeitsfest veranstaltet?«

»Ja. Und dabei als Siegfried lebendes Bild gestanden. Als Drachentöter! Schön ausgesehen haben Sie! Das war doch der einzige Zweck! Ich höre noch Ihr breites, sonniges: ›Schade um den armen Kerl!‹ während Sie ein großes Glas Erdbeerbowle an den Mund führten und sich verstohlen und selbstgefällig in Ihrem silbernen Schuppenpanzer im Spiegel betrachteten. Und dabei zuckte die Rachsucht nur so um Ihre Lippen. Sie sind ja so böse. Sie vergessen ja nichts!«

»Ich hab' gar nichts gegen meine Feinde! Ich verzeih' ihnen allen gerne, besonders, wenn sie beim Teufel sind. Aber außerdem hab' ich gar keine.« Eine mutwillige Fröhlichkeit erhellte trotz der verzweifelten Lage einen Augenblick seine männlich-schönen, von goldblondem Vollbart umrahmten Züge. »Es ist ein wahres Wunder, daß ein solches Scheusal, wie Sie es schildern, trotzdem eine solche Menge Freunde hat. Und überall!«

»Ein Wunder? Nein! Sie sind überall zu Hause, weil Sie selbst ja alles mögliche sind oder wenigstens sein können. Sie können sich ja in jede Form verwandeln. Für Ihren Hofstaat von Bewunderern, den Troß Ihrer Freundinnen sind Sie der Meister Josephus – des Nachts, bei den Gelagen, die Sie mit Ihren Freunden feiern, darf man Sie ›du‹ und ›unser Seppl‹ nennen, des Morgens in der Akademie sind Sie ganz der barsche, hochfahrende Herr Professor, von dessen unerbittlicher Strenge und Härte gegen die jungen Talente alle Welt klagt – mittags sind Sie wohl gar als Ritter hoher Orden bei Hof zu Gast – ein Prunkstück wie jedes andere – und beschämen jeden Zeremonienmeister durch Ihre diplomatischen Künste – geistreich, dumm oder harmlos heiter, wie der Wind von oben weht und Ihnen eine neue lohnende Bestellung in den Schoß wirft – und wenn Sie nach, Hause zu Besuch gehen, in das Tiroler Dorf, von wo Sie jedermann erzählen, daß Ihre Zeit als Geißbub doch die schönste gewesen sei – dann sollen Sie wie ein Bauer mit den Bauern zusammensetzen und Zither schlagen und Schnadahüpfel singen. ... Also was sind Sie denn nun eigentlich?«

»Darüber habe ich noch nie nachgedacht,« sagte der Zillertaler Siegfried mißmutig. »Überhaupt – wozu denken? Das ist Unsinn! Können muß man! Das aber gründlich! Können! Können! Können! Drum mein' ich, ich gehör' in mein Atelier! Wenn ich da steh' und pfeife und rauche und keinem Menschen antwort', sondern mich den Kuckuck um die ganze Menagerie kümmer', die ringsherum unterdessen meine vier Wände durchschnüffelt – da bin ich zufrieden. Und die anderen sind's auch! Ich hab' kein Mitleid mit den Stümpern wie dem Möller – nicht so viel! Wer was kann, soll's zeigen und Gott dafür danken. Ich zeig's. In mir ist etwas! Dem muß ich dienen, und dem dienen die anderen. Das ist mir selber fremd. Das ist in mich hineingelegt. Ich muß es hüten und hab' keine Zeit, auch noch ein Charakter zu sein oder gar ein gutes Herz zu haben! Glauben Sie mir, Lottchen: die Leute von Charakter sind alle Esel! Einseitig! Die sehen nicht, daß die Welt rund ist – und die Kunst auch. Die muß die Dinge von überallher anpacken. Die Sonne scheint auch von allen Seiten auf die Welt! Und jetzt...« wieder trommelte er wütend mit den Fingern an der Wand. »Jetzt will ich aus dem abgeschmackten Eiskasten da heraus! Ich hab' zu tun! Versteht ihr denn das nicht?«

»Warten Sie nur, bis...«

»Bis die Schwester kommt! Ich weiß. Sie kommt aber nicht! Sie kann es gar nicht. Es ist ja zu dumm ... zu blödsinnig ... zu...« Er brach mit einem scheuen Blick auf seine schöne Gefährtin ab und beherrschte sich. »Sie werden natürlich jetzt wieder sagen: ›Aha ... jetzt kommt wieder der schlimme selbstsüchtige Seppl heraus!‹ Aber wenn ich hier gefangen bleib' – wird dann mein Diener meine Statuen zu Ende kneten oder der Stiefelputzer an der Ecke oder sonst wer? Nein. Sie bleiben unvollendet!«

»Dann bleiben sie eben unvollendet!« sagte das junge Mädchen schroff. »Das ist auch noch nicht das größte Unglück, das die Welt treffen kann.«

Er sah sie ganz verstört an, als hätte sie eine Gotteslästerung ausgesprochen. »Meinen Sie?« sprach er langsam. »Sehr liebenswürdig! Überhaupt ... was Sie mir da in der letzten halben Stunde alles zu hören gegeben haben ... warum denn eigentlich – wenn man fragen darf?«

Sie war ganz böse. »Es kribbelt alles in mir, wenn ich Ihr wohlwollendes, sonniges Sultanslächeln sehe. Das mögen Sie anderen spenden ... meiner Schwester – dem ganzen Troß der fünf oder fünfzig törichten Jungfrauen Ihres Hofstaats. Aber ich gehöre nicht dazu! Sie unterschätzen mich, Meister Josephus! Ich bin nicht in Sie verliebt ... im Gegenteil...«

Er setzte sich auf den Schnee nieder und stützte den blonden Löwenkopf in beide Hände. »Auch das noch!« murmelte er, geistesabwesend nach oben schauend.

»Im Gegenteil. Sie in mich! Wie? Seien Sie doch nicht so unhöflich, sich gleich zu entschuldigen. Ich bin die erste ja nicht, sondern beiläufig die tausendste! Und ich finde Ihren Geschmack gar nicht so übel. Ich gefalle mir auch ganz gut! Jedenfalls weit besser als Sie! Also Ihrerseits ist das wirklich kein Wunder. Aber ich weiß mich völlig davon frei und habe mich lange genug über Ihre Eitelkeit geärgert. Und das wollt' ich Ihnen einmal bei passender Gelegenheit sagen! So – jetzt ist es heraus!«

Er schien ganz zerknirscht. In seinen Mantel gewickelt, die langen Beine ausgestreckt, saß er finster da und starrte vor sich nieder. »Gut ist's!« sagte er endlich. »Sehr schön – hier in der Gletscherspalte zu liegen und Gardinenpredigten von kleinen Mädchen anzuhören. Wer ich eigentlich bin und was ich vorstelle! ... Lächerlich!« Er wurde melancholisch und wehleidig wie ein kleiner kranker Bauernjunge. »O Jesses! An Charakter soll ich auch noch haben! Mit 'nem Charakter durchs Leben laufen! Lieber eine Kugel und Kette am Bein. Ich hab' schon als Geißbub keinen Charakter gehabt!«

Der Gedanke ließ ihn nicht los. »Wer mir jetzt noch einmal von Charakter und gutem Herz anfängt, den hau' ich!« brummte er matt. »Merken Sie sich's, Lottchen!... Und jetzt will ich hier heraus und ...«

Sie schnellte plötzlich empor und machte eine Bewegung mit der Hand, als wolle sie ihm den Mund schließen. »Pst!« flüsterte sie mit glänzenden Augen.

Auch er erhob sich schwerfällig. »Was gibt's denn?«

»Ich höre etwas!«

»Ja. Den vermaledeiten Fluß unter uns!«

»Nein – da oben ... ein Rutschen ... oder ein Schlürfen auf dem Gletscher ... ich weiß nicht recht...«

Er blickte in die Höhe und fuhr blinzelnd zurück. Ein Hagel kleiner Firn- und Eissplitter stäubte vom Rand der Spalte auf die beiden hernieder und darüber erschien, scharf von dem grauen Himmel abgehoben, ein menschlicher Kopf und nickte mit einem grämlichen Lächeln auf den faltigen, mit einer goldfunkelnden Brille bewehrten Zügen den beiden zu.


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