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XIV.

Eine taghelle, schwüle Fiebernacht. Drüben im Osten, über Arkadien, stand der gelbe Mond, unter ihm, in schwarzen Wellen, die peloponnesischen Berge, von einem feinen giftigen Nebel umsponnen, der aus den unruhig zitternden Spiegelflächen des Tales aufstieg. Dort wälzte, halb ausgetrocknet und doch noch in einem Dutzend glitzernder Schlangen und Schlänglein sich krümmend, der Alpheios in einem wohl eine halbe Stunde breiten Kieselbett sein Wasser den Windungen des Kladeios entgegen und einte sich mit dessen schmalem, vielverästeltem Geäder zu einem neuen Netze gen Sonnenaufgang rollender Silberfäden. Unbewegliche Tümpel blinkten gestrüppumwachsen dazwischen. Aus ihnen stiegen der Fieberhauch und die Schwärme der Stechmücken, die ihn weiter trugen, zu den unvorsichtigen Menschen oben auf dem Hügel empor, die in einer Augustmitternacht im Freien sich ergingen.

Lotte gähnte und haschte mit der Hand nach einer vorbeifliegenden Fledermaus. »Wenn ich ein Bildhauer wäre, würde ich auf den Praxiteles pfeifen! Der Lebendige hat recht. Und der Mensch soll kein Maulwurf sein und in der Erde herumkriechen, um zu sehen, ob da noch von früher her irgend etwas stecken geblieben ist, sondern soll selber was leisten. Das werd' ich auch morgen unserem armen Meister sagen, wenn er wieder den Weltschmerz kriegt.«

Sie standen vor dem Museumstempel und musterten ihn stumm.

»Komisch!« sagte Lotte endlich. »Die Türe steht offen, Und ein Wächter daneben. Jetzt, so spät abends! Das wär' eine Idee, jetzt da hineinzugehen!«

»Der Mann wird es doch nicht erlauben!«

»Versuchen wir's!« Lotte schritt unbefangen an dem griechischen Beamten vorbei, und zu ihrem Erstaunen grüßte der nur schweigend und die Hand an die Mütze legend, als habe er ihr Kommen bereits erwartet.

Aber kaum war sie in den großen, bläulich-hell von oben her erleuchteten Saal getreten, so blieb sie beklommen stehen und drängte sich an ihre Schwester. »Du ...« flüsterte sie, »das sind wie Gespenster ... im Mondschein und in der unheimlichen Dämmerung. Alle diese weißen riesigen Gestalten – und alle entzwei ... und ... schau nur ... der in der Mitte da – der zehn Fuß hohe Kerl – der lacht – ganz deutlich ... zu uns herüber ... brrr ... wie all die einzelnen Köpfe und Arme und Beine da auf Eisenstangen aufgespießt sind ... und dazwischen wieder nichts ... Und da hinten – dieses weiße Riesenweib – wie sich das da von der Wand herunterstürzt...«

»Das ist die berühmte Nike des Päonios und rechts und links von uns der Fries des Zeustempels.«

»Mag sein!« Ihre Schwester schaute beklommen nach der Türe und dämpfte ihre Stimme noch mehr. »Aber ich liebe diese nasenlosen, riesigen weißen Dinger nicht – wenigstens nicht um Mitternacht. Sie werden immer größer, wenn man sie ansieht ... sie bewegen sich förmlich ... siehst du – dieser einzelne Arm in der Ecke macht schon ganz langsam eine Faust gegen uns. Ich will doch lieber wieder hinaus!«

Ellinor schüttelte den Kopf und zog sie mit sich weiter. »Komm!« flüsterte sie. »In dem kleinen Raum dort am Ende muß der Hermes stehen.«

Sie schlichen, Hand in Hand, unwillkürlich auf den Fußspitzen und mit angehaltenem Atem durch das Spalier der zertrümmert an den beiden Wänden festgebannten plumpen Gigantenwelt, an der alles überragenden Gestalt des Apollo, den Pferdebruchstücken, den kauernden Mädchen und faulenzenden Flußgöttern vorbei, und blieben plötzlich stehen.

Durch die Scheiben her von bläulichem Himmelsdämmern umkost lächelte ihnen von seinem hohen Postament der Gott entgegen. Eine übermenschliche Heiterkeit ruhte selig und sonnig auf seinem Antlitz voll nie geschauter jugendlicher Mannesschönheit und durchgeistigte den fleischgewordenen Stein, daß es schien, als wolle jeden Augenblick dieser zu Sammetweiche geglättete Marmor seine Brust zu tiefen Atemzügen wölben, als müßten diese dem Dionysosknaben auf dem Arme zulächelnden Lippen sich zu Worten von unerhörtem Wohlklang öffnen und unter den halbgesenkten Lidern die Morgensonne des Olympos aufstrahlen.

In ewiger Schönheit lächelte der Gott, wie er vor Jahrtausenden unten im Tempel sein auserwähltes Volk der Freude und des Lichts gegrüßt. Dem Erdengrab entstiegen, stand er als Sieger auf seinem Thron, als Sieger über Raum und Zeit, über Völkerschicksale und Naturgewalten, und offenbarte herrlich wie am ersten Tage die hehrste Kraft auf Erden, den schaffenden Menschengeist, der in ihm zu Stein und ewigem Leben geworden war.

»Ich bitte dich,« murmelte Ellinor zu ihrer Schwester, ehe jene noch den Mund geöffnet. »Rede jetzt kein Wort!« Und wieder schaute sie, unwillkürlich die Hände verschlingend, zu dem Gott empor, den das verklärende Schmeicheln der Mondstrahlen mit ihrem silbernen Spinnweb von der Erde zu seinen Füßen schied, als sei er wirklich mit beflügelter Ferse aus einer anderen Welt herabgestiegen, um noch einmal dem schmutzigen Jahrhundert der Fabriken und Herdenmenschen den ersten und letzten Glaubenssatz für Kunst und Künstler zu verkünden: »Im Anfang war die Schönheit...«

Plötzlich fuhr Lotte zusammen und zupfte sie am Ärmel. »Da schau mal!« flüsterte sie, ein Kichern unterdrückend. »Da sitzt er ja ... der arme Meister...«

Sie folgte der Richtung, die Lottes Hand wies – auf den Boden zu Füßen des Hermes, wo der tiefe Schlagschatten des Postaments alles in Dunkelheit hüllte. Da kauerte etwas, eine unbestimmte Gestalt, mit gekreuzten Beinen auf den Fliesen. Ein erstickter Ton, wie ein kindisches, wehleidiges Aufschluchzen, erschütterte zuweilen den Körper, und zwei Fäuste tasteten längs der Quadern des Sockels, man wußte nicht, ob um sie gleich dem Fußgestell einer Reliquie anbetend zu umfangen oder in dem vergeblichen Mühen, sie und was darauf stand im Zorne umzustürzen.

Jetzt sprang der Meister auf, mit einem jähen Ruck und erhobenem Arm, als wolle er sich an dem steinernen Gott, dem seine mächtige Gestalt gerade bis zu den rotgefärbten Schuhriemen reichte, tätlich vergreifen. Aber auf halbem Weg ließ er die Rechte sinken und stand unbeweglich, schwer atmend, während dicke Tränen ihm in den blonden Vollbart liefen.

Lotte war herangetreten. »Was ist denn los, Meister Josephus?« forschte sie, mühsam ihr Lachen verbeißend. »Es ist doch kein Unglück geschehen?«

»Kein Unglück?« Er schien gar nicht erstaunt, die beiden Freundinnen neben sich zu erblicken, und starrte wieder wie gebannt, außerstande, etwas anderes zu fassen und zu bedenken, zu dem friedlich lächelnden Marmorbild empor. »Ist das da oben kein Unglück? Für uns alle – uns Tröpfe im zwanzigsten Jahrhundert? Warum lebt so was? Warum steht's da oben und lacht mich aus? Warum läßt man so ein Ding nicht in der Erde? Warum gräbt man es wieder aus, bloß um mich umzubringen? Zerschlagen sollt' man es, wenn es wieder lebendig werden will!«

Er machte wirklich eine Bewegung, als wollte er die Statue packen und herabzerren. Aber schon beruhigte er sich wieder. »Die Esel!« murmelte er verstört und halb weinend. »So was auszugraben!«

»Aber es ist doch sehr schön!«

»Ach – sei still, törichte Jungfrau! ›Schön‹ ist kein Wort dafür. Schön ist vieles auf der Welt! Du bist auch schön! Aber das da – dieser Kerl von einem Gott da oben – das ist ... darüber hinaus gibt es nichts mehr ... da ist überhaupt alles zu Ende! Ich will einen Batzenstrick kaufen und mich aufhängen ...« Er trat einen Schritt zurück, um seinen Feind auf dem Postament mit vor Bewunderung und Zorn nassen Augen zu messen. »Ich will Steinklopfer an der Chaussee werden, mit einem großen grünen Augenschirm, hinter einem Zaun. Dazu langt's vielleicht noch!«

Er machte den beiden, die ihm etwas erwidern wollten, ein Zeichen, zu schweigen, und warf einen Abschiedsblick auf die Figur. »Schuft!« murmelte er, wieder die Fäuste ballend. »So was zu können! Schuft! Schuft! Und zu denken, daß solch ein Gott in jedem Marmorblock darin steckt! Man muß ihn nur heraushauen. In meinem Atelier habe ich Marmor genug. Aber ich kann ihn nicht erlösen! Und die anderen von heutzutage auch nicht. Das sind Stümper und ich bin der schlimmste Tonkneter von allen. Gut, daß ich's jetzt weiß! Dazu bin ich hierhergekommen und hab' den Wächter bestochen, daß er mich zur Nacht hier hereinläßt und mich niemand stört. Aber natürlich seid ihr doch hinterdrein gelaufen!« Ohne ihre Antwort abzuwarten, ging er rasch, mit schweren Schritten, durch den Hauptsaal, zwischen den Reihen der riesigen, halbzerschellten weißen Steingespenster an den Wänden, hinaus ins Freie. Draußen in dem mondhellen Frieden der Sommernacht blieb er tief aufseufzend stehen. Die anderen neben ihm. Es war ein beklommenes Schweigen.

»Eigentlich müßte man den Hermes heimlich stehlen!« sagte Lotte endlich, »und anderswo aufstellen – in einer Weltstadt – in Berlin oder London oder Paris, wo ihn jeder sehen kann. Aber hier – in diesem gottverlassenen Winkel voll Fieber und Mücken und Schmutz – wie viele Menschen verirren sich denn überhaupt hierher!«

Meister Josephus antwortete nichts.

»Übrigens ist er gar nicht ganz echt,« fuhr sie tröstend fort. »Weißt du, Meister Josephus: die Beine sind neu! Man sieht es deutlich! Und der rechte Arm fehlt doch auch! Und das Kind auf dem Arm ist, wie gesagt, doch viel zu fett und zu plump. Siehst du – da sind auch Mängel...«

»Lotte – törichte Jungfrau ...« sagte der Bildhauer melancholisch. »Gehe doch schlafen! Es ist schrecklich, wenn auf diesem geweihten Boden, in dieser geheiligten Nacht, ein Mensch dasteht und die Luft mit leeren Worten füllt. Wer schlummert, schwatzt nicht! Gute Nacht!«

»Also angenehme Nachtruhe, Herr Professor!« Lotte bot ihm und ihrer Schwester gleichmütig die Hand und sah sehr sanft darein. »Seid nicht zu wehmütig miteinander! Macht's wie ich! Ich bin vergnügt. Immer! Wegen so einem Hermes das Geschluchze im Mondschein zu kriegen – zu d... Adieu!«

Sie stieg mit leichten Schritten die Anhöhe zum Hotel empor und verschwand. Er blickte ihr mit gefurchten Brauen nach. »Die versteht mich nie in ihrem Leben!« sagte er plötzlich ganz laut vor sich hin. »Sie ist zu dumm dazu! Das heißt – dumm – nein – aber wie ein hübsches kleines Tier – sie schnuppert am Boden herum und sieht immer nur das Nächste. Was hinter den Dingen steckt, das hält sie für komisch – das Schaf! ... Der richtige Philister! Das richtige Frauenzimmer!

» Du kennst mich!« fuhr er fort, sich auf dem warmen trockenen Grasboden am Abhang des Hügels niederlassend und ihr winkend, sich neben ihm hinzusetzen. »Du weißt: Es hat viel nebeneinander in einem Menschen Platz! Mehr als man glaubt und als eine Eintagsfliege wie die Lotte sieht. Aber das, was die Lotte an mir sieht, damit hat es auch seine Richtigkeit. Das ist auch da ... das andere ... und dies andere, das gerade ist so stark! Auch in mir! Da in mir sitzt ein greulicher Kerl – der will bloß leben und genießen und seine Feinde ärgern – und dazu ist ihm die Kunst als Mittel eben gut genug. Das ist das Schändliche! Und das Gefährliche! Es sieht nicht umsonst geschrieben: ›Du sollst keine anderen Götter haben neben mir!‹ Und ich hab' so viele! Und Göttinnen vor allem! Ach du liebe Zeit! Ja – wenn's keine Weiber auf der Welt gäbe! Aber dann langweilte ich mich wieder zu Tode. Da wäre auch nicht viel gewonnen!«

Er riß ein Grasbüschel aus dem Boden und zerpflückte es unruhig zwischen den Fingern. »Mir hat's schon lange geschwant, daß ich bloß ein Steinklopfer bin!« murmelte er. »Chausseesteine muß man klopfen! Das ist eine Kunst, die auch der Minderbegabte mit Fleiß und Ausdauer im Lauf der Jahre einigermaßen bemeistern kann – aber das Tonkneten laßt man besser: das fördert doch nur Mißgeburten ans Tageslicht!«

»Aber, lieber Meister – deine Werke...«

»Nein – Mißgeburten sind's auch nicht. Etwas viel Schlimmeres, Alltagssteine sind's, wie es Alltagsmenschen gibt – Menschen aus zweiter Hand, in der Fabrik abgestempelt, einer wie der andere. Und ich selbst bin doch ein Kerl aus erster Hand! Warum wollen meine Kinder mir nicht ähneln? Du glaubst nicht, wie bitter das einen Vater kränkt – lauter solch semmelblondes Sonntagnachmittagvolk in Stein und Ton um sich zu sehen und sich zu sagen: das alles hast du in die Welt gesetzt – du – der Meister Josephus! – o, es ist traurig – tieftraurig – also wunder' dich nicht, wenn du nächsten Sommer auf der Stilfser Joch-Straße zwischen Bormio und Trafoi einen Mann mit grünem Augenschirm und blondem Vollbart hinter einem Schotterhaufen siehst –- das bin dann ich und hämmere daran los, als gelte es, den Hermes da drinnen in Stücke zu verhauen.« Er wurde traurig. »Sieh, Ellinor – der Praxiteles war vor allem kein Hofrat! Wollt' es auch nicht werden! Das war ein ganz naiver, vergnügter Griechenbengel. Der sah irgend einen nackten Menschen – damals gingen die Menschen bei schönem Wetter nackt, ohne daß gleich ein bayerischer Kaplan sie denunzierte und ein preußischer Schutzmann mit Pickelhaube und Notizbuch kam – und zu solch einem Menschen sagte er dann: »Halt mal still, mein Bester!« und bildete ihn dann nach. Aber ich ... der Herzog von Siebenwalden würde schöne Augen machen, wenn ich ihm seine Vorfahren nur mit Feigenblatt, Keule und Ordensband bekleidet präsentieren wollte! Hellas fehlt uns! Nackte schöne Menschen, tiefblauer Himmel und tiefblauer See ... Epheukränze um Weinkrüge, Griechenlachen! Die Kerle hatten leicht, Götter zu bilden. Das waren ja selber Götter – und jeder das Modell des anderen. Aber wir – ich hör' ja in München den Landregen schon an meine Fenster klatschen – ich sehe unten dickbäuchige Fiaker zum Biere ziehen – Proletarier, Schutzleute – Fabrikschornsteine im Nebel – ein Glockengebrumm in der Luft und die hübschesten Weiber bis zur Unkenntlichkeit eingewickelt, weil sie sich ihrer Schönheit schämen und nebenbei in ihr auch frieren und sich den Schnupfen holen würden – ja, wo soll denn da...?«

»Aber Florenz ist doch nicht München!«

»In Florenz sind Menschen wie andere! Unsere Kunst ist ja die engste von allen. Sie kann nur den Menschen schaffen! Sogar nur den schönen Menschen! Und die Menschen von heutzutage sind nicht schön, und an den Menschen von heutzutage geht meine Kunst zugrunde! Die Hellenen lachten und sagten: wir stammen von den Göttern! Wir haben glücklich herausgefunden, daß wir von den Affen abstammen! Das nennt man die fortschreitende Kultur. Aber Affen kann man nicht modellieren – wenigstens werden sie nicht so schön wie die Medicäerin und der olympische Hermes. Und ich bin dazu verdammt, Affen zu modellieren!«

Er gähnte nervös. »Und nun wollen wir schlafen gehen! Was hast du denn, Ellinor? Du zitterst ja förmlich.«

»O nichts! Nur so ein bißchen Frösteln!«

»Jetzt? In der badwarmen Nacht?« Er wurde unruhig.

»Ach – ich krieg' kein Fieber! Ich bin ja nie krank!«

Er folgte ihr den kleinen Hügel hinauf. Noch einmal sah er sich nach dem Hause des Hermes um. »Schuft!« murmelte er zwischen den Zähnen, »Schuft ... Schuft! ... Er hat's erreicht. Er hat mir allen Mut genommen! Er bringt mich um!«

 


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