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II.

Hoch oben aus dem nebelumsponnenen Reich des ewigen Firns dröhnte das wie vom Kanonendonner einer Schlacht aus dem Lawinentor der Jungfrau, vom Gletscherhorn bis zur Wetterlücke hin, in die Hölle der Hochwelt, die Schlünde des Rothtals hernieder. Miteinander wetteifernd schossen die weißen Riesenschlangen gierig zu Tal und wühlten sich, im Abgrund angekommen, als blendend helle, langsam strömende und ersterbende Flüsse durch die grauen Schneehügel vom vorigen Tage dahin, wie gespenstige Maulwürfe lange Gänge aufwerfend, während oben über die Felsstufen, in dem glatt gescheuerten Bette ihres Firnfalls immer noch die Schneekaskaden hinterhersprühten und schütteten. Und ehe noch ihr letztes, wasserfallähnliches Rieseln schwand, knatterte es schon wieder zornig zur Rechten und zur Linken und zischten hoch aus dem Nebel herunter neue Riesenraketen in weißem Feuer über die Wände und verpufften unten in aufspritzenden Garben von eisig kochendem Dampf und Dunst und füllten den nebeligen Hexenkessel immer neu mit ihrem Heulen und Dräuen.

Aber zwei dunkle Punkte gab es an den beinahe senkrechten Hängen des Lawinentors – die beschleunigten froh des Jagens und Stürmens ringsum ihr Niederstreben nicht. Wohl bewegten sie sich – aber langsam, unendlich langsam, Halt machend und wieder mit der äußersten Vorsicht einen Schritt abwärts tastend und wieder stehen bleibend und prüfend, wo weiterhin dem Abgrund, an dem sie hingen, die Stufen einer Eistreppe mit Pickelschlägen abzugewinnen waren.

Zwei lebende Wesen – zwei Menschen am Lawinentor – ein Bergsteiger und eine Bergsteigerin – führerlos und ohne Seil – es vergingen Jahre, ehe derlei geschah.

Langsam – ruhig! Jeder Fehltritt ist der Tod! Ringsumher kauert und lauert der Tod in jeder Gestalt, die nur die Hochwelt kennt. Was sie an Gefahren besitzt, birgt das Lawinentor in den Falten seines Firnmantels. Der Fuß kann gleiten, der Schwindel das entsetzte Auge über der wesenlosen Tiefe packen, der Stein tückisch ausbrechen, an den sich die Hand als letzten Anker klammert. Wer stürzt, nach dem fletscht schon unten der Gletscher seine Zähne, und wer stehen bleibt, über den rollt von oben her der weiße Gischt des Lawinenschwalls hin und trägt ihn auf schnellen Schwingen mit sich hinab zu den eisigen Grabhügeln des Rothtals.

Augenblicklich freilich waren die zwei der unmittelbaren Gefahr entrückt. Sie kletterten an einem schräge hingelagerten vereisten Gerippe von Felstrümmern nieder, die sich, hart an der Jungfrauseite des Lawinentors, von oben nach unten als breiter Rücken am Firn herunterzogen, erhöht über die zu beiden Seiten laufenden Sturzbetten des weichenden Schnees. Es war, als sei das Skelett eines märchenhaften, stundengroßen Ungeheuers aufrecht stehend in dem Berg eingefroren und starre nur noch mit einzelnen Rückenwirbeln, zerbrochenen Rippenzacken und scharfen Knochensplittern aus der eisglatten Spiegelfläche seiner Lagerwand empor. Wohl waren auch diese steinernen Zähne mit einer schlüpfrigen Kruste übereist – sie brachen, wie sie sich gleich den verwitterten Schnörkeln eines alten gotischen Kirchturms untereinander abstuften und aus dem Schnee heraus absetzten, leicht unter der unvorsichtigen Hand als faulende Klumpen ab und ließen auch ohne solchen Eingriff da und dort in Gestalt morscher, abgebröckelter Bruchsteine über die Köpfe der Wanderer hin den Tod zu Tale tanzen – aber sie waren doch da – sie waren doch etwas, woran man sich halten, sich mit dem Erdgerüst verbinden konnte inmitten dieser schwindelnden weißen Riesenwand des Lawinentors, das nach oben hin träger grauer Wolkenflug, nach unten eine totenstille Schwadenfläche von der Welt trennte. Aber nun nahmen auch die letzten Sprossen dieser Höhenleiter ein Ende. Der Felsgrat verlor sich in einem ununterbrochenen Steilhang, rechts von pulverig-weißem Firn, links von graublauem blankem Eis, der wie eine Mauer in die stumme Brandung des Nebelmeers hinabführte.

»Halt!«

»Hier?«

»Ja. Hier!«

Ellinor schüttelte zweifelnd den Kopf. Es war selbst ihr, der Berggewohnten, nicht recht klar, wie man hier, mit Stiefelspitzen und Fingern an der dreiviertel senkrechten Wand und ihren Steinhöckern hängend, einen Rastplatz für längeren Aufenthalt finden konnte.

Ihr Begleiter begann indessen, auf einem kaum tellergroßen Felsvorsprung, dem letzten der Wirbelreihe, unter ihr stehend, leise, mit kaum merklichem Zucken der Eisaxt, mit der äußersten Vorsicht, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, ein paar Stufen in dem harten, zu seinen Füßen abschießenden Schneespiegel auszuschlagen.

»Wir müssen hier halt machen,« sagte er, »ehe wir rechts hinüber über die freie Wand traversieren!«

Sie folgte seinem Blick. Hart neben dem steinernen Rückgrat, das sie herabgeklettert waren, lief eine breite eisglatte Rinne, schnurgerade und blankgefegt wie eine gigantische Kegelbahn, hinunter in die Dunstflut, die unter ihnen lautlos wogend den Gletscherboden verhüllte. »Wegen der Lawine?« fragte sie und bemühte sich langsam, zollweise, mit den Bewegungen einer schleichenden Katze und angehaltenem Atem ein Lager auf dem frei in die Luft starrenden, von einer dünnen Eishaut glasig-schlüpfrigen Erker zu gewinnen.

Er war ihr, in den unteren, nun, breit ausgehöhlten Schneestufen so fest und sicher wie auf einer Landstraße stehend, dabei behilflich, sich an den Felsen anzuschmiegen. Er klemmte ihr den linken Fuß in einem kaum merkbaren Vorsprung fest, er setzte ihren rechten tiefer in eine kleine Eiswölbung und legte ihre beiden Arme so, daß sie den Steinzacken fest wie hilfesuchend umschlangen. Dann holte er sich, immer mit der zähen Ruhe und Langsamkeit des Akrobaten, der alle Muskeln seines Körpers in der Gewalt hat, seine kurze Pfeife aus der Tasche, stopfte sie methodisch und zündete sie an. Und selbst in dem behutsamen Schnellen der Finger, die das abgebrannte Streichholz vor sich senkrecht in die unergründliche Tiefe fallen ließen, verriet sich der kaltblütige Fechter, der im Kampf mit der lauernden Tücke des Berges jede Bewegung auf ihr Mindestmaß zurückführt.

Eine Weile schwiegen die beiden in ihrer seltsamen Stellung von Dachdeckern an einem Kirchturm, er frei in der Luft, an die Eiswand mit dem Rücken angelehnt in den beiden nischenartigen Schneewölbungen fußend, die er sich ausgehöhlt – sie über ihm in gezwungener Haltung an dem bißchen glatten Gestein halb liegend, halb stehend und mit den Fingern sich festknüpfend.

Ein paar schlanke Alpendohlen schossen plötzlich wie dunkle Nachtvögel aus dem Nebelwogen unter ihnen empor, umkreisten sie mit klagendem Geschrei, neugierig, ob die beiden menschlichen Körper tot seien oder ob die Wanderer lebten und frühstückten, und verschwanden, als sie sahen, daß keine Nahrung winkte, wieder wie schwarze Schattenblitze in der zähen grauen Luft.

»Ja – die Lawine!« wiederholte er und bog langsam, zollweise den Kopf, um nach oben zu spähen. »Seit langer Zeit ist keine mehr hier durchgegangen. Wenn wir jetzt das Lawinenbett überschreiten, riskieren wir, daß sie kommt und uns abfängt. Ganz sicher kommt sie. Auf so was lauert sie nur! Wir müssen warten, bis sie wieder gefallen ist. Dann ist der Weg frei!«

Sie nickte mit sachlichem Ernst. Die beiden verstanden sich ohne lange Reden.

Nach einiger Zeit klopfte er, immer mit der Behutsamkeit eines Seiltänzers, der auf einem, vom Kirchturm quer über den Marktplatz gespannten Tau steht, seine Pfeife aus, deren Aschenreste langsam an seinen Schuhenden vorbei in den Abgrund niederstäubten, steckte sie ein und holte an ihrer Stelle eine Flasche heraus, die er entkorkt seiner Begleiterin an den Mund hielt.

»Trinken Sie! Aber rühren Sie die Hände nicht. Lassen Sie den Stein nicht los. Fassen Sie den Flaschenhals mit den Lippen!«

Sie nahm einen Schluck Kognak und nickte dankend. »Hübsche Situation – das!« sagte sie schläfrig und schloß halb die Augen.

Er zuckte stumm die Achseln, als wollte er sagen: Das brauchten du und ich uns doch nicht erst zu erzählen, daß das Lawinentor der Jungfrau nichts für die Berggigerln ist.

»Sie hatten gestern recht!« hub sie endlich wieder an. »Auf solche Tour darf man keine Führer mitnehmen. Die haben alle Frau und sechs Kinder!«

»Aber ans Seil hätten Sie sich doch nehmen lassen sollen, statt daß wir es oben zurückließen!«

»Auf der Tour können Sie mich nicht halten, wenn ich falle, beinahe so wenig wie ich Sie! Wozu sollte ich mir also eine Begleitung ins Jenseits mitnehmen? Den Weg findet jeder allein ... Aber ich stürze nicht! Da müßte ich schon lange tot sein!«

Sie machte ein trotziges Gesicht, wie sie in die Tiefe niederschaute. Ihre Blicke trafen sich, während er wieder langsam den Kopf zu ihr drehte.

»Aber es liegt Ihnen nicht viel am Leben?« fragte er.

»Warum?«

»Nun – wenn man Bergbesteigungen macht wie Sie! Wieviele Alpinisten unserer Klasse gibt es denn auf der Welt? Ein paar Dutzend höchstens. Die müssen doch immer darauf gefaßt sein, daß ...«

Ellinor lachte leise auf. Ein warmer sonniger Schein lief über ihr Gesicht. »Ich lebe ja so gerne! Deswegen gerade! Gerade wenn man sein Leben liebt, muß man's aufs Spiel setzen. Nachher hat man's doppelt lieb! Es ist ja so schön, jung und gesund zu sein. Das heißt ... jung ... verstehen Sie das nicht falsch, wenn ich das von mir sage ...«

»Gewiß sind Sie's!«

Sie seufzte. »Vielleicht für die paar vernünftigen Leute auf der Welt, die sich sagen, daß ein Mensch – sei er Mann oder Weib – zwischen dreißig und vierzig doch noch kein Greis sein kann. Aber in den Augen der Menge ist ein Mädchen über dreißig nun einmal fertig mit dem Leben! Abgetan! Eine alte Jungfer! Sie hat keinen Mann gekriegt oder meist keinen haben wollen – sie hat ihren Beruf verfehlt – also fort mit ihr! In die Rumpelkammer der ›Fliegenden Blätter!‹ Ja – sehen Sie – und trotzdem klettert so etwas noch hier auf den Bergen herum, ein spätes Mädchen von dreiunddreißig, die doch längst mit Mops und Kaffeekanne in die tiefste Verborgenheit gehört – und ist so stark und keck wie ein Mann und freut sich ihres Lebens! Das müßte doch eigentlich polizeilich verboten werden – nicht?«

Er schüttelte vorsichtig, um nicht aus dem Gleichgewicht zu kommen, den Kopf. »Sie und eine alte Jungfer! Wir kennen uns nun doch schon seit drei oder vier Jahren. Glauben Sie denn, daß Sie sich irgendwie verändert haben in der Zeit?«

»Nein!« sagte sie unbefangen. »Ich hab' eigentlich immer so ausgeschaut wie ich jetzt bin! Das heißt also eigentlich nach gar nichts. Etwa wie ein Glas Wasser ... nicht hübsch und nicht häßlich! Ach, reden Sie doch nicht ... glauben Sie denn, das wüßt' ich nicht, daß ich im Gesicht so ... sozusagen neutral ausschau'! Ein großer Fehler! Wir haben ja die Verpflichtung, schön zu sein! So wie's meine Schwester Lotte ist! Die ist bildschön. Dazu sind wir ja einzig und allein da. Sonst gefallen wir ja euch nicht und werden das verhöhnteste Ding auf der Welt! Eine alte Jungfer! Meinetwegen!« Sie gab mit der Fußspitze einem losen Schneebrocken einen Stoß, daß er wie ein erschreckter Hase auffuhr und in weitem Bogen in den Abgrund sprang. »Was liegt mir daran? Man muß eben mit Anstand alt werden!«

»Man muß nicht immer. Ich finde, jeder Mensch ist auf ein bestimmtes Lebensalter zugeschnitten. Hat er das erreicht, dann ist er erst ganz er selbst und jünger als vorher. Und so kommt es mir vor – nein – wahrhaftig ... allen Ernstes, als ob Sie jetzt jedes Jahr jünger würden!«

Jetzt lachte sie hell auf. »Das ist das Neueste! Komplimente am Lawinentor! Zwischen zwei Kriegskameraden! Genug davon. Was wissen Sie überhaupt von derlei? Sind Sie denn überhaupt schon über dreißig?«

»Dicht daran! Aber eigentlich komm' ich mir viel älter vor. Ich seh' ja wohl auch so aus!«

Sie nickte. Es war ihr immer ein Rätsel gewesen, wie ihr schmächtiger, kaum mittelgroßer Gefährte es zu einem Hochtouristen ersten Ranges hatte bringen können. Es mußte wohl die Nervenkraft sein, eine unerbittliche Energie, die zuweilen, in Augenblicken der Gefahr, um seine schmalen Lippen spielte. Dann war er ein ganz anderer als sonst, als unten im Tale. Dort hatte sie oft Mühe, ihn überhaupt wiederzuerkennen, wenn er nach seiner Gewohnheit still, unscheinbar gekleidet und immer allein, ein Herdenreisender wie viele Tausend andere vor dem Hotel saß und mit seinen großen grauen Augen das Gewoge um sich her beobachtete, über dessen Nebeltiefen er noch vor kurzem hoch erhaben auf irgendeinem der unzugänglichsten Gipfel gestanden. Er sah dann geradezu melancholisch aus, wenn nicht zuweilen ein verstecktes, gleichmütiges Lächeln sein wenig sagendes oder wenig verratendes Gesicht mit dem kleinen blonden Schnurrbart erhellte –, blaß, beinahe kränklich.

Und nicht zum wenigsten trug zu diesem Eindruck bei, daß seine linke Schulter bedeutend höher war als die rechte und er sich auch gar keine Mühe gab, seinen Körperfehler zu verbergen. Und diesem, so stiefmütterlich an sich von der Natur bedachten Leibe hatte er trotzdem im Laufe der Jahre die Kraft zu den gefährlichsten Reisen, den schwindelndsten Gletscherfahrten abgerungen, daß er ein stummer, stählerner Diener seines Willens, seines Verstandes wurde. Das imponierte ihr. Manchmal fühlte sie sich ihm gegenüber scheu und befangen, wie von Furcht vor etwas Unbekanntem erfaßt.

Sie fröstelte in ihrer unbequemen Lage. Der Schneesturz, auf den sie warteten, lag hoch da oben stumm wie ein weißer Drache auf der Lauer und rührte sich nicht. Endlich wurde sie ungeduldig.

»Kommt die Lawine denn noch nicht?«

»Hoffentlich bald. Wenn sie kommt, schließen Sie die Augen und klammern Sie sich so fest, wie Sie nur können, an den Felsen. Ich muß dann unter Ihrem linken Arm durchgreifen, um an dem Steinzacken Halt zu gewinnen. Geschehen kann nichts, wenn Sie nur die Ruhe nicht verlieren. Die Lawine geht zwanzig Meter von uns in ihrem Bett herunter. Es ist also keine Gefahr!«

»Aber langweilig ist's! Schließlich – jede Kugel trifft ja nicht! Können wir nicht doch versuchen, vor der Lawine hinüberzukommen?«

»Ich denke nicht daran, verehrtes Fräulein! Zwar hänge ich nicht am Leben wie Sie! Es ist mir eigentlich alles gleich – Sein oder Nichtsein. Aber augenblicklich kämpfe ich mit dem Berge. Er ist mein Feind. Und ein Mann, der seinen Feind wissentlich das Spiel gewinnen läßt ... das tut man doch nicht!«

»Nein! Also Ihnen liegt nichts am Leben?«

»Wenig.«

»Warum denn?«

»Vielleicht, weil ich vom Leben zuviel hab'!« sagte er kurz.

»Was denn alles?«

»Viel Glück und Unglück! Es hält sich alles in der Welt die Waage!«

»Unglück auch?«

»Jeder Mensch, der etwas besitzt, ist unglücklich. Denn er hat doch Angst, es zu verlieren. Und ich fürchte, ich verliere bald meinen besten Besitz ...«

»So schützen Sie ihn doch!«

»Gegen den Tod ist kein Kraut gewachsen!« sagte er langsam. »Und mein Kind – mein armes, kleines Töchterchen wird bald zu leben aufhören, nachdem es kaum zu leben angefangen hat, vor wenigen Monaten ...«

Ellinor war ganz betroffen. Alles hätte sie eher geglaubt, als daß der junge, stille Bergsteiger an ihrer Seite, über dessen ganzem Wesen ein Hauch von Einsamkeit und Schwermut lag, Weib und Kind haben könnte ...

»Ist die Kleine denn sehr krank?« forschte sie teilnehmend.

»Mehr als krank ... kränklich ... ohne Lebenskraft ... Die Ärzte trösten mich ja immer noch ... aber ich bilde mir ein, daß sie hinschwindet von Tag zu Tag ... und dann gehe ich hinauf in die Berge, ohne rechten Zweck, so wie heute ... in so einer traurigen Herbststimmung. Aber reden wir nicht weiter davon ... bitte ... es hat ja keinen Zweck ...«

Die Nebel stiegen und sanken, drüben, von der grau verhangenen Ebenefluh knatterte ein Schneesturz, die Alpendohlen umkreisten pfeifend das einsame, halb in der Luft schwebende Paar, eintönig fielen die Tropfen von dem Felszacken, dessen dünne Eiskruste ihr warmer Körper allmählich schmolz – die Schläfrigkeit war da – die große Gefahr des Stillsitzens – des Matt- und Müdewerdens, auf die der Berg nur wartet, um brüllend über sein Opfer herzufallen.

»Wir müssen sprechen!« sagte er plötzlich mit lauter, energischer Stimme. »Der Stumpfsinn hier auf Vorposten ist von Übel. Da werden wir unversehens überrumpelt. Auf einmal schießen wir den Hang hinunter, tausend Fuß tief in die Gletscherspalte!«

Sie gähnte, die Augen öffnend, und ohne die Hand von dem Gestein lösen zu können. »Entschuldigen Sie!« sagte sie. »Hier hört sogar die Wohlerzogenheit notgedrungen auf. Ja – in die Gletscherspalte – das wäre schade! Hauptsächlich aus einem Grunde: dann würde ich überhaupt nie mehr erfahren, wer Sie eigentlich sind!«

»Ist denn das wirklich nötig, daß man sich immer gleich Stand und Namen und alle behördlichen Stempel gegenseitig vorzeigt, sowie man sich irgendwo durch Zufall auf dieser kleinen Welt findet? Es ist doch so viel netter! Wir treffen uns seit ein paar Jahren da und dort in der Schweiz, wie sich Hochtouristen eben treffen; wir machen, wenn Wetter, Zeit und Stimmung da ist, eine hübsche Tour und schütteln uns unten im Tal die Hand: adieu – auf Wiedersehen! Was hat unser Name, irgendeine beliebige Zusammenstellung von Buchstaben und Silben damit zu tun?«

»An sich gewiß wenig! Aber wenn es sich gerade so macht ... ich habe Ihnen nie ein Hehl daraus gemacht, daß ich mit meiner Schwester Lotte zusammen in München lebe – daß wir Waisen sind – schon seit dreizehn Jahren – und daß ich mich seit der Zeit unter Leitung des Professors Joseph Ranggetiner ein bißchen in der Bildhauerei versuche, ohne daß dabei freilich viel herauskommt ...«

Er nickte mit einem leisen Lächeln, »... und daß der Herr Professor ein sehr ärgerliches Gesicht machte, als wir beide uns vorgestern zufällig wieder einmal auf dem Bahnhof in Bern trafen und ich Sie beredete, mit mir auf das Lawinentor zu gehen. ... Jetzt wird er wohl schon mit Ihrer Fräulein Schwester unten in der Rothtalhütte angelangt sein und auf uns warten und in der Zwischenzeit gehörig auf mich schimpfen. Er scheint ja ein etwas ungeduldiger Kraftmensch zu sein!«

»So sehr viel Kraft hat er nicht! Seine Muskeln sind schwach. Eigentlich ist er in der Hinsicht trotz seiner Prachtfigur ein Blender. Aber ungeduldig – ja! Und er hat auch allen Grund dazu. Wir waren doch auf der Durchreise nach Griechenland ...«

»Jetzt - im Hochsommer! Welche Idee!«

»Waren Sie dort?«

»Wo war ich nicht! Sie werden jetzt dort von Moskitos gefressen. ... Sie kriegen das Fieber. ... Sie...«

Sie schüttelte den Kopf. »Ja – es mußte sein!«

»Wirklich? Warum denn?«

Sie stockte. »Dazu müßten Sie den Professor kennen! Es ist so viel in ihm – so viel einander Widersprechendes! Sie wissen, wie berühmt er ist – wie gefeiert. ... Alles mögliche hängt sich an ihn und lenkt ihn ab. Und er läßt sich so leicht ablenken. Und nun kam vor einigen Wochen die größte Gefahr – nach meiner Meinung wenigstens – für ihn und für seine Kunst. Ein deutscher Fürst, das heißt kein richtiger Bundesfürst, sondern ein mediatisierter, der schon lange sein Gönner ist – ich brauche ja nicht zu sagen, welcher – denn die Sache war ganz vertraulich und im strengsten Geheimnis – also der wollte ihn dauernd zu sich, an den Hof, in seine Residenz ziehen. Er will, nach dem Vorgang von Berlin, seine Residenz mit den Statuen seiner Vorfahren ausschmücken und ...«

»... und der arme Professor Ranggetiner soll alle die vierundzwanzig Statuen selber machen?«

Sie beugte sich mit großen Augen zu ihm herab. »Woher wissen Sie denn, daß es gerade vierundzwanzig sind?« fragte sie schnell.

Er zuckte die Achseln. »Zufall! Ich kam gerade auf die Zahl!«

Sie sah ihn mißtrauisch an. »Selber soll er natürlich nicht alle machen!« fuhr sie dann etwas unsicher fort. »Aber das Ganze leiten, beaufsichtigen, damit es einheitlich wird – nach einem Geschmack ...«

»Das heißt – nach dem Geschmack des hohen Herrn?«

»Ja. Und das ist kein Dutzendmensch! Ich kenne ihn vom Ansehen! Ungewöhnlich begabt – vielseitig – liebenswürdig – freigebig! Eben ein Herrscher. Er modelt eine schmiegsame Künstlernatur wie die Ranggetiners ganz nach seinem Belieben! Und das soll er nicht! Er soll ihn nicht sich selbst entfremden. Seiner eigenen Kunst! Seiner Größe.«

Sie war ganz erregt geworden. »Und, Gott sei Dank, der Meister ahnte doch diesmal die Gefahr ... Denken Sie nur: zehn Jahre an einem kleinen Hofe ...«

»Ja. Das kann ich mir sehr gut denken!«

»Und wie das seine Art ist, äußert sich, das in einer plötzlichen Niedergeschlagenheit. Er sehe sich schon als Hampelmann bei Hofe mit bunten Orden um den Hals! Ein Geißbub außer Diensten wie er! Aber es geschehe ihm schon recht! Er sei ja ein Stümper! Er mache sich ja selber mit Gewalt dazu oder lasse sich von anderen dazu machen! Es ginge ihm viel zu gut! Er fühle, daß er verflache durch den vielen Beifall und Erfolg, und die Gunst des Fürsten beweise gar nichts und der Neid der Kollegen sehr wenig, und auf die goldenen Medaillen pfeife er, und kurz und gut – er müsse weg, weit weg, nach Griechenland, das er noch nie gesehen, und sich in Olympia und Athen, auf dem Mutterboden, wieder echten künstlerischen Ernst holen.«

»Und Sie mußten mit?«

Sie lächelte halb. »Ich hab' ihn ja dazu beredet! Ich bin ja sein mahnendes Gewissen. Ich halt' ihn auf dem Weg nach oben, so gut ich kann. Daß er sein Bestes aus sich herausgibt und nicht, was die große Menge von ihm haben will. Denn dazu hat er in seiner gewöhnlichen Zeit eine bedenkliche Neigung und weiß es sehr genau und ist mir dankbar, daß ich ihm behilflich bin, dagegen anzukämpfen. Ich muß schon mit ihm nach Griechenland.«

»Und Ihr schönes Fräulein Schwester wird auch mitgenommen?«

»Ja – wo sollte sie sonst bleiben? Und allein kann ich doch nicht gut mit dem Professor reisen. Wir steigen ohnedies schon immer in getrennten Hotels ab und sehen uns nur bei Spaziergängen und auf der Eisenbahn – wegen dem Gerede der Leute ...«

»Und doch stand schon vor vier Jahren einmal in der Zeitung, Sie waren miteinander verlobt! Erinnern, Sie sich ... wir haben es noch zusammen gelesen ... im Engadin drüben ... damals, als wir uns zuerst trafen ... in unserem Tal der schwarzen Schmetterlinge, das wir gemeinsam entdeckt haben ... über St. Moritz ...«

Sie wandte den Kopf etwas ab. »Ja. Ich weiß. Aber es ist nicht wahr mit der Verlobung. Der Meister Josephus ist schon oft nach seinem Ausdruck totgesagt worden – ich meine verlobt! Wenn er da jedesmal wirklich geheiratet hätte! Gott weiß, wer das in die Zeitung gebracht hat. Mir ist's einerlei. Deswegen fahre ich jetzt doch mit ihm nach Griechenland.«

»Und der Herzog von Siebenwalden hat das Nachsehen?«

Sie erschrak. »Woher wissen Sie denn den Namen?«

»Nun – so schwer ist das doch nach der Beschreibung nicht zu erraten!«

Sie schüttelte den Kopf und machte ein finsteres Gesicht. »Wenn ich nur wüßte, woher Sie das alles immer gleich wissen! Wer sind Sie denn nur?«

Über das kränkliche Antlitz des verwachsenen jungen Bergsteigers flog ein Lächeln. »Das ist doch ganz gleich, was man da unten ist –« sagte er und spähte zur Höhe, ob die Lawine sich noch nicht zum Absturz rüstete. »Hier oben haben wir unsere eigene Welt. Eigentlich doch das, was die große Masse im Tal und der Ebene umsonst erstrebt – die allgemeine Gleichheit! Zwischen Mann und Weib – beides sind nur noch gute Kameraden am Seil und über Abgründen. Zwischen Herrn und Diener. Denn mein Führer befiehlt mir, nicht ich ihm. Zwischen allen Ständen. Wer fragt hier oben außer Ihnen den anderen nach Nam' und Art! Zwischen allen Nationen! Das sind alles nur noch hungrige Männer und Frauen, die sich in der Schutzhütte ihre Erbssuppe kochen, statt sich über China oder Transvaal den Kopf zu zerbrechen – kurzum – hier ist Friede und Vernunft! Warum? Weil die Masse nicht herauf kann! Zehntausend Fuß stehen dazwischen. Das Schlimme ist nur: wir müssen wieder zu der Masse hinunter. Unsere Zeit auf den Höhen ist kurz, nur die paar Sommermonate – wenn der letzte Frühlingsschnee geschmolzen ist, bis zum ersten Herbstreif. Dann heißt's, die Eisaxt einpacken und ins Tal, und alles legt dort seine Maskerade wieder an und stiebt auseinander über Länder und Meere und vergißt sich bis zum nächsten Jahr.«

»Ja – das ist richtig!« sagte sie. »Offen gestanden – den ganzen Winter hab' ich nie an Sie gedacht. Aber wenn der Frühling kommt und es wird Zeit, wieder auf die Berge zu gehen, dann stehen Sie eines Tages wieder so leibhaftig in meiner Erinnerung, als hätten wir uns gestern erst lebewohl gesagt ...«

Er nickte, mit einem trübsinnigen Ausdruck auf dem klugen, kränklichen Gesicht. »Was dazwischen liegt, ist ja auch ganz gleich,« sprach er, »gleichgültig und dumm ...«

Sie machte, nach oben spähend, eine Handbewegung. Er folgte ihrem Blick und beide hielten den Atem an.

»Die Lawine?«

»Ja!«

Hoch aus den Wolken klang es wie das dumpfe Murmeln und Plaudern einer erregten Menschenmenge.

»Sie kommt?«

»Sie kommt!« Er griff mit einer ungewöhnlich raschen Bewegung unter ihrem Arm durch nach dem Felsen. »Jetzt festgeklammert! Die Augen zu! Die Besinnung nicht verloren! Es kann uns nichts geschehen!«

Von oben rollte es hernieder in einem Donner, einer Eile, die sich nur mit einem vergleichen ließen, dem Brausen eines heranrasenden Schnellzugs. Die Luft verfinsterte sich vor den Wolken aufgepflügten Schnees. Ein eisiger Sturmwind fuhr im Wirbel, alles an sich saugend, alles mit sich reißend, was sich nicht platt an den Boden hinklammerte, gellend hinter dem betäubenden Knattern und Krachen her, in dem sich die weißen Massen übereinander strudelten und wälzten. Durch den Staub der brausenden Lufttrichter sprangen zerschellte Eistafeln, spritzende Brocken festgebackenen Firns, zerschmetterte Felsblöcke –- alle miteinander im wütenden Wettlauf nach dem Abgrund – gleich einem schäumenden Wildbach rauschte und rutschte in Windeseile der pulverartig feine weiße Neuschnee hinterher, eine tödliche Grabeskälte wehte aus seinen pfeifenden Wirbeln – ein höhnender Hauch wie ein Vorbote unvermeidlichen Untergangs auf jenem dräuend weiß wie ein bereites Leichentuch vor ihnen liegenden Steilhang, über den der Lawinensturz hurtig hinab in das gastlich offene, schwarze Grab der Gletscherspalten glitt. Oben wurde er dünner und dünner – sein Bett trocknete aus – ein feines, schneidendes Singen verzitterte in der Luft und unten verkündete das Brüllen der Nebelwildnis die Ankunft der neuen Lawine.

Einige Sekunden blieben die beiden Gestalten oben noch an dem Felsen hängen, wie betäubt von dem Gepolter des Schneeschwalls, wie erstickt von seinen hinstiebenden Sturmwellen, dann kam langsam wieder Leben in sie. Sie blickten auf und rührten vorsichtig die von langem Kauern auf eisigem Gestein steif gewordenen Glieder.

»Los nun! Der Weg ist frei! Wir haben Zeit genug bis zur nächsten Lawine.«

Er hieb behutsam, mit tastenden Schlägen, eine Stufenbahn schräg hinunter über das glatte, blank vereiste Sturzbett, das schnurgerade, scheinbar senkrecht nach abwärts führte, mit seinem Spiegelglanz förmlich zu einem Sturz in die Tiefe einladend. Ein verspätetes Eisstückchen sprang mutwillig an ihnen vorbei, während sie inmitten der blankgefegten, breiten Rinne standen. Sie wagten nicht, seinen Sätzen mit dem Blick zu folgen. Sie wußten: wer hier unversehens schwindlig wurde, wer hier auch nur für einen Bruchteil einer Sekunde das Gleichgewicht verlor, für den gab es keine Rettung mehr. Er schoß kopfvor und lautlos hinab in den stillen Nebel und ward nicht mehr gesehen.

Jetzt standen sie am anderen Ende des gefährlichen Wegs. Steil, wie ein dickbeschneiter Dachfirst, senkte sich zu ihren Füßen die Bergwand, hart neben ihnen schon wieder von den langen Rillen der Lawinen durchzogen. Hier war die äußerste Gefahr. So rasch sie nur vermochten, klommen sie, die Hacken in den knirschenden Schnee stoßend, den Pickel rücklings festgestemmt, dem Talkessel entgegen, aus dem Spielplatz des Todes hinaus. Schon sahen sie auf ein paar hundert Schritte unter sich die Mulde liegen, mit ihren strahlenförmig von allen Seiten wie im Netz einer Kreuzspinne zusammenlaufenden Lawinenfurchen und dem gespenstigen Unschuldweiß des eben herabgestürzten Schnees – da blieben sie plötzlich stehen. Sie waren vor der Randkluft angekommen, dem Festungsgraben, mit dem der Gletscher sich hoch am Fuß der Berge umkränzt. In vielfach gebrochenen Winkeln und Zickzacklinien lief der tiefe Schrund unregelmäßig längs der Hänge hin. Er mußte überwunden werden – und rasch, ehe von da oben das unheilverkündende Brausen und Rollen wieder erscholl und mit rasender Eile näher kam.

Er ließ seine Augen forschend längs des gähnenden Risses hingleiten. »Courage jetzt! Jetzt müssen wir hier hinüberspringen. Es ist zehn Fuß breit und etwa zwölf Fuß tiefer bis zum anderen Rand. Das muß gehen! Aber genau abmessen! Wer zu kurz springt, stürzt in die Randkluft. Wer zu weit springt, gleitet drüben auf dem Eishang aus und rollt auf den Gletscher hinunter. Man muß auf den Zoll die schmale Kante da unten treffen!«

Mit einem mächtigen Satze war er, die Eisaxt wie eine Balancierstange hoch über den Kopf haltend, drüben, stand fest wie eine Statue auf dem Firngesims und winkte ihr.

Ihr Gesicht war bleich. Sie hob sich sprungbereit auf den Fußspitzen. Aber dann hielt sie wieder an sich und zuckte zurück.

»Oho!« sagte er von unten langgedehnt und bedauernd. »Angst?«

Sie nickte finster in den Nebel hinein. Ihre Brust hob und senkte sich rasch.

»Das war doch früher nicht!«

»Nein – es ist das erste Mal! Ich begreife es selber nicht! Ich werde doch alt – trotz allem, was ich vorhin sagte. Jetzt merk' ich's!«

Sie hob sich wieder zu einem Anlauf und zögerte mit zusammengepreßten Lippen.

»Vorwärts!« schrie er heftig. »Muß man denn immer schließlich grob werden?«

Es war, als hätte sie nur auf seinen barschen Befehl gewartet. Im nächsten Augenblicke war sie neben ihm und schnellte, ungeduldig seiner Hilfe wehrend, mit einer eleganten, beinahe koketten Bewegung aus der Kniebeuge empor. »Unsinn!« murmelte sie dann zornig vor sich hin und schüttelte den Kopf. »Das fehlte mir noch ... alt und steif werden! Das gibt's nicht wieder. Entschuldigen Sie nur ...«

Jetzt begann die letzte Strecke ihres Abstiegs, der letzte Wettlauf mit dem von oben drohenden Lawinensturz, der nun jeden Augenblick sich wiederholen konnte. Das Schlachtenglück war mit ihnen. Wohl schossen ringsum die knatternden und rauchenden Schneebäche vom Gletscherhorn und der Ebenefluh und, nicht weit von ihnen, aus dem Lawinentor selbst hernieder und erfüllten die stille warme Nebelluft mit ihrem mißtönenden Donner – aber gerade zu ihren Häupten blieb alles still und stumm, bis sie tiefaufatmend durch den weichen Schnee im Grund des Kessels wateten und hasteten. Vielleicht fing noch im äußersten Augenblick die erzürnte Jungfrau mit kalter Riesenhand sie ein und erstickte sie unter einer niederrollenden weißen Wand – aber nein! Schon waren sie aus dem gefährlichsten Bereich heraus, schon lagen die letzten verräterisch hellen Hügel hinter ihnen – was jetzt noch kam, war nichts als eine kurze vorsichtige Gletscherwanderung längs der Jungfrauflanke zu der Klubhütte.

Gigantische Felsblöcke staken hier wie vorsündflutliche Mammuts in dem Schnee, aus dem tiefer unten reihenweise die Schlünde des Rothtalgletschers klafften. Die Wolken umzogen den schauerlichen Hochkessel und schlossen oben mit ihrem wesenlosen Gespinst die senkrecht niederstürzenden Wände ab, daß das Ganze einem wüsten Riesenkerker glich, in dem unheimlich Todesstille und Lawinengebrüll miteinander wechselten. Sonst kein Laut – keine Buntheit – alles weiß in weiß, glasiger Gletscherglanz, milchiger Schneeflimmer, die Luft von Hand in Hand wallenden, durchsichtig fahlen Dunstgebilden wie verschleiert, der Himmel darüber leichenbleich, in kreidefarbenen Höhenschwaden verschwimmend, das Reich des Nichts – eine tote Welt.

Und durch das Nichts klang plötzlich eine Stimme:

»O Lebens Mittag – feierliche Zeit!
O Sommergarten!
Unruhig Glück im Stehn und Spähn und Warten!
Der Freunde harr' ich. Tag und Nacht bereit.
Wo bleibt ihr Freunde? Kommt! 's ist Zeit! 's ist Zeit!

War's nicht für euch, daß sich des Gletschers Grau
Heut' schmückt mit Rosen?
Euch sucht der Bach, sehnsüchtig drängen, stoßen
Sich Wind und Wolke höher heut' ins Blau,
Nach euch zu spähn aus fernster Vogelschau ...«

Die beiden vom Berge blieben stehen. Noch hämmerte das Blut durch ihre Adern in der Nachwirkung von Lebensgefahr und Todesnot, in ihren Ohren summte und knisterte noch der Widerhall des Lawinendonners, vor ihren Augen lag es wie ein Schleier, ein Zwiestreit von schläfriger Muskelermattung und nachzitternder äußerster Erregung der Nerven umfing sie wie ein Rausch, wie eine Betäubung, so daß sie selbst nicht mehr wußten, was an den, seltsam aus dem Gewirr der Steinblöcke durch den Nebel hallenden Lauten Wirklichkeit war und was ihre überreizten Sinne ihnen vorspiegelten.

Aber kein Zweifel: da saß ein Mann auf einem Felswürfel über dem Gletscher und ließ die langen Beine hinabbaumeln, ein magerer ältlicher Mann mit faltigem Magistergesicht, die goldene Brille hoch in die Stirne geschoben, ein verzücktes Lächeln um die grämlichen Mundwinkel, wie ein Prophet, der von nebelumbrauter Höhenkanzel der Gletscherwelt da unten den lautlos und bewegungslos im Kreise hockenden und horchenden abenteuerlichen Gebilden des ewigen Eises seine Weisheit predigte:

»Ich suchte, wo der Wind am schärfsten weht –
Ich lernte wohnen,
Wo niemand wohnt, in öden Eisbärzonen,
Verlernte Mensch und Gott, Fluch und Gebet,
Ward zum Gespenst, das über Gletscher geht...«

Seine Zuhörer schüttelten den Kopf. Ein leises Grauen faßte sie. Das alles kam ihnen wie eine Vision vor. Unwillkürlich hielten sie den Atem an sich, wahrend sie leise nähertraten.

Und wieder klang es von der Gletscherkanzel, wo der Prediger in der Wüste seine langen mageren Arme ausbreitete, als wollte er die stumpfsinnig ferne glotzenden Eisklötze umarmen und an sein Herz ziehen:

»Nicht Freunde mehr, das sind – wie nenn' ich'« doch!
Nur Freundsgespenster!
Das klopft mir wohl noch nachts an Herz und Fenster.
Das sieht mich an und spricht: ›Wir waren's doch!‹
O welkes Wort, da« einst wie Rosen roch!

O Jugendsehnen, das sich mißverstand! –
Die ich ersehnte,
Die ich mir selbst verwandt-verwandelt wähnte,
Daß alt sie wurden, hat sie weggebannt.
Nur wer sich wandelt, bleibt mit mir verwandt.

O Lebens Mittag! Zweite Jugendzeit!
O Sommergarten!
Unruhig Glück im Stehn und Spähn und Warten!
Der Freunde harr' ich, Tag und Nacht bereit,
Der neuen Freunde! Kommt! 's ist Zeit! 's ist Zelt!«

Der Alte oben rückte seine Brille zurecht, schaute, wie aus einem Traum erwachend, um sich und erblickte die beiden Bergsteiger, die sich schon dem Fuß des Felsen näherten. Sein ohnedies hypochondrisches Gesicht wurde essigsauer. Er machte eine unwillkürliche Bewegung des Abscheus. »...Menschen!« knurrte er erschrocken. »O pfui! Menschen!«

Dabei raffte er Rucksack und Eispickel, die neben ihm lagen, zusammen und funkelte zornig durch die goldgefaßten Augengläser auf die Störenfriede hernieder. Die unten blieben stehen. Sie wußten nicht recht, was die hagere Gestalt auf der Steinhöhe bedeutete. Vielleicht ein Sonderling – ein gelehrter Narr, der da in der Einsamkeit sein Wesen trieb – vielleicht ein Kranker, ein Geistesgestörter, der sich der Aufsicht entzogen – vielleicht gar – ihre Herzen begannen zu pochen – am wahrscheinlichsten ein Ding, das gar nicht da war, das niemand außer ihnen sah und hörte, ein Trugbild ihrer vom Bergfieber überreizten Augen und Ohren.

Stumm und vorsichtig schlichen sie um einen Schneehügel herum, der ihnen den Weg zu dem Felsen sperrte. Aber als sie herantraten, war die Platte oben leer. Keine Spur mehr zu entdecken, daß eben noch ein lebendes Wesen auf ihr geweilt, und in der weißen Urwelt um sie her kein noch so ferner Menschenlaut, kein Menschenbild. Stumme Eisgebilde genug in der Ferne, im Wirrwarr der Schlünde des Gletscherabsturzes, wie eine ganze, vor jener Predigt von oben zusammengebrochene Tempel- und Götterwelt – schmelzende Firnkapellen mit in Wasser zerfließenden, unförmlichen, knieenden Mönchsgestalten, die letzten Spitzbogen gläserner gotischer Dome, schiefe Minarets, zerschellte Götzensäulen, niedergestürzte Synagogen – ein Kirchhof der Kirchen, über die heiter und hart der Hauch der Höhen wehte – aber nichts Lebendes mehr in der Runde.

»Fort!« sagte der junge Bergsteiger. »Einfach im Nebel verschwunden!«

»Wer mag es nur gewesen sein?«

»Ich weiß nicht. Eine sonderbare Idee, sich in Eis und Höhen hinzusetzen und dem Gletscher aus Nietzsche vorzupredigen. Es war der Schlußgesang von ›Jenseits von Gut und Böse!‹ Aber eigentlich ist's doch der rechte Ort...«

Er brach ab. Er hatte einen Augenblick die sonderbare Vorstellung, als sei das, was da ängstlich im Bergdämmern entflohen, wirklich der freigewordene Geist des toten Dichters und Denkers, der wieder, vom Leib erlöst, auf die Wanderschaft gegangen war und über jene einsamen Alpenhöhen schweifte, in denen er einst seine Offenbarungen empfangen...

Das Rollen eines Lawinenstroms, der als lang hingezogener weißer Wasserfall in der Ferne die Hänge der Ebenefluh niederglitt, weckte ihn aus seinen Gedanken.

Seine Begleiterin wandte sich zu ihm: »Woher kennen Sie denn das Gedicht?«

»Mein Gott! Ich hab' es gelesen.«

»Ich möchte nur einmal irgendein Ding auf der Welt wissen, daß Sie nicht gesehen oder gelesen haben. Gibt es überhaupt derlei?«

»Wenig!«

»Das muß aber doch eigentlich sehr langweilig sein?«

»Das ist es auch.«

Wieder knatterte es in ihrer nächsten Nähe. Vom Jungfraucouloir her prasselte eine Schneelast nieder und grollte dumpf durch die Schlünde des Kerkerkessels dahin. Unwillkürlich beschleunigten sie, obwohl sie sich längst in Sicherheit wußten, ihre Schritte. Nach der schweren Muskelanstrengung, der stundenlangen Nervenanspannung des Abstiegs kam jetzt der Rückschlag. Sie waren erschöpft und zitterten trotz der stillen, lauen Nebelluft vor Kälte in ihren dicken Loden.

Zwischen einem Gewirr haushoher, von der Flanke des inneren Rothtalgrates herabgerollter Steinwürfel lagen zwei niedrige, ängstlich an ihre massigen Nachbarn angeschmiegte Schuppen. Aus dem einen, etwas wohnlicher aussehenden kräuselte sich ein dünner, bläulicher Rauch.

Die beiden Höhenwanderer atmeten befriedigt auf. »Also da ist die Rothtalhütte,« sagte er, »und wir sind wieder einmal mit heilen Knochen unten! Ihre schöne Schwester und ihr Begleiter sitzen wohl schon darin und warten. Die müssen sich doch sehr um Sie geängstigt haben!«

»O nein! Die denken beide nur an sich selbst!«

»Aber eine warme Suppe werden sie wenigstens für uns haben?«

»Hoffentlich! Das Feuer brennt ...« Sie stieß die Türe auf und blieb enttäuscht stehen. Der Raum war leer.

 


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