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XVIII.

Der Vollmond war über Attika aufgegangen. Unten in der Stadt herrschte noch lautes Leben, jetzt, wo die Glut des Nachmittags schwand und vom Piräus her eine leise Seebrise die weite Ebene kühlte. In dem Lustgarten des Zapteion wimmelte es von Menschen und Wagen – Pariser Stutzer und Modedamen, in elegantem Französisch statt in ihrer Muttersprache flirtend und medisierend, langbärtige und langlockige Popen und Mönche der orthodoxen Kirche, säbelrasselnde Leutnants, befrackte Kellner mit Platten voll Fruchteis und Eisgetränke, weiter nach dem Schatten hin Bettler und Zeitungsjungen, Matrosen aus dem Hafen und ein paar neugierige, weißbärtige Bauern, in ihrem kurzen Ballettröckchen statt der Beinkleider, in ihren Schnabelschuhen und türkischen Fez, ein Stückchen farbiger Orient in diesem westeuropäischen, verblaßten Boulevardleben, über das hin die Militärmusik die neuesten Operettenwalzer klingen ließ.

Weit abseits von den bunten Lampen und dem bunten Gewühl, zwischen dem Denkmal Byrons und den teils noch riesenhaft ragenden, teils als geborstene Kolosse den Boden deckenden Säulen des Hadrianschen Olympieion blieb Ellinor stehen. Sie wußte selbst kaum, wie sie hierher gekommen war. Sie war aus dem Hotel weggegangen, in die warme, helle Nacht hinaus – ohne Zorn, ohne Bitterkeit – nur in einem Gefühl tiefer, mutloser Schwäche.

Schweigen – Leiden – Sich-ergeben – es war sonst nicht ihre Art. Aber ein kranker Mensch ist sich selbst ein fremder Mensch. Sie hatte sich das vorhin schon gesagt, als die beiden in das Hotel traten und sie Lotte und sich im Spiegel sah – rosige, verträumte, zärtliche Jugend und daneben etwas Bleiches, Müdes. Sich selbst.

Sie hatte geschwiegen zu allem. Selbst die scheuen Blicke des Meisters Josephus hatte sie nicht erwidert. Wozu auch? Schließlich hat immer der auf der Welt recht, der rote Backen hat und lacht. Wer altert, verlernt das Lachen. Heute fühlte sie mit Schrecken zum erstenmal: du bist alt. Und die Beiden sind jung – ,der kraftstrotzende Meister Siegfried und sein Lottchen, sein Spielzeug, das mit ihm spielt. ...

Er stand wie Ellinor in den Dreißig. Drum war er jung und sie nicht. Zehn Jahre liegen zwischen Mann und Weib. Dann sind sie gleich. Die Altersgenossin des Mannes ist ihm überaltert. Er wendet den Blick von ihr, zur Jugend hinter ihr, zu dem reizenden Kindergesicht mit den großen Märchenaugen. ...

Solche Angst macht müde. Das Fieber macht müde. Es kam alles zusammen zur dumpfen Ermattung des Körpers und des Geistes. Sie hätte sich ja noch einmal aufraffen können, ihn drängen und bitten, ein zweites Telegramm hinter jenem herzusenden – eine Absage nach der Zusage – er war ja so schwach den Frauen gegenüber. Die letzte hatte immer bei ihm recht. Aber sie wagte es nicht, in unbestimmter Furcht, daß das Fremde, Trennende, das seit diesen letzten Tagen unheimlich zwischen ihnen sich wob, daß das ausgesprochen werden könnte und Gestalt gewinnen.

Es brauchte ja so wenig dazu. Es gibt einen Blick, ein Wort, die man nicht vergißt. ...

Dann ist es zu Ende.

Sie ging weiter. Immer weiter. Hinaus in den Mondschein und die Nacht. Hinter ihr blieb, was lärmend war, wirklich und greifbar. Und vor ihr dehnte sich, wie sie langsam am Fuße der Akropolis hinschritt, wiederum wie am Morgen die schweigende Trümmerwelt von Hellas, die Theater- und Tempelruinen, die sie heute vormittag nur im grämlichen Regengeriesel geschaut und die jetzt erst wieder ihre eigentliche Gestalt, ein Festgewand von silbernem Lichte, angelegt zu haben schienen.

Vor den Propyläen stand ein Wächter. Sie besann sich, daß sie eine Einlaßkarte bei sich hatte, die ihr der Hotelportier, als sie wegging, gegeben, und betrat mit klopfendem Herzen die weite weiße, totenstill und menschenleer im Mondschein daliegende Fläche der Akropolis. ...

Das war nicht mehr die Welt da unten, aus der sie kam. Das war ein Traum. Ein Märchentraum in Blau und Weiß. Ein Weben geheimnisvoller veilchendunkler Schleier, lichtblauen, durchsichtigen Schattenflors, silbern zitternder Strahlen um schneeiges Gestein. Heute waren die Werke der Akropolis herrlich wie am ersten Tage. In keuscher Weiße, wie eben aus der Hand des Meisters entstanden, ragte die Quaderwucht der Tempel, in fleckenloser Reinheit gleich dem Firn auf ewigen Höhen spiegelte sich unter ihnen weithin über den heiligen Berg der blendendbleiche Marmor des Bodens und aus ihm hoben sich wie mattkristallene Eistürme die einzelstehenden Säulen des zerbrochenen Hauses der Jungfrau empor zum bestirnten Himmel, dessen violettes Dämmern, auf den Wellen des Mondlichts niederflutend, sie mit der Nacht seiner seidenweichen Schatten kosend umfing. Hier, im Schweigen der Geisterstunde, lebte Hellas wieder auf, der verwüstete Rastort der Schönheit auf ihrem flüchtigen Flug über Völker und Zeiten. Hier verschwammen Wahrheit und Traum zu dem, was nie ist und ewig war, zu jenem Märchentempel, den sich die Sehnsucht in fernen Landen baut, zum heiligen Gral über der Erde und ihren Niederungen, den kein Menschenauge je geschaut und dessen Bild die Künstlerbrust doch ewig in sich trägt.

Alles war still. Ganz in der Ferne glitzerte es silbern über tiefblauen Streifen – das Meer von Salamis. Ein Seehauch wehte von dort, leise, sanft, als fürchte er, die weichen Linien der Nacht zu lüften, die sich als ein Märchengespinst um die tote, bräutliche Pracht der Akropolis woben.

Ein Märchen war das alles. Zu jeder anderen Zeit hätte es die Pilgerin, die zu ihm emporgestiegen, in seinen feierlichen Frieden gezogen. Heute nicht. Sie saß auf einem Steinblock, die Augen halb geschlossen, und ihre Gedanken entflohen der schmeichelnden Ruhe der Umgebung.

Ein wachgewordener Schrecken war in ihr. Lange hatte sie ihn niedergekämpft. Jetzt war es umsonst. Die beiden da unten konnten sich ja nicht verstellen! Wie sie ins Zimmer getreten waren, unbefangen, lachend, überzeugt, daß niemand ihr Geheimnis ahne, sah sie, als wäre sie dabei gewesen, alles, was an der Bucht von Salamis vorgegangen. Es war, als sei etwas Drittes mit dem Paar durch die Türe hereingekommen, etwas ihnen beiden Gemeinsames, Unsichtbares, das ihn ihr ähnlich machte, selbst in Blick und Sprache, und sie ihm.

Allmählich wurde sie ruhiger. Lotte – du lieber Gott – sie lächelte müde und mitleidig bei dem Gedanken an die törichte kleine Schwester – die war ja eigentlich noch ein halbes Kind. Die wußte gar nicht, was sie tat, und tröstete sich leicht.

Und er? Sein Herz war schon oft auf die Wanderschaft gegangen und reumütig wieder zu ihr zurückgekehrt. Das flog alles vorüber bei ihm, wenn sie ihn nicht verließ.

Wenn sie ihm jetzt wieder nach dem Engadin folgte! Geduldig, wie eine Sklavin ihrem Herrn. Und sie wußte ja – sie tat es! Sie konnte ja nicht anders.

Mit überströmenden Augen, Bitterkeit im Herzen, schaute sie zu dem goldfunkelnden Schwarz des Himmels empor, zu der stillen Schneepracht des Tempels rings umher und in den weiten, weihevollen Frieden der Sommernacht. Und dann kam der Trotz über sie – der Trotz gegen sich selbst ...

Und wenn der Meister Josephus zehnmal klein und niedrig war – sie liebte ihn eben! Wer nur verliebt ist, begreift das nicht. Der Verliebte sieht keinen Fehler an dem anderen Ich. Er pflegt und hätschelt sie, bis sie vor seinen Augen zu neuen Vorzügen werden. Aber wer wahrhaft, durch Jahre liebt – der weiß: Lieben heißt Verzeihen! In der Vollkommenheit eines anderen aufzugehen, das ist nichts. Aber ihn in seiner Menschlichkeit und Allzumenschlichleit, in seinen Schwächen und Gebrechen zu sehen und in seinen Schwächen und Gebrechen, in seinen Niederungen, selbst in seinen Verirrungen so anzuschauen wie sich selbst – als einen armen Menschen, der kein Geheimnis vor uns haben kann, weil er ganz mit uns eins ist – das war ihre Liebe zum Meister Josephus, ihre Demütigung vor sich selbst, ihr Stolz über sich selbst hinaus ...

Manchmal hatte sie den Gedanken, es müsse doch schön sein, ein Mann zu sein, statt nur durch den Mann zu leben, vom Manne bedingt, dem Manne untertan. Ein Wesen aus zweiter Hand – das schien ihr dann das liebende Weib! Dann schrie etwas in ihr: Erlöse dich vom Manne! Werde zum Menschen! Werde du selbst!

Aber dann graute ihr vor dem Gedanken, wie vor einem Blick in grenzenlose Öde. Ein Leben ohne Liebe – das mochten Männer ertragen. Ein Weib nicht. Und sie wußte ja – sie konnte nach dem Meister Josephus keinen Mann mehr lieben.

Sie stand auf, ganz ruhig und gefaßt. Er war ihr Schicksal. Sie lebte für ihn und wenn sie ihn verlor, mußte sie sterben. Dann hatte die arme Seele ihre Ruhe und war erlöst vom Manne ...


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