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Drittes Buch

XIII.

Ein riesenhaftes offenes Grab gähnt zum blauen Sonnenhimmel Griechenlands empor, auf eine Viertelstunde im Geviert in dem sumpfigen Wiesental des Alpheios ausgeschachtet. Über seinen glatten gelben Lehmwänden nickt das Riedgras, stumpfsinnige Kuhköpfe lugen in die Tiefe, fernes Hundegebell, das Summen zahlloser Stechmücken über fieberdünstenden Tümpeln durchzittert die Abendschwüle, die bleiern auf dem Chaos da unten brütet. Gigantische Säulentrommeln, zersprungene Tempelquadern, vierkantige Riesensockel, Bruchstücke von Steinstufen, Mauerreste, Schutt und Splitter der Jahrtausende zu ungefügen Bollwerken gegen die Barbaren aufgetürmt, von wütender Christenhand zerstört, vom Erdbeben durchschüttelt, von Wasserfluten überschwemmt, mitleidig von rutschenden Bergmassen begraben und doch wieder mit Hacke und Spaten an das Licht geschaufelt – so liegt Olympia da, eine steinerne Stätte des Todes, ein Siegestempel des grauen Nichts aus verwittertem, unheimlich leichenfarbenem Muschelkalk.

Lange Giftschlangen rollen sich auf den heißen Säulenstümpfen und gleiten listig züngelnd zwischen Sumpfrohr und buntem Mosaikboden auf der Froschjagd dahin, große weiße Schildkröten watscheln, das Gras weidend und wie Gänse fauchend, über den Fleck Fiebererde, der einst dem Wunder der Welt, dem goldenen Zeus des Pheidias, zum Thron gedient, und dort drüben, wo vor Zeiten durch die Torwölbung, ein Schwarm heiterer nackter Götter, die olympischen Kämpfer ihren Einzug auf den Festplatz hielten, da harkt ein schmutzstarrender slawischer Winzer schweißtriefend, mit dem stumpfen Ausdruck des sorgengeplagten Knechtes, in seinem Rosinengarten. Neben ihm kläfft sein tückischer, halbverhungerter Köter, und überall aus den glühenden Rebpflanzungen tönt dasselbe Spatenschürfen und Hundegewinsel – ein ewiges Lied: Im Schweiß des Angesichts sollst du dein Brot essen. Und nicht wissen, was Lachen heißt und Glück und Schönheit!

Einst hat man hier gelacht. Wo jetzt die Vipern zischen und das Röhricht raschelt, da saß wohl einst Perikles, der Olympier, mit seiner Aspasia. Da schritt Themistokles zum Stadion, umbraust vom Rausche des Siegesjubels von Salamis, da lenkte Nero im Cäsarenwahnsinn seine milchweißen Rosse zum Wettlauf, der Herr der Welt, der nach den Ehren dieses winzigen Stückchens Erde geizt...

Vorbei! Vorbei! Die Kühe blöken. Behaglich wiederkäuend liegen sie in der Sonne. Der Alltag bleibt und käut ewig das alltägliche Gestern wieder. Die seltenen Feierstunden der Menschheit verwehen im Winde. Kaum ein Hauch bleibt übrig, ein grauer Schatten der bunten Pracht – nur eben noch so viel, um mit seinem wüsten Todesacker aus Muschelkalk und Marmor das sehnende Auge zu enttäuschen.

Meister Josephus seufzte. Wie er so auf einem Säulenstumpf dasaß, in den großkarrierten Staubanzug gehüllt, eine schottische Mütze auf dem blonden Löwenhaupt – da ähnelte er einem jener majestätischen vollbärtigen Lords, als die man sich früher die reisenden Engländer vorstellte – ein satter, gelangweilter Olympier voll verdrießlicher Ruhe.

Ellinor kauerte neben ihm. Sie schwiegen beide schon lange Zeit.

»Unheimlich ist's hier!« sagte er endlich. »Gespenstig! Wenn ich einen Totenschädel in der Hand halte, kann mir einer lange einreden, das sei einmal die schöne Helena gewesen. Ich glaub's dem Kerl nicht! Ich ärgere mich bloß darüber! Und über dich, daß du mich zu der Reise nach Griechenland verleitet hast...«

Sie schüttelte lächelnd den Kopf. Er meinte es ja nicht so schlimm. Es war seit jener Abendstunde vor dem Hotel im Berner Oberland nicht mehr zwischen ihnen von der Villa in Florenz und den gemeinsamen Lebensplänen die Rede gewesen – aber dafür um so stärker ein stummes Sich-eins-fühlen, das verstohlene Mitwissen und Mithüten eines ihnen beiden gleichmäßig gehörenden kostbaren Geheimnisses.

Seine Gedanken gingen denselben Weg wie ihre. »Und du hast der Lotte auch wirklich nichts davon erzählt?« hub er plötzlich an, als hätten sie sich die ganze Zeit darüber unterhalten.

Sie verneinte durch eine leise Bewegung, als wollte sie sagen: ›Ach, Lotte!‹, und faßte seine Hand.

Die hielt er fest. Wieder saßen sie eine Weile stumm beisammen. Und in ihrem Ohr zitterte der Hall der letzten Worte nach, ein Klang von »Lotte«.

»Mir wird die Lotte von Tag zu Tag greulicher!« murmelte Meister Josephus düster. »Je mehr man sich Griechenland nähert. Je mehr man Mensch wird, im eigentlichen Sinn! Und dann läuft so eine lebendig gewordene Puppe aus dem Spielzeugladen um einen herum und tut, als sei sie auch ein Mensch! Zu einfältig ... die Lotte...«

Sie erwiderte nichts.

»Und gerade jetzt...« fuhr er fort. »Gerade heute ... diese Wirtschaft auf der Eisenbahn – mit Orangenkaufen und Rosinen und dem Photographenapparat und der verlorenen Plaidrolle und der zu teuren Hotelrechnung in Korfu – all dies Geschnatter! Es macht mich schon ganz nervös! In der Nähe des Hermes!...«

Er drehte sich um und warf einen langen Blick nach rückwärts, wo in einer Viertelstunde Entfernung zwei Gebäude von einem Hügel schimmerten – ein weißgestrichenes Gasthaus und neben ihm, rot bemalt, in Form eines Griechentempels, das Museum von Olympia.

»Da oben, hinter den roten Wänden steht er!« In seiner Stimme war ein unsicherer Klang. »Anderthalbtausend Jahre hat er geschlafen. Jetzt ist er wieder von den Toten aufgestanden und so munter wie je ... genau so lebendig wie an dem Tag, wo der selige Praxiteles mit seiner eigenen Hand dem Marmor noch die letzte Glätte gegeben hat. Ja – wenn ich ein Philister wäre – dann käme ich nach Hause und steckte mir am Stammtisch eine neue Zigarre an und sagte beiläufig: ›Apropos, Kinder – den Hermes des Praxiteles hab' ich auch gesehen!‹ Aber ich bin kein Philister... Leider ... leider... ich bin ein weltberühmter Töpfergeselle ... ein größenwahnsinniger Steinmetz ... ein mit Orden besteckter Stümper. Wer weiß, wie die Begegnung zwischen mir und dem Hermes abläuft ... was der mir alles zu sagen hat....«

Sie schlug ihm lachend auf die Schulter, mit dem derben aufmunternden Handschlag eines treuen Kameraden. »Weißt du, was er sagen wird, Meister Josephus?

›Kommst du endlich?‹ wird er sagen. ›Es war schon hohe Zeit! Aber nun ist's ja gut!‹ ...«

Der Siegfried in dem großkarrierten Reisekostüm faßte plötzlich ihre beiden Hände und schüttelte sie und sah ihr treuherzig ins Gesicht. »Und wenn es gut wird, Ellinor ... wem dank' ich's? Dir allein! Was wäre ich jetzt ohne dich? Ein Hofrat! o Gott – ein Herzoglich Siebenwaldenscher Hofrat – oder ein lebenslänglicher Akademieprofessor, ein Mensch wie ein Damenschneider, der in seinem Atelier herumläuft und sich die Hände reibt und katzbuckelt und von höchsten Herrschaften allerhöchste Bestellungen entgegennimmt –! Aber warte nur! Wenn erst einmal in Toskana unser Landhaus steht und da drinnen pfeift ein Kerl und knetet und schafft den ganzen Tag, was er will, und nicht die Esel, die anderen, und ist seines Lebens so froh, als wär' er noch ein kleiner Geißbub auf der Zillertaler Alp – das ist dann dein Werk, liebe Ellinor! Ein gutes Werk! Es kommt Gutes dabei heraus. Schönes! Ich werde ich

Ihre Augen wurden feucht in wortlosem Glück. Sie hielt seine breiten Fäuste fest und nickte ihm tapfer zu.

Er schmunzelte zärtlich. »Du, Ellinor ... weißt du eigentlich, daß du immer hübscher wirst – in den letzten acht Tagen?«

Sie errötete wie ein ganz junges Mädchen und machte sich los. »Ach ... hübsch ...« sagte sie scheu lachend und verwirrt. »...Ich weiß recht gut, daß ich nicht hübsch bin. Oder gar jung ... aber es ist nur so ... es kommt jetzt alles vom Herzen heraus ... ich fühle mich so frei... so leicht ... und dadurch wird das alles so ganz anders wie früher ... in mir ... und vielleicht auch äußerlich ... du mußt mich nicht auslachen, Meister Josephus – aber es ist wahr – ich komme mir seit heute vor acht Tagen vor wie ein Mädchen von zwanzig Jahren, und die Welt liegt wieder wie ein großer Garten vor mir, in dem man sich bloß von den Bäumen zu langen braucht, wozu man Lust hat. Das glaubt man ja mit zwanzig Jahren. Lotte zum Beispiel – die denkt sich das jetzt noch gar nicht anders. ...«

»Ach, die törichte Jungfrau!« Meister Josephus runzelte erzürnt die Stirne. »Aber trotzdem ... sie verdient Dank! Es ist ein höherer Sinn in ihrer Unvernunft! Hätte sie mich nicht vor einer Woche in die Gletscherspalte geführt, so hatte ich niemals Einkehr bei mir selbst gehalten. Ich wäre jetzt noch ein Spielball aller Lottchen der Welt und bemerkte gar nicht, was da neben einem hergeht und nur auf einen wartet. Du, Ellinor ...« Er dämpfte seine Stimme zu einem ängstlichen, reuevollen Flüstern. »Was hättest du dann getan?«

»Nichts. Ich hätte eben geschwiegen.«

»Aber du hättest mich nicht mehr lieb gehabt?«

»Ich hätte dich immer lieb gehabt. Ich war ja immer da. Ich hab' ja auf dich gewartet ... all die Jahre.«

»Aber wenn ich nun nicht gekommen wäre ... wenn ich mir weiter und weiter meine Tage um die Ohren geschlagen hätte, mit den Fürsten und den Lottchen, als der Hofrat Seppl, als der Clown vor sich und der Menschheit ... dann hätte ich doch dein ganzes Leben auch auf dem Gewissen. ...«

Sie stand auf. »Was liegt an mir? Die Hauptsache ist, daß ein Leben seinen Inhalt hat. Sein Inhalt warst immer du. Jetzt, wo du zu mir gesprochen hast, ist es das Glück. Andernfalls war es eben das Unglück. Aber reich war es so oder so ... Reichtum erträgt man immer – auch Reichtum an Schmerzen. Das, wovor mir gegraut hätte, das war nur die Leere. Die Angst, daß ich dich einmal nicht mehr lieb haben könnte und dann überhaupt gar nichts mehr auf der Welt hätte....«

»Ach geh!« Er schaute zärtlich zu ihr auf mit seinem sonnigen, warmen Siegfriedslächeln. »Du und mich nicht mehr lieb haben! Das gibt's ja gar nicht! Und jetzt gar! Ich seh' uns beide schon schaffen in unserer Werkstatt... dich und mich ... ich in meinem kotigen weißen Kittel – der rechte fröhliche Steinmetz bei Pfeifen und Hammerschlag ... und du mein Gehilfe, mein guter Geist... und darüber der blaue Himmel von Italien ... Blumen ... Sonne... Licht... Zypressen und keine Menschen... ach keine Menschen ... keine mit Glatzen und keine mit langem Haar ... keine Herzöge und keine Lottchen! Wir brauchen sie nicht ... wir haben einen viel feineren Verkehr ... wir fahren in die Uffizien und erkundigen uns, wie es unserer lieben Frau von Medici geht.... Wenn die einen angelacht hat, dann kommt man frisch und froh nach Hause ... an die Arbeit!...«

»Weißt du?« fuhr er fort. »Ich werde nur noch für dich arbeiten. Um die Leute kümmere ich mich nicht mehr. Nur, ob du zu dem Werke ›ja‹ sagst. Du bist ja doch der einzige, der mich versteht. Ich denke mir immer – du fühlst das auch so wie ich ... man ist gar nicht der, der man heißt oder als der man zufällig gerade lebt ,.. sondern es ist eine Kraft in der Welt – die wandert, von einem Jahrhundert ins andere, und von einem Menschen, wenn er stirbt, in einen anderen – ich möchte sagen, wie ein Vogel jedes Jahr sich sein Nest wo anders baut. Die Menschen sterben. Aber die Kraft nicht. Die sagt immer wieder: da bin ich! Da drüben dem Praxiteles hat sie die Hand geführt, wie er den Hermes gemacht hat – dann hat sie wieder einmal Michelangelo, geheißen – warum soll ich es jetzt nicht sein? Du – ich fühle so was in mir, als ob ich's wäre ... verstehst du ... einer von den ganz Großen – von den Riesenkerlen, weißt du, von den Kirchtürmen, wie so aus jedem Jahrhundert einer herausschaut, und tief unten, auf dem Markt, da wimmelt allerhand schwärzliches Zeug – du, Ellinor – denke, wenn wir das zustande brächten – wir beide....«

Sie erwiderte nichts, sondern faßte plötzlich mit einer scheuen Bewegung seine Hand, die all die Wunderwerke meißeln sollte, und drückte hastig wie ein Dieb einen Kuß darauf. Er zuckte zusammen – aber dann ließ er es mit einem gütigen Sultanslächeln geschehen.

Es begann zu dämmern. Drüben über den braun gebrannten, grün umbuschten Bergen von Arkadien lugte die Sommernacht ins Land, das weite Wiesental verschwamm in weißem Nebel, und in dem wüsten Kieferngestrüpp des über Olympia sich wölbenden Kronionhügels nisteten schwarze Schatten.

»Dort oben auf dem Kronion ist der Esel, der Zeus geboren!« sprach Meister Josephus, während sie vorsichtig durch den Schutt der ringsum liegenden Tempelreste und das schlangenerfüllte hohe Gras dahinstiegen. »Der alte Herakles war dabei und hat's gesehen! Glückliche Menschen, die Griechen, die das alles glauben konnten. Wenn wir doch auch Kinder wären und die Sonne für ein feuriges Droschkengespann hielten und jeden Schnupfen für einen Götterpfeil von oben und jeden Baum und jede Welle für ein hübsches Mädchen....«

Sie lachte. »Ja – das besonders, Meister Josephus!«

Er strich sich nachdenklich seinen blonden Siegfriedbart. »Und was haben wir statt dessen? Nicht die Dinge, wie sie sind oder sein könnten, sondern nur ihren Abglanz – ihren Begriff – lauter Worte auf ›–ung‹ und ›–keit‹ und ›–ismus‹. Das haben die Römer in unsere Köpfe hineingebracht – die verfluchten Kerle mit ihrem ewigen Denken. Tag und Nacht dachten die Kerle auf lateinisch, und wir müssen's jetzt auf deutsch ausbaden. Denken ist das größte Unglück. Denken macht dumm!«

»Ach, Meister Josephus! du und dumm?«

»Ich denke aber auch nicht!« frohlockte der Meister. »Nie! Mund zu und Augen auf – die Welt anschauen! Heiter anschauen oder traurig, wie's kommt. Das ist das rechte!«

Er blieb neben einer der vom Erdbeben lang hingeschmetterten, in eine aufgefächerte Reihe von Riesentrommeln zersprungenen Säulen des großen Zeustempels stehen und schlug ungeduldig mit der Hand nach den Stechfliegen, die in zahllosen Schwärmen über dem gigantischen Steingewirr summten. Dabei zündete er sich eine Zigarre an. »Gegen die Mücken! Diese Blutsauger sind gefährlich. Es heißt jetzt, daß die Malaria durch Mückenstiche weiter verbreitet wird. Und hier sind wir mitten im rechten Malariaidyll darinnen. Rechts ein halbvertrockneter Fluß, links ein zweiter und dazwischen ein um und um gewühlter und ausgeschaufelter Sumpfboden – nehme dich nur in acht, daß du nichts erwischst!«

Ellinor drehte sich ungeduldig um. Sie war blaß und ihre Augen glänzten. »Rede doch nicht von Kranksein! Heute! Am ersten Abend in Griechenland!«

Er nickte nachdenklich. »Am ersten Abend zu Hause! Ach – wenn man einmal eine Heimat finden könnte in der Welt. Aber vielleicht ist's hier. Hier ist Leben! Sieh doch nur, welch eine Leuchtkraft, welch eine Fülle von Licht jetzt noch aus den toten, zerschlagenen Steinen um uns strömt, obwohl die Sonne schon weg ist – hier müssen die Steine reden und mir sagen, wie man sie bezwingt – wie man die verwunschene Venus erlöst und herausmeißelt, die in jedem Marmorblock steckt ... statt meiner Stümperei bisher – meiner Tiroler Seppelei ... – jawohl, Stümperei hab' ich gesagt, liebe Freundin – widersprich mir nicht!«

Sie wies nur mit der Hand nach dem Hügel. Dort schimmerte das rote Haus und in ihm stand der Gott und wartete ....

Unwillkürlich beschleunigte er seine Schritte. Auf baufälliger Brücke gingen sie über den Kladeiosbach und den Berg hinan.

»Ob Lotte immer noch schläft?« frug er plötzlich ganz unvermittelt.

Sie zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich! Sie war wenigstens sehr ermüdet von der Seereise und der Eisenbahnfahrt!«

Aber im Augenblick, als sie vor dem Museum anlangten und Meister Josephus unschlüssig stehen blieb, kam Lotte heraus, frisch und rosig, herzhaft gähnend, ein paar große Feldsteine unter dem Arm.

Die Steine ließ sie jetzt achtlos zu Boden fallen. »Gott sei Dank – mit denen brauche ich mich nicht mehr zu schleppen. Jetzt könnt ihr mich gegen die abscheulichen Hirtenköter verteidigen! Wie ist's denn da unten in Olympia? Ich hab' euch sitzen sehen, wie zwei schwarze Fliegen in einer großen grauen Schüssel. Überhaupt – ich finde es gräßlich hier!«

Meister Josephus runzelte nur die Stirne. Seine Begleiterin sah Lotte kopfschüttelnd an. »Warst du denn wirklich eben da drinnen im Museum?«

»Und ob! Aus Langeweile. Eine Viertelstunde gewiß!«

»Und ... und hast aus Langeweile den Hermes angesehen?«

»Ja!« Lotte bückte sich nach einem der Feldsteine und warf ihn mit geübter Hand einem sie umkläffenden Schäferhund zwischen die Beine, daß er heulend die Flucht ergriff. »Greulich sind die Köter! Immer schnappen sie einem nach den Waden. Ja – natürlich hab' ich den Hermes gesehen! Ganz genau! Ich hab' sogar entdeckt, daß die Sandalenriemen am rechten Fuß rot bemalt sind! Der linke Fuß ist aus Gips. Es fehlt überhaupt eine Menge! Aber sonst ist er sehr hübsch! Und hinten hat er eine Eisenstange, damit er beim Erdbeben nicht herunterfällt. Das Kind, das er auf dem Arm hat, das ist furchtbar dick. Zu fett! Das finde ich nicht natürlich! Überhaupt, daß ein Mann ein kleines Kind wartet – komisch, nicht?«

»Ja,- törichte Lotte!« Der Meister nickte melancholisch. »Der Hermes des Praxiteles ist das Komischste, was es gibt! Eigens geschaffen, um nach zweineinhalb Jahrtausenden dich heiter zu stimmen! O Gott! o Gott!« Er wendete sich zu Ellinor. »Nun hat mir dies Mädchen wieder alle Stimmung und Sammlung weggeplappert! Nun kann ich nicht hinein!«

»Ja – was hab'ich denn getan?« forschte Lotte arglos.

Er sah ihr betrübt in das reizende Kindergesicht. »So schöne große Madonnenaugen zu haben!« murmelte er, »... und dabei blind zu sein! Arme Lotte! Blind wie eine junge Maus!«

»Ich? Ich seh' aber sehr gut!«

»Nichts!« Er wurde plötzlich zornig. »Vielleicht Modekupfer – Putzblätter – Weiberkram! ... O du verstockter kleiner Philister! Das hat nun das unverdiente Glück und ist begnadet, mit seinen eigenen Augen den Hermes zu sehen, und kommt heraus und wirft mit Steinen nach Hunden und plappert dazwischen beiläufig von Eisenstangen und Sandalenriemen und einem fetten Kinde – still! Ich kann dir nur eines sagen: du hast mir Hunger gemacht! du hast mich ernüchtert! Der Gedanke sei deine Strafe! Vorwärts! Ich will essen!«

Und ohne sich weiter um Lotte zu kümmern oder noch einen Blick nach dem Museum zu werfen, ging er unwirsch mit langen Schritten dem nahen Gasthaus zu.

Lotte folgte ihm mit ihrer Schwester. »Brrr!« sagte sie. »Der Meister ist ungnädig! Hab' ich wirklich so dummes Zeug geredet? Es scheint so – nach deinem Gesicht! Na einerlei- - aber mit dem Hotel werdet ihr euch wundern.« Ihre Augen strahlten vor Schadenfreude.

»Sieh dir nur einmal dein Schlafzimmer an, Meister Josephus! Du klagst ja immer über das ewige Einerlei in den Hotels. Aber hier ist alles anders! Hier ist noch wahre Romantik. Das reine Zauberland. Die Bettücher haben schon ganze Generationen von Griechen nächtigen sehen, die elektrische Beleuchtung besteht aus einem Talglichtstümpfchen, das auf einen zerbrochenen Stiefelknecht geklebt ist, der Staub und das Spinnweb in den Ecken stammt sicher noch aus der Zeit des Praxiteles – Waschwasser gibt es nicht – ganz originell! Hinter meiner Türe sitzt eine große grüne Eidechse und schmatzt lautlos mit den Kiefern, als ob sie lachte – wahrscheinlich über uns ... Recht hat sie! Aber ich möchte weinen, wenn ich an die kommende Nacht denke ... So ... da ist die Türe zum Speisezimmer. Man muß ordentlich mit dem Fuß dagegen treten! Sonst geht sie nicht auf! Nun erschreckt nicht über die märchenhafte Pracht!«

Von Knoblauchdunst erfüllt, von einer einsamen Lampe mehr verdüstert als erhellt lag der große Raum mit seinen blitzenden Glas- und Metallpunkten auf den langen gedeckten Speisetischen da. Aus einer dunklen Ecke schnarchte es tief und schwer. Dort schlief der alte Kellner. Sein fettüberkrusteter Frack diente ihm als Kopfkissen. Die Schlappschuhe lagen zwischen Zigarrenstummeln neben ihm am Boden. Vor ihm auf dem Tische schimmerten als ein buntbekleckster Stoß die zwölf, diesen Sommer im Gebrauch befindlichen Servietten des Hotels. Der ewigen Klagen der Gäste über deren Unsauberkeit müde, überließ es der philosophische Frackträger einem jeden, sich selbst die Serviette auszusuchen, deren Farbenzusammenstellung seinem Geschmack entsprach.

Wie die Tücher, so die Tafel. Ein Gewimmel von Rotweinflecken und Bratentropfen auf dem Tischlaken, von Eidotterspritzern und Fischgräten auf den Tellern, von fettigen Spiegeln auf Gabeln und Messern und Staubkrusten auf den Gläsern – es lag beinahe etwas Imposantes, ein großer Zug in diesem alles beherrschenden Schmutz.

Meister Josephus machte ein ganz weinerliches Gesicht. »Da vergeht sogar mir der Appetit! ... Und ich hatte mich so gefreut, endlich 'was Gutes zu essen zu kriegen!«

»Das sollst du auch kriegen, Meister!« Lotte tröstete ihn mitleidig wie ein krankes Kind. »Schau – ich bin nicht so! Wie ein Heinzelmännchen hab' ich für euch gesorgt ... bei der Hitze ... und so müd' ich war ... aber behaglich wollt' ich dir's doch machen! Dazu bin ich ja da! Denn ihr geistert ja doch nur Hand in Hand herum und denkt, vom Hermes wird man satt!«

Sie wies auf die Ecke der langen Tafel, wo vor drei Stühlen alles blitzblank funkelte. »Das hab' ich vorhin alles gerichtet, während ihr im klassischen Hellas geschwärmt habt ... prosaisch – was? Aber nachher ist die Prosa doch ganz angenehm! Statt der Servietten hab' ich Taschentücher hingelegt – und nun los!«

Sie klatschte in die Hände, worauf der Alte in der Ecke aufsprang, schlaftrunken um sich stierte und dann mit schläfrigem Nicken, den Frack wie ein kleines Kind unterm Arm, die Pantoffeln in der Hand, nach der Küche schlich.

Mitten in der Mahlzeit legte Meister Josephus plötzlich Messer und Gabel hin und sah lange tiefsinnig seine reizende Gefährtin an. »Wozu bist du eigentlich auf der Welt, Lotte?« fragte er. »Weißt du's? Nein? Ich auch nicht. Ich spüre nur die Unrast, die von allem ausgeht, was lange Haare hat! Kaum bin ich mit Ellinor zu meiner Rechten oben auf den idealen Höhen der Menschheit, dann ernüchtert mich wieder die törichte Jungfrau zu meiner Linken und zieht mich hinab zu Speise und Trank und Philisterbehagen. Und es schmeckt mir – das ist das Elend – es schmeckt mir vorzüglich, und sie schaut mir ganz zufrieden und kühl zu. Kühl wie ein kleiner Frosch. Das ist noch das Beste an ihr. Sie sitzt da und lächelt wie ein Spitzbube. Wahrscheinlich wieder über mich! Ich muß immer an Tizian denken – an sein Bild ›Himmlische und irdische Liebe‹. So throne ich zwischen euch! Besser ein lebendiger Steinklopfer als ein toter Praxiteles! Das hat der Achilles schon dem Homer gesagt, und das sagt die Lotte noch heute!«

»Ich sage gar nichts! Ich kriege ja doch nur Schelte!«

»Ach Kind ... die Augen reden! Und schöne Augen hast du! Dies zärtliche melancholische Wohlwollen, mit dem sie die Welt betrachtet und sich selber im Spiegel dazu! Sie lebt so gerne. Und ist so gerne jung. So rührend gerne! Das kleine Schaf ...«

»Auf Lotte kommt es gar nicht an!« sagte Ellinor, ohne ihre schöne Schwester anzusehen. »Die soll froh sein, daß sie das Leben hat und ein Paar schöne melancholische Augen dazu, was du ihr gar nicht erst mitzuteilen brauchst. Denn sie weiß es selber schon ganz genau! Es handelt sich nur um dich, lieber Freund und Meister! Du sollst hier aus der Stimmung heraus, wo du die ganze Welt als einen Tiroler Tanzboden ansiehst, auf dem man jodelt und Schnadahüpfeln singt und die Dirndln küßt und mit den Buben rauft. Vorhin in Olympia unten warst du ein ganz anderer Mensch wie eben. Und das solltest du bleiben! Ich versehe das gar nicht, wie das alles überhaupt so plötzlich in einem wechseln kann!«

Meister Josephus schob den Teller zurück und verließ, ohne ein Wort zu sagen, den Saal. Die beiden Mädchen blieben sitzen. Dann legten auch sie, des stummen Beisammenseins müde, Messer und Gabel hin und traten vor das Gasthaus in die Vollmondnacht hinaus.

 


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