Rudolph Stratz
Für Dich
Rudolph Stratz

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XVIII.

Georg Gisbert und Vera trafen sich am nächsten Morgen am Ausgang des Wannseebahnhofes. Er hatte sie dahin bestellt. Sie wußte schon alles, durch die hastigen Zeilen, die er ihr noch am Abend vorher durch einen Boten hinaus nach Zehlendorf gesandt hatte. Sie war blaß und erregt wie er. Sie sprach kein Wort, sondern schüttelte ihm stumm die Hand.

Auch er schwieg, während sie die lange Sackgasse zum Potsdamer Platz hinaufschritten, inmitten der Schwärme der Angekommenen, die jetzt, um die zehnte Vormittagsstunde, fast nur aus eiligen Herren mit Aktenmappen unter dem Arm bestanden. Endlich sagte er, was er bereits geschrieben: »Ja . . . sie ist fort . . . schon gestern früh . . .«

Er sprach in gedämpftem Ton von Otti wie von einer Verstorbenen. Und dann nach einer Pause: »Wenn sie mich verläßt, brauch' ich sie nicht zu verlassen! Dann ist sie es, die die Lösung der Ehe will . . .«

Es fiel ihm ein: ›Das ist nun die zweite Frau, die von dir gegangen ist!‹ Er drängte das zurück.

»Es ist besser gekommen, als ich zu hoffen gewagt hätte! Vera – wenn nicht noch ein Wunder geschieht, dann steht bald nichts mehr zwischen uns!«

Sie fieberten beide. Sie lasen sich die verzehrende Leidenschaft von den Lippen, sie fühlten einer das Zittern des anderen in sich, sie hätten die Arme ausbreiten mögen und einander an die Brust stürzen – aber um sie waren die Zylinderhüte und die Sonnenschirme und die Offiziersmützen und der Lärm des Potsdamer Platzes, und auch im Tiergarten, in den sie durch die Bellevuestraße einbogen, wimmelte es in dem hellen Sonnenschein von Leuten. Nur die Hand konnten sie sich im Gehen geben, und dabei sagte Vera tief aufatmend: »Gott sei Dank!«

Dann fiel ihr seine Blässe auf. Sie frug: »Du bist doch nicht krank?«

Er schüttelte den Kopf: »Ich hab' heute nacht nicht geschlafen. Das kannst du dir denken!«

»Ich auch nicht!«

»Ich bin in den leeren Zimmern auf und ab gegangen. In dem einen ist unser Kind gewesen . . . im anderen haben meine beiden anderen Kinder gewohnt – daneben sie . . . es war, als ginge man zwischen Gräbern herum . . .«

Sie schaute ihn von der Seite an, wie in einem Erstaunen. Er versetzte rasch: »Halt mich nicht für schwach, Vera! . . . Mich quält nur eine Angst . . .«

»Wovor?«

Er überwand etwas in sich.

»Sie –« Er sprach den Namen »Otti« nicht mehr aus. Er hatte Scheu davor. »Sie hat mir keine Silbe beim Weggehen hinterlassen! Das macht mich so unruhig. Das deutet auf . . . Wenn sie sich nur nicht . . .«

»Du meinst . . .«

Sie vollendeten es beide nicht. Sie wagten es kaum zu denken. Wenn Otti etwa die Kinder zuerst zu den Großeltern nach Worms gebracht hätte . . . und dann . . . Worms lag am Rhein. Und der Rhein war tief . . .

Sie schwiegen bang. Schließlich sagte er mit einer Kraftanstrengung: »Es ist ja auch nur so eine Idee! Ich hab' nicht den geringsten Anhalt dafür. Sie ist ja gar nicht so. Nachts bildet man sich so etwas ein. Jetzt, im Sonnenschein, wird es schon besser!«

Aber es war doch, während sie weitergingen, als hätte sich ein Schatten über den strahlenden Sommertag gelegt, der sie umgab, und Georg Gisbert versetzte, wie zur Rechtfertigung seiner Stimmung: »Du mußt bedenken, Vera: dir ist ein Kind gestorben, mir drei. Du hast einen Bräutigam verloren, ich eine Frau. Du bist frei. Ich muß mich aus tausend Dingen herausreißen. Das macht mich heute ein wenig stiller als sonst! Das mußt du verzeihen!«

Sie wandte ihm voll ihr blasses Gesicht zu: »Bereust du?«

»Nie! Nie!«

Es war eine heiße, unterdrückte Glut in seiner Stimme. Sie fuhr fort: »Du sagst, ich sei frei. Nein. Du bist es! Völlig! Du kannst jetzt noch umkehren. Ich halte dich nicht!«

Sie waren an einer einsamen Wegbiegung zwischen dichtem Gebüsch, kein Mensch in Sicht. Da hemmte er seine Schritte und legte ihr die Hände auf die Schultern und lachte ihr ins Antlitz.

»Vera . . . da könnte meine Mutter stehen und meine Frau und meine Kinder und meine Geschwister und alles, was ich auf der Welt hab', und könnten mir sagen: ›Kehr um!‹ Das ist gerade so viel, wie da – siehst du – wie wenn die Maus da vor uns übern Weg läuft! Die Leute halten mich ja für verrückt! . . . Dich auch! . . . Vielleicht sind wir's! Aber wir sind dabei immer noch zehntausendmal klüger als die andern alle.«

Es kam neues Leben in ihn. Er erzählte ihr rasch und knapp von seinem Besuch bei dem Oberst von Schefflenz. Da war doch schon der Anhaltspunkt für die Zukunft gewonnen.

»Heute früh hab' ich meine dienstliche Versetzung nach Buxtehude, oder wie das Nest da hinten heißt, bekommen!« sagte er. »Ich hab' mein neues Regiment telegraphisch um ein paar Tage Urlaub gebeten. Ich will mein Abschiedsgesuch erst einreichen, wenn ich gleich hineinschreiben kann, daß ich eine sichere Aussicht auf Anstellung drüben in den Kolonien hab'. Die Leute lassen einen dann mit mehr Anstand ziehen, als wenn sie denken, man abenteuert so ins Blaue hinein und wird Fremdenlegionär oder Wunderdoktor in Chicago oder Kohlentrimmer auf 'm Lloyd. Und in ganz kurzer Zeit, denk' ich, hat es sich schon entschieden. Dann pack' ich Hals über Kopf und gehe gleich hinüber!«

»Nach Ostafrika?«

Er nickte.

»Ja. Und ich?«

Georg Gisbert wurde sehr ernst. Die Lebhaftigkeit verschwand von seinen Zügen.

»Das ist ja eben das Schreckliche! Vera . . . wir müssen uns für eine Zeit trennen! Es hilft alles nichts. Auch wenn sie nun in die Scheidung willigt, so mir nichts, dir nichts wird man nicht geschieden! Das dauert sein Jahr. Das wissen wir ja beide!«

»Aber das Jahr kannst du doch in Deutschland bleiben!«

»Wovon sollen wir denn leben?«

Die Frage war einfach und verwirrte sie völlig. Sie schwieg. Sie fühlte nur: jetzt landete man aus dem Luftreich auf dem Boden der Wirklichkeit. Georg Gisbert fuhr fort: »Schatz . . . die paar Kröten, die du noch hast, sind rasch aufgebraucht. Ich besitz' überhaupt nichts – die Wahrheit zu sprechen, kommt alles in der Meinekestraße, von der Matte an der Türe bis zum letzten Henkeltopf oder 'ner leeren Streichholzschachtel in der Küche vom Wormser Geld und muß dorthin zurück. Ich will mich nicht an unrechtem Gut bereichern! Wenn ich meine Uniformen und Bücher verkauf', langt's gerade zu ein bißchen anständigem Zivil. Freie Überfahrt hab' ich. Drüben leb' ich so sparsam wie möglich und schick' dir, was ich entbehren kann! . . .«

In ihrer Verstörtheit konnte Vera nur wiederholen: »Ja. Und ich?«

»Du mußt hier warten, bis ich frei bin. Dann kommst du mir nach und wir heiraten uns drüben . . . Es ist eine furchtbare Prüfung für uns . . . ich hab' mich heute nacht mit Nägeln und Zähnen gegen den Gedanken gewehrt . . . davon kommt es auch, daß ich vorhin am Bahnhof so vergeistert angetreten bin . . . aber es geht und geht nicht anders! . . . Du mußt tapfer sein! Wenn uns all das Bisherige nicht umgebracht hat, werden wir mit Gottes Hilfe auch das noch aushalten!«

»Wo soll ich denn aber bleiben?«

Sie frug es mit erstickter Stimme. Er suchte sie, selber zitternd, zu trösten.

»Irgendwo hier oder in London oder wo du willst. Wir finden schon irgend ein Plätzchen für dich, wo es billig ist. Da machst du dir dann Kreidestriche an die Wand und löschst jeden Tag einen aus und ich tu' das in Afrika drüben gerade so und schließlich kommt der letzte Strich und wir haben uns . . . nicht wahr? . . . Vera – tue mir den einzigen Gefallen: weine nicht hier auf offener Straße . . .«

Sie bezwang sich und murmelte zwischen den zusammengepreßten Zähnen: »Nein!« Ihre Augen wurden wieder trocken. Sie gingen ein paar Schritte stumm nebeneinander. Er sah ihre Leichenblässe und frug angstvoll: »Vera . . . ist es dir zu viel?«

»Nein . . . laß nur . . . laß . . .«

Plötzlich stöhnte sie auf: »Herrgott . . . wieder warten . . . wieder einsam sein . . . wieder dasitzen und sich Vorwürfe machen, daß man allen Menschen nur Unheil bringt . . . Warum ist das Schicksal gerade immer gegen mich so grausam . . .? Woher soll ich denn nur wieder die Kraft dazu nehmen, Georg?«

»Aus der Hoffnung, Vera! . . . Denk, es hätte viel schlimmer kommen können. Ich hätte überhaupt nicht freikommen können. Was dann? . . . Wir sind doch noch jung! Was ist ein Jahr gegen unser ganzes Leben! . . . Klage jetzt nicht! Brich mir meine Energie nicht! Es muß sein!«

»Ja. Du hast recht! Verzeih!« sagte sie leise. Sie schmiegte sich schutzsuchend an ihn. Sie schob ihren Arm in den seinen, um sich von ihm führen zu lassen. Aber fast zugleich zog sie ihn auch wieder zurück. Auf der Friedrich-Wilhelmstraße, in die sie vom Tiergarten eingebogen waren, kamen ihnen ein junger Artillerieoffizier und eine Dame entgegen. Es waren Herr und Frau von Muthardt, an deren Tisch sie sich diesen Winter zuerst getroffen. Das junge Ehepaar hatte gute Augen. Auf fünfzig Schritte Entfernung sagte der Leutnant von Muthardt seiner Frau etwas. Beide machten plötzlich kehrt und bogen in die Von der Heydtstraße ein, anscheinend ohne die anderen zu bemerken und zu grüßen. Die sahen sich nur an: das kam nun so von allen Seiten . . . nur fort . . . fort . . . es war die höchste Zeit . . .

Aus dieser Ungeduld heraus sagte er: »Gräßlich, was einen nun daheim alles erwartet! Verhandlung mit dem Hauswirt wegen Lösung des Kontrakts – Spediteur – Abmeldungen bei der Polizei – Steuern und Gasrechnung in Ordnung bringen . . . zum Verrücktwerden ist der Kram . . .«

Sie biß die Lippen zusammen. Diese Alltäglichkeiten waren entsetzlich. Er bemerkte es und versetzte beinahe heftig: »Ja – das Leben besteht nun mal meist aus Kleinigkeiten! Die großen Momente, die sind nur wie die Rosinen im Kuchen! Das Zeugs da muß alles geschehen! Sonst lassen sie mich gar nicht fort. Ich hab' doch keine Lust, hinterher steckbrieflich verfolgt zu werden. Das wird noch ganz anders so kommen, Vera!«

»Du hast recht,« sagte sie fügsam. »Ich bin dumm. Ich leb' nun mal im Mond und nicht auf der Welt! . . . Ich denk' mir immer alles so schön und dann kommt die Vernunft! Was ich die schon hasse . . .«

Sie bot ihm die Hand: »Das Gescheiteste ist, wir trennen uns jetzt auf ein, zwei Stunden. In der Zeit suche ich mir hier mein altes Quartier!« Sie wies über den Lützowplatz, vor dem sie standen, hin nach ihrer früheren Wohnung. »Dabei kannst du nicht mit – du verstehst?«

Er nickte. Natürlich! Sonst ging das Gerede ja gleich wieder los. Sie bebte leise am ganzen Körper. Aber sie bemühte sich, tapfer zu sein. So tapfer und praktisch im Leben, wie er es haben wollte.

»Und du, Georg, besorgst inzwischen das alles, und holst mich dann in Zehlendorf ab. Ich bleib' nicht länger da draußen. Ich steh' schon am Fenster, wenn du kommst . . .«

Sie litten beide unter diesen Lächerlichkeiten des Lebens, die sich zwischen sie drängten. Dabei stach es Vera durch das Herz: Was war dies bißchen gegen die furchtbare Notwendigkeit, ein ganzes Jahr voneinander zu scheiden? Sie fühlte: wenn sie jetzt nicht rasch Abschied nahm, war ihre Kraft zu Ende. Dies klägliche Schauspiel wollte sie ihm nicht bieten. Sie drückte ihm hastig, mit abgewandtem Gesicht, die Hand und eilte davon, auf das Haus zu, in dem das Pensionat von Borchersheide war, froh, daß die Leute auf dem Lützowplatz ihre nassen Augen unter dem Schleier nicht sehen konnten. Erst im Treppenflur blieb sie keuchend stehen. Ein bitterer Jammer zuckte um ihre Lippen. Sie hätte sich am liebsten auf den ausgetretenen, staubigen Stiegenläufer da niedergesetzt und das Gesicht mit den Händen bedeckt und wild aufgeschluchzt. Aber sie trocknete ihre Tränen und war wieder leidlich gefaßt, als sie oben klingelte und die Frau Major a. D. von Borchersheide, die selbst auf der Schwelle erschien, bat, sie wieder aufzunehmen.

Seltsam: Frau von Borchersheide hatte momentan nicht ein einziges Zimmer frei! Dabei sah man durch offene Türen rechts und links in leerstehende Räume. Aber jene blieb nun einmal dabei. Sie war äußerst kühl und gemessen, ganz anders als früher. Sie wollte offenbar nicht. Sie hatte auch schon inzwischen irgend etwas gehört. Vera von Vogt begriff das endlich und sagte nur ruhig: »Ach so . . .«

Dabei war sie schon wieder unten auf dem Platze und ging weiter – irgendwohin – gleichviel. Die Abweisung brannte ihr eine Zeitlang auf der Seele. Dann wurde sie stumpf dagegen. Solche kleinen Demütigungen hießen ja nichts gegen die großen, schwarzen Wolken, die unheimlich von allen Seiten aufzogen – die über dem Rhein lagerten . . . sich über dem Weltmeer ballten – da drüben war er – hier sie – das alte Lied von den zwei Königskindern, die das tiefe Wasser schied. Sie war allein. Um sie war die Luft grau im hellen Sonnenschein, der blaue Himmel trübe, ihr Herz schwer. Da schämte sie sich ihrer Schwäche. Dadurch ward sie seiner nicht würdig. Sie nahm sich zusammen, sie ging von neuem auf die Wohnungssuche und fand in der Hardenbergstraße ein kleines, einfacheres Pensionat, wo man der vornehmen, in tiefe Trauer gekleideten Dame mit Ehrerbietung entgegenkam, und fuhr, nachdem da alles geordnet war, mit der Stadtbahn nach dem Bahnhof Friedrichstraße zurück.

Als sie aus dem heraustrat, sah sie mitten in der engen, menschenwimmelnden Vorhalle, neben dem Aufstieg zum Fernverkehr, einer Dame ins Gesicht, die ein Reisetäschchen umgehängt trug und mit einem Gepäckträger verhandelte, und prallte halb zurück.

»Anna . . . bist du's wirklich?«

Jawohl – es war ihre Schwester aus Ostpreußen. Aber daß die Greffern-Riests sich jetzt mitten in der Erntezeit von der Scholle rührten, das war so ungeheuerlich . . . In unwillkürlicher Angst frug Vera, während die beiden jungen Frauen sich die Hände reichten: »Wie kommst du denn um Gottes willen auf einmal hierher? . . .«

»Wir sind gestern nachmittag gleich, wie wir's hörten, von Kwitschkallen weg und vorhin angekommen und fahren in einer halben Stunde nach Stendal weiter. Lutz,« sie meinte ihren Mann, »macht unterdes rasch ein paar Besorgungen . . .«

»Nach Neetzow fahrt ihr?«

»Nun natürlich! . . . Weißt du denn am Ende noch gar nicht . . .?«

»Nein . . .«

». . . daß Papa vorgestern einen Schlaganfall gehabt hat?«

»Um Himmels willen!«

Um sie war ein solches Getümmel, daß sie da nicht mehr stehen bleiben konnten. Frau von Greffern riß Vera, die ganz betäubt sie anstarrte, beiseite, zu den Gepäckräumen hin und rief ihr da durch das Poltern der Koffer und das Rollen der Karren ins Ohr: »Es war zum Glück nur so 'ne leichte Mahnung. Es geht ihm schon besser! Er ist bei Bewußtsein. Er ißt und trinkt. Er raucht. Der Arzt telegraphiert: vorläufig sei keine Gefahr mehr . . .«

»Aber wie ist denn das gekommen?«

»Die Aufregung!« Die Stimme der Schwester klang in dem wüsten Lärm umher laut an Veras Ohr. »Er hat doch in letzter Zeit so viel mit dem Rechtsanwalt verhandelt und sein Testament gemacht . . .«

»Ja. Ich weiß!«

»Und hat so manches nicht verwinden können . . . Auch daß die Meliorationen in Neetzow zu Wasser geworden sind – da hatte er schon im voraus eine Menge Geld hineingesteckt . . . die Sorge wurmte ihn nun bei Tag und Nacht . . . und überhaupt . . .«

Dies »überhaupt« begleitete ein Blick, der bündig hieß: ›Sein Schlaganfall – das bist du . . .‹

Vera schwieg. Sie sah mit leeren Augen, wie da vor ihr zwei Franzosen ihre Musterkoffer nach Paris aufgaben und sich mit den deutschen Beamten nicht verständigen konnten. Es flog ihr durch den Kopf: ›Sie haben mich doch immer bloß verschachern wollen, die Meinen.‹ Aber trotzdem . . . Plötzlich hatte sie eine furchtbare Angst. Neben ihr sagte Frau von Greffern: »Kuno ist schon dort! Ewald nehmen wir unterwegs in Hannover mit. Dietloff hat auch aus Bonn telegraphiert, er käme!«

»Und mir hat man nichts gesagt!«

»Papa wollte nicht. Er ist zu böse auf dich, Vera . . .«

Die junge Frau lächelte trübe: ». . . weil er nun seine Scheunendächer nicht umbauen konnte . . .«

»Ach nein, Vera! Das ist es nicht! Das weißt du wohl! Er hat mir noch vor acht Tagen, kurz vor dem Schlaganfall, geschrieben: eine Frau, die einen verheirateten Mann seiner Familie entfremdet, und die ihren Ruf derart . . . Ach – da kommt endlich mein Mann!«

Der Erbherr auf Kwitschkallen und Nautzitten stiefelte eilig, mit ein paar Paketen beladen, heran. Sein dröhnendes Ostpreußisch durchdrang ebenso den Lärm, wie er die Köpfe der Menge überragte.

»Höchste Eisenbahn!« schrie er. »In drei Minuten geht der Kölner D-Zug! Vorwärts, Mannchen!« Er scheuchte den Gepäckträger wie ein Huhn vor sich her und tat, als ob er Vera jetzt erst sähe. »Verzeihe, Schwägerin, daß ich dir nur zwei Finger gebe! Alles andere besattelt! Fährst du mit?«

Die beiden Gatten tauschten einen raschen Blick und Frau von Greffern sagte: »Es würde Papa zu sehr aufregen! . . . Ich telegraphiere dir lieber gleich – nicht wahr, Vera?«

»Ja,« erwiderte Vera dumpf. Sie hörte, wie der wilde, baumlange Mann von der russischen Grenze ihr noch zuschrie: »Bete unterdes, Schwägerin – bete, daß uns der liebe Gott den prächtigen, alten Herrn noch ein Weilchen läßt!« – sie sah, wie die beiden Greffern nach atemloser Verabschiedung zum Bahnsteig hinaufstürmten – dann war sie auf einmal wieder draußen auf der Straße und auf dem Weg zum Wannseebahnhof und fuhr heim.

Die ganze Zeit saß sie, ohne sich zu rühren, die Hände im Schoß, den Blick geradeaus, und dachte sich: ›Wenn mein Vater jetzt krank geworden ist und vielleicht nicht mehr lange lebt, dann bin ich schuld. Wenn in Worms ein Unglück passiert ist, bin ich schuld. Wenn Georg seinen Abschied nehmen und Deutschland verlassen muß, bin ich schuld. Ich bin an allem schuld, was geschieht. Warum bin ich überhaupt auf der Welt?‹

Dabei empfand sie deutlich: das alles ließ sich ertragen – über alles kam man hinweg – nur über das eine nicht, die Trennung von ihm. Über der brach sie zusammen. Und die Trennung war vielleicht schon nächste Woche. Und ein Jahr war eine Ewigkeit . . .

Es war ihr, als müßte sie den nächsten besten Begegnenden anpacken, ihn fragen: ›Um Gottes willen – was soll ich machen . . .? Jeder Weg um mich führt in die Irre! . . .‹ Sie kam sich wie ein gehetztes Wild vor, während sie die Straße in Zehlendorf hinabschritt. Nirgends ein Ort, wo sie ihr Haupt niederlegen konnte – am wenigsten in dem Hause, das sie nun betrat, und wo das Mädchen sie muffig im Flur empfing.

»Ein Herr ist drinnen im Salon und wartet!« sagte sie und deutete auf den Spiegelsims. Auf dem lag eine Visitenkarte. Vera las:

Jean Baptiste Dörsam

und unten rechts:

Weingroßhandlung Dörsam, Fröhlich und Kompanie
Worms.

Im ersten Augenblick wußte sie nicht, was das bedeutete. Sie entsann sich nicht gleich des Mädchennamens ihrer Nachfolgerin. Sie glaubte, da drinnen sitze ein Weinreisender, um sie zu belästigen. Aber da öffnete sich die Türe. Herr Dörsam, der vielleicht etwas Ähnliches fürchten mochte, stand auf der Schwelle und nun erinnerte sie sich plötzlich: dies Gesicht hatte sie schon einmal gesehen! Jawohl, in jener furchtbaren Nacht vor Monaten, als ihr Töchterchen in der Gisbertschen Wohnung in der Meinekestraße auf den Tod lag und sie und Georg es pflegten. Jedesmal, wenn sie da durch den einen Salon gegangen war, um von hinten Wasser oder sonst etwas zu holen, war sie an einer großen Photographie vorbeigekommen, die auf dem Schreibtischchen der Hausfrau am Fenster stand. Das war dieser brünett-schöne, immer noch jugendliche Männerkopf gewesen. Nur hatte Herr Dörsams Bild damals eine spitze Narrenmütze schief auf dem Scheitel und lachte, daß die Zähne durch den dunklen Spitzbart blinkten. In jedem Arm schaukelte der fastnachtsfrohe Mann eines seiner beiden Enkelchen und niemand hätte auf den Gedanken kommen können, in diesem Prinzen Karneval einen Großvater zu sehen.

Jetzt war sein Ausdruck tiefernst. Er trug einen schwarzen Gehrock, dunkle Handschuhe, dunkelgestreiftes Beinkleid und hielt den spiegelglänzenden Zylinder statt der Schellenkappe von damals in der Hand. Unwillkürlich bemerkte Vera die Tadellosigkeit seiner äußeren Erscheinung, der tiefen Verbeugung, die er ihr machte. Sie war immer für derlei empfänglich. Dann blickte sie ihn erschrocken an. Was wollte er hier? Von ihr?

»Ich weiß nicht, ob Sie mich kennen, gnädige Frau!« sagte Jean Baptiste Dörsam zögernd und höflich. Sie bejahte mit einer Kopfbewegung, schloß die Türe hinter sich zu und deutete mechanisch auf einen Stuhl. Er nahm Platz, stellte seinen Hut neben sich auf den Boden, warf die Handschuhe hinein, beugte sich etwas vor und fuhr gedämpft fort: »Vor allem, gnädige Frau: Sie wundern sich, daß ich zu Ihnen gekommen bin?«

Sie nickte. Sie war immer noch nicht ihrer Bestürzung Herr, auf einmal diesem Fremden gegenüberzusitzen, der ihr mit so ruhigem und sicherem Respekt, ganz wie ein Angehöriger ihrer Kreise, begegnete und seine dunklen, eigentümlichen Augen nicht von ihr ließ. Er sagte: »Gestern nachmittag ist meine Tochter Otti bei mir in Worms angekommen. Ganz aufgelöst. Fertig. Kein Mensch mehr. Aber doch noch Mutter. Das hält sie aufrecht. Sonst weiß ich nicht, was geschehen wäre. Ich hab' ein langes Gespräch mit ihr gehabt. Im allgemeinen wissen Väter von ihren erwachsenen Töchtern so viel wie vom Mann im Monde. Aber ich war meinen Kindern und besonders meinen Töchtern immer ein guter Kamerad. Ich hab' ihr Vertrauen. Und abends gegen zehn hatt' ich Otti so weit, daß ich mich eben noch auf die Bahn setzen und herfahren konnte . . .«

Er machte eine Pause. Vera hörte, wie draußen im Flur Frau von Pfennigreuter und ihre Tochter sich zankten. Das geschah jetzt immer häufiger, je schlechter die Pension ging. Auf der Straße rasselte ein Fuhrwerk vorbei, nach Klein-Machnow zu. Vor ihr, in der Wasserkugel, trieb der Goldfisch seine Kreise. Das alles dünkte ihr merkwürdig wie im Traum. Nun hörte sie wieder die weiche, tiefe Stimme da drüben.

»Ich hab' dem Hauptmann Gisbert, meinem Schwiegersohn, vom Hotel aus telephoniert, ich käme in ein oder zwei Stunden zu ihm. Er mag auf mich warten. Ich hab' keine große Sehnsucht, ihn wiederzusehen. Und was ich ihm zu sagen hab', das ist in drei Worten abgemacht. Darauf kommt es auch wenig an. Die Hauptsache, meine verehrte, gnädige Frau, liegt bei Ihnen!«

Wieder warf sie ihm einen betroffenen Blick zu. Nun sprach sie zum erstenmal: »Ich verstehe das nicht ganz, Herr Dörsam . . . Unsere Beziehungen sind doch merkwürdig. Sie sind der jetzige Schwiegervater meines früheren Mannes – Sie haben mich nie gesehen . . .«

Jean Baptiste Dörsam schüttelte den Kopf: »Aber ich weiß doch genug von Ihnen, meine gnädigste Frau. Sehen Sie: in diese Sache sind drei Menschen verwickelt. Erstens meine Tochter! Die ist rein der leidende Teil. Über die red' ich nicht weiter. Dann mein Schwiegersohn! Es kommt mir als Weinhändler oft vor, daß ich mit Leuten zu tun habe, die gerade für ein paar Stunden nicht ganz klar im Kopf sind. Sie begreifen: wenn man so im Keller auf dem Brett steht, den Stechheber in der Hand – na, mit solchen Leuten mach' ich in der Verfassung keine Geschäfte. Ich warte, bis sie wieder nüchtern sind. Vielleicht kommt auch mein Schwiegersohn einmal wieder zu Verstand. Vorläufig ist er's nicht. Bleiben also nur Sie. Weitaus die Stärkste der drei. Die beiden anderen müssen, wie Sie wollen!«

»Ich muß geradeso, Herr Dörsam!«

Er schien ihren Einwand zu überhören.

»Und dann . . .« sagte er gedämpft. »Es ist immer besser, man geht zu den Frauen, wenn man etwas erreichen will. Die Frauen sind die besseren Menschen – glauben Sie mir. Sie sind zu Opfern fähig, die ein Mann einfach nicht fertig kriegt!«

Vera schwieg. Eine unbestimmte Angst: Wo soll das hinaus? – preßte ihr die Brust zusammen.

»Und Sie insbesondere, gnädige Frau – verzeihen Sie, wenn ich da an die wundeste Stelle in Ihrem Herzen rühre . . . ich weiß . . . Sie haben vor kurzem den schwersten Verlust erlitten, der eine Mutter treffen kann . . . Es war Ihr einziges Kind. Es liegt etwas Heiliges in solch einem Schmerz. Aber auch etwas Großes. Es hebt den Menschen über sich hinaus. Er versteht, weil er selbst Schmerzen hat, auch die Schmerzen der anderen. Wir tragen alle unser Päckchen durchs Leben – aber Sie haben mehr gelitten als andere. Und Ihnen kann man darum auch mehr sagen . . .«

Veras Augen hatten sich mit Tränen gefüllt bei der Erwähnung ihres toten Kindes. Der ihr gegenüber hatte es wirklich verstanden, sie gerade da anzufassen, wo ihre Seele am weichsten war und keinen Widerstand leisten konnte. Er räusperte sich und fuhr lebhaft fort: »Eingreifen mußt' ich! Und auf der Stelle, ehe noch mehr Unheil geschieht! . . . Ich bin ja nicht so ein Schwiegerpapa oder Großpapa aus der Kinderfibel, dem schon die Zähne wackeln und das Haar ausfällt« – wirklich war auf seinem glänzend schwarzen, leichtgelockten Haupt auch nicht ein grauer Faden – »ich bin noch jung oder fühle mich wenigstens noch jung – es ist bei mir immer alles ein bißchen zu früh im Leben gegangen – und darum trau' ich mir auch noch die Fähigkeit zu – ich möchte sagen, nicht väterlich, sondern einfach menschlich mit den Leuten zu reden . . .«

Vera dachte sich: Freilich – er war kaum fünfzehn Jahre älter als sie. Er hätte ganz gut ihr Mann sein können . . . Sie hörte ihn weiter: »Meine verehrte, gnädige Frau – ich bin für Sie natürlich ein Mensch aus einer ganz anderen Welt. Unter einem Weinhändler denkt man sich bei Ihnen Gott weiß was – das ist mir wohl bekannt – darum hab' ich das alles gesagt, damit Sie ein wenig Vertrauen zu mir fassen. Es gibt Dinge – in denen sind wir alle gleich! Die tun dem einen so weh wie dem anderen. Jetzt müssen wir alle uns weh tun! . . . Es hilft nichts! . . . Aber ich möchte dabei alles fernhalten, was uns auf das gewöhnliche Gebiet, auf Streit und Lärm hinüberbringt. Wir wollen uns nicht als Feinde betrachten, sondern als Leute, die ein gemeinsames Unglück getroffen hat, und die nur darüber sprechen, wie sie sich mit halbwegs heiler Haut wieder aus dem herausfinden!«

Und nun setzte er, nach einer kurzen Pause, ruhig hinzu: »Meine Tochter wollte sich scheiden lassen! . . . Sie kam bei mir an und hielt das für ganz selbstverständlich! . . . Wer so wie sie verraten und verkauft worden sei – sie drückte immer nur die Kinder an sich und zitterte und bebte und die Zähne schlugen ihr aneinander wie im Fieber. Sie wollte auch gar nichts hören. Ich hab' viel Mühe und Geduld gebraucht, bis ich den Weg zu dem armen, verbitterten, kleinen Herzen wiedergefunden hab'! Aber endlich ist es mir doch gelungen. Und wie ich sie zum Abschied geküßt hab' und fortgefahren bin, auf die Bahn, da war sie ebenso entschlossen wie ich, in keine Trennung zu willigen!«

Vera saß ganz still. Sie atmete kaum. Er sagte noch: »Sie hat es mir zugeschworen! . . . Ich hab' sie darum gebeten. Sie wissen vielleicht: wir sind ein gläubig-katholisches Haus. Schon deswegen hätte ich von meinem Standpunkt aus nie eine Scheidung gutheißen können! Bei meiner Tochter ist das nicht anders. Sie ist eine Preußin geworden, in manchen Dingen. Aber ihren Schwur wird sie halten!«

Eine tiefe Stille trat ein. Endlich begann Jean Baptiste Dörsam wieder mit einer weichen, gedämpften Stimme: »Meine arme gnädige Frau – ich fürchtete wohl, daß ich da vielleicht manche Zukunftsgedanken in Ihnen würde zerstören müssen! . . . Ich weiß schon: gerade Sie in Ihrem schwarzen Kleid müssen es als eine besondere Grausamkeit empfinden, daß gegen Sie sich die Kinder der anderen erheben und ihr natürliches Recht geltend machen. Aber glauben Sie mir: es handelt sich nicht darum, daß meine Enkel nun einmal da sind! Was hülfe es ihnen schließlich so sehr viel, daß ihre Eltern wie mit einer eisernen Kette aneinandergefesselt bleiben? Das Familienleben wäre ja doch zerstört! Nein, die Gründe unseres Entschlusses liegen tiefer – so tief, daß ich kaum wage, davon anzufangen. Wenn ich schon zuviel gesagt habe, so sagen Sie mir, ich soll aufhören. Das Wort, auf das es ankommt, das ist ja nun schon heraus!«

Vera sah wie geistesabwesend an ihm vorbei ins Leere. Es kam nur von ihren Lippen: »Sagen Sie mir jetzt alles!«

Unheimlich: Sie sah immer im Geiste auf Jean Baptiste Dörsams südländisch dunklem Haupt die Schellenmütze des Rheinländer Karnevals wie auf der Photographie. Und es war doch ihr Schicksal selber, das da saß und redete. Und um das Schicksal klingelten unhörbar wie ein Hohn auf Menschenglück die Glöckchen. Ihr Besucher versetzte: »Ich beobachte meinen Schwiegersohn nun schon seit vier Jahren. Er ist gar nicht so leicht zu begreifen, weil er zu den Leuten gehört, die anders sind als ihr Beruf. Äußerlich – natürlich – da ist er Offizier – ein sehr fähiger sogar, wie einem alle Welt versichert. Aber wenn man ihm die Weste aufknöpft und ins Herz sieht, dann ist da so etwas Fremdartiges – ewig Unzufriedenes – etwas, was ihm im Leben keine Ruhe läßt – er sucht und sucht und ist doch nicht der Mann dazu – er will die Dinge immer und dann wird er nicht mit ihnen fertig . . .«

Jean Baptiste Dörsam zuckte die Achseln. Er sah selber nicht aus, wie einer, dem das Leben gar keine Rätsel aufgegeben hatte. Nur half ihm leichteres Blut und rheinisches Temperament darüber hinweg. Nach einer Pause wiederholte er: »Er will die Dinge immer und wird dann nicht mit ihnen fertig! Die kommen bei ihm immer wieder. Solange er jetzt mit meiner Tochter verheiratet war, ist er die Erinnerung an Sie nie ganz losgeworden – sie hat es empfunden und mir mehr als einmal geklagt. Wäre er nun wieder mit Ihnen verheiratet, würde er wieder an meine Tochter denken – ich meine nicht so wie jetzt an Sie, sondern mit einem schlechten Gewissen, mit einem fortwährenden Gefühl von Schuld. Da gehörte ein robusterer Mensch als er dazu, so mir nichts dir nichts die Frau, die immer treu ihre Pflicht an ihm getan hat, zu verstoßen, seine eigenen Kinder nicht mehr zu kennen, über alle Wohltaten, die ich und seine Vorgesetzten und seine Freunde und alle Welt ihm erwiesen haben, mit einem Fußtritt zu quittieren! . . . Nein – das würde ihn ewig verfolgen, und darum, meine verehrte gnädige Frau, könnte ich mir eine künftige Ehe zwischen Ihnen und ihm nicht glücklich denken – nicht weil sie schon einmal traurig geendet hat – warum sollten sich Menschen schließlich nicht ändern und durch Schaden klug werden? – sondern weil vor ihm immer das Bild derer stehen wird, die er – um es kurz herauszusagen – elend verraten hat! Mit so einer Last auf der Seele, meine liebe gnädige Frau, wird man nicht froh – man wird auch nicht tüchtig zum Kampf ums Leben, der für Sie doch ohnedies ein furchtbar schwerer sein würde – und Sie können ihm da nichts abnehmen. Denn Ihretwegen hat er ja das alles getan . . .«

Veras Besucher hatte sich in Erregung gesprochen. Das wollte er nicht. Er verstummte eine Weile und wartete, bis er sich ganz beruhigt hatte. Sie saß inzwischen schweigend da, die Hände im Schoß, den Blick auf dem Boden. Nun hub er wieder an: »Darf ich weiterreden?«

»Ja.«

»Dann komm' ich zu Ihnen, gnädige Frau! . . . Sie kennen meinen Schwiegersohn viel besser als ich. Glauben Sie denn, wenn er in einer solchen Verfassung ist, wie ich eben sagte, daß Sie dann neben ihm glücklich sein können? Ich glaube es nicht. Es würde Ihnen gehen wie ihm. Sie würden morgen schon anfangen, sich Vorwürfe zu machen – wegen dessen, was Sie heute an ihm getan haben . . .«

Er brach ab. Er schien zu erwarten, daß sie sich nun erheben und das Gespräch beenden würde. Aber sie rührte sich nicht. Ihr Gesicht war unverändert. Da fuhr er entschlossen fort: »Er war ein harmloser, junger Bursche, als er Sie kennen lernte. Dadurch, daß Sie ihn nach kurzer Ehe – gewiß nur durch seine Schuld, meine gnädigste Frau – verließen, hat er das tiefste Unglück im Leben erfahren! In seiner zweiten Ehe hat er dann Ruhe und Glück gefunden. Er war ein ganz zufriedener Mensch, bis er wieder auf Sie stieß. Da begann das alte Spiel. Seine zweite Frau hat ihn verlassen, wie es die erste getan hat, und ist heute ebenso unglücklich, wie es die erste war. Seine Existenz ist wieder ruiniert, und viel gründlicher als das erste Mal – er geht vielleicht wieder abenteuernd über See – was bleibt ihm schließlich sonst übrig? – und diesmal ganz aussichtslos – denn diesmal verliert er auch den bunten Rock und alles, was sie ihm das erste Mal gelassen haben – gnädige Frau – ich bin grausam – ich weiß es – ich muß es sein – wie der Arzt am Krankenbett, möcht' ich sagen – so sehr es mir auch gegen meine Natur geht – aber ich muß alles aufbieten, Sie umzustimmen – ich bin es meiner Tochter und meinen Enkeln schuldig – und schließlich auch Ihnen! Denn was, um Gottes willen, wird aus Ihnen, wenn meine Tochter erklärt: ›ich geb' ihn nicht frei!‹ und Sie haben doch nicht die Kraft, von ihm zu lassen! . . . Ja, was dann, meine gnädige Frau? Gott im Himmel behüte Sie und uns davor!

»Und meine Tochter wird das erklären und dabei bleiben! Ich hab' ihren Schwur und ich bin zwar nur ein Weinhändler und ein ganz moderner Geschäftsmensch, aber doch ein katholischer Christ wie sie! . . . Ich habe mir und ihr gesagt: ›Rechtfertigt das, was er jetzt tut und will, das Opfer von Frau und Kind?‹ und hab' mir nach redlichstem Gewissen geantwortet: ›Nein!‹ Ich bin schließlich doch auch nur ein Mensch. Sie können mich nicht verdammen, wenn ich zuerst an mich und die Meinen denke!

»Und nun denken Sie an ihn und an sich, meine gnädigste Frau! Ihn rechne ich gar nicht mehr. Ich spreche nur zu Ihnen! Sie sind ja so viel stärker als er! Seit zehn Jahren ist sein Leben durch Sie bedingt. Sie haben ihn auch jetzt wieder aus seinem Kreis gerissen – ohne es zu wollen – gewiß! Aber er geht an Ihnen zugrunde, wenn Sie nicht die Kraft haben, ein Ende zu machen . . .«

»Ein Ende . . .« sagte Vera langsam, halb fragend. Es war das erste Wort, das sie seit langer Zeit sprach.

Der Weingroßhändler hatte sich erhoben und stand vor ihr. Sie war sitzen geblieben. Er sah aus seiner stattlichen Höhe auf ihren gesenkten blonden Scheitel hernieder.

»Meine gnädigste Frau!« versetze er gedämpft. »Bedenken Sie doch: Unser Entschluß steht unverrückbar fest. Also sind Sie schon von ihm getrennt – für immer – nur noch nicht durch eigenen Willen, sondern durch die Gewalt der Umstände. Denn daß Sie ihm dauernd irgendwie nahe bleiben, ohne jede Aussicht auf eine gesetzliche Vereinigung – gnädige Frau – ich weiß: ich darf in diesem Zimmer, vor Ihnen, gar nicht davon sprechen! Also bleibt Ihnen wirklich nur übrig, gnädige Frau, das zu wollen, was Sie müssen . . .«

Vera schwieg. Er konnte aus ihrem unbewegten Gesichtsausdruck nicht erraten, was in ihr vorging. Er trat dicht vor sie hin und rang die Hände ineinander: »Gnädige Frau . . . ich bitte Sie .. in unserer aller Namen . . . seien Sie stark . . . retten Sie ihn . . . retten Sie sich . . . retten Sie uns . . . sagen Sie ihm: ›Es soll nicht sein! . . . Wir müssen verzichten! . . . Wir sehen uns nicht wieder. Wir sind wieder füreinander tot, wie wir es bis vor einem halben Jahr ja schon waren und trotzdem haben leben können.‹ Wenn er sieht, daß das Ihr unumstößlicher, eisenfester Wille ist, dann bleibt ihm ja nichts übrig. Dann muß er sich bescheiden und findet schließlich den Weg dorthin zurück, wohin er gehört. Er wird wie aus einem Taumel aufwachen und sich die Augen reiben und sich besinnen. Ich fordere Übermenschliches von Ihnen, gnädige Frau. Aber wenn man daheim eine Tochter sitzen hat, die man kaum von einem Sprung in den Rhein hat abbringen können – wenn man seine Würmerchen von Enkeln da hilflos vor sich sieht und sich dabei selber nichts, aber auch gar nichts vorzuwerfen hat, sondern sich immer anständig und gut benommen hat – meine Tochter sowohl wie ich – ja, dann hat man doch um Jesu willen das Recht dazu . . . Gnädige Frau – da steh' ich vor Ihnen – schon halbwegs ein älterer Mann – ein Vater und Großvater – und bitte Sie mit gefalteten Händen: Geben Sie ihn frei! Gehen Sie von ihm! . . . Lassen Sie ihn nicht mehr in Ihre Nähe . . .! Der Himmel wird es Ihnen danken. Er wird Ihnen anderes dafür bescheren! . . .«

»Nichts!« sagte Vera ruhig.

»Meine gnädigste Frau – wenn das Opfer noch so schwer ist, ganz verarmen kann es Sie nicht. Bedenken Sie, wieviel Sie immer noch auf der Welt besitzen . . .«

»Mein Kind ist tot!«

»Aber Sie haben doch die Ihren.«

»Die Meinigen haben mich verstoßen!«

»Sie haben doch ein Vaterhaus . . .«

»Meinen Vater hat aus Gram über mich vorgestern der Schlag gerührt!«

Der Weingroßhändler wandte sich stumm ab und griff nach seinem Zylinder. Es war einen Augenblick still im Zimmer. Dann sagte Vera: »Ich hab' nichts mehr. Auch keine Freunde. Kein Geld. Ich hatte nur die Hoffnung. Nun ist auch die weg. Nun hab' ich alles für ihn hingegeben, was ich war und was ich hatte . . .«

»Gnädige Frau . . .« sagte Jean Baptiste Dörsam leise.

Sie schaute auf und ihm in die Augen. In den seinen war eine Frage. Sie antwortete darauf: »Sie sagen, er leidet an mir wie an seinem Schicksal. Meinen Sie denn, daß ich das will . . .?«

»Nein, gnädige Frau! . . . Es geschieht manches, weil unser Wille zu schwach ist! . . .«

»Und nun soll ich, für ihn und für mich, den starken Willen aufbringen?«

»Ja.«

»Und woher soll ich die Kraft dazu nehmen?«

»Ich, als Christ, würde sagen: von da oben, gnädige Frau!«

Es war ein Schweigen. Dann frug Vera: »Sind Sie nun fertig?«

»Ich bin es, gnädige Frau!«

Sie erhob sich. Die Unterredung war zu Ende. Er zögerte: »Bekomme ich keine entscheidende Antwort, gnädige Frau?«

Sie schüttelte den Kopf. Da er immer noch wartend stehen blieb, sagte sie zwischen den Lippen: »Bitte – gehen Sie jetzt!«

Da verbeugte sich Jean Baptiste Dörsam und verließ stumm das Zimmer.

Drinnen blieb alles still. Vera von Vogt saß am Fenster und rührte sich nicht. Außen gingen die Menschen vorbei. Sie kannte sie alle in den Wochen und Wochen, seit sie hier nun wohnte – die Machnower Ausflügler und die Bürger auf dem Weg zum Schützenhaus, die Radler, die Bauern und die Förster und die Herrschaftswagen umliegender Güter – Schatten des Lebens, kamen sie und verschwanden. Sie sah sie nicht. Ihre Augen waren leer. Es klopfte leise. Fräulein von Pfennigreuter frug, ob sie nicht zum Mittagessen kommen wolle. Sie schüttelte nur das Haupt und blieb, wo sie war. So verstrichen langsam die Stunden – die erste – die zweite – schon näherte sich die dritte ihrem Ende, da sah sie unten auf der Straße Georg Gisbert kommen. Er machte stürmende Schritte. Sein Gesicht war bleich. Er schaute finster und wild aus. Der Strohhut war über den dunklen Kopf zurückgeschoben. Er schlug mechanisch mit dem dünnen Spazierstock im Gehen wie mit einer Waffe durch die Luft. Ein paar Leute blieben stehen und blickten ihm verwundert nach . . .

Dann zog es draußen heftig an der Schelle. Sie hörte, wie das Mädchen etwas murmelte, und dann sein barsches: »Ach was – lassen Sie mich in Ruhe!« Es schien, daß er die widerspenstige Person einfach beiseite schob. Seine Schritte kamen schnell den Flur hinunter, sie näherten sich dem wohlbekannten Zimmer – da stand er, fast zugleich mit dem Pochen, auf der Schwelle, schlug die Türe hinter sich zu und riß Vera, die ihm entgegengeeilt war, stumm und stürmisch an sich. Er preßte sie an seine Brust, sein Atem ging schwer, er war so erregt, daß er keine Worte fand. Erst als sie sich immer und immer wieder geküßt hatten, mit geschlossenen Augen, die Welt vergessend, erst da, im Erwachen aus der Trunkenheit des Wiedersehens, stieß er hervor: »Er sagt mir, er wäre bei dir gewesen?«

»Ja.«

»Er sagt, du wüßtest alles?«

»Ja.«

»Jetzt war er bei mir! . . . Mit mir hat er nur ganz kurz gesprochen – im Stehen – den Hut in der Hand! Vera . . . Vera . . . um Gottes willen . . .«

»Ja, Georg? . . .«

»Ich begreife nicht, daß du so ruhig bist! . . . Oder hat er dir vielleicht etwas anderes gesagt als mir? Hat er dir vielleicht ein bißchen Hoffnung gelassen?«

»Nicht so viel, Georg! . . . Sie geben dich nicht frei! . . . Das hat er erklärt!«

»Und was hast du geantwortet?«

»Nichts, Georg! Ich hab' nur zugehört! . . .«

»Ohne ein Wort des Widerspruchs?«

»Er hat mich ja nichts gefragt. Er hat mich ja einfach vor die Tatsache gestellt!«

Georg Gisbert lachte wild auf.

»So? . . . So sanftmütig bist du doch sonst nicht! Ich will dir sagen, was ich ihm geantwortet hab'! . . . Ganz einfach: ›Und wenn du mir mit zehn Gesetzbüchern und Verboten kommst, zweie wie die und mich kriegt ihr nicht unter! . . . Wir sind so weit, daß uns alles egal ist! Wir erzwingen uns unseren Weg! Das schreibt euch hinter die Ohren! Und wenn es dabei unnütz Scherben und Skandal gibt, dann haben nur die die Schuld, die Leute zurückhalten wollen, die sich nicht halten lassen . . .‹«

Es klopfte. Georg Gisbert wandte den Kopf und schaute gereizt, fieberig-zitternd nach der Türe, in der die Generalin von Pfennigreuter, ältlich, unansehnlich und in die Breite gegangen, in ihrem Hauskleid, erschien und Vera musterte.

»Sie sehen mich erstaunt, gnädige Frau! . . . Ich habe ausdrücklich zu verstehen gegeben, daß ich die Besuche des Herrn Hauptmanns nicht länger dulde . . .«

Sie kam nicht weiter, so schrie er sie an: »Herrgott! Lassen Sie uns hier gefälligst ungeschoren! Jawohl . . . das ist mir jetzt ganz gleich, wer Sie sind! . . . Wer kann sich denn unterstehen, sich zwischen Frau von Vogt und mich zu drängen, in dieser Stunde . . .?«

Während sie erschrocken flüchtete, hörte sie noch seine schneidende Exerzierplatzstimme: »Es gibt ein Unglück, wenn uns hier noch irgend jemand stört, gnädige Frau! Das schwör' ich Ihnen!«

Daraufhin wurde es draußen still. Mutter, Tochter und Magd hatten sich in die Küche zurückgezogen, die Türe verschlossen und warteten dort bebend auf das Gehen des unheimlichen Gastes. Er lachte zornig auf und wandte sich wieder an Vera: »Wo man hinspuckt, die Philister! . . . Sie machen einen toll! . . . Ich hab's meinem verehrlichen Schwiegervater auch gesagt. Aber ernsthaft, Vera: wir sind ja wirklich wie Kerzen, die an beiden Enden zugleich brennen! . . . Wir müssen rasch zum Entschluß kommen. Sonst frißt's uns auf . . .« Er ballte atemlos die Fauste. »Wir müssen ihnen den ganzen Kram vor die Füße schmeißen, daß es nur so kracht! . . . Hindern können sie's nicht. Sie können uns überhaupt gar nichts tun – wenn wir nur wollen! . . .«

Sie sah ihn ruhig mit großen Augen an. Er faßte ihre beiden Hände und flüsterte leidenschaftlich: »Vera . . . wir sind doch miteinander getraut. Der Pfaffe hat uns doch gesegnet – der Kerl auf 'm Standesamt erst recht. Wir sind Mann und Frau . . . wenn auch nachher . . . sieh . . . gerade die Leute unten in Worms, die Katholiken, erkennen eine solche Trennung gar nicht an. Die sagen: ›Ehe bleibt Ehe in Ewigkeit! . . .‹ Das sagt mein lieber Schwiegervater von meiner zweiten Ehe! Nun – ich wende es auf meine erste an! . . . Nicht vor den Menschen – die mögen meinetwegen Zetermordio schreien – aber vor unserem Gewissen! . . .«

Die Finger taten ihr weh, so preßte er sie in den seinen. Er war halb sinnlos vor Erregung. Die Worte überstürzten sich ihm auf den Lippen.

»Vera . . . es bleibt uns ja keine andere Wahl! Die Leute sind ja so wahnsinnig. Sie hetzen uns da hinein! Wir müssen. Nur fort! fort! . . . Aus allem heraus . . . Alles stehen und liegen lassen . . . heute abend noch am besten . . . du und ich . . .«

»Wohin?«

Er sah sie verblüfft an. Ihre Frage kam ihm unerwartet. Sie sagte ruhig: »Mit deiner Anstellung in Ostafrika ist es doch nichts, wenn wir . . . so dahin kämen . . .«

»Nun natürlich ist es nichts! Meinetwegen!« Er bemühte sich, sich zu beherrschen. Aber er zitterte an allen Gliedern. »Was liegt denn daran? Wir können uns doch nicht trennen, Vera! Das Jahr bis zur Scheidung wär' es vielleicht noch mit Hängen und Würgen gegangen . . . Für immer . . . da werd' ich verrückt und du auch, bei dem bloßen Gedanken! Also was hilft's – wir müssen fort!«

»Wohin?«

Er zuckte unter der wiederholten Frage zusammen.

»Das weiß ich noch nicht. Daran denk' ich auch jetzt noch nicht. Was kann man denn mehr tun als dem Schicksal die Hörner bieten! Soll man zum Deubel gehen – na, dann gut! Dann hat man wenigstens sein möglichstes vorher getan! . . . Es kommt nur auf dich an, Vera! Von dir fordere ich den äußersten Entschluß, weil kein anderer mehr übrig bleibt. Ich fordere ihn noch am heutigen Tag, für all die furchtbaren Opfer, die ich schon gebracht hab'! Dann sind wir quitt. Dann gehen wir Hand in Hand. Dann können wir lachen!«

»Du wirst nie mehr lachen können, Georg!«

Er ließ ihre Hände los und reckte, tief Atem schöpfend, die Arme aus: »Vera . . . bringe mich nicht zur Verzweiflung . . . Da steh' ich und hab' alles getan aus Liebe zu dir! Nun zeige du mir auch deine Liebe! . . . Ich kann es dir nicht ersparen! . . . Ich verlange es ja nicht – die Notwendigkeit verlangt es . . . es gibt einfach keinen anderen Weg . . . also antworte mir: Ja oder nein?«

»Wohin führst du mich?«

Er stampfte mit dem Fuß auf.

»Herrgott im Himmel! Ich weiß es nicht!«

»Aber ich weiß es!«

Es war eine Sekunde still zwischen ihnen. Er murmelte: »Vera – liebst du mich?«

»Viel mehr, als du denkst!«

»Dann komm mit!«

Sie schwieg.

Er wandte sich von ihr ab und ging anscheinend ruhiger zwei-, dreimal durch das Zimmer hin und her. Dann machte er plötzlich wieder vor ihr halt und zog langsam etwas aus der Tasche. Ein Revolver blinkte in seiner Hand.

»Ich hab' eben gesagt: ›Es gibt keinen Weg mehr!‹« versetzte er. »Es gibt natürlich noch einen Weg! Den gibt es immer. Trennen können wir uns nicht voneinander! . . . Das ist klar! Wenn du also nicht mit mir kommen willst – dann kommen wir beide überhaupt nicht mehr aus diesem Zimmer! Willst du das so, so muß es geschehen! Sofort! Ich verstehe auch das, daß du nicht anders kannst. Entscheide du! Eines von beiden!«

Es war eine Stille.

»Vera . . . gib mir Antwort! Willst du mit mir fliehen oder nicht?«

Sie fürchtete sich nicht vor der leise glitzernden Waffe. Sie war ruhig vor ihm stehen geblieben, der in seiner herabhängenden Rechten Tod und Leben hielt. Nun sagte sie: »Laß mir nur etwas Zeit, Georg! Komm heute abend wieder. So gegen sieben!«

»Aber dann willst du fliehen?«

»Dann werd' ich fliehen!«

»Das schwörst du mir?«

»Das schwör' ich dir bei unserer Liebe . . .«

Er zog sie an sich und hielt sie fest. Brust an Brust. Lange Zeit. Endlich murmelte sie: »Geh jetzt! Geh!«

Er küßte sie noch einmal leidenschaftlich und flüsterte: »Hab Dank! Hab Dank! Ich ordne inzwischen alles. Schlag sieben bin ich wieder hier!«

Dann wandte er sich rasch ab und zur Türe. Aber da rief sie ihn zurück: »Komm noch einmal, Georg . . . zu mir . . .«

Sie stürzte ihm entgegen, in seine Arme, die sie auffingen. Sie suchte angstvoll seinen Mund, ihre Augen leuchteten wild, sie preßte ihn mit der Kraft der Verzweiflung an sich, daß er beinahe erschrak. Dann bat sie: »Küß mich nicht auf den Mund! . . . küsse mich auf die Augen . . . auf das rechte . . . und auf das linke . . .«

Und während seine Lippen ihre geschlossenen Lider berührten, ging ein Schein wie von Entsühnung über ihr blasses Gesicht. Ein schwaches, dankbares Lächeln war darauf – dann noch einmal ein Flammen der Leidenschaft, Mund an Mund . . .

»So . . .« sagte sie und schob ihn sanft zur Türe. »Das ist der Abschiedskuß . . .«

Eine Sekunde glitt sein Blick argwöhnisch über sie: »Was ist dir, Vera?«

»Nichts. Nichts!«

Er zögerte.

»Ich hab' doch dein Versprechen?«

»Du hast es!«

Da reichte er ihr die Hand.

»Auf Wiedersehen, Vera!«

»Auf Wiedersehen!«



 << zurück weiter >>