Rudolph Stratz
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Rudolph Stratz

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III.

Im oberen Stockwerk des Gersonschen Kaufhauses saß der Freiherr Christoph von Ulerici, mit seiner umfangreichen und anspruchsvollen Erscheinung die ganze Ecke des einen Saales beherrschend, hatte ein Bein über das andere geschlagen, daß unter der Bügelfalte der taubengrauen Hosen die rehbraunen Gamaschen an den Lackstiefeln schimmerten, den goldenen Zwicker auf der Nase, und sagte ungeduldig zu einer der Directricen: »Fragen Sie doch mal da unten, ob meine Braut noch nicht kommt!«

Das Wort »Braut« ging ihm, dem Graukopf, stets ein wenig stolperig über die Lippen. Er war mißtrauisch. Er schaute dabei die Leute immer an, ob sie nicht etwa lachten. Seine Botschaft wurde Vera von Vogt ausgerichtet, als sie gerade in den unteren Gewölben zwischen ganzen Stapeln von Stores und Vorhangstoffen stand. Sie hatte sich die Begleitung ihres Bräutigams bei diesen Aussteuerbesorgungen verbeten und dafür seine Schwester, das Stiftsfräulein von Ulerici, mitgenommen. Sie hielt eine lange Einkaufsliste in der Hand: »Ich möchte écru-farbigen Tüll mit Batistauflage für diese Gardinen!« sagte sie zu dem Verkäufer, »und nicht diesen Elfenbeinton! Wie?« sie drehte sich um. »Herr Baron würde ungeduldig?« Sie lachte herzlich und meinte zu ihrer Begleiterin: »Dies Gedrängele mußt du Christoph noch abgewöhnen, Agathe! Fällt mir nicht ein, mich mit meiner Ausstattung hetzen zu lassen! . . . Hinterher hat man dann den Ärger . . . Zeigen Sie doch mal den Schweizer Tüll da! . . . So!«

Das lange hagere Fräulein neben ihr lächelte melancholisch. Du lieber Himmel . . . ihr Bruder und noch mucken . . .! Wenn je ein Mann rettungslos unter dem Pantoffel war, dann war er's schon jetzt! Vera war inzwischen ein paar Stände weitergegangen und interessierte sich für abgepaßte Köperstoffe mit Spachtelarbeit, die sie mit Hilfe ihres langgestielten Lorgnons prüfte. Es gefiel ihr nichts recht. Sie debattierte mit dem Verkäufer, sprach von der Auswahl bei Hertzog und Wertheim, und in einer Pause sagte die verblühte Stiftsdame: »Weißt du, Vera, daß ich dich bewundere? . . . Mit welcher Ruhe du das alles abmachst . . .«

»Ja, soll ich mich etwa wegen dem Zeug aufregen?«

»Ich meine nur: daß dir da nicht trübe Erinnerungen dazwischen kommen . . .«

»Du denkst, weil ich das alles schon einmal durchgemacht hab'! . . . Ach, gute Agathe . . . Damals hieß es sich böse nach der Decke strecken – da war von Gerson überhaupt keine Rede . . . Jetzt läßt Papa ja springen, was er hat . . .«

Fräulein von Ulerici schüttelte den Kopf über ihre künftige Schwägerin. Die hatte wirklich eine frische Herzlosigkeit an sich.

»Ich spielte auch nicht auf den Unterschied an, liebe Vera, ob man sich seidene oder leinene Wäsche kauft! Aber es gibt doch auch Gefühlsmomente in solchen Stunden . . .«

»Ach Gott . . . ich bin nicht sentimental! . . . Und wenn ich es wäre, hätt' es mir das Schicksal gründlich abgewöhnt.«

»Gut, wer das kann!«

Die junge Frau warf den blonden Kopf energisch in den Nacken.

»Ich kann's! Ich hab' das völlig hinter mir! Nun ist's tot! Siehst du, Agathe: insofern war ja neulich die Begegnung bei dem Muthardtschen Diner ein Glück. Da wurde ich ganz plötzlich und unvermutet auf die Probe gestellt . . . Ich sage dir . . . es hat sich nichts gerührt . . . nichts . . . Kein bißchen Haß mehr . . . Alles weg, als wäre es nie gewesen! . . . Ich hab' wohl bemerkt, wie furchtbar aufgeregt er war! . . . Denk mal, ich hab' mich darüber gewundert . . . Ich bin dazu nicht mehr fähig . . .«

Die beiden Damen schwiegen eine Weile und blieben mitten in dem Menschenstrom des Kaufhauses stehen. Endlich versetzte Vera von Vogt: »Die Gelehrten sagen, daß der menschliche Körper alle sieben Jahre ganz neu wird. Warum die Seele denn nicht auch? Wenn ich zurückdenke, wie ich vor sieben Jahren war und wie ich jetzt bin, dann sehe ich da in der Vergangenheit einen ganz anderen Menschen. Ich verstehe meine Handlungen von damals nicht mehr, meine Stimmungen nicht . . . Ich bin ganz losgelöst davon! Da versuche ich eben mein Glück zum zweiten Male! Das ist doch furchtbar einfach. – Nicht wahr?«

Das Stiftsfräulein erwiderte nichts. Sie hatte einen leisen Schauer vor diesem schönen jungen Weib, das sich da so herzhaft und kaltblütig verkaufte. Und Vera sagte neben ihr kurz und befehlend: ». . . und dann von den großen Damasttafeltüchern ein Dutzend! Kostenpunkt pro Stück hundertzweiundvierzig Mark – nicht wahr . . .? Nein – sehen Sie nur gefälligst mal nach . . . ich hab' es mir neulich genau aufgeschrieben . . .«

Sie hatte die Freude einer Frau, die große Einkäufe macht. Und Fräulein von Ulerici sagte: »Was fängst du nur mit dem furchtbar vielen Tischzeug an, Vera?«

»Es werden eben auch furchtbar viele Gäste zu uns kommen! . . . Darauf ist Christoph schon vorbereitet . . . Mit den Ecartéabenden im Klub hat's ein Ende! Dafür werden in den ›Zelten‹ die Fenster hell . . . Du sollst sehen, was ich für ein Haus mache!«

»Man muß es nur nicht übertreiben, Vera!«

»Kinder, ihr seid zu komisch!« sagte die junge Frau im Weitergehen, »ihr wollt immer alles bloß halb! Da bin ich anders veranlagt. Ganz oder gar nicht. Ich war seinerzeit so wahnsinnig verliebt, daß ich hätte Verbrechen und Morde begehen können. Na, dafür scheue ich aber auch jetzt als gebranntes Kind das Feuer! . . . Und ich war hinterher so bodenlos unglücklich, daß ich am liebsten, wie ich geschieden in Neetzow saß, Kopf vor in den Mühlbach gesprungen wäre . . . Ich glaub', ich hab' es bloß nicht getan, weil ich ihm nicht ganz recht geben und das Feld räumen wollte – Nun – und für alle diese Enttäuschungen kann ich doch jetzt auch einmal was vom Leben haben! . . . Aber komm . . . ich will die Livreebestellung lieber heute lassen! Der arme Christoph rauft sich sonst da oben seine letzten Löckchen aus.«

Fräulein von Ulerici mißfiel diese Äußerung. Sie machte ein säuerliches Gesicht, und auch der Kürassiermajor a. D. oben saß, als sie eintraten, recht verdrossen da.

Aber da sah er seine schöne Braut, und sein rötliches, gutmütiges Antlitz strahlte, während er behende aufsprang. Aller Augen waren auf sie gerichtet. Sie beherrschte in ihrer hohen, eleganten Erscheinung den ganzen Raum, wie sie ihm rasch und lachend entgegenschritt. Sie trug ein graues Schneiderkleid, das ihren prachtvollen Wuchs zur vollen Geltung brachte. Der große Hut mit den violetten Straußenfedern auf ihrem Blondhaar gab ihren Zügen etwas Stolzes und Kühnes. Ein Hauch von Frische und Jugendlichkeit war um sie, gleich dem feinen Duft, der dem Veilchensträußchen an ihrer Brust entströmte. Und während sie noch einmal zu einer raschen Anprobe in einer Kabine verschwand, von Fräulein von Ulerici, einem böhmischen Zuschneider und dessen weiblichem Stab gefolgt, sagte der Major a. D. stolz, aber halblaut, damit die herumstehenden, langen, weiß auswattierten und eingeschnürten Probiermamsells ihn nicht hörten, zu einem Bekannten, den er zufällig getroffen: »Na, Hand aufs Herz, lieber Graf! Den Geniestreich hätten Sie mir auch nicht mehr zugetraut auf meine alten Tage – was? Wissen Sie, ich bin manchmal noch vor mir selber paff! . . . Das ging alles so . . . so . . . wie 'n Traum . . .«

»Na, aber wie 'n höllisch angenehmer!« meinte der Graf. Seine Frau hatte mit Vera äußerlich nichts gemein. Nebenan verzweifelte der Zuschneider an ihrer Taille von achtzig Zentimetern.

Der graue Reitersmann neben ihm machte plötzlich ein sehr pfiffiges Gesicht. »Wissen Sie, was die größte Überraschung ist, wenn so ein alter Esel wie ich noch tanzen geht?« sagte er. »Man merkt erst, wieviele Leute auf einen schon heimlich spekuliert haben . . ., Leute, von denen ich es nie geglaubt hätte! . . . Na ja . . . ich bin ja ein reicher Kerl – es ist ja bekannt! Aber meine Freunde und Verwandten wohnen doch auch nicht in Bettlerhütten! Und trotzdem – rings um mich allgemeine Flucht! Auf und davon! Nischt mehr zu holen! . . . Na . . . meinetwegen . . . Da kommt sie ja wieder . . . Das ging diesmal noch gnädig ab . . .«

Vera von Vogt trat heran und schüttelte dem Grafen herzhaft die Hand. Sie hatte eine freie Art, mit den ihr bekannten Herren zu verkehren. Sie sprach und lachte zwanglos mit ihnen und sah ihnen in das Gesicht. Sie hatte sich das in den letzten Jahren so angewöhnt, vielleicht gerade weil die Damen da draußen auf dem Lande sie doch immer wieder ihre Stellung als geschiedene – wegen böswilliger Verlassung als schuldig geschiedene – Frau hatten fühlen lassen. Es lag etwas sorglos Kameradschaftliches in ihrem Wesen – beinahe ein bißchen Verachtung, so, als könnten ihr die Männer nichts mehr tun. Dem Freiherrn von Ulerici gefiel es nicht recht. Aber er schwieg.

Er und seine Schwester gingen, Vera zwischen sich in der Mitte, die paar Straßen hinüber bis zu der Borchardtschen Frühstücksstube, wo sie sich mit deren Vater, dem alten von Vogt auf Neetzow, der seit acht Tagen in Gutsgeschäften in Berlin war, verabredet hatten. Der saß da, schon ein hagerer Sechziger, dessen verwittertem braunen Gesicht mit den grauen Bartstreifen man trotz der sorgfältigen, dunklen Kleidung von weitem den Agrarier ansah. Rechts und links von sich hatte er seine beiden Söhne, zwei blutjunge, langaufgeschossene Ulanen mit rotwangigen, noch fast bartlosen Gesichtern. Der eine war nach Berlin zur Zentralturnanstalt kommandiert, den anderen hatte der Vater unterwegs aus Hannover, wo er auf Reitschule war, auf Osterurlaub mitgebracht. Alle drei aßen still Austern – ein Luxus, den sich der sparsame alte Landwirt sonst nie gegönnt hätte. Aber jetzt ging ja alles in einem hin, angesichts der Riesenpartie seiner Tochter, und die sagte an den Tisch tretend und lachend: »Schlemmt ihr schon wieder? . . . Papa . . . du verwöhnst die Kinder zu sehr . . .«

Es machte ihr Spaß, die Brüder, die sie entrüstet ansahen, zu necken. Ihr Verkehr mit den Ihrigen war neuerdings auf diesen Ton gestimmt. Sie war nicht umsonst so viele Jahre das schwarze Schaf der Familie gewesen. Jetzt genoß sie ihre Auferstehung. Ihr Großmut gegen ihre Umgebung grenzte fast an naive Grausamkeit. Belustigt hörte sie zu, wie ihr Vater und ihr Bräutigam über einem Stoß von Plänen und Berechnungen allerhand Meliorationen auf Neetzow besprachen. Sie wußte: der goldene Regen, der sich da auf die lange vernachlässigten elterlichen Fluren ergießen würde, der kam auch durch sie. Der Freiherr von Ulerici war ja freigebig und gutmütig wie viele Egoisten, denen man nicht zu nahe tritt. Er war eben im Begriff, sich ein drittes Dutzend Austern zu bestellen. Aber auf ihr gleichmütiges: »Christoph, ich glaube, du hast genug!« ließ er es gehorsam sein, und die beiden jungen Leutnants verbissen ihr Lachen.

Nach dem Frühstück wurden noch Ansichtspostkarten geschrieben, an den dritten Bruder, der in Bonn studierte, und an Veras jüngere Schwester, die Frau des Rittergutsbesitzers von Greffern-Riest auf Kwitschkallen und Nautzitten in Ostpreußen, an der deutschrussischen Grenze. Dann brach man auf. Vera ging allein mit ihrem Vater die Linden entlang, um ihn bis zu seinem Hotel zu begleiten. Am Brandenburger Tor kam ihnen ein junger Artillerieoffizier und seine Frau entgegen. Beide grüßten etwas befangen, und Vera sagte: »Das waren eben Herr und Frau von Muthardt, Papa – die neulich das Kunststück fertig gebracht haben, mich . . . und ihn zusammen einzuladen!«

Der Altmärker runzelte die Stirne. Jede Erwähnung seines früheren Schwiegersohnes war ihm verhaßt. Und seine Tochter sprach jetzt so unbefangen davon, wie von einer überstandenen Krankheit.

». . . und wie war denn das da zwischen euch?« frug er gereizt.

»Gott – wie zwischen anderen Menschen auch!«

»Wirklich?«

»Ja, wie soll das denn anders sein?«

Sie legte unwillkürlich wieder den Kopf zurück. Nebenan war die große Scheibe eines Schauladens. In dem sah sie sich und ihren Vater. Der Alte paßte gut in seinem verwitterten, altfränkischen Ernst zu ihrer strahlenden, jugendlichen Erscheinung, und nun seufzte er und sagte: »Ich hätt' es kaum mehr zu hoffen gewagt nach der Geschichte . . . die war mir ja von vornherein gräßlich . . . Ich hab' nie aus meinem Herzen 'ne Mördergrube gemacht . . . Das weißt du . . . Frau Gisbert! . . . Ja . . . da mögen mich nun die Leute hier in Berlin mit nassen Lappen totschlagen – aber ich brauch' das ›von‹ wie das Hemd auf dem Leibe! . . . Man kommt sich sonst vor wie ein kahler Spatz . . . Frau Gisbert! . . . Ich hab' immer einen Anlauf mit der Feder machen müssen, wenn ich die Adresse an dich geschrieben hab'! . . . Und Infanterie . . . Kind . . . Infanterie ist nichts! Glaub' das mir altem Husaren! . . . Wir haben's ja gesehen, wohin das führt . . . Ich hatte so große Rosinen mit dir im Kopf . . . Mit der Anna gar nicht! . . . Da war ich froh, wie ich die glücklich droben bei den Kosaken untergebracht hatt' . . . Aber du . . .«

»Nun mach' ich es ja wieder gut!« sagte Vera leichthin. Wie bescheiden ging jetzt der Vater neben ihr, der bisher oft wochenlang kein Wort mit ihr gesprochen und sie mit feindseliger Kälte behandelt hatte. Sie waren vor dem Hotel angekommen. Otto Leberecht von Vogt blieb stehen und nahm die Hand der Tochter in die seine. »Eigentlich ist's schade,« sagte er. »Das alles hättest du doch schon seit Jahren haben können!«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nein, Papa! . . . Wenn man sich das Bein gebrochen hat und geht zu früh, so wird es nur noch schlimmer! So ähnlich ist es da auch. Es brauchte alles seine Zeit. Aber jetzt bin ich so weit . . . Gott sei Dank!«

Sie lachte wieder. Der Alte hielt ihre Rechte fest und sah sie wohlgefällig schmunzelnd an, als sei das da vor ihm seine gelungenste Leistung im Leben. Und sie freute sich, daß sie ihm gefiel. Sie freute sich, daß sie jetzt wieder der Sonnenschein für alles umher war, für ihren Vater, für ihren Bräutigam, für ihre Brüder, für jeden! Und um sie her war der Frühling. Blauer Himmel über dem Potsdamer Platz. Ein buntes Blühen und Duften von den Ständen der Blumenverkäufer da drüben, eine schmeichelnde Helle und Wärme, und sie nickte dem greisen Junker heiter zu: »Also auf Wiedersehen heute abend, Papachen!« – und schritt dann nach dem Tiergarten zu davon.

Dort lag der erste grüne Schleier über dem noch winterlich kahlen Geäst. Die Frühlingssonne schien hell. Alle Wege waren bei dem herrlichen Wetter gedrängt voll Menschen. Der Anblick des wieder erwachenden Lebens stimmte die junge Frau förmlich übermütig. Es paßte so zu ihrer eigenen Neuwerdung. Sie freute sich an den bunten Flecken der eingepflanzten Hyazinthen und Krokus im Grase, an den ersten, sich ins Freie wagenden Toiletten, sie lachte beim Denkmal Ottos des Faulen über den Gesichtsausdruck der gekrönten Schlafmütze da oben auf dem Sockel, und ging langsam, um auf dem Rückweg zu ihrer Pension im Westen das alles zu genießen. Auf einem sandbestreuten Kinderspielplatz, den sie durchquerte, lief ein kleines Mädchen neben ihr her und sagte etwas. Sie glaubte, es wolle, wie es hier im Tiergarten Sitte, nach der Zeit fragen, und griff, ohne hinzusehen, nach ihrer Uhr. Aber da spürte sie, wie das Kind ihre Hand festhielt, und hörte zugleich deutlich: »Mama . . . Mama . . .!« und schaute hinab . . .

»Karla!« schrie sie und blieb stehen. Sie traute ihren Augen nicht.

»Ja, Mama!« sagte die Kleine glückselig. Sie stand vor ihr, das blasse Gesichtchen von einem Strohhut überschattet, die Schaufel, mit der sie drüben im Sandhaufen gegraben, noch in der Hand.

»Ja, wie kommst du denn hierher? Warum bist du denn nicht bei der Großmama?«

»Ich bin doch schon seit acht Tagen hier, Mama!«

»Weshalb denn?«

»Ich muß doch jeden Tag zu dem Herrn Professor, Mama! Eben waren wir auch da!«

»Wer denn – wir?«

»Na – ich und Tante Otti!« meinte die Kleine, erstaunt, daß die Mutter das nicht wußte, und nun sah Vera erst: dicht neben ihr, zur Seite einer Bank, stand Frau Hauptmann Gisbert. Den Wagen mit ihren beiden eigenen Kindern hielt das Mädchen an der Hand. Die kleine Karawane hatte offenbar eiligst aufbrechen wollen, als Karla von ihrem Sandhügel her frohlockend auf die Mutter zustürmte. Aber nun war es zu spät.

Die beiden jungen Frauen sahen sich befangen an. Es war keine Feindseligkeit in ihren Blicken. Dazu waren die drei Kinder um sie. Die schufen etwas Gemeinsames zwischen ihnen. Sie waren sich auch beide gar nicht unsympathisch, schon von ihrer ersten Begegnung her. Sie waren nur alle zwei etwas aus der Fassung.

Sie konnten jetzt nicht gut mehr mit einem stummen Gruß aneinander vorbeigehen. Frau Otti Gisbert fühlte, daß sie der anderen eine Erklärung schuldig war.

»Verzeihen Sie, gnädige Frau!« sagte sie. »Haben Sie denn den Brief nicht bekommen?«

»Welchen Brief, gnädige Frau?«

»Die alte Exzellenz teilte Ihnen Anfang der Woche mit, daß Karla bis auf weiteres in unser Haus hier übersiedeln würde. Sie wußte Ihre Berliner Adresse nicht. Deswegen schrieb sie an die Ihres Herrn Vaters, auf das Gut . . .«

»Ach so – mein Vater ist seit acht Tagen in Berlin. Da liegt der Brief ruhig in Neetzow!«

Es war eine kurze Pause. Dann versetzte Vera von Vogt mit gepreßter Stimme: »Entschuldigen Sie eine Frage, gnädige Frau: Karla spricht da von einem Professor . . .«

»Ja. Professor Schwertfeger . . . Sie kennen vielleicht seinen Namen. Er soll eine Autorität sein . . .«

»Um Gottes willen . . . Ist das Kind denn krank?«

Veras schönes Gesicht war blaß geworden. Frau Gisbert sagte: »Karla . . . lauf mal hinüber zum Sand und pack deine Schippen zusammen! Wir müssen gehen!« Dann fuhr sie, als die Kleine sich entfernt hatte, gedämpft fort: »Sie sehen ja, gnädige Frau: sie ist ganz munter. Eine Gefahr ist nicht. Oder kaum, meint der Arzt. Es sollen nur einmal die Herzerscheinungen gründlich untersucht werden . . .«

»Und wie lange soll das Kind noch hier bleiben?«

»Das ist ganz unbestimmt, gnädige Frau!«

Frau Otti Gisbert hatte kein ganz leichtes Herz, während sie das sagte. Es war ihr eingefallen, daß in jenem Brief ihrer Schwiegermutter der jungen Frau vor ihr anheimgegeben war, Karla während ihres Berliner Aufenthaltes nicht zu sehen. Und die da drüben war doch schließlich die Mutter. Sie fühlte förmlich einen Anflug von bösem Gewissen, während ihr Blick ihre beiden eigenen, friedlich im Kinderwagen schlummernden Lieblinge traf. Und zugleich versetzte Vera von Vogt mit zuckenden Lippen: »Jedenfalls danke ich Ihnen, gnädige Frau, daß ich durch Sie nun von Karlas Anwesenheit hier weiß. Es ist ja immerhin etwas ungewöhnlich, daß Mutter und Kind wochenlang ganz ahnungslos ein paar Straßen voneinander entfernt wohnen!«

Die Kleine kam herangesprungen, gab ihr Spielgerät dem Mädchen und stellte sich zwischen die beiden jungen Frauen. Sie faßte jede an einer Hand und lachte zu ihnen auf. Die beiden erröteten und machten sich frei. Jetzt kam ihnen erst wieder das Seltsame der Situation zum Bewußtsein. Man konnte sie für Freundinnen halten, wie sie da im Gespräch beisammen standen. Frau Hauptmann Gisbert sammelte sich zuerst.

»Nach Hause, Friederike!« rief sie dem Mädchen zu und verabschiedete sich dann durch eine Kopfneigung von Vera von Vogt. »Guten Tag, gnädige Frau! . . . Karla . . . sag deiner Mama Adieu!«

Es war ihr sehr peinlich, das auszusprechen. Aber sie mußte es, denn die Kleine machte keine Anstalt, sich von der Mutter zu trennen. Sie blieb stehen und verlangte: »Nein! Mama . . . komm doch mit Tante Otti mit! . . . Wir wollen alle zusammen nach Hause gehen!«

Ihre Mutter beugte ihre lange schlanke Gestalt zu ihr hinab. Sie riß sie förmlich an sich und bedeckte sie mit ein paar leidenschaftlichen Küssen. Frau Gisbert dachte sich: ›Um Gottes willen . . . sie wird sie doch nicht auf die Arme nehmen und wegtragen . . . Da drüben stehen Taxameter!‹ Aber Vera stellte das Kind wieder auf die Füße, streichelte ihm noch einmal mit der Hand die Wangen, nickte der Stiefmutter hastig zu und eilte so rasch den nächsten Weg hinunter, daß die Leute ihr verwundert nachsahen.

Allmählich verlangsamte sie ihre Schritte. Um sie war der Frühling wie bisher, der Himmel war blau, die Sonne golden, die Knospen am Wege grün. Aber sie sah das alles wie durch einen feuchten, grauen Schleier. Ihre Augen schwammen in Tränen. Und auch als die allmählich versiegt waren, blieb als Nachklang der Begegnung mit ihrem Kinde eine tiefe leidenschaftliche Schwermut in ihr zurück.

Es war nicht nur die Liebe der Mutter, es war auch deren Zorn, daß man ihr ihr eigenes Fleisch und Blut vorenthielt. Eine andere Frau führte es spazieren und zahlte aus ihrer Tasche die teuren Konsultationen bei dem berühmten Arzt und mahnte das Kind, manierlich die Hand zu geben, wenn es ja einmal durch Zufall seine Mutter auf offener Straße traf! Vera von Vogt preßte im Gehen die fein behandschuhten Finger ineinander. Sie stöhnte unter dieser Demütigung. Solange die Kleine bei ihrer Großmutter in Schlesien war, da hatte sie das nicht so schwer empfunden. Dort besaß sie doch noch einen Anteil an dem Töchterchen. Aber nun hatte er sie ganz! Gelassen hatte er sein Eigentum in sein Haus eingezogen, und sie stand draußen vor dem Tor.

Eine heiße Reue stieg in ihr auf. Sie hatte jahrelang in der kleinen Karla nur den Vater gesehen und ihr Herz gegen sie verhärtet. Nun war es zu spät. Sie fand sich auf einmal am Rand des Neuen Sees – wie sie dahin gekommen, wußte sie nicht – und schaute über die stille Wasserfläche hin und frug sich in einem plötzlichen Schrecken: ›. . . Was tust du? Dein Kind hast du früher verleugnet! Dafür verkaufst du dich jetzt! . . . So oder so trittst du die Natur mit Füßen und bist noch stolz darauf! Du lächelst! Du überhebst dich vor den Deinen und rühmst dich deiner klaren Lebensführung und bist mit dir im Herzensgrund zufrieden . . . Gib acht, daß das, was du für deine Stärke hältst, nicht deine Schwäche werde . . .‹

Und als sie sich endlich umwandte und heimging, da stand ihr immer wie ein Mene Tekel das eine mahnende Bild vor Augen: Ihr Kind und neben ihm die fremde Frau . . .

Die war inzwischen auch nach Hause gekommen. Georg Gisbert saß an seinem Schreibtisch. Otti eilte zu ihm und erzählte ihm hastig, was vorgefallen. Er rückte den Stuhl herum und sah sie finster und ungläubig an.

»Ich verstehe nicht!« sagte er langsam. »Ihr habt da einfach beisammen gestanden und miteinander geredet . . .?«

»Nun ja, du hörst es doch!«

Frau Otti war etwas erregt. Sie hatte gerötete Wangen. Es war, als feiere sie im Innersten des Herzens ein bißchen einen Triumph über ihre Nebenbuhlerin. Sie hatte das Kind. Jene nicht. Sie behauptete auf der ganzen Linie das Feld, und die andere mußte sich geschlagen geben.

»Warum seid ihr denn nicht aneinander vorbeigegangen?« frug Georg Gisbert nach einem Schweigen des Ärgers.

»Das war doch nicht möglich . . . In der Situation hätt' ein jedes reden müssen!«

»Wer sprach denn zuerst von euch?«

»Ich!«

»Na – das wußt' ich doch!«

Er sprang heftig empor und ging im Zimmer auf und nieder.

Otti fuhr auf: »Dir macht man's auch nie zu Dank! . . . Jetzt hab' ich gedacht, ich mach' es recht gut und nehm' das Kind zu uns, dir zulieb – da ist es auch wieder nix! Da krieg' ich als wieder Schelte!«

Er stand am Fenster, den Rücken gegen sie, und antwortete nichts. Sie wartete eine Weile. Dann ging sie aus dem Zimmer. Er hörte, daß sie leise schluchzte, aber er folgte ihr nicht. Er konnte nicht. Er blieb, wo er war, und starrte durch die Scheiben. Gerade jetzt, als seine Frau eintrat, hatte er an Vera gedacht. Er tat es viel zu oft. Gegen seinen Willen. Er mußte. Neulich, mit den paar Worten: »Sie war ja nie ganz weg!«, da hatte Otti mit unvorsichtiger Kinderhand einen Riegel von seiner Seele geschoben. Jetzt ließ sich der Strom nicht dämmen. Er flutete dahin, seltsame, einander widerstrebende Empfindungen . . . er wurde ihrer nicht Herr . . . er hatte Angst vor ihnen und wußte: Es gab nur ein Mittel gegen sie: Vera von Vogt mußte fort sein, ganz fort aus seinem Leben.

Und alles, was ihre Nähe hieß, war Gefahr! . . . Es war ihm, als zöge sich langsam ein Netz um ihn zusammen. Er nickte düster lächelnd: Jawohl, die arme kleine Otti hatte recht! Es glimmte noch unter der Asche! Leise, wie spielende Schlänglein züngelten die Flammen . . . Wenn nur kein Sturmstoß sie zum Lodern brachte . . .

Und er stützte den Kopf auf die Hände und kämpfte – kämpfte einen stummen und schweren Kampf . . .



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