Rudolph Stratz
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Rudolph Stratz

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XIV.

Der Hauptmann Gisbert hatte seinen Besuch in Schlesien nicht angemeldet. Seine Mutter verließ ihr niedriges, altes Wohnhaus in der ostelbischen Kreisstadt ohnedies fast nie mehr, und am Sonntag nachmittag am wenigsten. Sie saß, als er eintrat, gerade mit Karla beim Vieruhrkaffee. Das Kind hatte kurz vorher das Bett verlassen. Es ging heute ein wenig besser mit dem schwanken, wie im Winde flackernden Flämmchen. Aber auf wie lange? Der Arzt dränge immer wieder: ›Nur nicht laufen – nicht springen!‹ und die Kleine sei doch jetzt immer so unruhig und aufgeregt, erzählte die alte Exzellenz. Das habe sie aus Berlin mitgebracht, aus dem Gisbertschen Hause. Sie sei von dem vielen Lärm und Leben dort angesteckt worden und glaube nun, hier bei der Großmutter müsse es ebenso sein.

Karlas Vater legte die Hand auf den blonden Kopf seines Töchterchens, während die vor ihm, zwischen seinen Knieen stand. Freilich – hier war es ruhig – nur zu ruhig in dem ganzen Hause mit seinen ausgetretenen Stiegen, seinen wurmstichigen Dielen und niederen Decken. Der Greisin, die hier lebte, stand die Zeit still, die Zeiger ihrer Uhr wiesen rückwärts, in die Vergangenheit hinein, alles war hier Erinnerung, verkörpert in den vielen Photographien auf den Tischen, an den Wänden – der verstorbene Generalleutnant z. D. Gisbert als Leutnant im böhmischen Feldzug und, vier Jahre später, einen Fuchspelz um den Mantelkragen gewickelt, mit Stummelpfeife, hohen Stiefeln und fremdwildem Vollbart im Winter 1870 vor Orleans, und weiter auf der Stufenleiter des Friedens bis zur ordenübersäten Exzellenz. Neben ihm seine Söhne, vom Kadetten und Fahnenjunker bis zum Leutnant und Hauptmann und dem schon verstorbenen Major, dem Ältesten, und dahinter wieder neunjährige Knirpse im Waffenröckchen, die nächste Generation. Draußen vor den Fenstern grünte der Sommer. Hier war der Winter. Sein Schweigen. Seine Müde. Georg Gisbert dachte sich, während er stumm die welke Hand der Mutter in der seinen hielt: ›Darf ich denn Karla hier lassen, wo alles spricht: Komm, ältele du mit mir . . .?‹

Welch einen fiebrigen, seltsamen Glanz die Blicke der Kleinen hatten, mit denen sie, sich an sein Knie schmiegend, ihn anschaute! Es war ihm unheimlich. Das waren keine Kinder-, sondern Menschenaugen, wissend, an Vera erinnernd – ein stummes Forschen in ihnen: Vater, was tust du?

Er stand auf und schob Karla sanft von sich.

»Hast du denn keine kleinen Freundinnen zum Spielen, die dich besuchen?« frug er. »Ich hab' jetzt mit der Großmama zu reden!« Die Kleine blieb verdutzt stehen und schüttelte den Kopf, und die alte Exzellenz seufzte und meinte: »Die anderen Kinder tollen doch immer so! Das soll sie doch nicht!« – Und er sagte sich wieder: ›Was ist das für ein trübseliges Herumgehocke! Wie soll das arme Kerlchen da in Saft und Kraft kommen? Wenn sie in Neetzow bei der Mutter wäre, da auf den weiten Wiesen, in Hof und Garten, bei Kuhmilch und in frischer Luft, würde sie sich gewiß erholen.‹

Das blasse kleine Geschöpf war das Alleinsein schon gewohnt. Es kauerte sich im Nebenzimmer in seiner Puppenecke hin, hielt ein Bilderbuch auf den Knieen und schien ganz zufrieden. Nun frug Georg Gisbert gedämpft: »War ihre Mutter in letzter Zeit einmal da?«

Die alte Exzellenz bejahte das beinahe ängstlich. Sie fürchtete sich, wie sie sagte, förmlich vor der leidenschaftlichen Zärtlichkeit, mit der Vera neuerdings ihr Kind geradezu erstickte und es, wenn sie jede Woche einmal von Berlin herüber kam, mit Küssen und Näschereien überhäufte. Stundenlang saß sie neben ihm am Boden, und sie spielten zusammen mit den Puppen und zogen sie aus und an und brachten die eine davon, die kleine Luise, die so krank war, zu Bett und pflegten sie, bis sie wieder gesund wurde, und Vera kämmte ihrem Töchterchen selbst das Haar und hatte ihm aus Berlin ein apartes Kleidchen mit russischer Leinwandstickerei mitgebracht und dabei, während sie, dies kaltherzige Geschöpf, sonst doch nie eine besondere Rührung verriet, mit Tränen in den Augen zu der alten Exzellenz gesagt: »Jetzt, wo mir alles wieder in Scherben gegangen ist, jetzt hab' ich auf der weiten Welt nur noch mein Kind! . . . Und wenn mich das Schicksal immer wieder hin und her beutelt, das ist alles die Strafe dafür, daß ich es damals verlassen hab'!«

Und besonders der letzte Abschied Veras von ihrem Töchterchen, jetzt eben vor drei Tagen, war schon bald herzzerreißend gewesen! Da hatte sie vor Karla auf den Knieen gelegen und sie an ihre Brust gepreßt und verzweifelt geschluchzt: Nun kam sie nur noch einmal wieder, in einer Woche, und dann sah Karla lange, lange die arme Mama nicht mehr. Die hatte, wie sie der Generalin Gisbert erzählte, eine Stellung als Gesellschafterin angenommen, bei einer etwa vierzigjährigen, an Melancholie leidenden Baronin, die einmal ein Jahr oder länger von Mann und Kindern getrennt leben sollte, um ihre Nerven zu beruhigen. Diese Baronin sollte mit ihrer Begleiterin für den Sommer nach einem Kurort in Ungarn gehen und dann im Winter nach dem Süden. Am ersten Juli hatte Vera ihren Posten anzutreten. Ihr Vater, der alte Vogt-Neetzow, habe gerast und ihr geschrieben, ob sie denn den Glauben erwecken wolle, er lasse seine Kinder verhungern, daß sie sich bei fremden Leuten ihr Brot suchen müßten, und sie habe ihm geantwortet: »Ja, Papa – Du hast mich verhungern lassen in Neetzow! Brot ohne Liebe ist Stein!«

Sie war jetzt merkwürdig mitteilsam geworden, meinte die alte Dame, sie hatte einen Drang, ihr Herz auszuschütten, wo sie nur im leisesten hoffte, daß man sie verstand. Wie kühl und zugeknöpft hatte sie früher sich vor der alten Exzellenz auf dem Weg zum Zimmer ihres Kindes verbeugt und sich ebenso stumm und hastig wieder entfernt, und jetzt –? Hatte sie sich nicht das letzte Mal eine Stunde freiwillig zu der alten Generalin hingesetzt und ihr zutraulich, als sei sie noch ihre Schwiegertochter, allerhand krauses Zeug erzählt – auch was sie für Sorge mit ihren Toiletten habe? Die seien alle für den Berliner Winter und sommerliches Landleben im großen Stil berechnet gewesen. Jetzt als Gesellschafterin müsse sie doch viel einfacher gehen und alles mit schrecklicher Mühe wieder umändern lassen . . .

»Sie ist ja furchtbar oberflächlich!« sagte die alte Exzellenz. »War es immer! Toiletten . . . Geldausgeben . . . heidi! . . . na . . . wir wissen's ja, mein Sohn! . . . Aber trotzdem . . . ich halte ihr jetzt mehr als früher die Stange! Sie ist doch ein tapferes Geschöpf! Läßt sich nicht klein kriegen! . . . Sie hat Gott sei Dank bei ihren vielen Fehlern gar nichts Sentimentales an sich. Immer rasch und energisch und eigentlich ganz guter Dinge. Sie spricht dir und lacht manchmal, als wäre alles in schönster Ordnung. Das ist das gräßlichste, wenn Frauen der Art auch noch Heulliesen sind und sich ewig mit ihren Geschichten haben! Das kann ich in den Tod nicht leiden! Nein – so ist sie gar nicht!«

Nach einer kurzen Pause fügte die Generalin Gisbert hinzu: »Und dann, mit dem Kinde, da meint sie's ehrlich! Sie hat sich von ihrer trübsinnigen Baronin ausgebeten, daß sie einmal den Sommer hier herüberfahren darf. Sie meint, es wäre ja nur ein Katzensprung von Ungarn nach Schlesien! . . . Ein merkwürdiges Frauenzimmer . . . wenn sie was will, dann ist sie biegsam wie eine Gerte! Sie schnellt immer wieder nach oben. Ich möchte ja beileibe ihr Mann nicht sein – aber immerhin . . . Und dazwischen will sie dann der Karla regelmäßig schreiben, und ich soll dem Kind erklären, was es nicht versteht, und dafür sorgen, daß es hübsch antwortet. Nun, ich hab' es ihr in die Hand versprochen. Sie bleibt doch schließlich die Mutter . . .«

Die alte Exzellenz redete nun schon fast eine Stunde ausschließlich von Vera von Vogt. Es war kein Wunder. Die Besuche der jungen Frau waren ja so ziemlich das einzige, was das stille Gleichmaß ihrer Tage hier in diesem Hause noch unterbrach. Ihr Sohn hörte schweigend zu. Die Worte seines Schwiegervaters gingen ihm nicht aus dem Kopf. Der kluge Weltmann vom Rhein hatte recht: Immer wieder schlangen sich hier unsichtbare Fäden, gleich den Seidensträhnen auf Karlas blondem Haupt, um ihn und seine frühere Frau. Er entging ihr nicht. Er hörte immer neu von ihr. Er sah sie, vor sich an der Türschwelle stehen, die sie erst vor drei Tagen überschritten. Der Hauch ihrer Nähe haftete noch an allen Dingen umher. Es war, als sei sie selber noch im Zimmer und lehnte hinter seinem Stuhl und hörte, was man sprach, und wußte, was man dachte – und so blieb das, solange sie beide, jeder an einer Hand, die Gesichter voneinander abgewandt, ihr Kind zusammen durch das Leben führten . . .

Er erhob sich und ging in das Nebenzimmer zu Karla. Dort setzte er sich ihr gegenüber auf einen Schemel und frug halblaut, so daß die schon etwas schwerhörige Exzellenz nebenan ihn nicht verstand: »Karla . . . möchtest du gerne wieder fort von hier?«

»Ja, Papa!«

»Wohin denn am liebsten?«

»Zu Tante Otti!«

Immer Tante Otti! Er unterdrückte eine Bewegung der Ungeduld – was konnte denn das unschuldige, kleine Geschöpf dafür? – und sagte in sanftem Tone: »Gewiß . . . die Tante Otti hat dich auch sehr lieb. Aber . . . schau, Karlachen – vor allem ist doch deine Mama so gut zu dir – nicht wahr? Sie kommt doch so oft her und spielt mit dir und bringt dir immer was Schönes mit. Möchtest du nicht auch gern zu der Mama?«

Das Kind nickte. Es schien ihm alles recht zu sein, wenn es nur aus dem einsamen, dämmerigen Hause der Großmutter herauskam, und er tröstete sie weiter: »Weißt du, Karla . . . bei der Mama ist's wunderschön . . . da geht ihr spazieren über ganz, ganz große Wiesen mit vielen scheckigen Kühen darauf und pflückt euch Blumen – und da ist ein Hof mit kleinen Hühnchen weißen und Ziegenböcken . . . paß auf, was die für Sprünge machen . . . da wirst du lachen – und abends gibt es gute, dicke Milch und . . .«

»Kommt da Tante Otti auch hin?«

Er seufzte.

»Nein, mein Kind,« sagte er. »Tante Otti nicht. Man kann nicht alles im Leben haben! Dafür hast du deine Mama!«

»Aber du kommst hin, Papa . . .«

»Wir wollen sehen, Karla! Wahrscheinlich nicht!«

»Warum denn nicht, Papa?«

Er legte ihr leise die Hand auf den Mund.

»Pscht, Kind! Frage nicht immer! Hast du denn deine Mama nicht lieb?«

»Doch. Ich hab' die Mama lieb und ich hab' dich lieb und ich hab' die Tante Otti lieb . . .«

»Und wen hast du denn am liebsten?«

»Die Tante Otti!«

Es war nichts zu machen. Er stand auf und nickte trübe und dachte sich: ›So rächt sich die Schuld der Eltern. Unser Kind liebt die Dritte, die Fremde mehr als Vater und Mutter . . .‹

Er nahm wieder neben der alten Exzellenz Platz und fing an, vorsichtig von der Möglichkeit, Vera das Kind zu überlassen, zu sprechen. Er hatte auf heftigen Widerstand bei ihr gerechnet. Es war seine heimliche Hoffnung gewesen, daß sie entgegnen würde: ›Das Kind muß fort von hier – freilich – aber zurück in dein Haus!‹ Jedoch die alte Dame sagte zu seinem Erstaunen, indem sie tief aufseufzte und die Hände faltete: »Wenn du glaubst, daß du's kannst – wenn du glaubst, daß du's mußt – dann tu's in Gottes Namen, Georg! Ich hab' nicht den Mut, dir abzureden. Ich bring' es nicht übers Herz. Ich weiß zu sehr selber, wie es tut! Ich bin auch Mutter. Wenn ich denke, ich hätte eines von euch aus den Händen geben müssen . . .«

»Sie hat es doch so gewollt!«

»Ja, ja, mein Kind! Ich kann sie nicht leiden. Ich hab' wenig Frauen kennen gelernt, die mir so gegen die Natur gegangen sind wie sie, mit ihrem Hochmut und ihrer Selbstsucht und ihrer Verschwendung und ihrem ganzen blinden Hin und Her durchs Leben . . . aber trotzdem . . . wenn die Mutter wieder in ihr erwacht ist . . . oder vielleicht war sie nie ganz weg . . . schau .. wir Frauen sind doch anders als ihr . . . wir tun manches und meinen das Gegenteil und können uns und euch nicht klar machen, warum, sondern wir müssen . . . auf dem Umweg ist sie da wieder angelangt, wo sie hingehört! Georg – was du vorhast, das ist mir schon manchmal, wenn ich da so still über meiner Häkelei gesessen bin, durch den Kopf gegangen – gerade wegen Karla . . . daß das Kind noch in die rechte Pflege kommt, ehe es zu spät ist . . . glaub mir: viel Zeit ist dazu nicht mehr . . .«

Er preßte die Lippen zusammen und schaute vor sich hin.

»Also du meinst dasselbe wie mein Schwiegervater!« sagte er.

Wie immer bei der Erwähnung Jean Baptiste Dörsams nahm das Gesicht der greisen Dame einen abweisenden Ausdruck an.

»Das kann sein!« versetzte sie frostig. »Ich weiß es nicht! Ich bin aus der alten Schule. Dein Vater trank Moselwein sehr gern. Aber wir haben den Lieferanten immer nur geschrieben. Gekannt haben wir sie nicht!«

»Herrgott ja – Mama – ich weiß, daß mein Schwiegervater Weinhändler ist . . .«

»Ich mach' ihm auch keinen Vorwurf daraus, Kind! Ich möchte nur nicht gerade so durchaus mit ihm Hand in Hand . . . ich kann mich so wenig in diese neuerfundenen Leute schicken. Aber immerhin – wenn zwei so verschiedene Menschen wie der Herr Dörsam und ich dasselbe denken, dann ist es vielleicht gerade das richtige . . .«

Ihr Sohn sprach nicht mehr weiter darüber. Er meinte nur noch: »Bitte – laß Otti nichts von der Sache wissen. Wenn es geschieht, sag' ich es ihr besser hinterher!« Dann brachte er die Rede auf das weite Gebiet der Familienangelegenheiten, das einzige, an dem die alte Exzellenz noch mit Anteilnahme hing, auf die Versetzungen und Beförderungen in dem hundertköpfigen Vettern- und Verwandtenkreis, – was Gustavs in Memel trieben und Leopolds in dem teuren Frankfurt am Main, und ob sich Karl auf dem Schweizer Urlaub vom Sturz mit dem Pferde erholt, und so verflossen die Stunden, bis es für ihn Zeit war, der Mutter die Hand zu küssen, noch einmal seinem blassen Töchterchen, das er stumm an sich zog, die Lippen auf die Stirne, zwischen Veras große blaue Augen, zu drücken und nach Berlin zurückzufahren.

Als er dort den abenddunklen Kurfürstendamm entlang schritt, den heute, am Sonntag und bei dem schönen Wetter, Tausende von verspäteten Grunewaldausflüglern, Schwärme eilig flitzender Radler, Kremser mit bunten Papierlaternen, knatternde Automobile und schlank trabende Schlächterequipagen erfüllten, da klang es ihm inmitten der festlich heiteren Gesichter, des gemächlichen Gewühls wie eine eherne Stimme des Schicksals ins Ohr: ›Deine erste Frau, dein erstes Kind müssen für dich tot sein, damit du leben kannst . . .‹

In den folgenden Tagen blieb in ihm dieser leise Schauer vor dem Opfer am eigenen Fleisch und Blut, diese Abschiedsstimmung. Sein Verhältnis zu Otti hatte sich schon seit der Aussprache mit dem Schwiegervater geändert. Sie waren weich und nachgiebig zueinander – sie redeten nicht viel zusammen, ja der eine schaute wohl noch unwillkürlich weg, wenn ihn unverhofft der Blick des anderen traf, aber sie behandelten sich mit stummer, schonender, leise wieder erwachender Liebe – sie waren wie zwei Kranke, die sich gegenseitig pflegten und gemeinsam Genesung erhofften.

Und die Genesung hieß: ›Tu von dir, was dein Eigenstes ist – lasse das Kind büßen für das Irren der Eltern!‹ Der Hauptmann Gisbert hatte in diesen Tagen, wenn er durch die Straßen ging, in dem fiebernden Pulsschlag des Lebens um ihn her immer seltsam, ganz aus dem Zusammenhang heraus, wie eine dunkle Erinnerung aus der Schulkinderzeit, einen Bibelspruch im Kopf: ›. . . dies ist das Lamm, das der Welt Sünde trägt . . .‹ und dachte dabei an sein blasses, blondes Töchterchen in Schlesien, das Vater und Mutter hatte und doch keines von beiden.

Von der alten Exzellenz hatte er nur eine Postkarte, daß es Karla wieder weniger gut ginge und sie das Bett hütete. Am Freitag abend, nachdem beinahe eine Woche seit seinem Besuch bei seiner Mutter verstrichen, stand er plötzlich von dem Tisch auf, an dem er neben Otti unter der Hängelampe gesessen hatte, küßte sie rasch auf die Wange und ging, ohne der Erstaunten ein Wort der Erklärung zu geben, hinüber in sein Arbeitszimmer. Dort setzte er sich hin und schrieb an Vera von Vogt, und es schien ihm in diesem Augenblick selbstverständlich, daß er seine frühere Frau mit ›Du‹ anredete – Eltern, die um ihr Kind litten und stritten . . . was sollte zwischen denen in letzter Stunde das ›Sie‹? – und er kam ohne Umschweife sofort zu dem entscheidenden Wort:

»Ich habe mich entschlossen! Ich gebe Dir zurück, was Dein ist, unsere Tochter! Dein trotz alledem! Die Menschen sagen das Gegenteil. Sie geben mir recht. Ich gebe mir unrecht. Ich bin schuldig, in der Vergangenheit, noch mehr in der Gegenwart – ich will nicht in der Zukunft am schuldigsten sein. Ich muß ein Stück von mir preisgeben, damit ich nicht ganz untergehe. Dies Stück ist Karla. Ich schenke es Dir als Sühne. Nimm es hin, wie ich es meine, ich sage nicht mehr! Zwischen uns war immer eine Art Verstehen, in Liebe und Haß. Du verstehst mich auch jetzt. Du weißt, warum ich es tue, tun muß. Es gilt Dir. Ich opfere zwei in einem.«

Er ließ die Feder sinken. In ihm vollzog sich, wie er da sein Innerstes niederschrieb, eine seltsame Umsetzung der Gedanken. Nicht mehr Vera sollte für ihn tot sein – nein, umgekehrt, er selbst für sie – und er fuhr in dem Briefe fort:

»In Ostafrika hat mich einmal im Buschgefecht eine Negerkugel gerade in die Herzgegend getroffen. Es war ein Prellschuß vom Boden her. Sie drang nicht durch die Haut. Und auf dem Marsch nach Peking wollt' ich eben Wasser aus einem verseuchten Brunnen trinken, da riß mir ein britisch-indischer Soldat den Becher vom Munde. In beiden Fällen war ich um ein Haar dahin – in manchen anderen auch. Dann wärest du nun ohnehin schon lange in Karlas unbestrittenem Besitz. So mußt Du auch jetzt Dir vorstellen, ich sei nicht mehr. Und auch so handeln. Wir dürfen in Zukunft voneinander so wenig wissen, sehen, hören, denken, als wenn ich nicht mehr unter den Lebenden wäre. Das ist die Bedingung, unter der ich Dir Karla gebe.

Für andere Eltern ist das Kind das, worin sie sich, einer im anderen, erkennen. Für uns ist es das letzte Mittel, einer den anderen zu vergessen. Ich sehne mich so nach Frieden für Dich und mich. Ich hoffe auf ihn. Es liegt eine erlösende Kraft im Opfer! Möge sie auch an uns ihre Reinheit bewähren.

Nimm Karla! Führe Du sie ins Leben! Lehre sie, Dich zu lieben und ihren Vater zu vergessen. Sie soll nicht wissen, daß er sie in der Stunde am meisten liebte, als er sie weggab. Und gib Karla Deine Liebe mit. Sie soll von uns beiden das erben, was wir füreinander nicht bewahren konnten, und nicht wieder fühlen durften, die Liebe. Widme Karla Dein ganzes Leben. Ich verlange das nicht von Dir. Du tust es von selber, in Neetzow oder wo es Dir sonst gut erscheint.«

Eine Sekunde zögerte er noch. Dann schrieb er hastig die letzten Sätze nieder:

»Ich will von Karla keinen Abschied mehr nehmen. Es würde mir zu schwer fallen. Ich will sie auch nicht wieder sehen, höchstens in zehn, fünfzehn Jahren, wenn sie ein erwachsener Mensch und mir fremd geworden ist. Sie soll mir auch nicht schreiben. Du auch nicht! Danke mir mit keiner Zeile! Ich bitte Dich nur um das eine: mache es schnell! Fahre sofort nach Schlesien – meine Mutter ist unterrichtet – und hole Dir das Kind. Und dann soll Schweigen sein. Wenn ich wieder einmal in das Haus meiner Mutter komme, soll das Zimmerchen nach dem Hof zu leer stehen und mich nichts mehr an Karla erinnern. Und nun lebt wohl, ihr beide . . .«

Er adressierte den Brief an die Wohnung Veras in Zehlendorf und trug ihn selbst zum Postkasten und hörte den leichten Schlag, mit dem er durch dessen Spalt auf den Boden glitt. Nun war es entschieden. Er drehte um und ging langsam die jetzt um die zehnte Abendstunde stille und menschenleere Straße zurück. Sein Schritt hallte dumpf an der Hausmauer wider. Die Luft war heiß und schwer und in ihm war nicht, wie er heimlich gehofft hatte, ein befreites Aufatmen, ein Stein vom Herzen – nein – eine unendliche Leere. Und er merkte wohl, daß es nicht die Trennung von dem Kinde, sondern die von seiner Mutter war, die ihm das kommende Leben als nicht mehr lebenswert erscheinen ließ. Man lebte es ja trotzdem, man hauderte seines Wegs und tat seine Pflicht, aber im Grunde war das alles einerlei . . .

Diese tiefe Gleichgültigkeit gegenüber den Dingen beherrschte ihn auch am nächsten Tage so, daß ihm alles recht war, was geschah oder nicht geschah, sogar der Ausflug zu den Verwandten nach Magdeburg, den ihm Otti für morgen, Sonntag, vorschlug. Seine Schwester dort hatte er ganz gern, nur sein Schwager, der Amtsrichter Weigand, war ihm unsympathisch. Aber heute brauchte die kleine Frau gar nicht lange zu predigen, Weigands seien alle Fingerlang in Berlin und nähmen es ihnen, den Gisberts, krumm, wenn sie nie kämen – er sagte nur melancholisch: »Übelnehmen ist das halbe Familienleben!« und fuhr mit.

Als er dann wirklich in Magdeburg zu Tisch saß, da dachte er nicht daran, wie fatal doch der Schwager sei, der in jeden Satz ein juristisches Schlagwort verwob und dazwischen Bierwitze vom Skat- und Kegelabend erzählte, und was dies halbe Dutzend unbekannter Herren und Damen bedeute, die die Weigands in Eile eingeladen, um ihren nächsten Freunden die bunte Uniform und die schicke Sommertoilette des Ehepaares Gisbert vorzuführen – er sann im stillen immer wieder: Heute vor einer Woche riet mir der Schwiegervater – er ist klug . . . ein rechtes Weltkind – ein Mensch unter Menschen – sein Rat wird mich nicht reuen . . . kann es nicht . . . aber doch . . . die Gefahr hat er mir noch nicht aus der Seele gebannt – das geht wohl langsam . . . langsam . . . das ist noch nicht der große, der heilige Schmerz, in dem alles versinkt – das ist noch Trübsinn . . . grauer Tag . . . und Begehren . . .‹

»Also du verstehst,« sagte der Amtsrichter über den Tisch herüber eifrig. »Vorhand spielt die blanke Karozehn. Ja, ich hatt' das As nicht und konnt' doch nicht zum Oberlandesgerichtsrat sagen: ›Herr, Sie schustern!‹ . . . Und was schmeißt Mittelhand? . . . 'ne Sieben! Das As im Skat! Höllendusel – was? . . . ja, solche Abende hab' ich manchmal . . . es grenzt schon an unerlaubte Bereicherung . . .«

Georg Gisbert ließ den Skatfreund schwatzen und dachte weiter: »Vielleicht kommt es daher, daß noch nicht alles entschieden ist! . . . Gestern hatte Vera meinen Brief. Heute fährt sie hin. Oder sie muß vielleicht noch warten, mit dem Alten in Neetzow sich ins Benehmen setzen, der trübsinnigen Dame schreiben, daß sie nicht kommen könne, sondern selber eine Gesellschafterin gefunden habe, ihr eigenes Kind – es können noch ein paar Tage vergehen, bis sich das klärt. Ehe ich nicht eine Nachricht meiner Mutter erhalten habe: ›So – nun ist alles in Ordnung und Karla weg!‹ – bis dahin ist es ja ganz natürlich, daß ich keine Ruhe finden kann . . .‹

»Ottilie!« schrie der fidele Schwager, der ihn beobachtet hatte, ». . . ist dein Mann immer so? . . . Was ist mich das mit dir, mein Sohn? Du ißt mich nicht, du trinkst mich nicht . . . du stippst mich nicht . . . Hat unsere Bewirtung Mängel, die du arglistig verschweigst? . . . Nein? . . . Nu also! . . . hör' mal: Weißt du schon den Unterschied zwischen . . .«

»Ja!« sagte Georg Gisbert, so daß dem anderen das Wort im Munde still stand, und knüpfte ein Gespräch mit seiner Nachbarin an. Sie erzählte ihm ein langes und breites von ihrer Kinderstube, er hörte nicht recht darauf hin, aber es erinnerte ihn doch immer wieder an sein eigenes Kind. Natürlich war Vera heute schon dort in Schlesien! Wie hatte er vorhin glauben können, daß sie auch nur einen Augenblick zögern würde? Sie setzte sich sofort auf die Bahn und holte sich, was wie ein Geschenk vom Himmel in ihr verwildertes und verödetes Leben fiel. Vielleicht zog sie in diesem Augenblick schon der Kleinen ihr Jäckchen an und setzte ihr den Hut auf und ermahnte sie: ›Nun sag der Großmama noch einmal schön Adieu . . .‹ und führte sie an der Hand mit sich hinaus über die ausgetretenen Steintreppen auf das spitze Pflaster des Gäßchens und durch das weiter . . . immer weiter . . . Mutter und Kind verloren sich in blauer Ferne . . .

Er fuhr empor. Es wurde Sekt eingeschenkt. Man stand auf, und der Gastgeber schrie: »Das Getränk des armen Mannes – schlichter deutscher Schaumwein – keine Serviette schamhaft um die Marke Matthäus Müller– keine Vorspiegelung falscher Tatsachen . . . der Versuch wäre strafbar . . . na Prost, alter Kronensohn! Nett, daß ihr da seid!« – und Georg Gisbert stieß mit ihm an und mit all den anderen, und ihm war es, als wandele er nur im Traum hier im Lande der Philister . . .

Am Nachmittag hatte er dann eine ruhige Stunde mit seiner Schwester. Sie war eine kluge kleine Frau, unheimlich mager, mit glänzenden, ewig beweglichen, eichhornbraunen Augen – ein bißchen mokant – das machte der Mann, der sie ihre eigenen Wege gehen ließ, und die Abgeschlossenheit ihres Lebens hier. Sie hatte schöngeistige Neigungen und war der Mittelpunkt eines kleinen Kreises verwandter Seelen. Dadurch besaß sie einen sanften Dünkel. Aber wenn man sie mit ihrer stillen Ironie ein bißchen duckte, kam man sehr gut mit ihr aus. Sie war für Georg Gisbert die eigentliche Vertraute unter seinen Geschwistern. Nur heute fiel sie ihm zur Last. Sie hatte natürlich auch schon etwas läuten hören und kam ihm mit vorsichtigen, bohrenden Fragen näher, und er war jetzt am wenigsten in der Stimmung, irgend einem Dritten Einblick in sein Inneres zu gewähren. So brach er ab und mischte sich wieder unter die Banausen und war froh, als es spät abends und Zeit zur Heimkehr war.

Man sollte gegen zwei Uhr nachts in Berlin ankommen. Aber Otti fühlte sich von dem langen Tag zu angegriffen, um sich jetzt noch auf drei oder vier Stunden in den D-Zug zu setzen. Nach langem Hin- und Herreden nahm sie das Anerbieten der Verwandten an, die Nacht hier zu bleiben und erst am nächsten Morgen zu reisen. Ihr Mann, der Montag früh wieder Dienst hatte, fuhr allein voraus. Er verabschiedete sich und atmete auf, als er für sich im Zug war und seinen Gedanken nachhängen konnte.

Der Zufall wollte, daß er im Abteil einen anderen Offizier von der Infanterie traf. Sie kamen ins Gespräch und stellten sich vor. Es ergab sich, daß jener auch drüben in China mitgewesen war. Nun fanden sie eine Menge gemeinsamer Bekanntschaften und Erlebnisse aus der Boxerzeit, und die Stunden verstrichen ihnen rasch, bis sie sich mit einem Händedruck auf dem Bahnhof in Berlin trennten. Georg Gisbert hatte das bißchen Pulvergeruch und Seeluft ihrer Unterhaltung wohlgetan. Es hatte ihn abgelenkt, auf das äußere Leben hinaus. Das war ja auch der rechte Weg. Es war ein Wink des Schicksals gewesen. Den Kopf fester im Genick, als die Tage bisher, trat er in seine stille mitternachtdunkle Wohnung, hing Mütze, Mantel und Säbel an den Haken und warf, wie er es immer vor dem Schlafengehen tat, einen Blick in sein Arbeitszimmer, ob irgendwelche Briefe oder Nachrichten angekommen seien.

Er und Otti waren an diesem Morgen so früh gefahren, daß sie die Post nicht mehr hatten abwarten können. Es war ganz natürlich, daß die Zeitungen und ein paar Schreiben und Drucksachen unberührt dalagen. Aber was sollte der Pack uneröffneter Depeschen daneben bedeuten? Sie lagen übereinander geschichtet, wohl fünf oder sechs, offenbar der Reihe nach, die letzte zu oberst. Die riß er auf und überflog die paar Worte und begriff gar nicht:

»Das gute Kind soeben sanft entschlafen. Gott stärke Dich. Deine Mutter.«

Welches Kind? . . . Wer war gestorben? Heute abend um sieben Uhr dreißig, nach dem Datum des Telegramms . . .? Sein Kind . . .? Die Buchstaben der Maschinenschrift der Depeschen tanzten ihm vor den Augen, wie er sie atemlos der Reihe nach aufriß – vereinzelte Worte schlugen ihm entgegen – hafteten ihm im Hirn – es rollte sich nach rückwärts auf, was diesen Tag geschehen: »Zunehmende Herzschwäche – Doktor gibt wenig Hoffnung mehr. Warum kommst Du nicht? Antwort! Mutter.« – »Herzschwäche eingetreten. Komme Du sofort. Mutter.« – »Karla schlimmer. Erwarte Dich heute hier.« – und endlich das erste, kaum eine halbe Stunde nach seiner Abfahrt eingetroffene Telegramm:

»Wollte Dich nicht unnötig beunruhigen. Depeschiere jetzt doch auf Rat des Arztes. Karla seit gestern, Sonnabend, mittag recht krank. Liegt zu Bett. Ernste Symptome. Deine Mutter.«

Dem Hauptmann Gisbert war es immer noch wie ein Traum. Er schichtete die Telegramme wieder zusammen, glättete sie mechanisch mit der Hand und las noch einmal das oberste: »Das gute Kind soeben sanft entschlafen!« Und da begriff er plötzlich, daß seine Tochter gestorben war, und sank auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch zusammen.



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