Rudolph Stratz
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Rudolph Stratz

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X.

Zu seltsam . . .« sagte Vera von Vogt am nächsten Nachmittag zu ihrer aus Ostpreußen gekommenen Schwester, mit der sie in deren Hotelzimmer im »Kaiserhof« beisammen saß. »Ist es nicht schrecklich, daß sich die Leute aus allem ein Fest machen – sogar aus meiner Hochzeit . . .?«

Und während sie die Augen halb schloß und sonderbar lächelte, fügte sie hinzu: »Es ist doch kein so gewaltiger Anlaß, zu springen und zu tanzen, weil eine Frau, die schon einmal in der Ehe unglücklich war, den Mut hat und es noch einmal probiert! Wenn man darauf Wetten einginge, wie es ausfällt, das verstände ich . . . aber dieser tolle Verwandtenjubel, diese verzückten Gesichter heute schon . . . es geht mir direkt auf die Nerven . . .«

Frau Anna von Greffern-Riest, ihre Schwester, schüttelte den Kopf. Sie war neunundzwanzig, ein Jahr jünger als Vera, aber sie sah älter aus. Der königlich schlanke Wuchs der anderen hatte sich bei ihr in hochaufgeschossene Magerkeit verwandelt, die Schönheit war ausgeblieben. Sie war nicht einmal hübsch zu nennen, und ihre ländliche, im fernen Ostpreußen gefertigte Toilette tat nichts dazu, den etwas altjüngferlichen Eindruck, der von ihr ausging, zu mildern, während Vera ihr in einem Schneidertraum, einem Frühjahrskleid von rostfarbenem Voile und einem gleichfarbigen, mächtigen Glockenhut, der ihr schmales, strenges Gesicht beschattete, gegenüber saß. Anna von Greffern dachte sich – und es war dabei eine leise Regung von Neid in ihrer sonst treugeschwisterlichen Seele: ›Nun kann sie endlich ihrer Leidenschaft für luxuriöse Toiletten voll die Zügel schießen lassen‹ – aber gleich darauf sagte ihr selber die Gerechtigkeit: ›Es ist doch wirklich kein Wunder, diese Verschwendungssucht, bei einer so bildhübschen Frau!‹ – und nun versetzte sie besorgt: »Weißt du, Vera . . . offen gestanden: du gefällst mir nicht recht!«

»Ich mir auch nicht!« gab Vera bereitwillig zu und entwaffnete dadurch einen Augenblick die andere, bis die fortfuhr: »Du bist nicht in der rechten Stimmung für eine Braut, Vera!«

»Spring du mal mit geschlossenen Augen ins Dunkel hinein, Annachen! Du hast gut reden, mit deinem Mann und deinen vier Kindern!«

Sie blickte dabei nach dem Nebenzimmer, dessen Türe offen stand. Dort unterhielt sich Annas Gatte, Herr von Greffern-Riest auf Kwitschkallen und Nautzitten in Ostpreußen, mit dem alten Vogt-Neetzow und ein paar anderen Verwandten. Er war ein riesenhafter, blondbärtiger Mann mit etwas slawisch breiten Nasenlöchern und sprach in dröhnendem Ostpreußisch. An ihm gemessen, waren die Agrarier um ihn zahme Leute.

»Appelsinen mögen in Gottes Namen zollfrei zu uns 'rein!« sagte er. »Und Datteln und ähnliches Gemüse! Das kann ich bei mir da oben nicht pflanzen. Aber sonst: Grenzen zu . . . Maul zu . . . Taschen auf . . . Was sagen Sie? . . . So rasch ginge das nicht? . . . Aber trautstes Mannchen . . . wir verkümmern!« dabei hob sich der Bärenmensch in den Schultern und verstärkte noch sein donnerndes Organ. »Wir können nicht warten . . . wir verlieren die Puste . . . wir werden zu Vogelscheuchen, wenn . . .«

»Lutz, schrei nicht so!« sagte Frau Anna sanft aus dem Nebenraum, und das Ungetüm parierte sofort. Dann wandte sie sich wieder an ihre Schwester.

»Du erschreckst mich wirklich, Vera! Du mußt doch wissen, was du tust!«

»Nein. Das weiß niemand. Und ich am wenigsten.«

»Aber wenn du dich einmal entschlossen hast . . .«

»Das kommt auf die Stunden an. Die haben ihre Macht. Mal so . . . und mal so . . . Die treiben einen hin und her. Aber wohin schließlich: das weiß nur der liebe Gott! . . . Man muß eben die Augen zumachen und schauen, wie's auskommt!«

»Das mein' ich auch!«

»Aber ich bin unter einem bösen Stern geboren. Ich hab' immer schon so eine Vorahnung im Leben, daß alles schief geht . . .«

»Geh, Vera . . . sei doch nicht so furchtbar nervös! Nimm dich doch ein wenig zusammen!«

». . . oder mehr ein Gefühl, Annachen: Alles im Leben kommt wieder . . .« Die junge Frau erschauerte leicht. »Es geht alles immer rundum . . . immer dasselbe . . . und man muß es immer wieder so tun, weil man eben so ist . . . Es dreht sich nur . . . und rächt sich . . . und mir dreht sich auch schon der Kopf . . .«

»Du solltest dich wirklich ein bißchen hinlegen!«

»Ich wollte, ich könnte mich ganz hinlegen! Schau – da bringen sie dir endlich den Karton von Wertheim!«

Ein Bote kam herein. Überall in dem Hotel, in dem die meisten von auswärts gekommenen Verwandten Christoph von Ulericis und der Neetzower Wohnung genommen hatten, war das geschäftige Hin und Her vor einer Hochzeit, ein Telephonieren nach dem Schneider, ob das Kostüm noch nicht unterwegs sei, ein Gehusche der jungen Mädchen, die sich gegenseitig besuchten, eilige Friseurgehilfen, ein Trappen von Burschen mit Blumen und frisch aufgebügelten Fräcken und neuen Lackschuhen. Und neben dem Raum, in dem die beiden Damen saßen, donnerte wieder der Erbherr auf Kwitschkallen . . .

»Nein, Mannchen, das Wasser ist nicht das beste, wie der alte Esel im Altertum gesagt hat! Ein bißchen in den Grog – in Gottes Namen! . . . Aber keine Kanäle! . . . Keine Zukunft auf dem Wasser . . . Wenn ich Wasser sehen will, geh' ich an meinen Karpfenteich! Das ist genug – nicht wahr, Schwiegerpapachen?«

Der alte von Vogt auf Neetzow nickte erfreut. Der Kwitschkaller war ein Mann nach seinem Herzen. Man merkte ihm ja ein wenig die Nähe der russischen Grenze an, aber Leisetreter und Wadenstrümpfler gab's anderswo genug. Hier war wenigstens echtes Schrot und Korn. Und kein Blatt vor dem Mund. Nebenan sagte Vera nachdenklich zu ihrer Schwester: »Christoph wird nie so brüllen wie deiner! . . . Aber vielleicht wäre es ganz gut . . . Er ist furchtbar phlegmatisch! . . . Und wenn er dann einmal wild wird, wirkt er direkt komisch . . .«

»Aber Vera!«

»Doch! Deiner wäre ja auch nicht mein Fall! . . . Aber er haut doch mit der Faust einen Stier zu Boden! Da kann man sich doch wenigstens fürchten, während so . . .« Sie sprang auf und kämpfte die Finger durch die Luft. »Jesus, Kinder – gebt mir doch etwas, woran ich mich halten kann . . . Aber das ist mein alter Fluch: Ich brauche eine Anlehnung so notwendig wie nur eine – und dann stoße ich sie jedesmal wieder von mir . . .«

Anna von Greffern hatte sich ihr genähert und legte den Arm um sie. Sie hatte einen weichen, schwesterlichen Ton: »Sag, Vera: bereust du am Ende, daß du dein Wort gegeben hast . . .?«

Die junge Frau schüttelte heftig, ohne sie anzusehen, den Kopf.

»Nein! . . . Nein! . . . Nein! . . . Ich muß durch! . . . Blindlings durch, Annachen! Kost' es, was es wolle! Was wird denn sonst aus mir? Laß mich nur mich mit mir selber 'rumquälen! Helfen kann mir doch keiner!«

Ruhiger fuhr sie fort: »Bloß die allgemeine Begeisterung über meinen Entschluß, Frau von Ulerici zu werden, kann ich nicht teilen! Es ist geradezu beschämend für mich – diese freudetrunkenen Blicke, weil ich zum erstenmal in meinem Leben etwas halbwegs Vernünftiges tue: Lieber Gott: man erfüllt Notwendigkeiten! Daraus besteht das Leben! Und solch eine Notwendigkeit ist es auch, daß ich morgen mittag um zwölf . . . Ich kann doch nicht ewig in Neetzow vermuffeln . . . O, guten Tag, Christoph! . . . danke schön! . . . Die wundervollen Blumen . . .«

Der Freiherr von Ulerici hatte geklopft und war eingetreten. Er hatte seiner Braut die Hand geküßt und einen Busch langstieliger weißer Lilien aus dem feuchten Seidenpapier gewickelt, und sie hielt sie lächelnd vor das Gesicht, so daß nur ihre großen, kalten, graublauen Augen über die leuchtenden Kelche hinaussahen, und sagte freundlich vorwurfsvoll: »Christoph . . . du ruinierst dich wirklich! Das ist schon das zweite Mal heute . . .«

Vom Nebenzimmer her rief eine Stimme – es war die des wegen seiner Taktlosigkeit berühmten Onkels Kaspar aus Schlesien: »Na . . . das geht nun zu Ende . . . nach der Hochzeit ist's mit den Blumen alle!«

Vera gab dem alten Taugenichts, der sich nur durch seinen Reichtum in der Familie hielt, keine Antwort. Aber vor ihren Augen war plötzlich wieder alles grau in grau, der Anflug einer weichen Stimmung, zu der sie sich gezwungen hatte, verwischt. Natürlich: man verkaufte sich, und nach dem Kauf hatte man nichts mehr zu fordern . . .

Sowie sie wieder in dieser Verfassung war, äußerte sich das nach außen hin in Gereiztheit gegen ihren Bräutigam. Er stand vor ihr, ein großer, stattlicher, ergrauter Herr, sauber rasiert, sorgfältig angezogen, gepflegt von Kopf bis zu Fuß, von einem kaum merklichen, sanften Duft von Kölnischwasser umweht, sein rotes gutmütiges Gesicht strahlte in verlegenem Glück – er sprach nichts, sondern musterte sie zärtlich, in der Angst, daß, was er auch sage, ihr wieder nicht recht sei, und sie preßte die Lippen zusammen, wandte sich ab und versetzte halblaut: »Sieh mich nicht so an!«

Es klang schroff. Nur sie beide hörten es. Er war verwundert.

»Aber, Vera . . . ich werde dich doch noch anschauen dürfen!«

Er erhielt keine Erwiderung und schüttelte verdutzt den Kopf. In ihr bäumte sich plötzlich ein Widerwillen: ›Er ist ein alter Junggeselle von fünfzig! Gott weiß, was er alles . . . Ich hab' ihn nie danach gefragt. Aber das ist sicher: Ichich mit meinem Stolz – bin da gerade gut genug, die letzte zu sein! Und späterhin seine Pflegerin in seinen alten Tagen . . .‹

In diesem Augenblick verachtete sie sich selber auf das tiefste. In einer Art Hellseherei sah sie in sich alles, was da schwach und unzulänglich war. Sie dachte sich: ›Und wenn in mir nur eine Leere wäre und ich füllte die irgendwie aus – meinetwegen auch so – aber da in mir ist etwas . . . Etwas Gewaltiges – verboten Heiliges – gegen das kämpf' ich – das verrat' ich und mich dazu . . . und um mich machen sie dumme Witze . . . und ich lache mit . . .‹

Denn inzwischen war es im Zimmer laut geworden. Die Herren waren von nebenan hereingekommen. Man begrüßte den Bräutigam, scherzte mit ihm, der in diesen Tagen immer mehr etwas feierlich Hölzernes an sich hatte, und steckte ihm ein Veilchensträußchen in das Knopfloch seines schwarzen Gehrocks. Vera schloß halb die Augen und hörte nach einer Weile, wie Christoph von Ulerici leise und weich neben ihr murmelte: »Vera . . . warum bist du denn nur jetzt immer so unfreundlich gegen mich?«

Sie hob die Wimpern und sah ihn lange, fast schuldbewußt an, und er fuhr im gleichen Tone fort: »Das hab' ich doch nicht verdient, Vera! Ich geb' mir doch alle Mühe, dir deine Wünsche an den Augen abzulesen . . .«

Sie nickte halb in Gedanken.

»Und dann sieh, Vera: Was macht das für einen Eindruck auf die Verwandten, wenn du so bist! Die müssen sich ja Gott weiß was denken – nicht wahr?«

Die Verwandten! Sie haßte sie in dieser Stunde – diesen Haufen gleichgültiger Menschen, die von ihm aus allen Ecken und Enden zusammengetrommelt worden waren, um Zeugen seines Triumphes über sie zu sein! Alles, was ihr dies schwere Opfer ihres Selbst, dies »Ja« vor dem Altar geheiligt hätte, ward vor diesen neugierigen, blitzvergnügten, alltäglichen zwei Dutzend Augenpaaren zunichte. Alles sank in das Bereich des Gewöhnlichen hinab und war da unerträglich. Und ebenso wie die Verwandten war schließlich auch er. Er war ihres Geistes und Fleisches, aus dem Lande der Philister. Ihre Weichheit war geschwunden. Sie sagte kurz: »Verwandte sind das Gräßlichste, was es gibt! Ich hab' keine eingeladen! Alle du – gegen meinen Wunsch! Also sieh du auch, wie du mit ihnen auskommst . . .«

Da machte er ein bekümmertes Gesicht und ging kopfschüttelnd zur Seite. Sie sahen sich an diesem Tage bis zum Abend nicht mehr. Vera verstrichen die Stunden in ihrer Wohnung in einem ununterbrochenen Trubel von Anproben, Anfragen, Besuchen, dem nichtigen und geschäftigen Hin und Her, in das ihr vom Vater ab bis zu dem entferntesten Vetter hundert Leute hineinredeten, sie wie eine Sache, wie ein Eigentum, das man hin und her schob, behandelten. Sie ließ es geschehen. Sie war froh, daß sie eine Zeitlang keinen eigenen Willen zu haben brauchte. Es war am besten, sich mit geschlossenen Augen in das Unvermeidliche hineintreiben zu lassen. Aber des Nachmittags schickte der Standesbeamte. Es war immer noch etwas an ihren Papieren in Unordnung – an jenen unseligen Ehescheidungsakten, die jetzt wieder hatten beigeschafft werden müssen. Es gab da noch eine Unterschrift zu beglaubigen. Sie mußte zum Notar und saß da todmüde zwischen anderen Leuten lange Zeit wartend in dem heißen Vorzimmer, wahrhaftig allem anderen eher ähnlich als einer Braut am Vorabend ihrer Hochzeit, und war ganz erschöpft, als sie nach Hause kam und zu ihrer Pensionsinhaberin sagte: »Wissen Sie, liebe Frau von Borchersheide, was ich jetzt am liebsten täte, wenn's nach mir ginge? . . . Ich legte mich jetzt langhin ins Bett und kümmerte mich um nichts mehr auf der Welt . . .«

Frau von Borchersheide war die Witwe eines Majors. Sie wußte ziemlich genau Bescheid mit Veras Verhältnissen und versetzte besorgt: »Sie sehen auch recht angegriffen aus, gnädige Frau!«

Die junge Frau seufzte und trat in ihr Zimmer. Als sie dort Hut und Schleier ablegte, befiel sie auf einmal ein heftiges Zittern. Sie wußte nicht, was das war. Es war nicht nur körperlich, ein Beben von Kopf bis zu Fuß – auch alle Nerven – alle Fibern der Seele schwangen mit, und auf einmal wußte sie: Das war einfach Angst – wahnsinnige Angst vor der Zukunft . . .

Sie bekam keinen Atem mehr. Sie riß das Fenster auf und schaute hinunter auf den Lützowplatz, auf dem die Abendsonne lag. Da gingen die Menschen . . . es war unheimlich, daß das alles wie sonst war . . . da drüben kaufte sich ein dicker Herr eine Zeitung . . . ein paar Damen blieben stehen und plauderten miteinander . . . sie sah sich das verwirrt an, wie eine Verbrecherin . . . wie eine, die aus dieser harmlosen Alltagsgemeinschaft ausgestoßen war. Das Herzklopfen wurde immer stärker. Sie streckte sich auf die Ottomane. Es wollte nicht vergehen. Sie sprang wieder auf und durchmaß das Zimmer. Es half nichts. Die tödliche Angst blieb. Sie machte auf einmal halt, rang die Hände ineinander und frug sich ganz ungläubig: ›Warum hab' ich das eigentlich nur getan? Wie bin ich denn nur darauf gekommen? Großer Gott im Himmel, war das denn möglich, daß ich mich selber so wenig kannte, – daß ich glaubte, daß das gehen würde? . . .‹

Sie und die junge Frau, die sich im vorigen Herbst mit dem Freiherrn von Ulerici verlobt hatte, schienen ihr jetzt zwei ganz verschiedene Menschen. Sie begriff sich einfach hinterher nicht mehr. Zuvor war man unglücklich und frei – jetzt unglücklich und gebunden dazu . . .

Dann setzte sie sich an den Tisch, stützte den Kopf in die Hände und zwang sich, ganz klar und nüchtern zu denken. Sie stellte sich vor, daß so etwa ein Kaufmann, der Sorgen habe, des Abends bei der Lampe sitzen würde. So zog sie die Bilanz ihres Lebens. Sie sagte sich: ›Ich bin eine geschiedene Frau. Ich habe keine zweite Mitgift zu erwarten. Ich bin auch schon dreißig. Ich besitze kein rechtes Heim mehr. Mein Vater ist mürrisch und alt. Stirbt er, so lebe ich von der Gnade meines ältesten Bruders auf dem Gut und mache schließlich, wenn ich schon verblüht bin, aus Verzweiflung irgend eine ganz tolle Heirat. Und die Partie hier ist glänzend! . . . Also . . .‹

Also in Gottes Namen vorwärts! Es blieb ja gar keine Wahl. Sie erhob sich entschlossen und begann, Toilette für den Abend zu machen. Es sollte nur ein zwangloses Beisammensein der Familienmitglieder im Kaiserhof stattfinden, ein »sich Anschnuppern«, wie ihr Schwager aus Kwitschkallen es genannt hatte. Ihr graute davor. Als sie fertig war, blieb sie wieder sitzen und preßte die Hand auf das hämmernde Herz, in dem die sinnlose, grundlose Angst rumorte, und fühlte einen Abscheu davor, ihre Einsamkeit hier zu verlassen.

Es war nun schon halb acht. Um die Zeit sollte sie bereits bei der Henkersmahlzeit im Kaiserhof sein. Sie ließ sich einen Wagen holen und fuhr fort – absichtlich des Umwegs halber durch die Tiergartenstraße. Aber dort ertrug sie es plötzlich wieder nicht mehr. Sie befahl zu halten, stieg aus, entließ den Kutscher und ging zu Fuß weiter. Sie gewann auf diese Weise noch eine Viertelstunde. Sie kam schließlich immer noch zurecht. Mochten die anderen nur warten, bis sie ihnen als Schaustück vorgesetzt würde.

Sie schritt langsam an dem warmen Maiabend unter dem tiefen Grün der Parkseite des Weges dahin und blieb dazwischen immer wieder stehen, als ob sie umdrehen wollte, und zwang sich vorwärts und dachte sich: ›Du mußt! Eine Umkehr jetzt ist eine Umkehr überhaupt. Das verzeihen dir die Deinen nie. Die anderen Leute auch nicht. Damit ruinierst du dein so schon verpfuschtes Leben ganz und in alle Ewigkeit. Und wofür? . . .‹

Und wieder war in ihr dies wilde, atemlose Zittern. Ihr schien, als zittere alles um sie – der Himmel – – die Bäume . . . ganz Berlin. Auch die Menschen machten jetzt im Vorübergehen so sonderbare Gesichter – so als wüßten sie etwas von ihr. Die Luft war so schwül, von Glut und Staub gesättigt. Das Laub lastete so dicht und schwer über ihrem Haupte – es dämmerte dahinter – es war so recht die Zeit, allerhand Tollheiten zu machen . . . es war der Mai . . .

Drüben im Kaiserhof harrte der Herbst. Sie ging wieder zögernd auf den zu und fühlte einen Stich im Herzen. Sie sah ihren ersten Hochzeitstag vor sich – damals in Neetzow. Es war eine karge Feier. Der alte Vogt, der den Schwiegersohn nicht leiden konnte, tischte nur das Nötigste aus Küche und Keller auf – an der kleinen Tafel herrschte eine gedrückte Stimmung – bloß sie lachte, sie war übermütig, sie wollte den anderen zeigen, wie wahnsinnig glücklich man im Leben werden konnte . . . Vera von Vogt machte halt – es war ihr jäh dazwischen eingefallen: ›Hoffentlich hat der Notar meine Ehescheidungsakten noch vor Torschluß an das Standesamt zurückgeschickt. Der Bureauvorsteher hat mir's hoch und heilig zugeschworen . . .‹

Sie setzte sich auf eine Bank am Wege. Ihr war so weh und zum Weinen. Und das das Ende . . . Und das der Anfang . . . nein – eigentlich erst der Schluß . . . Sie dachte sich: ›Morgen um diese Zeit heiße ich Ulerici! Komisch: schon das dritte Mal im Leben, daß ich meinen Namen ändere. Aber nun kommt nichts mehr. Man lebt und ißt und trinkt und schläft. Schließlich stirbt man.‹

Sie hatte gar keine Lust, zu sterben. Es hungerte sie nach dem Leben, so stark, so stürmisch wie nur damals an jenem Tag vor zehn Jahren. Ja, noch heißer! Denn damals war sie ein Kind. Jetzt war sie eine Frau. Und das Leben hob die Hand und sagte: ›Nein. Andere wohl. Du nicht.‹

Am Ende der Bank hatte sich schleunigst ein Herr niedergelassen. Er äugte herüber. Er rückte einen Zoll näher. Sie stand auf. Es fiel ihr jetzt erst ein, daß sie in ihrer lichten Abendtoilette auffallen mußte. Zum Glück war es noch ziemlich hell. Sie beschleunigte ihre Schritte durch die Voßstraße, bis sie den Kaiserhof vor Augen hatte. Da überquerte sie noch hastiger als bisher den Wilhelmsplatz und trat in den kleinen Saal, in dem die Ihren versammelt waren.

Ein allgemeines, etwas ungeduldiges »Ah!« empfing sie – Vorwürfe – Gelächter – sie lachte mit und erzählte irgend etwas von einer säumigen Schneiderin und drückte nach allen Richtungen Hände und nahm dann an der Seite ihres Bräutigams Platz, der sehr verdrossen aussah. Er hatte den Zank von heute morgen noch nicht vergessen und war nun wieder über ihr Zuspätkommen verschnupft. Das reizte sie, gerade heiter zu sein. Sie wurde liebenswürdig mit ihrem anderen Nachbarn, dem Pastor Freiherrn von Remern, um Christoph von Ulerici zu zeigen, daß seine Laune nicht die ihre sei – weder jetzt, noch in Zukunft – sie nickte sich über den Tisch hinüber mit Lieblingscousinen zu und richtete herablassend freundliche Worte an die paar jungen Kavallerieleutnants und Bonner Korpsstudenten, die ihre Brüder mitgebracht, und hatte dabei doch immer wieder, wenn ihr Auge die beiden Doppelreihen lachender, schwatzender und kauender Gesichter zu ihrer Rechten und Linken überflog, das fröstelnde Grauen: ›Herrgott – wie komm' ich denn hierher?‹.

Dann war plötzlich Stille. Auf manchen Zügen peinliche Überraschung. Vetter Kaspar, der ewig Taktlose, den kein Mensch um einen Toast gebeten hatte, riß diesen unangemeldet, schon zwischen Fisch und Braten, an sich. Das schlimmste war: seine Tischreden waren scherzhaft. Selbst diese . . .! Den Sektkelch vor dem runden Bäuchlein, sprach er in einer schelmischen Art, mit verständnisinnigem Augenzwinkern nach dem Bräutigam hin. Er begann: »Was Gott zusammengefügt, das soll der Mensch nicht scheiden,« und jeder dachte daran, daß Vera ja schon einmal geschieden war – er rechnete nach, daß die künftigen jungen Eheleute zusammen achtzig Jahre zählten, und ergänzte, »wovon aber ein gutes halbes Jahrhundert auf Konto von ihm . . .!« Auch ein Graukopf, ein hartgesottener Junggeselle sei vor Amor, dem Schalk, nicht sicher – die jungen Mädchen unten am Tisch bissen vor Kichern in ihre Servietten. »Und wenn man dann gar eine so schöne, so junge Frau bekommt . . . gut aufgepaßt, mein alter Christoph . . .: ›toujours en vedette!‹« Und der Freiherr von Ulerici brummte mit rotem Kopf: »Was ist denn das für eine verfluchte Fatzkerei? . . . Warum verbindet denn niemand diesem Ochsen das Maul? . . . Ich glaube, Vera, du amüsierst dich noch darüber?«

Es hatte in der Tat belustigt um Veras Lippen gezuckt. Es war Hohn bei ihr. Sie war diesem ungesalzenen Gesellen da drüben förmlich dankbar, daß er, ohne es zu wissen, ihr Schicksal ebenso verspottete, wie sie selber es bei sich tat. Es lag eine Art Befreiung in diesem bösen inneren Lachen. Dem Freiherrn von Ulerici aber wurde es zu bunt, und als jener wieder schäkernd anhub: »Alt gefreit, hat auch nicht immer gereut!«, da stand er auf und schnitt ihm mit seiner hölzernen, breiten Kommandostimme das Wort ab. »Na schön! Danke jehorsamst! . . . Danke! . . . Aber nu Schluß – nicht wahr? Prost!« und sagte, nachdem er dem Vetter Kaspar zugetrunken und sich wieder gesetzt, erbost zu Vera: »Wer hat denn den Kerl von der Strippe gelassen? Das ist ja Unfug!«

Sie erwiderte nichts. Sie dachte sich: ›Daß wir zwanzig Jahre auseinander sind, werden wir noch oft hören, und noch öfter fühlen. Daran werden wir uns gewöhnen müssen!‹ Auch er blieb stumm. Er grollte in sich hinein. Sie merkte, daß er mit ihr unzufrieden war – daß er noch irgend etwas gegen sie auf dem Herzen hatte. Es war ihr gleichgültig. Sie saß gelassen neben ihm und sagte nur, als sie sah, wie er ein Glas nach dem andern hinunterstürzte, um seinen Ärger zu betäuben, und dadurch ein immer röteres Gesicht bekam: »Christoph . . . trinke doch nicht so viel! . . . Was sollen denn die Leute denken?«

Er erwiderte leise und unwirsch: »Ach was . . . ich tu', was ich will!«

Sie zuckte die Achseln und schwieg. Das fing ja gut an! Es ging ihr wieder durch den Kopf: ›Besser noch ein Mann, der tobt und schreit, als einer, der sich in die Ecke setzt und mault!‹ und weiter: ›Wenn das bloß der Unterschied zwischen meinen beiden Ehen ist . . .‹ Wieder war die tolle Angst da. Sie konnte keinen Blick in einen Spiegel werfen, aber sie dachte sich: ›Wenn ich nur nicht zu elend aussehe, wie ich hier als Glanzpunkt des Ganzen sitze! Sie machen alle so betretene Gesichter. Sie reden auch wenig. Das kommt von dem lächerlichen Vetter! Der hat ihnen die Stimmung verhagelt.‹ Und sie war dem Onkel Kaspar beinahe dankbar, daß er diese sie zur Verzweiflung bringende, allgemeine Vergnügtheit von dem Tisch verbannt hatte.

Aber da klopfte neben ihr einer an sein Glas und erhob sich. Es war der Pastor Freiherr von Remern aus Schleswig, der ursprünglich überhaupt sie hatte im Namen des Ulericischen Familienverbandes begrüßen sollen. In dem spielte er eine große Rolle. Auch Vera, die ihn heute erst kennen gelernt, hatte er von Anfang an gefallen. Er stand kirchlich auf der äußersten Rechten. Er war ein feuriger alter Christ. Sein Gesicht hatte eigentlich etwas Klobiges. Es war wie aus einem alten Holzschnitt. Die Nase plump, die Lippen aufgeworfen, die ganze Gestalt stämmig und dick. Sein Haar und sein Rundbart waren so weißblond, daß man die Silberfäden darin kaum merkte. Man sah ihm seine sechzig Jahre nicht an.

Der hatte nun die Aufgabe, gutzumachen, was Onkel Kaspar verdorben. Er sprach laut und schlicht, beinahe väterlich, und ließ dabei seine freudigen, blauen Augen voll eines warmen Vertrauens auf Vera ruhen, die still dasaß und vor sich niedersah. Ein bißchen pastorenhafte Salbung war in seiner Stimme – aber es machte doch Eindruck, als er die Hand gegen sie erhob und das Bibelwort sagte: »Ich will dich segnen, und du sollst ein Segen sein!« Und nun deutete er leise, schonend das große Leid ihres Lebens an: Sie hatte schon einmal geliebt. Und es war ein Unglück geworden. Aber das durfte sie nicht verbittern – wie der Dichter sagt: »Weh' dem, der sich Menschenhaß aus der Fülle der Liebe trank!« Nein – die Liebe sollte sich immer wieder aus sich erneuern – den Weg zu anderer Liebe finden – es war ja solch eine überquellende Fülle von Liebe in der Welt . . .

Die junge Frau hatte die Hände im Schoß gefaltet und rührte sich nicht. An der ganzen Tafel war es still. Nur das Stiftsfräulein, Christoph von Ulericis Schwester, schluchzte stoßweise und krampfhaft. Der Freiherr von Remern schloß: »Wie ich es vorhin sagte: Keiner lebt sich selber. Die Liebe kommt und spricht: Wer tauscht mit mir? . . . Sie kommt immer wieder, so wie jetzt auf den langen trüben Winter der Mai gefolgt ist. Sie ist das Leben, sie ist die Welt. Es sind ernste und schwere Pflichten, die Sie, liebe Vera, übernehmen – Pflichten gegen sich und gegen ihn. Aber es sind Pflichten der Liebe. In denen liegt schon die Gewähr der Erfüllung. Und was wir, Ihre künftigen Verwandten, tun können, um Ihnen den Eintritt in die neue Lebensbahn zu erleichtern, das soll redlich geschehen, und wir heißen Sie von Herzen in unserer Mitte willkommen!«

Vera hatte feuchte Augen, als sie aufstand und dem Pfarrer von Remern entgegenging, um mit ihm anzustoßen. Sie sagte dabei nichts, sondern drückte ihm nur stumm und heftig die Hand. Dann waren all die gleichgültigen Leute um sie, deren Sektkelche sie mit dem Rande des ihren berühren mußte – da ihr Vater, ihre Brüder, ihre Schwester – viel fremde Gesichter, und auf allen ein freundlicher Schein, ein Abglanz der Rede eben . . .

Aber als sie dann wieder neben Christoph von Ulerici saß und allmählich um sie das Alltagsgespräch, Stimmengewirr und Gelächter seinen Gang ging, da klang diese Rede erst in ihrem Ohr nach – das, was der Freiherr von Remern von der Liebe gesprochen, und der alte Schrecken war wieder in ihr wach: ›Ja, begehe ich denn nicht morgen ein Verbrechen an dem da neben mir, der mir arglos vertraut? Handele ich denn nicht geradezu ehrlos? Es ist vielleicht nicht meine Pflicht, zu lieben, ihn zu lieben! Aber dann ist es meine Pflicht, überhaupt nicht zu lieben, und am wenigsten . . .‹

Sie brach in ihren Gedanken ab. Ihr graute vor ihr selber. Mit wirren Augen schaute sie über die lachende und lärmende Tafelrunde, und es zuckte ihr auf den Lippen, zu rufen: »Nein – nein – es ist alles nicht wahr! Der gute Pastor aus Schleswig hat sich geirrt! Folgt ihm nicht! Nehmt mich nicht mit offenen Armen auf! Ich betrüg' euch alle in dem da neben mir! . . . Ihr wißt nicht, was meine Gedanken jetzt sind! Ich weiß es selber nicht! Ich will es nicht wissen und nicht wahr haben! Aber ich fürchte mich davor . . .«

Sie fühlte eine Art Reue gegen ihren Bräutigam. Sie tat ihm ein großes Unrecht. Sie verriet ihn im Geiste, ohne daß er es ahnte, schon seit Tagen, seit Wochen. Diese Gewissensbisse erzeugten in ihr eine weichere und versöhnlichere Stimmung gegen ihn als seit langem. Sie ersehnte sich eine Gelegenheit – recht bald –, ihm zu zeigen, daß das alles nun hinter ihr lag – daß sie damit abgeschlossen hatte für immer . . .

Um sie krachten die Knallbonbons und perlte der Sekt. Der Kellner beugte sich immer wieder über den Stuhl ihres Bräutigams, um ihm neu einzuschenken. Es konnte natürlich einem alten Gentleman, wie dem Major a. D. von Ulerici, nicht passieren, daß er sich wirklich im Weine übernahm, so daß man es nach außen merkte. Er wurde nur hitziger. Sein gewohntes Phlegma löste sich. Seine bläßlich-blauen Augen hatten einen unruhigen Glanz und sein Atem ging rascher, während er Vera nach aufgehobener Tafel in eine Ecke zog und ihr heftig zuraunte: »Sag mal, was heißt denn das?«

Sie merkte: jetzt kam seine während des Essens unterdrückte Aufregung zum Durchbruch – und erwiderte ruhig: »Was denn, Christoph?«

». . . Du kommst da dreiviertel Stunden nach der Zeit und . . .«

». . . man kann sich doch an einem Tage wie heute mal verspäten!«

»Aber das ist nicht wahr!« Er versetzte es so schroff, daß sie von ihm zurücktrat. »Ich hab' fünf Minuten nach halb acht an dein Pensionat telephoniert, wo du seist? Da hat Frau von Borchersheide geantwortet, du wärest eben in einem Taxameter weggefahren . . .«

»Nun – und?«

»Erst eine starke halbe Stunde später kamst du eiligst, zu Fuß – ich hab' es durch das Fenster gesehen – über den Wilhelmsplatz hierher! Wo warst du denn in der Zwischenzeit?«

Jetzt wußte sie, worüber er in der Stunde, da sie still an der Tafel nebeneinander gesessen, gebrütet hatte. Er sah ihr finster und gespannt in die Augen. Sie sagte gleichgültig: »Ich bin eben eine Strecke zu Fuß gegangen!«

»Mit wem?«

Sie zuckte zusammen und blickte ihn starr an. Er beharrte in unterdrücktem Zorn: »Man springt doch nicht so mir nichts, dir nichts aus dem Wagen, wenn man eilig irgendwohin will. Hast du vielleicht zum allerletztenmal Abschiednehmen gefeiert . . .?«

»Christoph . . .«

Sie sagte nur das, zwischen den Zähnen. Weiter nichts. Ihr Gesicht versteinerte sich. Der Anflug von Milde war ganz verschwunden. Es war nur Schmerz darauf, daß er so plump und in der falschen Stunde ihr wieder an das Herz griff. Und eine harte Abwehr . . .

Er merkte es wohl. Ohne den Zank am Tage, den Wein am Abend hätte er sich davor gehütet. Aber nun quälte ihn eine blinde, wütende Eifersucht.

»Ich werde doch noch fragen dürfen!« versetzte er aus trockener Kehle. »Nachdem du schon zweimal dein Versprechen nicht gehalten hast . . .«

»Darauf gebe ich dir keine Antwort!« sagte sie ruhig und trennte sich von ihm. Es fiel nicht weiter auf, daß sie sich heute, am Vorabend der Hochzeit, zeitig zurückzog, zumal sie so angegriffen aussah.

Der Freiherr von Ulerici seufzte, als sie gegangen, tief auf, trocknete sich die Stirne, wanderte, ohne in seiner Erregung recht zu wissen, was er mit sich anfangen sollte, zwischen den Gruppen der Gäste hin und her und rückte endlich mit ein paar alten Kameraden seines einstigen Kürassierregiments, die zur Feier nach Berlin gekommen waren, in einem Seitenzimmer vor der Rotsponpulle zusammen. Dort traf ihn zwei Stunden später der Pastor von Remern und hörte, wie sein Vetter Christoph, nun wirklich ein wenig im Weinnebel und trübe seinen grauen Kopf wiegend, zu den anderen sagte: »Kinders . . . Kinders . . . ich glaub', ich hab' meinen letzten ruhigen Tag heut' hinter mir! . . . Und ich bin doch ein Mensch, der Ruhe im Leben braucht, wie das tägliche Brot!«

Der eine der Kürassiere klopfte ihn lachend auf die Schultern. »Du hast schon viel zu viel Speck als Zivilist angesetzt, Christophel! Nu wirste wieder dünner werden! Das ist dir sehr gesund . . .«

Und der zweite meinte aufmunternd: »Na, Mut, oller Krippensetzer! Wer so 'ne Frau kriegt . . .«

Aber der Freiherr von Ulerici weinte beinahe.

»Ich lieb' sie ja auch gräßlich! Aber ich hab' Angst vor ihr! So 'ne Ehe mit Blitz und Donner . . . ja – lacht nicht so dämlich 'raus, ihr lieben Leute! . . . Wenn man so auf seine alten Tage mit vieren lang fahren will und plötzlich umschmeißt und im Graben liegt . . .«

In diesem Augenblick bemerkte er seinen Vetter, den Pfarrer, tat, als sei nichts geschehen, und dankte ihm noch einmal herzlich für die schöne Rede, die ihm ein wahres Labsal gewesen sei. Der Freiherr von Remern sagte recht nachdenklich Gutenacht und stieg kopfschüttelnd die Treppe zu seinem Hotelzimmer empor.

Früh am anderen Morgen – es war eben erst acht Uhr vorbei – wurde er durch ein Pochen an der Türe geweckt. Ein Radfahrdienstmann brachte einen Brief. Er nahm den in Empfang, öffnete ihn und las mit Erstaunen:

»Hochverehrter Herr Pastor!

Könnten Sie mich sobald als irgend möglich besuchen? Spätestens bis zehn? Mir läge unendlich viel daran! Dank im voraus!

Ihre ergebene

Vera Vogt.«

Der Freiherr von Remern zog sich an und machte sich ungesäumt auf den Weg. Er wußte nicht, was das bedeutete – er ahnte nur mancherlei nach dem Schluß des gestrigen Abends, und als er in dem Pensionat am Lützowplatz angekommen war und vor Vera stand, fand er durch ihr bleiches und übernächtiges, fast geisterhaftes Aussehen seine unbestimmten Befürchtungen bestätigt, und der treuherzige Mann sagte, sie anblickend, unwillkürlich: »O weh!«

Sie drückte ihm die Hand und wies auf einen Stuhl. Dann meinte sie, sich ihm gegenübersetzend: »Ich danke Ihnen herzlich, daß Sie gekommen sind, Herr von Remern! Aber warum denn: ›O weh‹ . . .?«

»Ach, meine liebe gnädige Frau: Eine glückliche Braut schaut anders darein als Sie!«

Vera warf einen Blick in den Spiegel. Der hatte ihr heute im Morgengrauen schon gesagt, daß sie tiefe blaue Schatten unter den Augen habe und totenblasse Wangen. Sie nickte.

»Ich hab' schlecht geschlafen. Und wissen Sie, was ich mir gewünscht hab', wie ich da so wach lag? Wie schön es doch manchmal wäre, wenn man katholisch ist!«

Der Mann Luthers runzelte die Stirne:

»Und da lassen Sie mich rufen, gnädige Frau?«

»Ich mein', wenn man so einfach über die Gasse in die Beichte laufen kann und sein Herz ausschütten – vielleicht weiß man gar nicht, wem. Es antwortet nur eine Stimme hinter dem Vorhang. Die ist wie das Schicksal selber. Da hat man keine Verantwortung mehr! . . .«

»Auch unsere Kirche lehnt die Beichte nicht ab! Das wissen Sie doch, gnädige Frau. Sie stammen doch aus einem gläubigen Hause!«

»Ja eben . . . Deswegen hab' ich Sie hierher gebeten. Nicht, um Ihnen etwas zu gestehen – ich habe nichts verbrochen, obwohl ich ja seit sechs Jahren als eine Art Todsünderin gelte, – sondern um von Ihnen etwas zu erbitten – nur ein Wort – einen Rat – vielleicht nur einen Blick – ich weiß selber nicht was . . .«

Sie schaute etwas verwirrt auf. Eine leise Röte der Erregung überzog einen Augenblick ihre Wangen. Der Pastor von Remern war ein alter Mann und ein strenger Christ. Aber er mußte sich in dieser Sekunde doch denken: ›Was ist das für eine wunderschöne Frau.‹ Er sah sie an, wie man ein schönes Bild betrachtet. Dann sagte er sanft und rückte ein wenig näher, wie der Arzt am Krankenbett: »Da bin ich! Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Ich kenne Sie ja erst seit gestern. Aber vielleicht ist das ganz gut. Eben wie bei der Beichte . . . das Geheimnisvolle . . . Unpersönliche . . . Zu keinem meiner Verwandten könnte ich über das reden, worüber ich jetzt mit Ihnen reden will! Zu Ihnen hab' ich Zutrauen, gerade, weil Sie mir fremd sind!«

»Dann sprechen Sie, liebe Cousine! Ich darf Sie doch schon so nennen?«

Nun wandte sie ihm rasch den Kopf zu.

»Das weiß ich eben nicht! . . . Sehen Sie – da drüben liegt mein Brautkleid. Mein Kleid fürs Standesamt hab' ich schon an. Um elf Uhr holt er mich dorthin ab. Um drei ist die Trauung in der Kirche. Jetzt ist's neun! Ich hab' noch die paar Stunden Galgenfrist, um mich zu besinnen, was ich tu' . . .«

»Das heißt: Ihnen sind im letzten Augenblick Zweifel aufgestiegen?«

»Nicht im letzten Augenblick, – die ganze Zeit schon! Aber je näher die Entscheidung rückt – und gerade gestern Ihre Rede – vielleicht wäre es auch ohne das gekommen – gewiß sogar . . . ich will nicht lügen . . . ich bin nicht so stark, als ich dachte . . .«

»Was quält Sie denn nun eigentlich, liebe Cousine?«

Sie richtete sich auf.

»Sie haben gestern von den Pflichten gesprochen, die ich übernehme. Das ist mir zu Herzen gegangen. Sie sagten, es seien Pflichten der Liebe. Die sind es bei mir nicht. Ich liebe den Mann nicht, den ich heirate. Ich nehm' ihn nur, weil er mir eine sorglose und glänzende Lebensstellung bietet. Ich bin ganz offen! Und nun peinigt mich der Gedanke, daß ich damit ein Unrecht begehe – an ihm – und daß das auch meiner nicht würdig ist – daß das überhaupt nicht würdig ist . . . ach Gott . . . ich versichere Sie . . . ich bin in einer so verzweifelten Stimmung . . . ich habe geradezu nur Lust, das alles hinzuwerfen und . . .«

Sie brach ab und zog langsam die Spitze ihres Taschentuchs durch die Zähne. In ihren graublauen Augen lag ein irrer, feindseliger Schein. Sie zitterte am ganzen Körper. Der Pastor von Remern bewahrte seine Ruhe. Er war keineswegs überrascht – höchstens über die Annahme der jungen Frau, daß irgend jemand glauben könne, sie reiche wirklich aus Leidenschaft seinem guten, dicken, ältlichen Vetter Christoph die Hand. Er dachte sich mit einem Aufatmen: ›Wenn es nur das ist!‹ – und frug: »Haben Sie Christoph denn je gesagt, daß Sie ihn lieben?«

»Nein – so direkt nicht!«

»Auch nicht, als er um Sie anhielt?«

»Nein. Da bat ich mir Bedenkzeit aus und schrieb ihm dann, ich würde ganz gerne seine Frau! Aber ich könnte ihm vorläufig nur Achtung und Zutrauen entgegenbringen! Zu mehr reiche es noch nicht!«

»Und was meinte er da?«

»Er meinte, das mache nichts, wenn ich nur ›Ja‹ sagte. Er liebe mich so sehr, daß ich schließlich auch schon noch lernen würde, ihn lieb zu haben!«

Der Pfarrer rieb sich erfreut die Hände.

»Nun also, Cousine . . . Wo ist da eine Hinterlist? . . . Ich hab's ja gestern gesagt: die eine Liebe geht und sucht die andere und entzündet sie an sich. So wird es auch Ihnen ergehen. Die stille, geduldige Liebe unseres Christoph wird ihre Wirkung nicht verfehlen. Auch Ihr Herz wird schließlich warm werden. Ich glaube ja auch nicht dabei an Sturm und Glut. Aber wem frommt denn das? Das stille Feuer am häuslichen Herd ist das beste. Das verlöscht nicht und wärmt uns bis in unsere alten Tage!«

Er war ein wenig in den Pastorenton verfallen. Das erkältete sie. Sie sah ihn an und frug mit leisem Mißtrauen: »Sie meinen, ich soll es doch versuchen?«

»Aber gewiß, Cousine! . . . Haben Sie nur Mut! Arbeiten Sie an sich! Glauben Sie mir: das große Wunder wird auch an Ihnen geschehen, wenn Sie nur ernstlich wollen . . .«

Er lächelte und streckte ihr seine große, schwere Hand entgegen. Sie legte zögernd ihre schmalen Finger hinein und sagte mechanisch: »Danke!«

Und er wiederholte tröstend: »Wenn es weiter nichts ist, Cousine – darüber kommen wir im Leben schon hinweg! Nur immer tapfer an das Beste in sich selber glauben! Dann hilft einem Der da oben!«

Sie sah ihn stumm an. Sie dachte: ›Ja – wenn es weiter nichts wäre! . . . Aber es ist doch eben mehr! Das mußt du doch erraten! Dafür bist du doch ein Arzt der Seele! Ich kann doch nicht davon anfangen! . . . Ich bring' es nicht über die Lippen!‹ Aber der alte Mann ihr gegenüber blieb arglos. Er kam eben vom Lande. Er war an die einfachen Probleme des Lebens gewöhnt. Ja, es schien ihr jetzt sogar, als sei er in seiner Schlichtheit ihr, der eleganten Weltdame, der geschiedenen Frau gegenüber, beinahe ein wenig verlegen und rüste sich nur deswegen gegen sie mit dem schweren Geschütz seines Bibeltons. Jedenfalls war er weltfremd. Er half ihr nicht. Er ahnte nichts von einem Dritten, und sie sagte in einer leise-zitternden Ungeduld: »Sie sprachen aber doch gestern gerade so schön von der Fülle der Liebe . . .«

». . . weil Ihnen diese Fülle der Liebe schon einmal beschert war und leider wieder verging und Sie naturgemäß an jenen Ersten in Ihrem Leben nur mit bitteren, vielleicht immer noch feindseligen Gefühlen denken können! Das ist nur menschlich. Aber bleiben Sie nicht deswegen auf dem Wege der Enttäuschung! Ergreifen Sie die ausgestreckte Hand, die sich Ihnen bietet! Es wird Sie nicht gereuen!«

Er verstand sie nicht. Sie seufzte tief auf. Es war auf einmal ein Hochmut, ein zorniger Überschwang in ihr: ›Warum stell' ich mich so arm und bin doch so reich? . . . Reicher als ich sein möchte, von der Fülle der Liebe . . .?‹ Dann musterte sie wieder den Pastor von Remern. Er enttäuschte sie heute. Auch äußerlich. Da war noch das gute, kluge, etwas grobe Gesicht mit dem silberblonden Rundbart, den feurigen Blauaugen über der kolbigen Nase – aber seine Hände dünkten ihr nun nicht gepflegt genug – er hatte so große, vorn viereckige Schuhe – einen schlecht sitzenden Rock – es ärgerte sie selber, daß sie diese Einzelheiten bemerkte, aber sie konnte sich nicht helfen – es entstand eine Pause – eine leichte Ernüchterung wehte durch das Zimmer – dann erhob sie sich, streckte ihm beide Hände entgegen und sagte herzlich: »Haben Sie tausend Dank! Es war recht unbescheiden von mir, Sie mit meinen Nöten zu behelligen!«

»Ich bitte, liebe Cousine! Wenn es nur etwas genutzt hat . . .«

»Ja.«

»Wirklich?«

Er sah ihr fest ins Gesicht. Es war doch viel prüfende Kraft in seinem Blick. Wieder fühlte sie etwas von der Macht dieses altfränkischen, schlichten Mannes über sich.

»Ich werde bei dem Worte bleiben, das ich Christoph gegeben hab'!« sagte sie.

»Das versprechen Sie mir?«

»Das versprech' ich!«

Er schüttelte ihr noch einmal die Hand und ging. Als er fort war, sagte sie sich in einer seltsamen Ruhe, die plötzlich über sie kam: ›Was bleibt mir denn sonst auch übrig? . . . Ich mache mich da matt und elend an Dingen, die ich ja gar nicht mehr ändern kann. Ich zappele ja nur wie der Schmetterling an der Nadel. Das geht nun alles seinen Lauf. Jetzt ist es halb zehn. Jetzt handelt es sich nur noch darum, anderthalb Stunden nicht mehr zu denken und zu wollen! Dann fahren wir zum Standesamt. Das Tor fallt zu – es gibt keine Umkehr mehr . . .‹

Sie war jetzt auch nicht mehr allein. Ihre Schwester, Frau von Greffern-Riest, und ihre künftige Schwägerin, das Stiftsfräulein von Ulerici, kamen, um ihr bis zur Trauung Gesellschaft zu leisten. Allen anderen Besuch hatte sie sich verbeten. Die beiden Damen brachten einen Stoß Glückwunschbriefe mit. Auch die ersten Depeschen waren schon eingetroffen, von vorsichtigen Leuten abgesandt, die sicher sein wollten, nicht zu spät damit zu kommen. Die meisten waren schon an den Freiherrn und die Freifrau von Ulerici adressiert. Vera wog sie nachdenklich in der Hand. Wieder kam es ihr so traumhaft unwahrscheinlich vor, daß sie wirklich in einer Stunde so heißen sollte. Im Nebenzimmer ging ihr Mädchen mit Wasserkrügen ab und zu. Es kamen so viele Blumen, daß sie gar nicht wußte, wo sie damit bleiben sollte. Man konnte sie nicht hier im Wohngemach lassen. Der Duft war zu stark. Und es klingelte draußen immer wieder. Ein Bote gab dem anderen die Türe in die Hand. Dann verlangte einer, persönlich vorgelassen zu werden. Es war kein Hausdiener, sondern ein feiner Herr, der im Auftrag des Freiherrn von Ulerici ein kleines Kästchen auf den Tisch stellte, um Quittung für sein Juweliergeschäft bat und mit einer tiefen Verbeugung wieder verschwand.

Auf Veras Bitte öffnete die Stiftsdame die Verschnürung. Sie wußte schon, was darin war. Eigentlich hatte es ihr Bruder heute persönlich überreichen wollen. Aber er war noch mißgestimmt vom gestrigen Tage. Er grollte ein wenig und gedachte das dadurch zu zeigen, daß er erst bei der Fahrt zum Standesamt in Erscheinung trat.

Der Deckel des Kästchens sprang unter Veras Händen empor. Sie fuhr zurück. Die beiden Damen machten ein langes »Ah!« der Bewunderung. Dies fünffache, von schmalen Diamantagraffen unterbrochene Perlenhalsband, das matt auf dem Atlaspolster schimmerte, stellte ein Vermögen dar. Es verschlug allen zweien einen Augenblick die Sprache. Dann sagte Fräulein von Ulerici mit dem Stolz der Schwester: »Es ist nach einem Muster gearbeitet, das sich im russischen Kronschatz befindet!«

Und Frau von Greffern, die ostpreußische Agrarierin, meinte mit einem leisen Neid: »Herrgott ja – mit dem, was das da wert ist, könnt' man bei uns auf ein Rittergut anzahlen! . . . Verachen – was bist du für ein Glückspilz . . .«

Vera erwiderte nichts. Sie stand vor dem Schmuck, der auf dem Tisch glitzerte, die Arme herabhängen lassend, und starrte ihn an. Auf ihren Zügen war der Ausdruck eines tiefen, sonderbaren Grübelns – einer Unentschlossenheit – sie hob halb die Hand, wie um das Geschmeide zu nehmen und sich einmal vor dem Spiegel anzuprobieren, wie es jede andere getan haben würde, und ließ sie wieder sinken . . .

Es war eine etwas beklommene Stille. Dann meinte Anna von Greffern: »Du bist doch immer närrisch, Vera . . . Ich tät' überhaupt Kopf stehen vor Entzücken, wenn ich so was bekäme . . . und du . . .«

Und Agathe von Ulerici frug ein bißchen pikiert: »Vera – freust du dich denn nicht?«

»Ich weiß nicht!« sagte Vera langsam. Sie schaute immer noch den Schmuck an, so, als sähe sie an dem etwas ganz anderes als andere Leute. Dann streckte sie wieder den Arm aus. Aber sie ergriff das Kästchen nicht. Sie schob es mit den Fingerspitzen ein Stück weit auf der Tischplatte von sich fort.

Das wurde der Stiftsdame doch zu viel.

»Ist dir das Halsband etwa nicht schön genug?« forschte sie spitz.

»Es ist zu schön!« Die junge Frau trat ein paar Schritte von dem Tisch zurück. »Es ist zu kostbar. Zu deutlich.«

»Zu deutlich wofür?«

Vera atmete tief auf und machte eine Bewegung mit den Schultern, als wollte sie etwas von sich abschütteln.

»Für das, was ist!« sagte sie.

»Das versteh' ich nicht!«

»Ich fang' auch erst an, es ganz zu verstehen! . . . Dies hier ist ja nur das Sinnbild dafür, liebe Agathe! Es wirkt so stark, weil es so übertrieben ist! . . . Ich verkaufe mich, und da auf dem Tisch liegt der Preis . . .«

»Was!«

Das Stiftsfräulein prallte von ihr zurück und hob abwehrend die Arme. Solche Worte hatte sie noch nicht gehört. Vera aber versetzte: »Liebe Agathe – ich habe eine Bitte: ich hab' etwas mit meiner Schwester zu besprechen, was dir weh tun könnte. Sei so gut und gehe ein bißchen ins Nebenzimmer. Oder noch besser hinüber in den allgemeinen Salon! Wir sind gleich fertig!« Und als jene ganz verstört und ratlos die Klinke hinter sich in das Schloß gedrückt hatte, wandte Vera sich an Frau von Greffern: »Anna . . . du mußt schon so gut sein und selber Christoph das Perlenhalsband zurückbringen! Ich kann doch das kostbare Ding keinem Fremden anvertrauen! Da wird es am Ende noch gestohlen.«

»Ich soll ihm den Schmuck zurückgeben?«

»Den Schmuck und das da!«

Vera streifte mit einer kurzen, harten Bewegung den Verlobungsring vom Finger und legte ihn neben das Kästchen.

»Sag ihm, es ginge nicht, Anna! . . . Und wenn ich all meine Kraft aufböte – ich könnte nicht! . . .«

»Um Gottes willen!«

Die junge Frau ließ sich schwer auf einen Stuhl sinken.

»Ich hab' zu viel anderes in mir . . . ich kann mich nicht verkaufen . . . er wird mich schon verstehen . . . ich werd' ihm noch einmal schreiben . . . später . . . jetzt nur Ruhe . . . Ruhe . . . die Ohren zugehalten. Die Augen zu . . . nichts sehen und hören, wenn der Lärm losgeht . . .«

Sie schauerte in ihrem Stuhl zusammen, sie duckte sich wie ein gehetztes Wild. Die Schwester kniete entsetzt neben ihr nieder. Sie legte den Arm um Vera und bat mit hilfloser Stimme, ganz benommen – ihr war in ihrer Überraschung, als drehte sich das Zimmer um sie und alle Möbel tanzten: »Vera . . . komm doch zu dir! . . . Vera . . . sei doch vernünftig . . .«

Die andere lachte wild auf: »Das erste Mal war ich unvernünftig . . . da wurd' es nichts. Diesmal wollt' ich recht vernünftig sein – da wird es wieder nichts! Mit mir wird überhaupt nichts . . . Da gib dir keine Mühe, Anna . . .«

»Aber Ulerici verzeiht dir das doch nie! . . . Der kommt doch nie wieder!«

»Natürlich nicht . . .«

»Vera . . . denk doch ein bißchen an dich . . . du ruinierst dir ja mutwillig alles!«

»Ich tu', was ich muß!«

»Und denk doch auch ein bißchen an uns . . .«

Die Anspielung auf den Eigennutz der Familie erbitterte Vera.

»Ich kann euch nicht helfen!« sagte sie schroff. »Papa soll sich seine Scheunendächer selber flicken! Dazu bin ich nicht da! Dazu bin ich zu gut. Ich gehöre mir . . . mir allein . . .«

Da die Schwester in ihrer Betäubung nicht gleich eine Antwort fand, sondern immer noch wie aus den Wolken gefallen, mit offenem Munde und weit aufgerissenen Augen dastand, schob sie ihr heftig Schmuck und Ring über den Tisch hin zu.

»Hier nimm . . .« sagte sie zwischen den Zähnen. »Und hier . . . und schau, daß du fortkommst, Anna . . . sonst wird's zu spät!«

Frau von Greffern fing an zu weinen.

»Aber was soll ich denn um Gottes willen dazu sagen?«

»Nichts! Es geschieht ihm recht. Warum wollt' er mich kaufen! Jetzt wird er mir jeden Augenblick verhaßter . . . hinterher . . . Gott sei Dank, daß ich noch rechtzeitig . . . Herrgott . . . Anna . . . heule nicht so . . .! Es ist ja kein angenehmer Auftrag für dich . . . freilich . . . aber . . .«

Anna von Greffern packte sie mit beiden Händen an der Schulter und schüttelte sie in ihrer Verzweiflung.

»Vera – warum tust du's denn nur . . .?« schluchzte sie. »Erkläre doch nur mit einem einzigen Wort . . .«

»Geh und gib ihm den Ring!«

»Vielleicht ist alles nur ein Mißverständnis . . .«

»Geh und gib ihm den Ring!«

»Überleg dir noch einmal . . .«

Nun fuhr auch Vera auf.

»Schau mich doch an!« sagte sie mit lauter, bebender Stimme. »Ich seh' mich doch im Spiegel! . . . Ich seh' ja aus wie eine Leiche! . . . Glaubst du denn, so was fliegt einem an, so mir nichts, dir nichts, und wieder weg? Was weißt denn du von derlei, in deinem Ostpreußen? Mach rasch! Geh! . . . Geh! . . .«

»Verachen!«

»Gib ihm den Ring!«

Sie preßte der tränenüberströmten, an allen Gliedern zitternden Schwester Kästchen und Goldreif in die Hand, die sich krampfhaft darüber schloß, und schob sie zur Türe hinaus. Als jene sich auf der Schwelle noch einmal umwandte, sah sie, wie Vera mitten im Zimmer stand, den Kopf hintenüber legte, die Arme weit ausbreitete und aufatmete – aus tiefster Brust . . .



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