Rudolph Stratz
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Rudolph Stratz

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XIII.

Frau Otti Gisbert war so verwirrt, daß sie beim Eintreten in die Vorhalle des Hotelpalastes Unter den Linden nur frug: »Ist mein Vater schon angekommen?« und erst auf die Antwort des Portiers: »Ja – wer soll es denn sein, gnädige Frau?« sich besann: »Ach so . . . Herr Weingroßhändler Dörsam aus Worms.«

Jawohl, Jean Baptiste Dörsam war seit einer Stunde da. Oben in seinem Appartement. Einem der schönsten des ganzen Hauses. Er trat auf Reisen immer fürstlich auf. Es spielte keine Rolle bei seinen Geschäftsabschlüssen. Als seine Tochter im Zimmer stand, erschien er eben auf der Schwelle des anstoßenden Badekabinetts, ein auffallend schöner, wenn auch etwas zu korpulenter Mann in der Vollkraft seiner Jahre, in einen purpurdurchwirkten und bis zu den Knöcheln reichenden Bademantel gehüllt, der ihn einem verwöhnten, verweichlichten Römer aus der Cäsarenzeit ähneln ließ. Es fehlte nur noch ein Kranz in dem schwarzen krausen Haar, ein goldener Becher in der Hand. Er schritt, sein Gewand leicht raffend, auf die kleine Frau zu, küßte sie und sagte: »Geniert's dich, Otti, daß ich da wie die selige Venus eben aus dem Seifenschaum steig'? Aber ich wußt' ja gar nicht, wann du kommen würdest. Da du nicht aus dem Bahnhof warst . . .«

Um Frau Ottis Mund zuckte es. Ihr zartes, hübsches Gesicht war sehr blaß. Die dunklen Augen, die so auffallend denen des Vaters glichen, füllten sich langsam mit Tränen. Sie setzte sich und erwiderte, immer mit dem Weinen kämpfend: »Ach, Papa . . . ich wär' ja so gern gekommen! Aber ich hab' mich nit getraut!«

»Geh – warum denn nicht?« Herr Dörsam nahm vor dem Spiegel Platz und begann sorgfältig seinen spitzgeschnittenen, dunklen Vollbart, über dem die ausrasierten Wangen einen ganz bläulichen Schein hatten, durchzukämmen.

»Weil ich doch nit vor allen Leuten herausheule möcht'!« schrie die kleine Frau plötzlich verzweifelt und warf sich über das Sofa, auf dem sie saß, und nun war kein Halten mehr. Es war ein völliger Weinkrampf. Sie drückte den Kopf in die Polster, ohne darauf zu achten, daß Hut und Frisur in Unordnung gerieten, sie preßte die Hände vor das Gesicht und schluchzte jammervoll in die hinein, und Jean Baptiste Dörsam zog sich seinen Stuhl heran und saß still in seinem Bademantel neben ihr, das eine Bein mit dem bunten chinesischen Strohpantoffel am Fuß über das andere geschlagen.

Jetzt war zu Reden und Fragen noch nicht die Zeit. Zu vernünftigem Zuspruch auch noch nicht. Jetzt brauchte die Otti nur Güte. Er streichelte ihr – so zart, wie man es seinen großen weißen Händen gar nicht zugetraut hätte – den schwarzen Scheitel, er strich ihr sanft von der Schulter her die Falten der Blusenärmel glatt und versetzte dabei mit weicher Stimme: »Heul du nur, mein Püppche! . . . Heul du dich nur aus! . . . Das ist gesund! . . . 's hört es niemand als dein guter Papa! Vor dem brauchst du dich nicht zu schämen . . . der sagt's nicht weiter!«

Je mehr er ihr zuredete, doch noch weiter zu weinen, desto mehr versiegten ihre Tränen, und endlich hob sie das verwaschene, sanfte Gesichtchen, schaute ihn einen Augenblick verstört und verwirrt an und warf sich dann plötzlich angstvoll wie ein gescheuchtes Vögelchen an seine Brust.

»Gott sei Dank, daß du da bist!« keuchte sie. Immer noch liefen ihr dicke Tropfen über die Wangen.

»Du hast mir geschrieben, ich müßte kommen! Da hab' ich mich auf die Bahn gesetzt! Ich bin kein Rabenvater. Aber erzähl mir noch nichts, mein Ottiche! Du bist noch viel zu aufgeregt!«

Wie er erwartet hatte, fing sie nun sofort entschlossen an: »So halt' ich's nit länger aus! . . . Jesus, Maria und Joseph – das ist mir zu arg! Da pack' ich einfach die Kinder auf und geh' fort! Gelt, Papa – du nimmst mich, wenn ich mit den Kindern komm'? Das Haus ist ja groß genug – jetzt gar, wo die Elfriede auch weg ist . . .«

Ob die Mutter einverstanden sein würde, frug sie nicht. Die war nur um ein Jahr jünger als ihr Mann, aber sie sah mit ihren grauen Haaren und ihrer Schwerfälligkeit wie seine ältere Tante aus und ließ jedem seinen Frieden, wenn man ihr den ihren ließ. Die kleine Frau Otti ballte die Fäuste, in einem Zorn, der die samtenen Augen in ihrem schmalen Kindergesicht aufleuchten ließ: »Das hab' ich nit um ihn verdient – das nit! . . . Ich bin ihm doch immer eine gute Frau gewesen – ich hab' ihn doch so schrecklich lieb. Und war so froh . . . ich hab' mir gesagt: ›da hab' ich meinen Mann und meine Kinder . . . und daheim die Eltern . . . mir fehlt nix im Leben . . . ich bin ein glücklicher Mensch‹ . . .«

»Ja – und jetzt, mein Ottiche?«

»Jetzt ist er rein wie verhext! Ich frag' mich immer: hab' ich noch einen Mann oder is das ein Fremder, der mir da in der Wohnung 'rumgeht und bei Tisch sitzt und gar nicht hört und sieht, was um ihn los ist! Du merkst nit, ob er wacht oder schläft, so geistesabwesend ist er – immer mit den Gedanken da . . . da . . . in der Luft . . . Ich glaub', wenn du ihn fragst, wieviel Kinder er hat oder wie ich mit dem Vornamen heiß', so spricht er, das wüßt' er nit! Er hätt' jetzt Besseres im Kopf! . . . Es ist eine Sünd' und Schand', und ich hab's nit verdient. Ich hab' Langmut genug gehabt – mit ihm . . . und mit ihr . . .«

». . . mit ihr?«

Die kleine Frau beugte sich zum Ohr ihres Vaters und flüsterte: »Sie ist wieder da! . . . schon seit drei Wochen . . .«

»Frau von Vogt?«

»Ja.«

»Hier in Berlin?«

»In Zehlendorf draußen!«

»Und du glaubst, er kommt wieder mit ihr zusammen?«

»Ich hab' ihn einmal direkt gefragt. Da hat er mich angeschaut, daß es mir ganz kalt über den Rücken gelaufen ist, und hat nur gesagt: ›Wenn was tot ist, dann will's seine Ruhe haben! Da laß du die Hände davon! Das begreifst du nicht!‹ – No – da hatt' ich mein Teil . . . aber der Rest, Papa . . .«

Frau Otti lachte erbittert auf. Sie hatte wieder nasse Augen.

»Kann ich wissen, was er den Tag über in Berlin treibt? Jeden Sonntag ist er von zu Hause weg! Er sagt, er fährt zu seinem Töchterle nach Schlesien. Es ist ja wahr, mit der Karla geht's immer schlechter! Die Ärzte sind arg bedenklich mit dem Angstkind in letzter Zeit! . . . Aber ob er nit die Mutter statt dem Kind trifft – hier und nit in Schlesien? Du liebe Zeit – der Grunewald ist groß! . . . und Zehlendorf liegt dicht dabei . . .«

Jean Baptiste Dörsam stand auf und ging nach seinem Schlafgemach.

»Warte!« sagte er rasch. »In zehn Minuten bin ich fix und fertig! Ist dein Mann zu Hause?«

»Ja.«

»Schön! . . . Dann lad' ich mich bei dir auf 'nen Löffel Suppe und hinterher gehen wir mal gleich ins Geschäft!« Der Weingroßhändler stülpte sich nebenan ein frisches Hemd über und rief dabei durch die nur angelehnte Türe: »Wie ist er denn im Dienst? . . .«

»Da wundern sie sich auch schon – sagt sein Bruder Albert! Es ist, als ob ein ganz anderer Mensch aus dem Georgche geworden wär'! Und dazu bin ich zu gut, daß ich für 'en fremden Mann koche und Wirtschaft führe soll!«

Sie brachte vor dem Spiegel Anzug und Frisur in Ordnung und knöpfte sich entschlossen die Handschuhe zu. Aus den zehn Minuten wurde bei Jean Baptiste Dörsam eine halbe Stunde. Er trat nie anders als in tadellos gediegener, etwas zu jugendlicher Eleganz in die Welt. Aber endlich war er fertig, und sie fuhren zusammen nach der Meinekestraße.

Gerade heute hatte Georg Gisbert sich Gäste zu Tisch mitgebracht – zwei frühere Kameraden von der ostafrikanischen Schutztruppe. Mit denen unterhielt er sich während des Essens. Die Anwesenheit seines Schwiegervaters fiel ihm nicht auf. Es kam sehr oft vor, daß Jean Baptiste Dörsam in Geschäften nach Berlin reiste. Sein Schwiegersohn begegnete ihm dann stets so höflich und ein wenig förmlich wie jetzt. Diese Zurückhaltung lag in seiner Art. Es war immer, als geniere er sich im stillen, das viele Geld von jenem anzunehmen. Der fand den Gatten seiner Otti wirklich verändert. Müder. Bleicher. Der Blick irrte zuweilen unruhig ab und verlor sich in der Ferne, und gleich darauf setzte sich Georg Gisbert wieder straff auf dem Stuhl zurecht und redete mit den Kameraden weiter – lauter Namen von Schutztrupplern, Stämme und Orte auf –ehe und –oro, von denen Jean Baptiste Dörsam nie etwas gehört hatte und die ihn nicht im geringsten interessierten. Am meisten verdroß es ihn, daß die beiden Herren Abstinenzler waren! Sie tranken nur gemeines Berliner Leitungswasser, während vor ihnen die edelsten Schloßabzüge der Firma Dörsam, Fröhlich und Kompanie prangten, und der eine von ihnen, ein kleiner, schroffer, glattrasierter Leutnant, der keine Ahnung hatte, daß der Schwiegervater des Hauses Weinhändler war, sagte: »Nee – nee – mit dem verfluchten Alkohol schnappt's doch bei unseren guten Landsleuten allmählich allgemein!« Das gab Jean Baptiste Dörsam einen Stich ins Herz. Er würde es ja nicht mehr erleben – ihn würde der Niedergang geschäftlich nicht mehr treffen – aber was sollte denn aus der Loreley am Rhein werden und den sagenumwobenen Klippen des deutschen Stroms und den kühlen Kellern mit goldenem Naß, wenn alle Welt zum Pumpenschwengel schwor oder in den Kuhstall an den Milchkübel lief? Er seufzte innerlich und schwieg und benutzte nur einmal die Gelegenheit, als sein Schwiegersohn wieder einen Augenblick düster und traumverloren dasaß, um ihn jäh, ganz überraschend, zu fragen: »Georg – woran denkst du eben?«

Und jener antwortete völlig ruhig, ohne Blick und Kopfhaltung zu ändern: »An meine Karla! . . . Das arme Ding ist wieder ganz herunter! Ich hab' heute früh recht trübe Nachrichten von Mama!«

Als die zwei Offiziere aufbrachen, wollte der Hausherr sie eine Strecke weit begleiten. Den Schwiegervater überließ er Otti und den Kindern. So glatt sie auch miteinander auskamen, so hatten doch die beiden, der preußische Hauptmann und der Weinhändler aus Rheinhessen, einander unendlich wenig zu sagen. Sie versuchten es sonst auch gar nicht. Aber diesmal versetzte Jean Baptiste Dörsam mit einer ungewöhnlichen Bestimmtheit: »Bitte, bleib hier! Ich hab' mit dir zu sprechen!«

Und an dem kurzen Blick, der zwischen ihnen hin und her flog, erkannte der andere, daß es Ernst war.

Nun saßen sie einander in Georg Gisberts Arbeitszimmer gegenüber. Die Zigarren qualmten, und Jean Baptiste Dörsam streifte die Asche der seinen ab, schaute flüchtig nach einem Antilopengehörn, das gerade über ihm an der Wand hing, und sagte: »Georg . . . ein offenes Wort: Es tut mir leid . . . ich dräng' mich ungern in so Geschichten . . . aber es muß sein . . . Was hast du mit deiner ersten Frau?«

»Nichts!«

Das klang schneidend kurz. Der andere war eine Sekunde verdutzt. Dann hub er an: »Verzeih! Es war nur eine bescheidene Anfrage. Die darfst du mir als dem Vater deiner jetzigen Frau nicht übelnehmen! Im allgemeinen heißt doch eine Scheidung: ›Geh du rechts und ich links!‹ . . . Daß diese Wege dann wieder irgendwie zusammenführen . . .«

»Wo denn?«

Georg Gisbert legte seine Zigarre weg, stand auf und trat vor seinen Schwiegervater hin.

»Nun bitte, heraus mit der Sprache! . . . Wo waren wir denn zusammen, Frau von Vogt und ich?«

»Rege dich nicht auf, Georg! . . . Ich habe nur gehört . . .«

»Du hast von Otti Dinge gehört, die nicht sind! Das weiß ich, daß sie sich mit diesen Hirngespinsten plagt! Ich kann ihr nicht helfen! Wenn sie es nicht von selber versteht – reden kann ich über gewisse Sachen nicht! Mir ist nur bekannt, daß meine frühere Frau sich in Zehlendorf aufhält . . .«

»Woher denn?«

»Herrgott – sie muß doch meiner Mutter schreiben und Bescheid bekommen, wenn sie Karla besuchen will – gerade damit wir uns dort nicht einmal durch Zufall treffen . . .«

»Ach so, ja . . . verzeih . . .«

Der Hauptmann Gisbert setzte sich wieder. Es war, als bereute er seine kurze Aufwallung. Er fügte in ruhigem, fast gleichgültigem Tone hinzu: »Sie sucht eine Stellung als Gesellschafterin – aus welchen Gründen, entzieht sich meiner Kenntnis. Ich hab' es nur aus einer Anzeige im ›Daheim‹ ersehen. Die Nummer ging mir von irgendwoher anonym zu. Weiter weiß ich von nichts!«

Der Weinhändler schwieg nachdenklich. Der andere fuhr fort: »Vor beinahe sieben Wochen, unmittelbar nach ihrer Entlobung, hatten Frau von Vogt und ich unsere letzte Unterredung. In der beschlossen wir, uns nie wieder zu sehen. Wir waren darin einig, auch den Schein zu meiden, als ob . . . Die Welt dreht einem ja aus dem Kleinsten einen Strick . . . Otti bringt das sogar ohne jede Unterlage fertig . . .«

»Und dabei ist es geblieben?«

»Dabei ist es geblieben!«

»Du gibst mir dem Wort darauf?«

»Mein Wort als Offizier!«

»Dann habe ich dich zunächst um Entschuldigung zu bitten!« sagte Jean Baptiste Dörsam. Georg Gisbert machte nur eine müde, ablehnende Bewegung mit der Hand. Beide blieben stumm. Der Weingroßhändler drehte sich langsam seinen dunklen, krausen, kaum merklich parfümierten Spitzbart. Der andere war ihm dankbar, daß er nicht weiter mit Fragen in ihn drang.

»Die eigene Fügung ist nur die,« versetzte der Schwiegervater nach einer langen Pause so, als hätten sie beide in der Zeit das gleiche gedacht, ». . . daß dein Kind aus erster Ehe immer noch eine Art Band zwischen dir und deiner einstigen Frau schafft. Das führt euch wider Willen, auch in der Entfernung, zusammen. Das öffnet sogar Mißverständnissen das Tor, wie wir das eben leider bei mir erlebt haben! . . . Ohne das Kind wärst du viel freier. Man könnte auch mehr von dir verlangen – Entschiedeneres in gewisser Hinsicht, als jetzt, wo du immer auf den einen Punkt zurückkommst . . .«

Er stockte. Georg schwieg und wartete: Er begriff nicht, wo der andere hinaus wollte. Da schlug ihm Jean Baptiste Dörsam plötzlich mit der Hand fest auf die Schulter und sagte laut und entschlossen: »Georg . . . gib ihr das Kind . . .«

Der Hauptmann Gisbert wandte sich jäh zu seinem Schwiegervater, und sein braunes, scharfgeschnittenes Gesicht drückte unverhohlenes Erstaunen aus. Er sagte nur langsam: »Was?«

Der Weinhändler wiederholte entschlossen: »Gib ihr das Kind! . . . Überlaß es ihr ein für allemal!«

»Mein Kind?«

»Es ist doch auch das ihre!«

»Aber mir zugesprochen . . .«

»Ja – nach Paragraph so und so. Da mögen die Juristen schon recht haben. Aber die Kleine ist nicht bei dir! . . . Und bei dem Vater oder bei der Mutter sollt' ein Kind doch sein – statt jetzt bei deiner verehrten Frau Mama in irgend einem fernen polnischen Krähwinkel. So ein heranwachsendes Mädelche – das braucht doch gerade die Mutter! . . . Überleg doch mal – was soll denn schließlich aus ihr werden, wenn sie mal groß ist – in zehn Jahren?«

»Alles im Leben,« sagte Georg Gisbert, sich an die Stirne greifend. »Alles im Leben hätt' ich eher erwartet, Schwiegerpapa, als von dir diesen Vorschlag zu hören . . .«

Herr Dörsam ließ sich nicht beirren. Er fuhr fort: »Da steht das arm Dingerche mit seinen achtzehn Jahren und keinem Groschen im Sack mutterseelenallein auf der Welt. Weißt du, was sie tut? Sie geht doch zur Mutter, sobald sie nach dem Gesetz wählen darf! Da halten sie keine zehn Pferde! Da lehr du mich die Welt kennen! . . .«

Georg Gisbert sah seinen Schwiegervater schweigend an. Der ließ noch immer die Hand auf seiner Schulter ruhen und sagte: »Es wär' mir auch, ehrlich gestanden, so lieber, als daß die Karla in zehn Jahren plötzlich wieder bei dir auftaucht und nachträglich wieder alle Welt daran erinnert, daß du meine Tochter erst zur Frau genommen hast, nachdem dir eine andere davongegangen ist. Aber das nur nebenbei! Nein – denke gerade an diese andere! Im Ehescheidungsprozeß Gisbert wider Gisbert ist sie für den schuldigen Teil erklärt worden. Gut. Ich kenn' sie nicht. Aber was ich so gehört hab' über sie und dich . . . Vielleicht denkt man im stillen Kämmerlein bei sich doch über manches anders! Oder hältst du dich für gar nicht schuldig, Georg?«

Der Hauptmann Gisbert hob den Kopf und sagte: »Ich war viel, viel schuldiger als sie!«

»Nun also! . . . Die Frau ist unglücklich. Ein ganz gewöhnlicher Mensch kann sie nicht sein. Sonst hätte sie nicht die Verlobung mit dem reichen Kerl wieder gelöst! . . . Sie steht ganz einsam da. Sie hat nichts auf der Welt. Sie weiß auch nichts mit sich anzufangen. Warum wollte sie sonst jetzt eine armselige Gesellschafterin werden? Gib ihr einen Lebensinhalt! . . . Gib ihr das Kind . . . kauf dich von dem Schicksal los, Georg!«

Er hatte die letzten Worte mit erhobener Stimme gesprochen. Sein Schwiegersohn saß da, stützte den Kopf auf die Hand und murmelte nur: »Mein Gott – was ist das für 'ne Idee!«

»Ihr seid erst dann wirklich getrennt, Georg, wenn die Karla nicht einen von euch an der rechten und den anderen an der linken Hand festhält, sondern einem ausschließlich gehört! Dann ist erst alles zwischen euch zu Ende – und auf eine gute und anständige Weise – gerade von dir aus! Und weißt du, Georg – ganz im Vertrauen als Geschäftsmann gesprochen: Wenn ich schon weiß, daß mir etwas später doch wegkommt, dann schenk' ich es lieber gleich freiwillig her! Dann steh' ich doch wenigstens groß da!«

Georg Gisbert hatte sich erhoben und war an das Fenster getreten. Er antwortete nicht mehr. Es kämpfte heftig in ihm. Der andere blieb sitzen und wiederholte sehr ernst: »Kauf dich von dem Schicksal los, Georg! Es ist hohe Zeit. Deine erste Frau hast du unglücklich gemacht – das gibst du selbst zu – deine zweite bist du auf dem Punkt, unglücklich zu machen. Deine erste Frau geht mich nichts an, deine zweite sehr – denn es ist meine Tochter – und wegen der zweiten verlange ich: mache ein Ende!«

Eine Weile schwiegen beide. Jean Baptiste Dörsam trat zu seinem Schwiegersohn an das Fenster und sagte zum letztenmal: »Gib ihr das Kind! . . . Schieb einen Riegel vor die ganze Vergangenheit! . . . Du wirst sehen: solch ein Opfer tut Wunder. Es reinigt die Beziehungen zwischen zwei Menschen. Es läßt gar keine Wahl mehr. Da fügt man sich dann drein . . .«

Über den Flur her tönte einen Augenblick Kindergeschrei und Ottis Stimme. Dann schloß sich eine Türe und es war wieder still, und der Weingroßhändler sagte: »Du hast noch mehr Kinder und wirst noch mehr haben. Sie hat nur das einzige. Sei also nicht grausam und ungerecht. Enthalte es ihr nicht vor! Was meinst du? . . . Du hättest die Kleine lieb? . . . Ja, mein bester Junge – wenn das nicht weh täte, dann wäre es auch keine Kunst!«

Das Mädchen kam und brachte ihnen den Kaffee. Als sie gegangen, machte es sich Jean Baptiste Dörsam auf dem Sofa bequem und nahm seine Zigarre wieder zur Hand. Die Feierlichkeit, die an sich seinem leichtlebigen, rheinischen Naturell nicht entsprach, war für ihn abgetan. Er sagte in seinem gewöhnlichen Ton: »Überleg es dir! Es braucht ja nicht von heute auf morgen zu geschehen! . . . Aber etwas muß geschehen! Darauf bestehe auch ich! . . . Du wirst mir zugeben, daß ich sonst kein Moralprediger bin. Ich hab' nicht das Zeug dazu. Wenn man selber ein bißchen im Glashaus sitzt . . .«

Er machte eine Handbewegung, wie um ein paar trübe Gedanken zu verscheuchen. Auf einmal sah er müde aus.

»Du weißt ja gar nicht, wie gut du's hast,« versetzte er. »Ob man sich nun mit den Weibern verträgt oder sich mit ihnen kratzt und beißt – wenn nur Leben da ist! . . . Aber wenn das so neben einem altert – so ganz langsam, weißt du, aber unerbittlich – und man soll mitaltern . . . und fühlt sich doch noch so jung und vergnügt . . . da schau her, ob du ein graues Haar findest!«

Er neigte seinen dunkelgelockten Kopf gegen den anderen, und der sah nicht den schönen, jungen Schwiegervater vor sich, sondern drüben am Rhein dessen Frau, die graue, rundliche Matrone, die vor der Zeit dumpf und stumpf geworden war.

»Bleigewichte gibt's im Leben!« sagte Jean Baptiste Dörsam langsam. Es klang, als wolle er dem anderen zum Entgelt sein Vertrauen schenken, weil er sich in dessen Vertrauen eingedrängt. »Und wenn man dann ein bißchen über die Schnur haut, dann ist gleich Zetermordio! . . . Und vor sich selber steht man dann auch gar nicht so berühmt da! Aber, Maria und Joseph, ich kann halt noch keinen Schlafrock anziehen und den guten Großpapa spielen, wenn ich's auch bin. Es rumort noch zu sehr in mir!« Er lachte wieder ein wenig. »Gerad' wie der Wein in meinen Fässern!  . . . Ich spreche auch viel lieber zu dir als Kamerad, als als Schwiegervater! Das hast du nun schon bemerkt . . .«

Georg nahm stumm die Hand, die der andere ihm bot. Jean Baptiste Dörsam war ihm auf einmal näher gerückt. Dieser weltlich-heitere, geschäftsschlaue Mann, der Mitglied des Großen Rates der Narrhalla seiner rheinischen Vaterstadt und ein berühmter Büttenredner der Faschingszeit war und sich überall mit seinem prächtigen Tenor in die Herzen der Frauen sang, schaute ihm in die tiefsten Gründe der Seele und begriff sie . . .

Otti kam herein, die beiden Kleinen an der Hand. Sie war in Angst, weil die Unterredung gar so lange dauerte. Sie fürchtete, die beiden Männer würden hintereinander gekommen sein, und machte große Augen, als sie sie ruhig auf dem Sofa beisammensitzen sah. Jean Baptiste Dörsam warf seinem Schwiegersohn über dessen Kinder hin einen Blick zu, der warnend sagte: ›Du bist reich, jene ist arm. Gib ihr. Gib!‹ Das klang in Georg Gisbert nach: ›Das Schicksal will etwas von dir! Es greift nach dir! Wirf ihm etwas vom Liebsten hin, damit es von dir läßt!‹ Der Gedanke verfolgte ihn diesen ganzen Sonnabend, an dem er nachmittags keinen Dienst hatte. Er versuchte zu lesen, aber die Buchstaben tanzten vor seinen Augen. Er ging gegen drei Uhr in die Universität, wie er es viermal in der Woche tat, um ein Kolleg über Friedrich den Großen in der zweiten Hälfte seiner Regierung zu hören, aber die Worte des berühmten Historikers verhallten unvernommen an seinem Ohr, und draußen im Menschenfluten der Linden und der Friedrichstraße, im Rollen des Stadtbahnzugs hörte er immer einen fernen Ruf: ›Gib ihr das Kind.‹ Und als er daheim, was er schon lange nicht getan, seine Geige zur Hand nahm, da legte er mitten im Phantasieren den Bogen wieder hin und dachte sich: ›Mein Schwiegervater hat recht! Man kann nur eine Frau, nur einmal Kinder haben . . . Es klingt lächerlich . . . es klingt furchtbar zugleich: zweimal Weib und Kind. Wer zwischen beiden steht, der geht zugrunde . . . Eins von ihnen muß er opfern!‹

Am Abend war Jean Baptiste Dörsam mit seinen Kindern zusammen in einem Berliner Restaurant. Er versuchte die beiden Gatten, die in diesen Wochen das Reden miteinander schon halb verlernt hatten, denen die Sprache fast im Halse eingerostet war, wieder zur Unbefangenheit gegeneinander zu bringen – er plauderte absichtlich nur von Dingen, die ihnen beiden gemeinsam waren – von den Kleinen – dem Verkehr mit befreundeten Familien – ihrem vorjährigen Sommeraufenthalt, und wo sie dies Jahr hingingen – am besten wieder in die Schweiz, da holten sie sich unterwegs in Worms gleich von ihm das Reisegeld! Er lachte dabei pfiffig und sah zu seiner Befriedigung, daß Otti auch ein paarmal unwillkürlich lächeln mußte wie sonst, daß sie und ihr Mann so miteinander ins Gespräch gerieten, sich ins Wort fielen, im Moment vergaßen, was war – und als Georg Gisbert und seine Frau in der warmen Sommernacht nach Hause gingen, setzten sie unter vier Augen ihre Unterhaltung fort, aus bloßer Angst, daß das alte tötende Schweigen wieder zwischen ihnen Platz greifen könne – eine Unterhaltung, die sich um Nichtigkeiten drehte und für sie doch so viel mehr bedeutete als den bloßen Klang der Worte. Georg Gisbert war in einer seltsam weichen, traurigen Stimmung und neben ihm ging, bemüht, mit ihm gleichen Schritt zu halten, die kleine Frau. Er hatte ihr den Arm geboten. Sie sah zuweilen scheu zu ihm auf und er nach ihr. Dann schmiegte sie sich fester an ihn, und es war ein leises, schmerzliches und hoffnungsvolles Zucken um ihren Mund. Aber sie beherrschte sich tapfer und schwatzte weiter, wie es ihrer Schwester in Köln ginge, und wie gut der Vater aussähe und wie schade es doch sei, daß er hier nie ordentlich zum Verschnaufen käme, sondern morgen schon wieder heim nach Worms müsse.

Jean Baptiste Dörsam hatte nie viel Zeit. Sein Weingeschäft war zu groß. Früh am nächsten Tag trat er, schon zur Reise gerüstet – er wollte in einer Stunde fahren – zu seinem Schwiegersohn in das Zimmer und frug ohne viel Umschweife: »Nun, Georg, hast du dir die Sache beschlafen?« Der wies ihm stumm eine Stelle aus einem Brief seiner Mutter, den er eben erhalten: ». . . Karlas Befinden macht mir täglich mehr Sorge und den Ärzten auch. Sie verlangen für das Kind frische Luft – fortgesetzten Aufenthalt im Freien – heitere und unermüdliche Pflege ohne viel Bewegung – denn die bedrohlichen Anfälle von Herzschwäche haben sich in letzter Zeit gar zu oft wiederholt – ja – lieber Sohn – wie soll ich alte Frau in meinem stillen Hausstand das leisten? Was ich kann, das tu' ich ja von Herzen gern. Aber, offen gestanden, es wird mir zu viel, diese furchtbare Verantwortung vor Dir und Frau von Vogt auf die Dauer zu tragen. Meine Kräfte lassen in letzter Zeit recht nach. Ich bin jetzt über sechzig. Es muß, gerade um Karlas willen, da über kurz oder lang irgend eine Änderung eintreten. Ich kann das bedenkliche Gesicht des Doktors gar nicht mehr sehen . . .«

Der Hauptmann Gisbert war in grauem Sommerzivil. Er sah auf die Uhr und versetzte: »Komm, Schwiegerpapa! Wir wollen gehen!«

»Du auch?«

»Ich möchte mit dem Zehnuhrzug nach Schlesien fahren. Ich muß nach Karla sehen! Und dann . . . Inzwischen hab' Dank, daß du gekommen bist – daß du mir einen Rat gegeben hast, den mir kein anderer gegeben hätte – daß du . . .« Er drückte plötzlich dem Schwiegervater vom Rhein die beiden Hände. ». . . Ich hab' dich jetzt ganz anders kennen gelernt – weißt du – ich schäme mich ordentlich . . .«

Jean Baptiste Dörsam lachte.

»Das Vergnügen hättest du schon lange haben können! . . . wenn ihr Preußen nicht so furchtbar steif wärt . . . aber man darf euch ja nicht anschauen, so werdet ihr schon bös! Das ist ein Gotteswunder, daß ich dir mal durch ein Hintertürchen beigekommen bin! . . . Na . . . hoffentlich bleibt's dabei! Gute Fahrt! . . . Gute Besserung für dein Kind! . . . Und ein gutes Ende mit allem!«

Die beiden Männer, der von fünfunddreißig und der von fünfundvierzig Jahren, schüttelten sich noch einmal in Kameradschaft, als zwei Freunde, die Hände, ehe sie sich an der Gedächtniskirche trennten und Georg Gisbert rasch die paar Schritte bis zum Bahnhof Zoologischer Garten hinabging.



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