Rudolph Stratz
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Rudolph Stratz

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V.

Der Hausarzt der Familie Gisbert wohnte nicht weit, in der Uhlandstraße. Er war daheim und begrüßte etwas erstaunt den spät eintretenden Besuch. Und Georg Gisbert sagte, noch außer Atem vom raschen Treppensteigen: »Ein Segen, daß ich Sie finde, Herr Sanitätsrat! Tun Sie mir den einzigen Gefallen und kommen Sie gleich mit! . . . Meine älteste Tochter hat plötzlich bedenklich hohes Fieber!«

Während sie zusammen das Haus verließen, erklärte er weiter: »Meine Frau ist verreist! Ich war den ganzen Tag auf der Jagd, absichtlich, weil Karla heute für den Nachmittag zu ihrer Mutter sollte!« Er sprach das mit einer gewissen Überwindung aus, und der Arzt, der mit den Verhältnissen Bescheid wußte, nickte nur. »Wie ich eben heimkomme, war das Kind nicht dort, sondern liegt krank im Bett, und die sämtlichen drei Frauenzimmer, die verfluchten Gänse, sitzen den ganzen Tag herum und warten, ob es nicht besser wird, statt Sie gleich holen zu lassen! Prügeln möcht' man manchmal die Leute mit ihrer Unvernunft. Nun sehen Sie nur, was es eigentlich ist!«

»Influenza!« sagte der Sanitätsrat zehn Minuten später in dem Krankenzimmer. »Sie spukt immer noch in Berlin! . . . Das sind so ihre letzten Gastrollen im Frühjahr . . .«

»Aber es ist doch keine Gefahr . . .?«

»Bei einem ganz gesunden Kinde kaum . . . Aber hier . . . das Herz müssen wir eben ordentlich auf dem Posten halten! Lassen Sie lieber Ihre Frau Gemahlin zurückkommen, wenn es geht!«

»Ich werde sofort nach Worms telegraphieren!«

Es war eine kurze Pause, dann meinte der Sanitätsrat, die Gedanken des anderen erratend: »Hm – ja . . . und die Mutter . . . das geht ja nun ein bißchen über das Ärztliche hinaus. Das streift das allgemein Menschliche. Wie stellen Sie sich zu der Frage, Herr Hauptmann . . .?«

Georg Gisbert stand neben dem Bett der Kleinen, die unruhig, mit fiebrig geröteten Wangen sich in den Kissen hin und her warf.

»Ich bin der Meinung,« sagte er, »daß in dem Falle, doch eine wirkliche Gefahr vorliegt, die Mutter selbstverständlich nicht ferngehalten werden kann. Aber auch nur in diesem Falle!«

»Nun gut! . . . Augenblicklich ist noch keine Besorgnis! Sie können ihr ein paar beruhigende Worte zukommen lassen . . .«

»Bitte, schreiben Sie ihr die lieber selbst! Ihnen glaubt sie eher als mir! Ich schicke den Brief gleich nach dem Lützowplatz hinüber!«

Der Sanitätsrat nickte, setzte sich und sagte, während er die Zeilen auf das Papier warf: »Und nun kaltes Blut, Herr Hauptmann! Es ist noch nicht Matthäi am Letzten! Wenn Ihre Frau Gemahlin erst da ist, wird gleich alles leichter gehen!«

Aber als er am nächsten Morgen wiedergekommen war und den Zustand der Patientin unverändert gefunden hatte, zeigte ihm Georg Gisbert finster eine eben aus Worms eingetroffene Antwort seines Schwiegervaters auf seine Depesche vom Abend vorher.

»Otti mit Mama nach Köln abgereist, um letzte Hand an Wohnung dort zu legen. Habe sofort nachtelegraphiert. Hoffe, daß es sie erreicht.«

»Übermorgen ist die Hochzeit meiner Schwägerin!« sagte er. »Sie heiratet nach Köln. Nun läuft meine Frau mit ihrer Mutter dort herum, wahrscheinlich durch hundert Läden und Geschäfte hintereinander, und es ist ein wahres Wunder, wenn der Depeschenbote sie im Lauf des Tages durch Zufall einmal in der leeren Wohnung findet . . .«

»Nun – der Tag ist noch lang!« tröstete der Sanitätsrat. »Es geht auch so! Ich schicke Ihnen jetzt gleich eine Rotekreuzschwester. Auf Wiedersehen!«

Der Arzt ging, und eine halbe Stunde darauf erschien auch wirklich die Pflegerin, ein zartes, blasses Ding, noch jung, ganz übernächtig. Sie kam eben von einem Sterbebett. Aber sie machte sich sofort an die Arbeit, und der Hauptmann Gisbert konnte nun wenigstens ruhig in den Dienst. Eben als er im Flur den Mantel umhing, schrillte neben ihm an der Wand die Telephonklingel. Von den Dienstboten war niemand in der Nähe. So rief er selbst »Wer ist da?« und ergriff das Hörrohr.

Im nächsten Augenblick wurde sein Gesicht ganz steinern. Eine Frauenstimme flüsterte, dicht an seinem Ohr: »Hier Frau von Vogt! Ich möchte wissen, wie es Karla geht!«

Und ihn durchzuckte es: ›Es hilft ja alles nichts! Wir müssen zusammen! . . . Neulich kam ihr Brief ins Haus. Gestern stand sie vor meiner Schwelle. Heute klingt schon ihre Stimme in diesen Räumen. Bald ist sie selber da.‹

Die Schallmembrane knisterte an seinem Ohr. Dann frug es wieder, unheimlich nahe, so als stände jemand Unsichtbarer neben ihm: »Bitte . . . ist denn niemand am Apparat? Hier Frau Vera von Vogt! Wie geht es meiner Tochter?«

Man hörte durch die Fernleitung deutlich das angstvolle Beben ihrer Stimme. Und nun näherte er sich dem Sprachrohr und murmelte hinein: »Hier Hauptmann Gisbert!«

Daraufhin war drüben alles still, und er fuhr fort: »Es ist noch keine Änderung eingetreten! Gefahr nicht vorhanden!«

Seine Hand zitterte, die das Hörrohr hielt. Vorgestern hatten sie sich gesehen, ohne sich zu sprechen. Jetzt sprachen sie sich, ohne sich zu sehen. Und da klang es halberstickt, mit offenbarer Überwindung, noch einmal eine Bitte zu tun: »Aber ich möchte zu Karla hin . . .«

»Sowie es erforderlich ist, kommt Nachricht hinüber. Ich bitte, sich unbedingt darauf zu verlassen!«

Er harrte noch eine Weile, aber es regte sich nichts mehr an dem Apparat. Vera mußte stumm weggegangen sein. Nun verließ auch er seine Wohnung. Ein unbehagliches Gefühl, als habe er nicht ganz recht gehandelt, begleitete ihn. Da oben lag das Kind krank. Weder Vater noch Mutter waren an seinem Lager. Er konnte nicht. Ihn rief die Pflicht. Sie durfte nicht. Er hielt sie fern. War das recht? Er sagte sich: Wo keine Gefahr ist, ist auch keine Grausamkeit! Aber den ganzen Vormittag lastete auf ihm, während er sich mit aller Willensanspannung in seine Akten vertiefte, dieser Druck wie ein schlechtes Gewissen, daß er etwas an Karla versäume: Es war niemand außer bezahlten Leuten um sie, und wenige Straßen davon entfernt rang inzwischen die Mutter die Hände vor Ungeduld und verzehrte sich in Angst. Es war doch eine große Verantwortung, die er da vor sich und vor ihr übernahm.

Er hatte eine unklare Hoffnung, daß Otti vielleicht mit dem Paris-Kölner Mittagsschnellzug eintreffen würde, und stand, als der einlief, auf dem Bahnhof Friedrichstraße und wartete, bis der Schwarm der Reisenden sich verlaufen hatte, ohne sie zu bringen, und sah hinterher selber ein, daß es doch nur ein ganz törichtes Hirngespinst gewesen, und fuhr mit der Stadtbahn heim. Zum Glück hatte er nachmittags keinen Dienst. Sein Abteilungschef hatte ihm aus freien Stücken gesagt: »Na, Gisbert – bleiben Sie mal für heute aus unserer Aktenbude weg! Das Vaterland kann sich auch einmal ohne Sie behelfen!«

Wenn er nur hätte etwas helfen können! Zu Hause teilte ihm, als er eintrat, die kleine, blasse Diakonissin mit, in seiner Abwesenheit habe eine Dame zweimal telephonisch sich nach dem Kinde erkundigen lassen – eine Frau von Vogt – und sie habe das zweite Mal wahrheitsgemäß antworten müssen, es ginge gar nicht besonders. Er biß sich auf die Lippen und trat an das Krankenbett. Dort setzte er sich hin und wartete. Er hatte die Idee, er schütze Karla so gegen irgend einen Feind . . . oder gegen seine einstige Frau – die Gedanken drehten sich einem in dem stillen, halbdunklen Raum – man wurde ganz schwindlig im Kopf und er war froh, nach einer Stunde draußen im Flur die Stimme seiner Schwägerin Klothilde, der Frau seines Bruders Richard, zu hören, die er telegraphisch gebeten hatte, aus Spandau zu kommen.

An sich war ihm dies lange, blonde, stumme Geschöpf wenig sympathisch. Sie hatte trotz ihrer fünfundzwanzig Jahre etwas merkwürdig Unentwickeltes, körperlich und geistig. Sie gehörte zu den Frauen, die auf einer bestimmten Stufe plötzlich stehen geblieben waren. Er wußte es. Aber er merkte jetzt erst, wie unselbständig sie war.

In das Krankenzimmer wollte sie überhaupt nicht hinein. Sie werde sich hüten, die Influenza mit nach Hause zu bringen. In den Vorderräumen stand sie nur herum und war der Schwester im Wege, und als die, von der Patientin kommend, gegen fünf Uhr nachmittags etwas besorgt sagte: »Es wäre gut, wenn der Herr Doktor nicht mehr lange auf sich warten ließe . . . Frau von Vogt hat auch schon wieder antelephoniert,« da ließ sie sich nieder und begann, den langen Oberkörper wie eine Trauerweide vorgebeugt, still zu weinen, und ihr Schwager begriff auf einmal, warum der Hauptmann Richard Gisbert, wo er auch hinkam, als ein trunkfroher alter Knabe bekannt war, der seine Abende lieber im Kasino oder am Stammtisch als daheim bei den Seinen zubrachte. Und als das Heulen gar kein Ende nehmen wollte, verlor er die Geduld, packte Klothilde in eine Droschke und schickte sie heim.

Und von Otti war nichts zu hören und zu sehen! Die lief irgendwo in Köln fidel herum und ahnte von nichts. Und er selber wurde sich immer mehr der Notwendigkeit bewußt, daß an das Sorgenbettchen da drinnen eine Frau gehörte! Die Mutter! Hatte ihm doch das Kindermädchen eben flüsternd berichtet, die fremde Dame, die sie von dem neulichen Auftritt mit Karla vor dem Hause des Professors her kenne, sei wieder die längste Zeit vor dem Hause auf und ab gegangen und habe heraufgeschaut und dann plötzlich ein Tuch vor die Augen gehalten und sei weg.

Nein, das war zu viel. Das griff ihm selbst ans Herz. Unmenschlich konnte man nicht sein. Er war jetzt ganz auf das Unvermeidliche ihres Kommens gefaßt und nickte nur, als der Arzt ihm eine halbe Stunde später ernst sagte: »Herr Hauptmann . . . ich glaube, wir müssen Frau von Vogt benachrichtigen . . . ich möchte für nichts mehr stehen, wenn da etwas versäumt würde . . . Wenn es Ihnen recht ist, telephoniere ich selbst . . .«

Georg Gisbert stand mitten im Zimmer und hörte mechanisch, wie der Sanitätsrat draußen im Flur mit lauter Stimme sprach und mit den Worten schloß: »Also richten Sie es der gnädigen Frau sofort aus – verstanden?« – und dann, zu ihm zurückkehrend, fortfuhr: »Die Krankheit steht so, Herr Hauptmann, daß mir die Zuziehung einer Autorität sehr erwünscht wäre! Gestatten Sie, daß ich Professor Schwertfeger hole?«

»Ja gewiß!« Georg Gisbert schreckte aus seinen Gedanken auf. Er besann sich wieder auf die Wirklichkeit und frug, sich mühsam beherrschend: »Mein Gott – steht es denn so schlimm?«

Der Doktor zuckte die Achseln.

»Das hohe Fieber – das hohe Fieber! . . . Wir haben ja Mittel genug dagegen! Aber die wirken alle so stark auf das Herz. Und das Kind hat da nun mal seinen Knacks! . . . Na also . . . ich fahre . . . auf Wiedersehen!«

Der Hauptmann Gisbert warf noch einen Blick auf sein Töchterchen. Dann trat er hinaus auf den Flur. Seltsam, wie gleichgültig ihm jetzt auf einmal Veras Kommen geworden war. Er war in einer viel zu großen Not und Sorge um das flackernde Lebensflämmchen da drinnen. Daß auch sie, die Mutter, auf den Fußspitzen eintreten und blassen Gesichts eine Zeitlang an dem Bettchen niedersitzen würde, das war nur eine Begleiterscheinung des Kampfes mit dem Knochenmann, weiter nichts. Er wollte ihr nur nicht gerade in der Zeit ihrer Anwesenheit hier begegnen. Nach seiner Berechnung mußte sie, wenn sie sich sofort fertig gemacht und eine Droschke genommen hatte, in den nächsten Minuten da sein. Er rief das Kindermädchen und sagte ihr gedämpft: »Friederike, Sie sind ja eine vernünftige Person! . . . Also hören Sie mal zu: Ich gehe ein wenig vor das Haus, um frische Luft zu schöpfen. Inzwischen wird Frau von Vogt hierherkommen. Sie führen sie zu dem Kinde und sagen auch der Schwester Bescheid. Deren Anordnungen muß sie sich fügen. Die läßt ja niemanden von uns sehr lange im Krankenzimmer, also Frau von Vogt wahrscheinlich auch nur eine halbe Stunde oder so etwas. Es ist vielleicht besser, sie kommt dann später noch einmal wieder!« Er horchte im Treppenhaus, ob er nicht schon Veras raschen, elastischen Schritt, den er von früher her so wohl kannte, auf den Stufen vernähme. Aber noch war alles still. Da stieg er rasch hinab auf die Straße. Es war schon beinahe völlig dunkel. Er schritt den Kurfürstendamm hinunter in der Richtung nach Halensee, bis dahin, wo streckenweit noch keine Häuser waren und über Bretterzäune, Baustellen und Sportplätze die weite mondhelle märkische Ebene hereinlugte. Er dachte, als er fünf oder zehn Minuten weit gegangen, daran, daß Vera nun wohl schon in seinem Hause sei. In seinem Ohr klang ihre Stimme nach, wie er sie vorhin von fernher über die Dächer von Berlin gehört. In aller seiner Sorge um das Kind mußte er daran denken, wann er zuletzt mit Vera gesprochen hatte . . . vor sechs Jahren . . . des Abends wie jetzt, nach einem Gartenfest im Kasino. Er schauerte zusammen in der Erinnerung an den Streit, die Tränen. Es war der letzte, furchtbare Auftritt zwischen ihnen gewesen. Am nächsten Vormittag war sie weg, zu ihrer Mutter nach Neetzow. Auf dem Tisch lag ihr Abschiedsbrief. Und nebenan schrie die kleine, damals kaum zweijährige Karla . . .

Und er sagte sich, während er weiter in die Finsternis hineinschritt: ›Wenn uns Karla jetzt stirbt, dann ist sie schuld! Dann straft sie Gott, weil sie damals das Kind verlassen hat! Und ich muß mit leiden‹ . . .

Er stand auf einem Seitenweg, den er von der großen Heerstraße aus eingeschlagen. In weiter Entfernung rahmten die vielen tausend Lichter der Weltstadt, die farbigen Augen der Bahnhöfe, das blutrote Sprühen von Fabrikschloten den dunklen Horizont ein. Um ihn herum aber war auf dem Feldpfad alles finster. Nur ein schwacher Mondschimmer erhellte das weite Chaos dieser Schuttränder, die Berlin in unaufhaltsamem Vordringen, wie der Gletscher seine Moräne, vor sich herschob – diese Pfützen und Ackersteine und umgehauenen Bäume und Scherben in Haufen . . . Scherben überall . . .

Und eine düstere Trauer sprach zu ihm: So sind auch um mich herum die Scherben meines Lebens. Aus dem ward ja wieder etwas Neues, wie auch hier Neues aus dem verwüsteten Boden entsteht, aber es ist das Alltäglich-Banale: – die Mietskaserne . . . die Vernunftehe . . . Und früher war ein Duft über den Dingen – ein Zauber – der ist zerstört durch die, die jetzt dort in der Stadt am Lager meines Kindes sitzt.

Jetzt haßte er Vera auf einmal wieder. Leidenschaftlich. Wie war er doch arm durch sie geworden! Was hatte sie ihm alles geraubt, und sich dazu, daß sie wie Bettler auseinandergingen. Und warum? Aus Selbstsucht, aus Eigenwillen, aus Verblendung, daß sie es gerade mit ihm so schlecht getroffen zu haben glaubte. Sich selber schob er jetzt nachträglich keine Schuld mehr zu. Er hatte seine Pflicht getan und wenigstens immer für das Kind gesorgt, das eben jetzt gehen wollte, wo sie endlich anfing, es zu lieben . . .

In düsterem Sinnen lief er ziellos hin und her, wohl eine Stunde lang, bis ihn die Angst um Karla heimtrieb. Ihre Mutter mußte ja nun längst die Wohnung wieder verlassen haben. Gerade als er sich dem Hause näherte, fuhr an ihm ein Wagen vor und eine Dame stieg aus und eilte hinein. Er konnte sie aus der Entfernung nicht erkennen. Die Hoffnung blitzte in ihm auf, daß das Otti sei, die von der Reise zurückkehrte. Oben sagte ihm das öffnende Kindermädchen: »In dem Augenblick ist die gnädige Frau gekommen!« und er trat hastig in das Wohngemach und stand Vera von Vogt gegenüber, die, noch in Hut und Jacke, atemlos von dem Treppensteigen, an der verschlossenen Türe des Krankenzimmers lehnte.

Die beiden schwiegen. Es war eine schwere Pause.

Vera von Vogt war sehr blaß. Aber sie sah ihren einstigen Mann ruhig an und sagte endlich, wie zur Antwort auf dessen verstörten Blick der Überraschung: »Ich bin erst eben heimgekommen und hab' die Nachricht vorgefunden. Da bin ich gleich hierher . . .«

Dann setzte sie mit zuckenden Lippen hinzu: »Hier, vor dem Haus, bin ich auf und ab gegangen! Und nach dem Lützowplatz hat man mir unterdes telephoniert!«

Daher ihre Verspätung! Er blieb stumm. Aus dem Nebengemach tönten gedämpfte Männerstimmen. Der Hauptmann Gisbert wollte die Türe öffnen. Aber sie schüttelte den Kopf und sagte: »Man soll nicht stören! Der Arzt ist drinnen!«

»Mit dem Professor Schwertfeger?«

»Der Professor Schwertfeger ist nicht in Berlin! Er ist zu einer Konsultation nach Bukarest berufen worden. Der Sanitätsrat hat einen anderen Spezialisten mitgebracht!«

»Wen denn?«

»Ich weiß nicht.«

Da waren sie mitten in einem Gespräch . . . sie beide! Und es machte sich ganz selbstverständlich so, in der Not der Stunde. Aber nun verstummten sie zu gleicher Zeit. Plötzlich senkte sich ein Schleier der Befangenheit über sie. Vera atmete gepreßt auf und trat ein paar Schritte seitwärts. Er sah, wie trotz ihrer Angst eine flüchtige Röte einen Augenblick ihre Wangen färbte und sofort wieder verschwand.

Dann sammelte er sich. Er sagte sich, daß es für ihn in dieser ungewöhnlichen Situation nur eine Richtschnur gab. Er war preußischer Offizier und die vor ihm eine Dame, die sich unter dem Schutze seines Daches befand und der er Höflichkeit schuldig war.

Sie stand noch immer. Er schob einen Sessel herbei und sagte knapp: »Ich bitte, sich doch setzen zu wollen!«

Das »Sie« vermied er, ebenso wie in seinen Briefen. Es schien ihm so lächerlich, gerade in dieser Stunde. Sie dankte mit einer leisen Bewegung des blonden Hauptes und nahm Platz. Er sah ihr schönes, tiefernstes Profil. Die Wimpern waren gesenkt. Sie vermied es jetzt, mit ihren Augen den seinen zu begegnen. Er schaute sie unschlüssig an. Dann ging er in sein Arbeitszimmer, das sich links an die Flucht der anderen Räume anschloß. Er konnte doch nicht wohl in denselben vier Wänden mit ihr bleiben. Aber die Türe mußte er offen lassen. Sonst hörte er es nicht, wenn die Ärzte aus der Krankenstube kamen. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und blickte, ohne sich zu regen, in das grünumflorte Licht der elektrischen Lampe. Langsam schlichen die Minuten dahin. Alles war still. Draußen, vom Kurfürstendamm her tönte zuweilen das ferne Surren der elektrischen Wagen, die nach dem Grunewald und zurück sausten, die dumpfe Hupe eines Automobils, und im Nebengemach, wo Vera von Vogt harrte, ein paarmal ein schweres Aufatmen, das leise Rascheln ihres Kleides . . . dann rührte sich auch da nichts mehr.

Endlich hielt er es nicht mehr aus. Er wollte wenigstens bis an die geschlossene Türe der Krankenstube gehen und horchen, was eigentlich die Doktoren sich da drinnen erzählten. Auf den Fußspitzen trat er in den Wohnraum. Vera hörte ihn nicht. Sie war, ihm den Rücken drehend, aufgestanden und eben im Begriff, die Jacke ihres braungelben Covercoatkostüms, die ihr in der Zimmerwärme zu heiß wurde, auszuziehen. Sie hatte schon den einen Ärmel abgestreift, unter dem das Weiß ihrer wollenen Bluse aufleuchtete, als sie ihn dicht hinter sich bemerkte. Sie machte rasch zwei Schritte seitwärts, aber er war schon zu nahe. Es gab da Selbstverständlichkeiten der äußeren Form, die über alles andere siegten. Er mußte ihr beim Ablegen der Jacke behilflich sein. Sie berührten einander, als er das Kleidungsstück in Händen hielt. Sein Herz pochte jäh. Stumm legte er das Gewand, von dem ein schwacher Veilchenduft aufstieg, auf einen Stuhl in der Ecke. Dann kam er in die Mitte des Zimmers zurück, wo Vera noch immer stand. Und nun wandte sie den Kopf nach ihm und frug halblaut: »Wann kommt Ihre Frau Gemahlin denn zurück?«

»Ich weiß nicht. Meine Depeschen erreichen sie nicht!«

Nachdem ihre Stimmen verklungen waren, schien es ihm, als hätten zwei fremde Menschen in diesem Raume miteinander gesprochen, nicht er und sie. Beide schauten sich an und mit erkünstelter Selbstbeherrschung wieder weg. Und so, den Blick nach dem Fenster, frug sie gepreßt: »Wie fing das denn eigentlich so plötzlich an mit Karla?«

Wohl oder übel mußte er ihr berichten. Während er sprach, empfand er zu seinem Unbehagen, daß daraus immer mehr statt einer Mitteilung eine Rechtfertigung wurde – eine Erklärung, weswegen am Montag nachmittag das Kind nicht zu ihr gebracht worden sei und weswegen infolge seiner Jagdabwesenheit die Dienstboten die ersten, energischen Schritte verzögert hätten, und weswegen er jetzt sie habe auffordern lassen können, zu kommen . . . wie er auch nach Worten suchte: – als sie zum Schluß langsam den Kopf nach ihm drehte, lag in ihren großen, graublauen Augen so viel von dem stummen Urrecht der Mutter, daß er fast befangen schloß: »Jedenfalls . . . Vorwürfe kann man niemandem machen! Das kann ich beschwören, daß alles geschehen ist, was überhaupt nur möglich war! Das bitte ich, mir zu glauben!«

Sie erwiderte nichts. Das Zimmer war halb dämmerig. Aber ihm schien doch, als ob ein Anflug von bitterem Spott um ihre Mundwinkel zuckte. Dann beugte sie sich in ihrem Stuhl vor und lauschte gespannt, während ihre Rechte sich krampfhaft um eine Falte ihres Kleides ballte, und sprang jäh auf. Man hörte rasch sich nähernde Schritte aus dem Nebenzimmer. Die beiden Ärzte traten heraus, hinter ihnen die Krankenpflegerin.

Der berühmte Spezialist war ein noch junger, energischer Mann, dessen schwarze Augen kalt und durchdringend durch die Zwickergläser leuchteten. Seine Sprache klang knapp und bestimmt.

»Ah . . . da sind ja nun die Eltern . . .!« sagte er. »Je nun – ohne die Diagnose des Kollegen anfechten zu wollen . . . aber so pessimistisch kann ich die augenblickliche Sachlage doch nicht ansehen! . . . Ich hoffe, wir werden das Fieber durch hydrotherapeutische Behandlung, die ich unbedingt riskieren möchte, brechen können, ohne daß damit ernstere Komplikationen gesetzt werden!«

Er sprach vornehmlich zu dem Hauptmann Gisbert hin.

»Die Hauptsache sind halbstündige, laue Bäder. Die Krankenschwester macht ja leider einen recht erschöpften Eindruck. Da wird Ihre Frau Gemahlin am besten selber mit Hand anlegen . . .«

Georg Gisbert und Vera von Vogt tauschten einen raschen, erschrockenen Blick. Der Professor hielt sie beide für Mann und Frau. Natürlich, sie waren ja doch die Eltern des Kindes da drinnen. Auch der Sanitätsrat, dem jetzt erst einfiel, daß er den in Eile geholten und unterwegs im Wagen über den Fall unterrichteten Spezialisten in dieser Hinsicht nicht aufgeklärt hatte, und das Kindermädchen machten eine ratlose Bewegung. Aber die Berühmtheit ließ sich nicht stören.

»Bitte, kommen Sie mit zu der Patientin, gnädige Frau!« sagte er. »Ihr Gatte auch, wenn ich bitten darf! An Ort und Stelle kann ich Ihnen besser erklären, was geschehen muß!« Beide folgten ihm stumm an das Bettchen der kleinen Karla. Wie konnten sie da, wo am Kopfende das Leben, am Fußende der Tod Wache hielten, von ihren armseligen Irrungen und Nöten beginnen? Der Professor ließ ihnen auch gar keine Zeit dazu. Er gab ihnen bestimmt, beinahe in militärischer Schroffheit, wie sie da vor ihm standen, seine Weisungen und endete die: »Und im übrigen Kopf hoch! . . . Den Mut nicht verlieren! Nehmen Sie sich da an Ihrer Frau Gemahlin ein Beispiel, Herr Hauptmann! Sie sind doch Soldat! Aber ich glaube, sie ist gefaßter als Sie!«

Damit reichte er den beiden die Hand und empfahl sich, den sehr betretenen Sanitätsrat mit sich nehmend, der ihm erst auf der Treppe weitere Erläuterungen geben konnte. Georg Gisbert und seine geschiedene Frau standen allein in dem Zimmer. Und nun hatte sie ein Recht in diesen Räumen. Es war selbstverständlich, daß sie blieb . . .

Sie verlor keine Zeit und keine Worte. Sie begann, den Anordnungen des Arztes gemäß, sofort mit der Pflegeschwester, die sich vor Müdigkeit kaum auf den Beinen halten konnte, und dem Kindermädchen das Bad zu bereiten, und ging selbst nach hinten, um die Herbeischaffung des warmen Wassers zu beaufsichtigen. Georg Gisbert hörte, wie das Hausmädchen, das nicht wußte, wie es sich zu der Fremden stellen sollte, dort irgend eine mißvergnügte Äußerung tat, – so viele Krüge hintereinander könne sie nicht schleppen – und zur Antwort Veras ruhige Stimme: »Ach so . . . verzeihen Sie!« und er sah, wie sie der anderen die Kanne aus der Hand nahm und sie selbst herübertrug, die schlanke Gestalt trotz der Last hoch aufgerichtet.

Gleich darauf stand der Hauptmann Gisbert neben dem widerspenstigen Mädchen und herrschte sie gedämpft, aber mit zornblitzenden Augen an: »Luise – was unterstehen Sie sich! Sie haben hier zu tun, was die gnädige Frau sagt, oder Sie gehen morgen früh aus dem Haus!«

Sonst sprach er zu den Dienstboten von seiner eigenen Frau als der gnädigen Frau. Er fühlte immer mehr, wie sich in diesen Stunden der Unterschied zwischen der einstigen und der jetzigen verwischte. Es war, als ob Otti gar nicht vorhanden sei oder mit der anderen in eines zusammenflösse!

Er ging in das Krankenzimmer, wo Vera mit der Wärterin hantierte, und versetzte rasch: »Verzeihen Sie, bitte, den Vorfall! Er wird sich nicht wiederholen!«

Hinterher stach ihm etwas ins Herz. Nun hatte er zum ersten Male »Sie« zu ihr gesagt. Er wandte sich ab. Er fühlte: er konnte hier doch nicht helfen, sondern stand müßig herum, und suchte wieder sein Arbeitszimmer auf. Da lag auf dem Schreibtisch das Abendblatt. Er begann es zu lesen. Aber es war nur ein schwarzes Gewimmel von Buchstaben vor seinen Augen, und er ließ die Zeitung sinken und schaute leer vor sich hin.

Nach einiger Zeit tönten leise Schritte. Vera kam herein und versetzte: »Verzeihen Sie! Wir brauchen einen großen Kübel. Ich mag mich nicht immer an Ihre Leute wenden und hier im Hause die Herrin spielen! Haben Sie nicht irgend so etwas?«

»Ja natürlich! . . . Einen Tub!«

»Wo steht er denn?«

»In unserem Ankleidezimmer!«

Er erhob sich und schleppte die schwere Last bis an den Rand des Bettchens und setzte sie da nieder. Vera half ihm dabei. Ihre Hände berührten sich. Er sah scheu weg. Sie blieb ganz gleichgültig. Sie war nur Mutter.

Nun fehlten noch große Laken, und sie sagte: »Ich möchte nicht gerne von mir aus die Wäscheschränke Ihrer Frau Gemahlin plündern!« und sie gingen beide nach hinten. Er leuchtete ihr, während sie, ihm den Rücken wendend, vor ihm am Boden kniete und in den Spinden wühlte, und sah den Kerzenglanz von oben her in goldenem Schimmer über ihrem blonden Haar flackern, und es war ihm wieder, als erlebe er das alles nicht wirklich, sondern träume nur, daß er und Vera hier in der großen, dunklen Wohnung, in einsamer Nachtstille beisammen seien.

Zu tun gab es für ihn nichts mehr. Vera und die Schwester machten die lauwarmen Einpackungen, und er setzte sich nebenan, in Ottis Boudoir, hin und ließ in einem Dämmerzustand zwischen Nervenzittern und Erschöpfung die Viertelstunden verstreichen.

Dann erschien das Hausmädchen und meldete ihm irgend etwas. Er folgte ihr mechanisch in das Speisezimmer. Dort war an dem großen Tisch für zwei Personen gedeckt.

»Was ist denn das?« frug er noch halb geistesabwesend.

»Das Abendessen!« sagte das Hausmädchen kurz und etwas trotzig wegen des vorhin erhaltenen Verweises. Nun begriff er: da sollten er und Vera einander gegenüber sitzen und sich die Platten reichen und miteinander plaudern! Eigentlich konnte er den Dienstboten diesen wahnsinnigen Gedanken gar nicht übelnehmen. Er hatte ihnen ja selbst eingeschärft, Vera als Stellvertreterin der Hausfrau zu betrachten und ihr zu gehorchen!

»Ich habe keinen Hunger!« sagte er zu dem Mädchen. »Nehmen Sie das eine Gedeck weg und dann melden Sie der gnädigen Frau, daß für sie aufgetragen sei!«

Aber Vera von Vogt hatte daraufhin nur den Kopf geschüttelt und sich weiter mit ihrem Kinde beschäftigt. Das Mädchen berichtete es ihm nach einer Stunde, als sie kam, um im Auftrag der Dame, wie sie sie nannte, um ein Medizinglas zu bitten. Er ging selbst mit hinüber. Es war noch das alte Bild. Der Kampf gegen Fieberhitze und Tod. Er stand nur im Wege zwischen den beiden Schatten, dem hohen schlanken Veras und dem kleinen hageren der Diakonissin, die sich im Zimmer bewegten. Er fragte halblaut: »Geht es denn noch nicht besser?«

Vera antwortete ebenso leise: »Bisher noch nicht! Ich messe die Temperatur jede halbe Stunde . . .« und nach einer Pause fügte sie hinzu: »Sowie eine Wendung zum Besseren eintritt, komm' ich und sag' es!«

Das klang wie ein Ton der Dankbarkeit dafür, daß er sie noch rechtzeitig gerufen hatte und hier ungestört schalten und walten ließ. Er stellte sich an das Fenster und schaute in die Nacht hinaus. Die Straße draußen war leer und totenstill. Die Gaslampen flackerten im Wind. Ein einzelner Mensch ging in deren Schein unten vor dem Hause auf und ab. Er oben sagte sich müßig: Was mag der wohl da machen? – dann verloren sich seine Gedanken ins Leere. Er hatte nur die eine Empfindung: das ist die schwerste Nacht meines Lebens! – Und die unwahrscheinlichste – die rätselreichste! . . . Meine Frau fort – ich hier in die Ecke gestellt und sie, die seit Jahren der Schatten zwischen uns war, plötzlich zu Fleisch und Blut geworden, als Herrin in dem schlafenden Hause . . .

Wieder mochte eine lange Zeit verronnen sein. Da klang von hintenher Kindergeschrei. Eines der beiden Kleinen war erwacht. Er eilte hinüber. Der Lärm durfte die Kranke nicht stören. Aber auf der Schwelle des Gemachs blieb er betroffen stehen.

Vera war schon da. Sie wiegte das kleine, zappelnde Geschöpf auf den Armen, so daß sein Wimmern bald verstummte. Dann legte sie es wieder zurück in sein Bettchen. Ein weicher Ausdruck war dabei auf ihrem Gesicht, wie der einer Mater Dolorosa. Sie schien ihm ganz verändert gegen früher, alle Hochfahrenheit und Oberflächlichkeit in einem tiefen, leidvollen Ernst verklärt. Er hatte sie nie so wunderbar schön gesehen, wie in diesem Augenblick, wo sie, vom goldenen Schein der Kerze umflossen, sein Kind – nur seines – in ihren Händen hielt . . .

Er trat in den Flur zurück. Dort konnte er sich nicht helfen. Er brach in heiße Tränen aus. Wem sie galten – ob seinem kranken Töchterchen – ob seiner einstigen Frau – ob diesem ganzen wirren, so wehen, so seligen Ding, das man Leben nennt – er wußte es nicht. Er weinte, wie ein Mann weint, der sonst kein Naß in den Augen kennt . . . weinte aus seinem Tiefsten heraus.

Vera ging an ihm vorüber. Sie sah die Tränenspuren an seinen Wimpern. Aber sie frug nicht. Ihm schien es, daß sie ihn verstand. Und als er ihr nach einiger Zeit nachschaute, traute er seinen Augen nicht. Dort im Zimmer, dessen Tür offen stand, lehnte sie, von ihm abgewandt, an dem großen Bücherschrank, den Blick am Boden, und ein lautloses Schluchzen erschütterte ihren schlanken, leicht vornübergebeugten Körper. Sie weinte, wie er. In dieser Stunde waren sie einander gleich.

Dann trafen sich ihre nassen Blicke. Er trat langsam heran. Sie sprachen kein Wort. Und doch schien ihm, sie seien sich über Jahre der Verbitterung und Entfremdung hinweg plötzlich näher gekommen. Und ein Ahnen sagte ihm, daß sie so wenig wie er nur um das Kind allein geweint hatte . . .

Die Mitternacht war schon vorüber. Es hatte sich nichts mehr ereignet. Er saß da, in einer dumpfen Ergebung, und wartete, wie das Schicksal kam . . . wann das Schicksal kam. Da vernahm er Veras Schritte – noch flüchtiger und elastischer als sonst. Er sprang auf, als sie über die Schwelle trat. Ihr Angesicht war belebt, ihre Augen leuchteten. Sie sagte schnell: »Es geht vorwärts! Seit einer Stunde fällt das Fieber fortwährend!«

Sie eilten zusammen hinüber zu ihrer Tochter. Das spitze, kleine Antlitz war gerötet, die Augen matt, aber sie atmete schon viel ruhiger. Sie lag friedlich da. Und noch stiller saß daneben die Krankenschwester mit geschlossenen Lidern. Sie war vor Erschöpfung eingeschlafen.

»Man hat ihr viel zu viel zugemutet!« sagte Vera. »Sie hat mir selbst gestanden, daß sie seit drei Nächten kein Auge mehr zugemacht hat. Sie hilft uns nichts mehr. Und allein kann ich nicht! Wir müssen jetzt zusammen weiter arbeiten!«

Sie zeigte ihm, wie das Leintuch aus dem Wasser genommen und entfaltet und um den Körper der Kleinen geschlagen werden mußte. Gemeinsam pflegten sie ihr Kind. Sie schulten sich ineinander ein. Sie verständigten sich durch kurze Worte. Sie unterstützten einander in ihren Handgriffen und achteten es nicht, wenn sie selber dabei zusammenstießen. Sie waren nur noch zwei Menschen, die um einen dritten mit dem Verhängnis kämpften, weiter nichts. Als er einmal im Eifer sich vergaß und, in der Erinnerung der Gewohnheit von früher, leise flüsterte: »Nein . . . leg doch den Zipfel vom Laken rechts herüber . . . so!« – da zuckten wohl beide zusammen und schauten erschrocken auf beim Klang des gespenstigen »Du« von einst, aber gleich darauf taten sie, als wäre nichts geschehen, und fuhren in ihrer Arbeit fort.

Das Fieber sank langsam und stetig. Zoll um Zoll kämpften sie sich gegen die Krankheit vorwärts. Die Nacht draußen blieb dunkel und still. Es war, als sei in ihren schwarzen Fluten alles andere versunken und vergessen und nur noch das erste und einfachste übrig geblieben, das, was am Anfang aller Dinge, am Beginn der Menschheit stand: Vater, Mutter und Kind.

Zögernd rückte die Zeit vor. Die beiden wurden nicht müde, so blaß auch ihre Gesichter gegen Ende der durchwachten Nacht erschienen. In einer Pause in der Pflege ging Vera in die Küche hinüber und machte Kaffee. Das übernächtige Hausmädchen legte Gedeck und Geschirr im Eßzimmer auf, und nun saßen sie beide dort wirklich einander gegenüber und tranken ihren Kaffee und fanden gar nichts dabei. Es war selbstverständlich in der Kameradschaft dieser Stunde. Deren zwingende Not war hundertfach stärker als alles, was als Sitte und Satzung draußen unter den Menschen galt. Von denen waren sie ganz abgeschieden in dieser Einsamkeit, diesem unermeßlichen Schweigen der schlafenden Weltstadt.

Die Millionen, die da träumten, hatten ihre Sorgen vergessen. Die ihren waren wach, aber sie verblichen, je mehr im Fortschreiten der Besserung das erste fahle Grau durch die Fenster lugte. Die Hoffnung war da. Sie lag wie ein Morgenrot auf ihren Zügen. Sie sprachen lauter miteinander, ein paarmal lachten sie in ihrem Eifer, wenn sie sich gegenseitig beim Bedienen der kleinen Patientin hinderten. Es war wie ein Übermut des Sieges über diese schwere Nacht. Nun war die bezwungen. Das Licht kam – das Leben.

Berlin wurde wach. Unten auf dem Asphalt rumpelte eine einsame Frühdroschke vom Bahnhof. Die Straßenbahn auf dem Kurfürstendamm nahm ihr einförmiges Surren und Sausen wieder auf, die Milchwagen klingelten, die Bäckerburschen pfiffen, es regte sich überall im Hause. Die kleine Karla hatte jetzt ganz klare Augen und blasse Wangen. Sie lag zufrieden in den Kissen und erzählte etwas davon, daß sie nachmittags im Tiergarten spazierengehen wolle, mit Papa und Mama. Da würden sie wieder die Goldfische füttern. Und dann sagte das Kind: »Sonst warst immer du da, Papa, oder du, Mama! Aber jetzt seid ihr alle zwei da, das ist doch viel netter!«

Sie schwiegen beide. Aber die Kleine forschte beharrlich weiter: »Du, Mama!«

»Ja, mein Schatz?«

»Warum ist das denn nicht immer so?«

Sie tauschten einen stummen Blick. Dann versetzte Vera von Vogt: »Mein Karlachen – man kann nicht immer so im Leben, wie man möchte! Wenn du älter wirst, wirst du das begreifen! Und nun schwatze nicht mehr, sondern schlaf! . . . Sonst ist der Herr Doktor auf uns böse, wenn er kommt!«

Ihr Töchterchen seufzte und schloß die Lider. Noch im Halbtraum war sie bei dem Spaziergang im Tiergarten und murmelte plötzlich bestimmt vor sich hin: »Aber Tante Otti muß auch mit, nicht wahr, Papa?« – dann schlummerte sie fest ein und blieb so, bis der Sanitätsrat gegen halb acht Uhr morgens erschien.

Der untersuchte seine Patientin und meinte dann: »Na, das ging ja noch gut ab! . . . Nun sind wir wohl überm Berg! Ich glaube, gnädige Frau, das haben wir in erster Linie Ihrer Pflege zu danken!«

Vera antwortete nicht gleich. Sie fuhr sich vor dem Spiegel mechanisch mit der Hand glättend über ihr in Unordnung geratenes Haar. »Dann kann ich ja jetzt also gehen?« frug sie endlich.

»Ja, Gefahr ist keine mehr, gnädige Frau!«

»Guten Morgen, Herr Sanitätsrat!«

Georg Gisbert half ihr im Nebenzimmer in ihre Jacke. Dann begleitete er sie auf den Flur hinaus und bis zur Eingangstüre. Da blieb sie stehen. Es war eine kurze Pause.

»Nun bleibt unser Kind leben!« sagte sie endlich leise.

»Ja, Gott sei Dank!«

Wieder war ein Schweigen. Dann frug sie in einem gepreßten Ton: »Darf ich es in diesen Tagen noch sehen?«

»Aber das ist doch jetzt selbstverständlich!«

»Jeden Tag?«

»So oft du . . . so oft Sie wollen!« Er war verwirrt und setzte hinzu: »Sie hören ja, was der Arzt sagt! Es ist Ihr Verdienst! Es ist wie ein Wunder: wir haben Karla wieder!«

»Wir haben Karla wieder!«

Beide atmeten schwer auf und schwiegen. Plötzlich hielt Vera mit abgewandtem Gesicht ihrem ehemaligen Gatten die Hand hin. Er verstand, wie sie es meinte, und nahm sie und hielt sie eine Sekunde in der seinen. Beider Augen waren feucht. Keiner sah den anderen an. Dann drehte sie sich zur Seite und ging.

In die Wohnung zurückkehrend, fand Georg Gisbert dort eine eben eingetroffene Depesche. Der Schwiegervater telegraphierte ihm, daß Otti soeben, früh morgens, ahnungslos und ohne unterwegs von einer Nachricht erreicht worden zu sein, von Köln nach Worms zurückgekehrt sei und mit dem nächsten Mittagsschnellzug nach Berlin abreisen werde.

Gerade heute war da unten am Rhein der Hochzeitstag der Schwester. Georg Gisbert setzte sich und schrieb ein Telegramm an seine Frau:

»Karlas Krise glücklich überwunden. Keinerlei Gefahr mehr. Bleibe nur ruhig in Worms und feiere Dein Fest!«



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