Rudolph Stratz
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Rudolph Stratz

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XV.

Das große Staunen – das große Nichts – die Dumpfheit gegenüber dem Schicksal . . . Georg Gisbert schaute aus trockenen Augen ins Leere, als er am nächsten Morgen in Zivil im Schnellzug nach Schlesien saß, dem ersten, den er nach rasch eingeholtem Urlaub benutzen konnte. Um ihn waren allerhand Fahrtgenossen. Die schwatzten vom Wetter – von Spirituspreisen – vom Schweidnitzerkeller in Breslau – draußen zog das Land vorbei – Wassergeglitzer und Buchengrün, Heumahd und Roggenreife – das alles war so unwahrscheinlich . . . irgend jemand sprach ihn an . . . er antwortete zuerst nicht, und als dann sein Gegenüber, ein Schnittwarenreisender, gereizt sich verbeugte: »Verzeihen Sie . . . ich wußte nicht, daß man mit Ihnen nicht reden darf!« sagte er mechanisch vor sich hin: »Meine Tochter ist gestern abend gestorben!« und nun erst, bei dem Klang seiner eigenen Stimme, dem plötzlichen Schweigen, das ihr in dem Abteil folgte, einem gemurmelten: »Verzeihen Sie!« von drüben, glaubte er selbst wieder daran und hielt die Hände zwischen den Knieen zusammengepreßt, den Kopf vornübergeneigt, den Blick am Boden, und horchte auf das eintönige Rattern der Räder, die unermüdlich mit ihm in der Richtung nach dem Sterbehaus rollten.

Dort empfing ihn vom im Eingang die Mutter. Die alte Exzellenz fiel ihm weinend um den Hals. Eine Weile konnte sie vor Schluchzen nicht sprechen. Auch er stand stumm und sah die offenen Fenster, die offenen Türen, das verweinte Hausmädchen mit einem Totenkranz in dem dämmerigen Flur und dachte sich das Unbegreifliche: ›Wir hier sind Lebensende und Lebensmitte. Warum hat sich der große Schnitter gerade den Lebensanfang geholt – das, was nach uns kommen und auf Erden atmen sollte?‹

Neben ihm sagte die greise kleine Generalin, das Tuch vor den nassen Augen: »Mein armer Georg . . . sei mir nicht böse . . .«

»Dir, Mama?«

»Ich bin so unglücklich . . . ich mach' mir solche Vorwürfe . . . ich hätte dir abraten sollen, das Kind aus dem Hause zu geben . . .«

Er zuckte zusammen. Sie fuhr fort: »Der Finger Gottes, Georg! Wir haben die Karla gehen heißen! Da ist sie gegangen. Weiter, als wir selber wollten!«

Er nickte nur: Das war die Last, die seit Mitternacht auf ihm wuchtete, dies furchtbare: ›Dein Kind war dir zu viel. Nun bist du von ihm frei. Warum mußte auch ein zwiespältiger, schwerblütiger Mann gleich dir den Rat eines lachenden Lebenskünstlers wie des Schwiegervaters vom Rhein befolgen?‹ Aber er blieb aufrecht. Er versetzte aus trockener Kehle: »Wenn es eine Schuld ist, ist es nur meine! . . . Und geschehen ist geschehen!«

Damit ging er nach der Flurtüre, zu Karlas Zimmer. Auf der Schwelle blieb er noch einmal stehen und frug mit erstickter Stimme: »Hat sie noch nach mir gefragt?«

»Ja. Gewiß. Auch nach der Mutter. Aber vor allem nach Tante Otti. ›Tante Otti‹ – das waren beinahe ihre letzten Worte . . . Das Kind muß sie furchtbar lieb gehabt haben . . .«

Die alte Exzellenz begleitete ihren Sohn nicht in das Sterbezimmer. Sie schloß sacht die Türe hinter ihm. Er stand allein vor seinem toten Töchterchen, das auf dem Bette aufgebahrt lag, die mageren Hände gefaltet, vom Fenster her ein sommerlicher Lichtschein über dem spitzen, wachsfarbenen Gesicht, das so sonderbar ernst und reif, beinahe wie das einer Erwachsenen aussah, so als sei sie nun Mitwisserin eines großen Geheimnisses. Ihre Augen waren geschlossen. Er beugte sich nieder und küßte sie auf die Stirne, auf dieselbe Stelle wie beim Abschied gestern vor acht Tagen, und richtete sich wieder auf und blickte geistesabwesend auf sie hinab und fühlte den kühlen Hauch der Eiskübel unter dem Bett und den kränklich-süßen Duft rasch welkender Blumen und sah draußen auf der Straße die Leute gehen . . . zwei dicke Herren, die sich prüfend beäugten, dann plötzlich erkannten und einander mit offenen Armen entgegenliefen . . . da eine Dame . . . ihr winziges, weißes Hündchen gehorchte ihr nicht . . . sie lachte und bückte sich und klapste es – es war Sonnenlicht auf ihrem weißen Strohhut . . . wie Goldgefunkel in den grünen Bäumen dahinter . . . da sangen die Vögel . . . Leben . . . Leben . . . Und hier drinnen lag dies kleine Geschöpf . . . dies wissende . . . dies stumme . . . und schwieg . . .

Der Atem hob sich ihm schwer aus der Brust. Noch konnte er nicht weinen. Er war noch zu betäubt. Er schaute ungläubig um sich. Da erhob sich in der Ecke eine Dame, die da still gesessen, ohne daß er sie bemerkt hatte. Seine frühere Frau stand vor ihm.

Er hatte nicht an sie gedacht. Er hatte überhaupt an nichts gedacht. Nun ward ihm erst klar, daß er ja durch die Fahrt nach Magdeburg beinahe einen ganzen Tag verloren hatte, daß sie also einen großen Vorsprung vor ihm haben mußte. Es war ganz natürlich, daß sie schon längst da war.

Sie trat langsam auf ihn zu. Ihre großen blauen Augen schwammen in bitterem Naß. Der Schmerz hatte die Strenge und Kühle ihrer Züge vergeistigt. Sie nahmen sich schweigend bei der Hand. So standen sie vor ihrem Kinde. Plötzlich brach sie, deren Lider schon ganz gerötet waren, in ein neues, leises, klagendes Weinen aus, und nun flossen auch ihm die Tränen. Und dies halblaute Schluchzen war lange Zeit der einzige Laut in dem Gemach.

Endlich versetzte er gedämpft, immer noch Veras Rechte festhaltend und ohne sie anzusehen: »Wann bist du denn gekommen?«

Es schien auch ihr ganz natürlich, daß er »du« zu ihr sagte – zwei Menschen, die ihr eigen Fleisch und Blut beklagten – und sie erwiderte: »Gestern nachmittag um fünf.«

Er hob den Kopf. Wie war das möglich? Sie ergänzte: »Ich war in der Nähe, in Breslau, bei der Dame, bei der ich nächstens Gesellschafterin werden sollte. Dorthin haben Pfennigreuters die Depesche aus Zehlendorf nachtelegraphiert! Da bin ich gleich hierher . . .«

»Und da hast du sie noch . . .?«

Sie nickte unter Tränen.

»Ich bin gerade noch zurecht gekommen . . .«

»Und sie hat dich noch erkannt?«

»Ja. Das heißt, ich glaube fast, sie hat mich für deine Frau gehalten!«

Wie seltsam dies ›deine Frau‹ aus ihrem Munde klang! In dem Schweigen darauf kam ihm der Gedanke an das, was er Vera geschrieben. Er frug hastig: »Wann bist du aus Zehlendorf weg?«

»Sonnabend morgen!«

»Da hast du meinen Brief gar nicht mehr bekommen?«

Es reute ihn, kaum daß er es gesagt. Sie wandte ihm jäh ihr blasses Gesicht zu.

»Welchen Brief?«

»Ach, laß nur jetzt!«

»Was stand in dem Brief?«

»Ich sag' es dir später!«

Sie flüsterten beide nur in Gegenwart der Toten. Ihre Summe bebte: »Deine Mutter hat mir davon gesprochen . . . heute nacht. Du hattest den Gedanken, mir Karla zu geben . . .?«

»Ja.«

»Das steht in dem Brief, der in Zehlendorf liegt?«

»Ja.«

»Ich sollte sie haben – ganz für mich?«

»Ja.«

»Wann denn?«

»Jetzt gleich. Heute!«

Sie schaute ihn fassungslos an. Ungläubig. Dann plötzlich fiel sie mit einem verzweifelten Schrei vor dem Bett auf die Kniee. Sie umhalste die kleine Tote, sie preßte heiße Küsse auf die blassen Lippen, sie sprach den tauben Ohren gut zu – in abgerissenen, atemlosen Worten, in kindischer, hilfloser Zärtlichkeit – nun wurde ja alles gut – nun hatte sie sie ja . . . komm, komm, mein Kind . . . komm zur Mama! . . . und dazwischen wieder ein jähes Schluchzen des Schmerzes, und der Mann hinter ihr stand schweigend und düster da, das Haupt gesenkt, die Hände verschlungen. Er sah das Zucken ihrer schlanken Gestalt, die jetzt noch etwas so Mädchenhaftes an sich hatte, daß es beinahe war, als beweine da eine ältere Schwester die jüngere – er hörte ihren Jammer und kam sich langsam, wie in einer Helle von oben, gleich einem Verbrecher vor. Er war der Schuldige. Er hatte Mutter und Kind getrennt. Da lag die kleine Leiche – nicht sein Wille – aber sein Werk – und sprach in der Stille des Zimmers: ›Ihr liebt mich jetzt zu spät. Der Tod kam dazwischen. Ihr liebt einander auch zu spät. Das Leben kam dazwischen . . .‹

Zu spät. Dies eine Wort war im Schweigen des Zimmers, und in der Seele des Hauptmanns Gisbert. Es schnitt ihm ins Herz, wie Vera da unten zu seinen Füßen flüsterte: »Mein Karlachen . . . mein Karlachen . . . komm zu mir . . . der Papa ist nicht mehr bös . . . er erlaubt's . . . mein Liebling . . . mein alles . . . komm mit zum Großpapa . . .« Sie preßte das magere Händchen, das so gelb und durchsichtig wie aus Wachs geformt aussah, an ihren Mund und ließ es wieder los, daß es schwer und tot hinabsank, und sprang plötzlich auf die Füße und starrte ihren einstigen Mann an und sagte zwischen den Zähnen: »Warum auch das noch? . . . Hast du noch nicht genug an mir? . . .«

»Was hab' ich denn getan? . . . Ich wollte dir Karla wiedergeben . . .«

»Ja, jetzt, weil du wußtest, daß sie sterben würde!«

»Vera . . . um Gottes willen . . .!«

»Jeden Schmerz, den du mir zufügst, begreif' ich! . . . Aber daß du mir aus meinem eigenen Kind eine Zuchtrute machst, das ist nicht mehr menschlich . . . das ist . . .« sie schrie auf. »Warum hast du sie mir nicht früher gegeben? . . . sag . . . sag, warum!«

Er streckte die Hand aus und wies auf das Lager.

»Und warum hast du sie früher verlassen? . . . sag mir, warum!«

Da ließ sie von ihm. Sie wich einen Schritt zurück. Sie schaute nicht nach dem Kinde, sondern zu Boden und sagte langsam, wie aus einem Traum erwachend: »Ja . . . das ist wahr . . .«

Es war, als wagte sie sich nicht mehr dem Bett zu nahen. Sie sank auf einen Stuhl nieder, der drei Schritte abseits stand, verbarg das Gesicht in den auf die Kniee gelegten Händen und brach in heiße Tränen aus, in einer gebrochenen Haltung, die deutlich verriet: sie, die da saß, war die große Sünderin – nicht vor dem Mann, sondern vor dem Kind . . .

Er versuchte, sie zu beruhigen. Er trat zu ihr, er legte ihr die Hand auf die Schulter, er redete ihr zu – er wußte nicht, ob sie ihn hörte und verstand – aber allmählich wurde ihr Weinen stiller. Sie ließ es geschehen, daß er sie aus ihrer Willenlosigkeit aufrichtete und emporzog, und es war ihm ein seltsames Gefühl, wieder diese Frau im Arm zu halten, ihre Last an seiner Brust zu spüren, die er seit Jahren nicht mehr berührt hatte, und wieder flog ein rascher und unsteter Blick von ihm hinüber nach dem Sterbelager. Es war ihm plötzlich, als sei eine Sünde hier im Zimmer . . . als knisterten irgendwo im Hause Flämmchen . . . aber dann war das schon vorbei . . . und sie sagte matt, mit halbgeschlossenen Augen: »Du hast noch mehr Kinder . . . wenn du heimfährst nach Berlin, sind für dich wieder welche da . . . Aber ich . . .«

Dabei sank ihr Haupt gegen seine Schulter. Er stützte sie stumm. Ihre Lippen zuckten.

»Ich sollte ja nicht bei dir Schutz suchen . . . ich weiß es wohl . . . Wenn das die Leute sehen, dann werden sie wieder . . . Aber nur ein bißchen . . . bis ich wieder meine Kräfte beisammen hab'! . . . Ich bin ja so mutterseelenallein auf der ganzen weiten Welt . . .«

Sie lehnte sich schweratmend an ihn, die Lider gesenkt. Er stand und rührte sich nicht. Das Kind lag still mit gefalteten Händen. Es war kein Laut im Zimmer. Draußen vor dem Fenster gingen im Sonnenschein die Menschen – ein Wagen rasselte – ein Hund bellte in der Ferne – das war alles wie ein Traum . . .

Endlich knarrte leise die Türe. Die alte Exzellenz warf einen vorsichtigen Blick hinein. Ihr Gesichtsausdruck bekam unwillkürlich etwas Hartes, als sie Veras Stirne gegen die Schulter ihres Sohnes gebeugt sah. Sie sagte nichts. Aber in ihm erwachte ein Zorn – eine Abwehr. Was in diesem Augenblick zwischen ihm und Vera vorging, daran brauchte niemand zu rühren – das konnte niemand ermessen – diese Stunde war heilig – die gehörte ihnen allein. Er frug rauh: »Was willst du denn, Mutter?«

»Es ist Mittag. Ich habe etwas zum Essen gerichtet!«

»Jetzt essen?«

»Mein lieber Georg! Wir sind Menschen! Und Menschen müssen essen, um zu leben! . . . Also komm nur . . . Sie auch, Frau von Vogt, wenn ich bitten darf . . .!«

Sie nannte ihre einstige Schwiegertochter seit der Scheidung stets »Sie« und mit ihrem Mädchennamen. Vera schüttelte den Kopf. Sie wollte hier bleiben. Aber Georg schob sie ruhig mit dem Arm, den er noch stützend um sie gelegt hatte, über die Schwelle und sagte: »Mama hat ganz recht! Mit unserem Kummer allein ist's nicht getan!«

Sie gehorchte. Aber sie rührte keinen Bissen an. Sie saß geistesabwesend da. Niemand sprach ein Wort. In diesem Schweigen ging dem Hauptmann Gisbert eine Erinnerung durch den Sinn, wie er und Vera vor beinahe zehn Jahren zum erstenmal zum Besuch bei der Mutter in diesem Raum gesessen, als jung vermähltes Paar, strahlend, lachend. Jetzt waren drei bleiche Menschen um den nämlichen Tisch, und er hörte die knappe Stimme der alten Exzellenz: »Trinken Sie wenigstens einen Schluck Rotwein, Frau von Vogt!« und draußen im Flur tappte etwas – es war der Tischler – der nahm Maß . . . und auf einmal stand der Hauptmann Gisbert auf und trat ans Fenster und hielt sich bitterlich weinend das Tuch vor die Augen. Und ebenso tat es drüben, in der Ecke des Zimmers, seine frühere Frau . . .

Die Mutter war hinausgegangen, zu dem Telegraphenboten. Fortwährend kamen Depeschen. Als eine der ersten drahtete Veras Vater: »Gott stärke Dich, mein Kind. Ps. 103, 20«, und die junge Frau nahm das Testament vom Bücherspind der alten Exzellenz und las mit nassen Augen: »Denn er schauet von seiner heiligen Höhe und der Herr stehet vom Himmel auf Erden, daß er das Seufzen der Gefangenen höre und losmache die Kinder des Todes . . .« und dann das Nachwort des alten Junkers: »Wenn ich zu hart gegen Dich war, so vergib. Mein Haus steht Dir offen!«

Sie legte stumm das Blatt auf den Tisch zu den vielen anderen. Ihre Geschwister telegraphierten aus Berlin und Hannover und Bonn und Ostpreußen, an Georg Gisbert kamen die Beileidsworte der Brüder und der Schwester aus Magdeburg und endlich auch ein Telegramm von zu Hause: »Bin tief erschüttert. Soll ich kommen? Otti.«

Diese Depesche erhielt er gerade, als er und Vera wieder in dem Sterbezimmer vor ihrer Tochter standen. Sie erschien ihm wie ein Eingriff in ihrer beider Schmerz. Seine Frau war hier eine Fremde. Sie gehörte nicht zu dieser stillen Gemeinschaft: – Vater, Mutter und ihr totes Kind . . .

Er antwortete ihr kurz: »Warte bis zur Beisetzung. Schicke Burschen mit Uniform erster Garnitur und allem Zubehör.« Auch daran mußte er denken. Und an viele andere Erfordernisse des äußeren Lebens, die ihm niemand abnehmen konnte. Er mußte zum Arzt wegen des Totenscheins, er mußte zur Polizei und auf das Standesamt und auf die Post. Das alles lenkte ihn ab. Er war ruhiger geworden, als er am Nachmittag wieder in das Haus der Mutter trat. Vera saß da am Tisch und schrieb. Wie zur Entschuldigung, daß sie imstande sei, die Feder zu führen, sagte sie, ihm ihr blasses Gesicht zuwendend: »Ich teile nur eben der Baronin, bei der ich Gesellschafterin werden soll, mit, daß ich zum ersten Juli nicht kommen kann! Ich kann doch jetzt nicht unter fremde Leute! Heiter soll ich ja auch sein! . . . Das verlangt man . . .«

Dann fügte sie rasch ihrem Brief noch einige Zeilen hinzu und versetzte, während sie ihn schloß: »Ich hab' ihr jetzt gesagt, daß ich überhaupt nicht komme! Sie soll sich nach sonst jemandem umsehen!«

Er machte ein paar Schritte zu ihrem Stuhl hin.

»Wie bist du denn überhaupt nur auf die Idee verfallen, anderer Leute Brot zu essen?« frug er gedämpft. »Du hast es doch nicht nötig!«

Sie erwiderte halblaut wie er –, es war immer, als fürchteten sie, die Schlafende nebenan zu erwecken: »Es war' schon nötig, daß ich irgend etwas aus mir machte! Und bisher hätt' ich es auch unter Fremden ausgehalten. Da ging es in einem hin. Da bildete ich mir ein, ich litte das mit, für das Kind. Aber jetzt bin ich ja frei!«

Sein Auge traf die Depeschen auf dem Tisch.

»Da gehst du zu deinem Vater zurück?« frug er.

Sie schüttelte den Kopf.

»Nein, nie.«

»Aber wohin denn dann?«

»Das weiß ich nicht!«

Nach einer Pause setzte sie hinzu: »Für mich ist nirgends auf der Welt ein Platz! Ich versteh' nicht, wie das andere Menschen anfangen.«

Das klang müde und matt. Sie ging dabei wieder zum Lager ihres Töchterchens hinüber und ordnete Blumen auf seiner Brust. Als sie da stand, sagte sie zu sich, aber ganz laut: »Hier war mein Platz. Den hab' ich verlassen. Alles, was nun kommt, das kommt davon allein . . .«

Er war ihr gefolgt. Ihre Worte hallten seltsam, feierlich wie eine Beichte in dem stillen Raum. Nun wandte sie sich zu ihm und legte die Hände ineinander.

»Georg . . . ich habe eine Bitte . . .«

Es war das erstemal, daß sie ihn wieder bei seinem Vornamen anredete. Er zuckte zusammen. Aber er beherrschte sich und sagte ruhig: »Ist es wegen Karla?«

»Ja. Georg – ich bitte dich – laß mir ein bißchen von dem Kind! Ich hab' ja so wenig von ihm gehabt im Leben. Auf dem Grabstein hat es einen anderen Namen, als ich ihn trage. Man weiß kaum mehr, daß ich seine Mutter war. Wenn du es jetzt nach eurem Erbbegräbnis überführen läßt, unter all die vielen Gisberts . . .«

»Ja, willst du es denn etwa nach Neetzow nehmen?«

Sie verneinte.

»Meine Mutter liegt doch auf dem Invalidenkirchhof in Berlin. Sie war doch die letzte Sieversdorff. Du weißt, das Geschlecht ist ausgestorben. Bitte, bitte, lasse Karla neben ihr ruhen. Dann bist du dem Grab nahe und ich auch. Jeder von uns hat sein Teil daran, und mein Kind ist mir nicht ganz fremd, unter der Erde . . .«

Sie stand dicht vor ihm, die Hände immer noch gefaltet, und schaute ihm flehend ins Gesicht. Wieder ergriff ihn das alte Schuldbewußtsein vor dem zerstörten Leben, das von da drüben zu ihm sprach. Er sagte: »Es soll geschehen, wie du es willst.«

Sie faßte schweigend nach seiner Rechten und drückte sie. Bisher hatte er nur die eiskalten Fingerchen seines Kindes in den seinen gehalten. Jetzt flutete es wie ein Strom von Leben aus der heißen Hand, die die seinige umspannte, zu ihm hinüber. Er zog langsam seinen Arm zurück. Es flackerte eine Angst in ihm, als dürften sie beide sich nicht berühren . . . nicht in diesem Hause, nicht in diesen Tagen . . . das war unheilig . . . und nebenan war der Tod . . . Dabei war in Veras Blick nur Dank, Demut . . . in ihrer ganzen Haltung, in allem, was sie sagte, nur ein banges, schüchternes Vertrauen zu ihm – dem einzigen Menschen auf der Welt, der ihr, trotz alledem, nahe stand.

So versetzte sie leise: »Ich hab' nicht geglaubt, daß du es tun würdest. Ich wußte nicht, daß du so gut bist . . .«

Er erwiderte nichts. Er beugte sich über die blasse, kleine Karla und legte ihr eine Rose auf der Brust zurecht, die herabzugleiten drohte. Die Türe knarrte leise. Es kamen Damen aus der Stadt, Freundinnen der alten Exzellenz, mit Blumen. Sie schüttelten stumm Georg Gisbert und Vera von Vogt die Hände. Sie vermuteten, daß das die Eltern seien. Sie wußten natürlich auch, daß sie geschieden waren. Es war peinlich für alle Teile. Die beiden fühlten förmlich, was den anderen durch den Kopf ging: ›Da seht ihr die Strafe des Himmels!‹ Sie tauschten unwillkürlich einen Blick und verstanden sich. Es war beklemmend, wie sie jetzt immer das gleiche dachten. Und draußen rauschten schon wieder Rocksäume und klang Geflüster und dazwischen Geknister von Totenkränzen und aus der Vorderstube die Summe des Pfarrers, wie er der Generalin Gisbert Mut zusprach und auf die Eltern wartete. Denen bangte davor. Ihre Seelen waren wund, und Georg Gisbert sagte zu seiner früheren Frau: »Es kennt uns ja hier niemand. Wir wollen lieber ein bißchen aus dem Hause gehen. Dann sind wir wenigstens allein.«

Es fiel ihm auf, daß sie ihm überhaupt nichts erwiderte, sondern sofort Hut und Schleier von der Wand nahm. Sie tat einfach, was er sagte. Sie war ganz unter seinem Willen. Leise schritten sie an der geschlossenen Türe vorbei, hinter der sie die Besucher murmeln hörten, und traten ins Freie.

Sonderbar – da war auf den Gassen das Leben im vollen Gange. Die Arbeiter strömten von ihren Werkstätten, die Geschäftsleute standen in ihren Ladentüren, pfeifende Jungen wandten neugierig die Köpfe nach den fremden Gestalten – all diese Menschen taten so, als würden sie ewig auf der Welt sein – das schien ihnen beiden verwunderlich, die eben vom Tode kamen. Sie beschleunigten ihre Schritte bis zu stilleren Straßen und Plätzen des Städtchens, und da sagte Vera nach einem langen Schweigen: »Kann ich dir etwas besorgen? . . . Ich muß heute abend nach Berlin zurück . . . es ist höchste Zeit für mich – wegen den Trauersachen . . . Morgen komm' ich wieder . . .«

Richtig – sie waren ja beide noch hell angezogen. Er in seinem Reisezivil, sie in einem grauen Kleid, das viel einfacher und bescheidener war, als er sie bisher gesehen. Sie fuhr fort, mit einer matten, schleppenden Stimme, als sei es eigentlich ganz gleich, was man spreche: »Du hast es gut! Du brauchst nur eine Handbreit Flor um die Uniform . . . aber unsereins . . .«

Wieder nach einer Pause setzte sie hinzu: »Überhaupt . . . Wenn ich denke, ich käme jetzt vom Begräbnis nach Hause und hätte da Mann und Kinder . . .«

Sie zog die schmalen Schultern zusammen, als ob es sie fröstelte. Dabei schien die sinkende Sommersonne immer noch glühend heiß durch das Laubgeäst der alten Bäume auf dem Wallgang, über den sie langsam dahinwandelten. Nur selten kam ein Spaziergänger vorbei und stutzte ein wenig und musterte im Vorübergehen die beiden auffallend bleichen Gesichter. Endlich hub Georg Gisbert an . . . zögernd . . . unsicher: »Vera . . .«

Als er ihren Namen über die Lippen brachte, war es bei dessen Widerhall in seinen Ohren wie ein Brausen – das Blut, das auf einmal angstvoll, wie gejagt, durch die Adern zum Herzen hinfloh. Sie hob rasch den Kopf, beim Klang des Wortes, und sah ihn an. Zwischen ihnen war ein Zittern. Das lief durch alle Nerven. Sie hatten Angst voreinander. Er sagte: »Vera . . . du mußt nicht verzagen . . . Du hast doch noch ein langes Leben vor dir. Du wirst auch noch dein Glück finden!«

»So wie du?«

Es spielte dabei sonderbar um ihre Lippen. Nach einer Weile sprach sie halblaut: »Ich danke für das bißchen Glück . . .«

Und dann: »Alles oder nichts!«

»Und das Ende heißt dann eben: Nichts! Alles bekommt niemand im Leben . . .«

Sie gingen weiter und weiter. Eine heiße Welle ging mit ihnen in der stillen Luft des Sommerabends und umfloß sie. Im Biergarten des Schützenhauses vor dem Tor saßen die Menschen. Das schwatzte und schmauste und rauchte und drängte sich auf den Bänken. Die Kinder liefen dazwischen. Eine Kirchweihmusik fidelte irgend einen wehmütigen Gassenhauer. Sie eilten, daß sie da vorbei kamen. Das freie Feld umgab sie. Sie waren allein. Vor ihnen dehnte sich weithin im Abendrot der Spiegel des großen Sees, an dem das Städtchen lag. Die Luft war schwer und schwül. Kein Windhauch kräuselte die Fläche. Vera sah über die hin und sagte dann dumpf zu sich – es klang wie vereinzelte schwere Glockenschläge: »Nun hab' ich nichts mehr . . . nichts mehr . . .«

Er erwiderte nichts. Ihm tat das Herz weh.

Sie seufzte auf.

»Schließlich stirbt man ja auch einmal. Das ist ein Trost. Aber daß man so viel vom Leben hätte haben können und so spottwenig davon gehabt hat . . .«

Es schien ihm seltsam, daß sie beide bei dem Verlust des Kindes immer an sich selber dachten – gerade als wäre dadurch in ihnen etwas frei geworden – eine Schranke, die sie bisher hielt – und sie sagte: »Und es wird immer trauriger, je älter man wird. Du hast es dir besser eingerichtet. Du hast doch etwas! Aber ich . . .«

»Ich hab' manches und hab' doch nichts, weil ich zu viel haben wollt'! Das ist der Fehler, daß man sich im Anfang so überschätzt!«

Sie neigte den Kopf.

»Ja, nicht wahr? Warum haben wir uns gerade herausgenommen, so viel vom Leben zu erwarten? Lieber Gott, ja! Da sitzt man wie die Kinder vor der verschlossenen Türe und denkt, dahinter brennt der Weihnachtsbaum. Aber die Türe tut sich nie auf. Und wenn, dann ist's drinnen erst recht dunkel . . .«

Ein paar Schritte gingen sie schweigend des Wegs. Kleine Wellen plätscherten in dem toten Schilf daneben. Dann versetzte sie mit erstickter Stimme: »In solch ein dunkles Loch tun sie übermorgen unsere Karla. Sag, um Gottes willen – was mach' ich denn dann auf der Welt? Jeder Mensch füllt doch irgend eine Lücke aus – jeder Steinklopfer an der Straße hat seine Stelle, wo er nötig ist – bloß ich irre herum und weiß nicht, was ich mit mir anfange, und die anderen erst recht nicht. Das kann doch nicht mit rechten Dingen zugehen . . .«

In ihm bäumte es sich, ihr zu erwidern: ›Warum bist du nicht bei mir geblieben? Das große Wunder im Leben warst für mich du! . . . Und ich für dich! . . . Nur hatten wir's nicht erkannt. Es war noch zu früh. Wir verstanden die Gnade unseres Herrgotts nicht. Wir haben sie in ihr Gegenteil verkehrt . . .‹ Aber er hielt an sich. Er wußte: War das heraus, dann gab ein Wort das nächste. Dann sprach er es auch weiter aus: ›Und daß du jetzt rastlos bist und ein unruhiger Gast auf Erden und ich ein Fremdling in meinem eigenen Hause und ein Reiter hinter der Sehnsucht her bis in die fernsten Länder, das ist, weil wir beide zueinander wollen und nicht können und doch müssen . . .‹

Er biß die Zähne zusammen und sagte sich: ›Was sind das für Gedanken? . . . Immer verboten und heute doppelt, am Todestag unseres Kindes . . . Wie ist das möglich, daß zwei Menschen sich dann erst recht aneinander geschmiedet fühlen, wenn die Kette fiel, die sie bisher zusammenhielt? . . .‹ Wieder war ein Schweigen zwischen ihnen. Sie drehten um und schritten langsam auf einem anderen Weg, durch ein Gehölz, zu dem Städtchen zurück. Die Türme und das alte Gemäuer leuchteten im Abendgold. Vera sagte: »Man lebt und lebt . . . und weiß nicht, wozu. Und ganz dahinten steht ein Stern. Man erreicht ihn ja nie . . . man macht immer nur Dummheiten wegen ihm. Aber es ist doch ein Trost, daß er da ist . . . auf dieser langweiligen Welt . . . wie hielt' man es denn sonst aus? . . .«

Sie erschien ihm verändert. Ihre Züge waren so weich, so weiblich-schmerzlich, wie er sie noch nie gesehen. Am Wege stand eine Bank. Da ließen sie sich nieder. Man sah von da weit ins Land . . . die Ebene . . . friedliche Dörfer . . . Wald . . . Sie saßen Hand in Hand und rasteten lange, ohne ein Wort zu sprechen. Nur zuweilen umpreßten sich ihre Finger in einem Schmerz, als suche einer bei dem anderen, der ihm so viel Leids im Leben angetan, seinen Schutz. Vera wurde allmählich ruhiger. Auf dem Heimweg, als sie wieder unter Menschen und in den Staub und Lärm der Vorstadt kamen, fing sie von selbst von den äußeren Dingen zu sprechen an – daß man zur Überführung des Sarges sich an die Behörden wenden und viel Papiere haben müsse – das wisse sie vom Tode ihrer Mutter her – und sie sei ihm, Georg, so dankbar, wenn er ihr auch diese schwere Pflicht abnähme – sie redete ganz fachlich mit gleichmäßiger Stimme. Schon waren sie nahe an dem Hause der alten Exzellenz, da bebte sie plötzlich zusammen. Ein Leichenwagen kam um die Ecke – einige Leidtragende zu Fuß hinterher – es war ein ärmliches Begräbnis aus dem Volke – es war schon vorbei – in das Abenddämmern hinein – aber Vera brach unter dem Memento mori mitten auf der Straße von neuem zusammen. Die Leute umher sahen neugierig auf die elegante, verzweifelt schluchzende Dame, und Georg Gisbert legte seinen Arm um sie und führte sie, die erschöpft und willenlos immer weiter weinte, rasch durch ein paar stille Quergassen nach Hause.

Dort drinnen war Ruhe. Die letzten Besucher gegangen. Die alte Dame saß einsam in ihrer Stube, und drüben über dem Flur lag das Kind still mit gefalteten Händen. Georg Gisbert hielt Vera an der Türe zurück.

»Gehe jetzt nicht hinein!« sagte er. »Es erregt dich zu sehr!«

Sie machte eine abwehrende Bewegung und schleppte sich an ihm vorbei in das Zimmer, das ganz hell vom Abendschein war. Da drinnen schrie sie beinahe auf – es war ein gequälter Laut, halb Weinen, halb Stöhnen, so als begriffe sie nicht, daß ihr Töchterchen immer noch tot sei, daß es nicht auf einmal durch ein Wunder aufstand und wandelte und ihr in seinem weißen Linnen wie ein Bote aus dem Jenseits entgegenkam. Dann hob sie das Haupt: »Warum wird mir immer alles zerschlagen?« murmelte sie. »Warum gerade mir?«

»Kein Mensch ist ohne Unglück, Vera!«

»Aber ich hab' nur Unglück! Ich bring' jedem Menschen Unglück, der mir nahe kommt . . . Herrgott im Himmel . . . wozu bin ich nur auf der Welt?«

»Komm, Vera! Wir wollen hinüber zur Mutter!«

Sie hörte ihn nicht.

»Ich könnte eine glückliche Frau sein!« sagte sie. »Mann, Kinder haben . . . alles! Andere haben's! . . . Ich nicht! . . . Wegen dir! . . . Du hast mich unglücklich gemacht! . . . Immer und ewig du . . .«

Ihre Summe bebte. Er blieb schwer kämpfend einen Schritt vor ihr. Dann traten sie jählings aufeinander zu. Ihr heißer, tränenerstickter Atem streifte sein Gesicht.

»Was hab' ich dir getan, daß ich ewig dafür büßen muß . . . an mir und an meinem Fleisch und Blut! Ich bin auch nicht schlechter als andere und werde gestraft wie eine Verbrecherin. Und wenn ich jetzt auch nur ein armseliges Wort des Mitleids von dir hören möchte, dann bist du stumm wie ein Stein . . .«

»Ich darf nicht reden, Vera . . .«

»Warum nicht?«

»Das weißt du!«

»Und wenn ich's weiß . . .«

»Dann schweig . . . schweig still . . . um Gottes willen!«

Sie hatten nur noch geflüstert. Jetzt brachen sie ab und sahen sich erschrocken in die Augen. Es war eine kurze Pause. Plötzlich sank sie vornüber, ihm wild aufweinend an die Brust. Er fing sie in seinen Armen auf, er sah ihr Antlitz vor dem seinen und küßte es und küßte es wieder und bedeckte es mit Küssen. Sie wich nicht vor ihm zurück. Sie hielt ihm den Mund entgegen. Sie nahm seine Küsse, sie erwiderte sie, immer stürmischer, immer durstiger, je heißer die seinen wurden.

Sie standen und hielten sich umschlungen. Sie hatten die Augen geschlossen und Mund an Mund gepreßt bis zum Ersticken. Sie tranken sich die Seelen von den Lippen. Sie vergaßen sich und Gott und den Tod im Zimmer und die Menschen draußen . . . die gingen da ihres Wegs, das Leben lärmte, die Zeit verrann . . . hier innen stand alles still. Da war nichts. Nur sie beide!

Dann riß sich Vera plötzlich los. Sie warf einen entsetzten Blick auf das Lager neben ihnen. Aber das Kind lag friedlich in der breiten Sonnenbahn von Gold, die durch die Fenster flutete, und es spielte im Abendlicht wie ein leises, verräterisches Lächeln über das Antlitz der Toten, so, als wollte sie sagen: ›Liebt euch nur, Vater und Mutter! Was sollte ich darüber trauern? Ich war ja durch eure Liebe . . .‹

Und trotzdem war in ihnen beiden ein Schauer. Sie schlichen auf den Fußspitzen aus dem Gemach. Sie drückten vorsichtig die Türe hinter sich in das Schloß, in einer Scheu, wie das erste Menschenpaar nach dem Sündenfall. Draußen blieben sie stehen, Aug' in Auge. Sie atmeten heiß. Hinter dem großen Flurfenster flammte der Himmel glutrot im Sonnenuntergangsschein. In ihrer beider Augen war ein Schmerz und ein Lachen: ›Es ist geschehen! Am Tod hat sich das Leben entzündet!‹ . . . Sie sanken sich wieder in die Arme und suchten ihre Lippen und blieben so stumm, und die Dämmerung kam . . .



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