Rudolph Stratz
Das deutsche Wunder
Rudolph Stratz

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XV.

Der Herbststurm brüllte über dem nächtlichen, schwer donnernden Wellensturz des Kanals. Man hörte nur dies Heulen und Schwappen. Man fühlte fliegenden Gischt wie von Eiswedeln im Gesicht, schmeckte Salz auf den Lippen. Aber man sah nichts. Himmel, Erde, Meer waren Schwarz in Schwarz. Alle Leuchttürme gelöscht. Alle Schiffsluken abgeblendet. Man ahnte das Tappen von anderen dunklen mitreisenden Gestalten auf dem schwankenden und glitschrigen Deck, vernahm Stimmen, die flüchtigen Belgiern zu gehören schienen, Yankee-Genäsel, schnelles Pariser Französisch, englisch gekaute Worte. Alles Verbündete. Aber das Mißtrauen der Nacht machte dies Unsichtbare zum Feind, und wenn vor der Abfahrt in Boulogne die Pässe auch zehnmal von den Briten, den neuen Herren der gallischen Kalkküste, geprüft worden waren. Nicolai Schjelting vermied es, mit Jemandem zu sprechen. Er stand, mit der Linken sich an dem Stahlgestrick einer Wante festhaltend und schaute unverwandt vor sich in das undurchdringliche Dunkel, als wäre es die Zukunft selbst.

Er dachte sich: Sonderbar – man sehnt sich nach den Ufern Englands wie der Schiffbrüchige nach der rettenden Insel – dieses England, das doch nur ein Stein im Petersburger Schachspiel sein sollte! Wie oft habe ich an der Newa meine These entwickelt: das umgedrehte Problem Napoleon. Vor hundert Jahren verband man sich mit England, um Frankreich zu schlagen. Jetzt, um es zu retten. Das Rätsel von Waterloo hieß drei zu eins. Das Geheimnis von 1914 würde fünf zu eins heißen. Eine sichere Methode bot nur die Zahl. Auf Zahlen verstand man sich in der City . . .

Ein greller, prüfender Scheinwerferstrahl von hohem Mast im Finstern. Undeutlich drüben Etwas wie ein schwer in den Wogen rollender Saurier der Urzeit. Grimmige Fühlerpaare von Kanonenrohren. Wieder Dunkel. Zum zwanzigsten Mal. Diese ganze Nacht lebte von fliegenden Holländern. Man fühlte die Geisterschiffe der Briten rings um sich. Dutzende. Groß und Klein. Keine Maus kam ungesichtet durch dies Schwarz, das man mit dem Messer schneiden konnte.

Da endlich ferne, ängstliche Glühwürmchen in dem rauschenden und pfeifenden Nichts, zwei, drei, in weiter Ferne. Die Lichter von Folkestone. Ein Gedränge einer nassen, nächtigen Hammelherde von Menschen auf dem Landungssteg, der Schein elektrischer Lämpchen auf entfalteten Pässen, ein Waten im Sand durch Sturm zum nahen Strandhotel der Burlington-Gesellschaft. Wahrlich . . . unbehaglich und unwirtlich empfangen mich diese Inseln der Freiheit, dachte sich Schjelting. Er hatte sonst immer die Abwehr des Nervenmenschen, des Intellektuellen, des nachtlebigen Slawen gegen diese gesunden Siebenschläfer mit ihren Straußenmägen, ihren strahlenden Wolfszähnen, ihrer Freude an Fußbällen und Pferdehufen, an Pfund-Shares und Portweinflaschen, an eisigem Morgen-Tub und Kirchengesang gehabt. Er fröstelte auch jetzt in den Luftwirbeln zwischen flackernder Kaminglut und kalt durch das Fenster sprühender Salzbrise. Diese Zugluft war überall in England. Man konnte ihr nicht entgehen. Alle Türen zwischen den Orkney- und Scilly-Inseln standen jahraus, jahrein offen. Man ging mit bloßem Kopf im Regen. Man fand es scherzhaft, wenn es in die Badewanne schneite. Es war ein furchtbares Land.

Dann aber sagte er sich: Gerade recht! So muß ein Land sein, um die da drüben zu überwinden. Diese Angelsachsen, die keine Pelze und Gummischuhe kennen, keine Hamletstimmungen und kein Zahnweh, das sind die wahren Widersacher der Teutonen. Sie werden diesen Riesen da drüben zwischen Maas und Njemen besiegen. Denn sie sind seines Stammes und Bluts. Wir werden sie zum Schluß am Bosporus und Amur nicht so übers Ohr hauen können, wie es sich die breite russische Seele vorgesetzt hat. Dafür nehmen sie uns die schwerste Arbeit ab. Sie haben den langen Atem, die zähen Nerven, den stierstarken Willen. Sie werden ihr Bestes und ihr Alles tun, um the Kaisers Macht zu zerschmettern.

Und nun freute er sich auf das gewaltige Schauspiel, das ihm die nächsten Tage bieten würden, dies Gegenstück zu dem deutschen Vulkan, dies sich Aufbäumen des ganzen, see- und weltbeherrschenden Inselvolks, ein einziger Schrei, ein Wille, ein Schlag, daß es auf dem Erdenrund durch die Jahrhunderte wiederhallte . . .

Da unten, im Frühstücksraum des Burlington-Hotels, saß schon trotz der frühen Morgenstunde ein junger Gentleman. Offenbar ein Offizier. Das Antlitz gebräunt von der Front und bleich von Strapazen, aber freimütig und fröhlich. Er erzählte den Ladies um ihn seine Abenteuer:

»Ein kolossales Trompeten . . . ein betäubendes Krachen – da stand er auf zehn Schritte vor mir . . . weiß Gott, ein stattlicher Bursche . . . stürzte sich wie ein Dämon auf mich . . .«

»Oh . . . oh . . .«

»Aber ich kam noch zum Schuß. Mitten in die Stirne. Er lag da . . .«

». . . oh . . . in der Tat . . .«

»Seine Zähne stehen in meinem Rauchzimmer!«

»Sind sie lang?«

»Sechs Fuß. Es war einer der größten Elefanten, der je in Nairobi erlegt wurde.«

»Und was machen Sie jetzt, Mr. Jackson?«

»Ich denke, ich gehe für den Winter nach Ägypten.«

Am Nebentisch rieb sich Schjelting die Augen. Der Saal füllte sich allmählich mit Frühstücksgästen. Ausgeschlafenen, zufriedenen und hungerigen Menschen. Man brachte Haferbrei und Hummern, gebackene Weißfische und Schinken mit Eiern. Man aß und trank. Ein alter Herr in Reithosen meinte heiter:

»Schlechtes Wetter heute!«

»In Torquay waren gestern anderthalb Stunden Sonnenschein!«

»In Ventnor zwei!«

»Ich glaube, daß es Mittags eine Stunde hell wird!«

»Oh – sagen Sie das nicht, Mr. Thompson!«

»Wir haben seit acht Tagen rauhes Wetter hier an der Südseite . . . etwas Jam bitte . . . danke . . .«

Wenige warfen einen Blick in die Zeitung. Nur ein junger Mann sagte zwischen zwei gerösteten Brotschnitten zum andern: ›Goldgeränderte Werte flau!‹ und legte das Blatt wieder weg. Nicolai Schjelting stand auf, zahlte und fuhr nach London. Vor den Wagenscheiben war das friedliche Bild des endlosen englischen Parks. Grüne Wiesenflächen unter entblätterten Eichengruppen, werdende Herden, Schlösser und Städtchen, und, trotz der Vormittagsstunden schon überall Alt und Jung, Groß und Klein, Hoch und Niedrig auf den Hunderten von Spielplätzen bei Golf und Cricket und Fußball. Überall zufriedene, sorglose Gesichter. Tiefste Ruhe. Schjelting erschien es wie ein böser Traum. Da endlich riefen auf einer Junction die Zeitungsjungen: »Großer englischer Sieg!« Er griff hastig nach der Nummer.

»Wo?«

»In Australien, Sir! Zwei Pen«, Sir! Danke, Sir!«

In Australien? Er entfaltete und las: »Die Birmingham Mannschaft schlug im Fußball-Match den Melbourne-Team mit 6:2.« Er zündete sich nervös eine Zigarette an und frug den einzigen Mitreisenden:

»Vergebung, Sir: Kümmert man sich denn eigentlich hier gar nicht um den Krieg?«

Sein Gefährte war ein Londoner Geschäftsmann mit einem glattrasierten, roten Bulldogg-Gesicht, dem man es förmlich ansah, daß er noch nie aus England herausgekommen war. Ein richtiger Cockney von der Surrey-Seite. Er sagte:

»Wohl: der Krieg wird nicht lange dauern!«

»Meinen Sie das?«

»Man wird sie aus ihren Löchern herausgraben . . . haha . . . lassen Sie nur Mr. Churchill gewähren!«

»Gewiß . . . aber . . .«

»Man wird Wilhelmshaven besetzen, die Anlagen der Mrs. Krupp in die Luft sprengen. Der Frieden wird in Berlin diktiert. Der gute, alte Lord Beresford wünscht das ausdrücklich!«

»So? . . .«

»Unsere Sikhs und Gurkhas werden sich auf den Bänken von Potsdam sonnen . . .«

»Wer sagt das?«

»Lord Curzon, Sir, der frühere Vizekönig von Indien!«

»Und Sie sind davon überzeugt, Sir?«

»Ich möchte nicht klüger sein als die Lords, Sir!«

Der Geschäftsmann nahm sich ein Notizbuch vor. Es schien keine Handelseintragungen zu enthalten, sondern die Monats-Abrechnung seiner Rennwetten mit einem Buchmacher, die er stirnrunzelnd prüfte. Zwei athletische junge Männer stiegen ein. Offenbar aus einem der nahen Schlösser. Sie lachten. Sie hatten miteinander gewettet, ob Nevermore II väterlicherseite eine Enkelin von ›Black Prince‹ oder des Derbysiegers ›Primrose‹ sei. Sie reisten jetzt nach London, um das festzustellen, und sprachen davon die ganze, zwei Stunden lange Fahrt.

Auf der Waterloo-Station in London änderte sich jäh das Bild. Es erinnerte plötzlich an das fiebernde Festland. Schjelting atmete auf. Da waren endlich wieder die tausendköpfigen Menschenmassen auf dem Bahnhof, das wilde Stimmengeschwirr und Geschrei der Extrablatt-Verkäufer unter der rußigen Glaswölbung, da tauchten endlich Khaki-Uniformen auf – eine Gruppe Offiziere, ärgerlich und aufgeregt im Wortwechsel mit dem Betriebsleiter:

»Sie müssen uns Durchgang zu unserm Zug verschaffen!«

»Unmöglich . . .«

»Er fährt sonst ohne uns ab! Wir müssen hinüber nach Frankreich! Wir müssen an die Front!«

»Wie soll ich es machen? Ich bin dafür verantwortlich, fünfzigtausend Menschen innerhalb einer Stunde hinaus zu dem Fußball-Match zu befördern! Urteilen Sie selbst, ob ich mich da noch um Einzelne kümmern kann!«

Nicolai von Schjelting hatte genug gehört. Er fuhr über die Themse in den Westen. Es war da und in der City das alte London. Geschäftsgewimmel bis zum Temple, Vergnügungsbummel am Strand, vornehme Ruhe vom Trafalgar-Platz bis zum Hyde-Park. Jeder ging seiner Arbeit, seinem Nichtstun, seinem Sport nach wie sonst. Nur zuweilen erinnerten große bunte Werbetafeln und Aufrufe an den Krieg. Irgend einen Krieg da draußen. England führte ja immer an einer Ecke der Welt Krieg – den Krieg, den es seit achthundert Jahren im eigenen Lande nicht mehr gesehen.

Aber Lord Kitcheners brutaler Landsknechtkopf konnte lange lebensgroß von den Straßenecken herniederblicken und sein Zeigefinger auf den Beschauer weisen: »Kitchener braucht Sie!« Niemand ließ sich dadurch in seiner Ruhe stören . . . Schjelting merkte das wieder Nachmittags in dem Klub in Piccadilly, dessen Mitglied er war. Ein alter, ausgedienter Oberst der indischen Armee schnitt da barsch jede Erörterung ab.

»England gewinnt! Fertig!«

»Sind Sie dessen sicher?«

»Ich denke britisch, Sir! . . . Haben Sie von dem köstlichen Gymkhana des Malva Bhil-Corps gelesen, Macdonald? . . . Hier . . . Unter den indischen Neuigkeiten . . .«

Und Nicolai Schjelting dachte sich: dieser vertrocknete, alte Junggeselle gehört nicht zu Europa, hat nie dazu gehört. Er ist mit achtzehn Jahren nach Indien gegangen, hat seine Zeit dort abgedient, gegen Afghanen, Aschanti, Boxer, Mahdisten gefochten. Er ist mit seinem engen Kopf auf der ganzen Erdkugel zu Hause. Ihn beschäftigen die Fragen des Stillen Oceans, Süd-Afrikas, des Panama-Kanals. Europa kennt er nur von einem gelegentlichen Aufenthalt in der Schweiz. Europa ist ihm ein staubiger, altmodischer Winkel. Ein unbeträchtliches Ding. Man betritt die Rumpelkammer nur gelegentlich, um die Ratten zu scheuchen, damit sie Einen draußen nicht stören . . . Ein kurzer Lärm. Nicht der Rede wert . . .

Dieser Anglo-Inder schien vor Schjeltings Augen plötzlich hundertfach in den Klubsesseln zu sitzen, durch Mayfair zu promenieren, er verwandelte sich in jeden zweiten Menschen in London und im Vereinigten Königreich, er war der Geist dieser Inseln selbst. Nicolai von Schjelting verließ schweigend den Klub. Er zitterte, während ihm der Diener in den Mantel half, er sagte sich in einer grauenerfüllten Ungeduld: Es muß Etwas geschehen! Man muß sie aufschrecken! Sie dämmern in ihrem Dünkel. Der Weltbrand vor ihren Toren ist für sie ein Kolonial-Krieg – einmal ein wenig näher, einmal ferner . . . Sie kommen zu spät zur Erkenntnis . . . sie kommen für uns zu spät . . .

Zu spät . . . Es war Freitag Abend. Wo er vorfuhr, waren Würdenträger und Machthaber schon zum langen Wochenende hinaus aufs Land. Bis Dienstag früh stockten jetzt alle Geschäfte. Stand die Welt still . . . Auch Sir Higgins, der Pressekönig, war nicht mehr in seinem Zeitungs-Palast in Oxford Street zu treffen. Er hatte, als leidenschaftlicher Yacht-Mann, seinen Ruheplatz auf der Seeseite des Ostens, zwischen Felixstowe und Harwich, dicht am Meer.

Es war das alte, englische Bild. Ganz England setzte sich aus fünfzehn oder zwanzig solcher Bilder zusammen. Eine ehemalige, zum Herrensitz umgewandelte Abtei, vor der man im Park, wenn der Mond aus den zerrissenen, über die nahe See jagenden Wolken heraustrat, das zahme Damwild auf breiten Wiesenflächen äsen sah, grüne Efeuteppiche über die verwitterten grauen Mönchsmauern und drinnen, im grellen Gegensatz des britischen Lebens von Zopfigkeit und up to date, die glänzendhelle Dinnertafel, die weißen Frackwesten und Hemdeinsätze der Gentlemen, die weißen Schultern der Ladies, lächelnde Gesichter, heitere Stimmen, Orchideensträuße, altes Silber. Man sprach lachend, im frischen Frohsinn des Sports vom Segelwetter morgen. Es war das Erste, was Nicolai von Schjelting hörte, als er am Tische Platz nahm. Er war zu spät angekommen und hatte sich erst umkleiden müssen.

»Rauhes Wetter in Sicht . . .«

»Umso besser!«

»Lord Pierrepont ging heute Abend in See!«

»Oh . . . ist er?«

Allgemeine Teilnahme. Wieder dieses Frösteln des Grauens bei Schjelting, als wäre er unter Verrückten. Und seltsam: Im selben Augenblick wandte sich die Lady links vor ihm, die bisher mit ihrem anderen Nachbar gesprochen, von dem ab, und sagte halblaut auf englisch vor sich hin: »Ein wahnsinniges Volk . . .«

Sie war mittelgroß, hellblond, von zarten Farben und sah doch nicht ganz englisch aus. Schjelting zuckte zusammen. Dann lächelte er.

»Oh . . . Mrs. Higgins . . . Entsinnen Sie sich unseres letzten Zusammentreffens? Vor Victoria Station? . . .«

Hannah Higgins, die Schwägerin des Hausherrn, schaute ihn unsicher an. Sie war etwas kurzsichtig. Ihre Züge zeigten nichts mehr von ihrem früheren Humor, sondern einen sonderbar starren Ausdruck. Er dachte sich: Nun ja. Eine Deutsche – oder eine gewesene Deutsche – jetzt hier als Frau eines Engländers und im Kreise der Engländer. Diese Menschen wissen ja nicht, was sie in dieser Zeit tun und sind. Plötzlich schien es ihm, als ob er und diese Fremde aus dem feinblichen Volk allein in dieser Tafelrunde das Skelett im britischen Weltschrank erblickten.

»Sie fuhren damals zur Kieler Woche!« sagte er. »Auch ich ging später nach Deutschland. Ich traf Ihren Vater. Auch Ihre Schwester! . . .«

»So . . .«

»Wie geht es Fräulein Tillesen?«

»Ganz gut . . . Aber sie ist nicht mehr Fräulein Tillesen. Sie ist vor zwei Wochen in Königsberg getraut. Wir korrespondieren über Schweden.«

Er schwieg. Dann frug er:

»Wo ist sie jetzt?«

»Wieder in Wiesbaden. Aber mein Vater wird voraussichtlich bald als beratender Hygieniker einer Armee tätig sein. Natürlich hinter der Front, bei seinem Alter. Da wird sie ihn wohl wieder begleiten!«

Um sie ein heiterer Streit. Eine Miß hob beschwörend die Hand.

»Oh – dear Mrs. Clarke . . . welch häßlicher Gedanke: Sie wollen nicht mit nach Spanien?«

»Wir reisen morgen Abend von Liverpool, um den Indianersommer bei unseren amerikanischen Freunden zu haben. Wir wollen dann bis zur Baumblüte in Japan Halt machen!«

»Wenn Sie Mrs. Isebrink schreiben!« sagte Schjelting mit einem sonderbaren Lächeln, »dann grüßen Sie sie von mir! Es ist ihr nicht gelungen, mich in München verhaften zu lassen. Sie tat ihr Bestes.«

Es sollte nur blasiert und ironisch klingen, aber er fühlte, daß auch auf seinem angegriffenen und abgezehrten Gesicht Etwas von dem leidenden Ausdruck seiner Nachbarin lag. Man litt unter diesem ewig heiteren Volk dieser fröhlichen alten Insel. Er dachte sich: Wenn ich der Mann dieser Deutschen a. D. wäre, so würde mich die Starrheit ihrer Mienen besorgt machen. Aber er, dieser Oxforder Professor, sitzt da unten mit seinem glattrasierten, schwammigen Chinesengesicht und der goldenen Brille und glänzt von Wohlwollen und guter Laune.

Ein Aufschrei:

»Oh – das wäre schimpflich!«

»Was denn, Miß Lilian?«

»Keine Regatta in Cowes im nächsten Jahr!«

»Großer Gott! Warum nicht!«

»Hier – der russische Gentleman aus Petrograd sagt es: wegen des Kriegs!«

Eine allgemeine stürmische Heiterkeit. Sir William Higgins, der Hausherr, strahlte wie ein Schuljunge über das zerknitterte, faltige Gesicht. Er, der trockene, wortkarge Zeitungskönig der City, war hier draußen am Abend der liebenswürdigste und schalkhafteste Wirt. Er drohte aufgeräumt mit dem Zeigefinger:

»Die Regatta wird sein. Glorreicher denn je. Man wird da kaum mehr an den Krieg zurückdenken. Vor Weihnachten ist er zu Ende!«

»Oh . . . Oh . . .«

»Wir werden Alle hinkommen. Auch die Deutschen werden kommen, als sei nichts geschehen!«

»Hört! Hört!«

»Sie haben bis dahin ihre Lehre empfangen. Wir haben ihre Kolonieen zwischen uns und Frankreich geteilt, und ihre Flotte samt Helgoland in Verwahrung genommen. Es wird ihnen so gut sein . . . Sie werden uns noch dankbar sein, daß wir ihnen ihren Platz in der Welt anwiesen . . .«

». . . ohne dies unchristliche Schwarz-weiß-rot auf allen Meeren!« sagte empört ein alter Herr. Der Professor Higgins neben ihm rückte an seiner Brille.

»Sie meinen, es sei ein rauhes Werk, Mr. de Schjelting? Oh – wahrlich nicht! Nichts wäre kurzsichtiger als das Säbelrasseln der preußischen Militärkaste zu überschätzen. Der Deutsche selbst ist weich und sanft . . .«

»Ihr werdet ihn kennen lernen!« sagte seine Frau wieder halblaut vor sich hin, und es war Schjelting neben ihr plötzlich unheimlich zu Mut. In diesen halblauten, eisern ruhigen Worten aus Frauenmund klang seinem Ohr Etwas nach wie der letzte, äußerste Widerhall jener furchtbaren millionenfachen Stimme jenseits der Nordsee, die hier Keiner vernommen.

»Der Deutsche liebt seine Ruhe, sein Bier, seine Musik. Wir werden sie ihm wiedergeben. Er wird gern Potsdam missen, wenn man ihm Bayreuth läßt. Wilhelmshaven für Weimar. Essen für Göttingen. Er wird, wie vor dem Fehler von 1870, glücklich bei den wahren Methoden seines Lebens sein, dem Ackerbau für das Volk, der Philosophie für die höheren Stände.«

»Dabei hast Du in Deutschland gelebt und eine Deutsche zur Frau!« sagte Hannah Higgins zu ihrem Mann laut auf Deutsch über den Tisch. Es war ein peinliches Schweigen. Frostige Gleichgültigkeit der Gentlemen, mißbilligende Augenbrauen der Ladies bei diesen fremden Lauten, die wie aus feindlicher Weite, aus fernen, fernen Schlachtfeldern herüberklangen. Und noch mehr:

»Ihr habt ja keine Ahnung, was Deutschland ist. Es wird sich rächen. Ihr werdet es furchtbar erkennen!«

»Was sagt die Lady?«

Man übersetzte es der alten Dame. Sie tat sofort, als sei sie taub, und bat um etwas mehr Haddock. Jerôme R. Higgins fühlte das Bedürfnis, seine Frau zu entschuldigen.

»Mrs. Higgins ist seit Beginn des Kriegs ernstlich leidend!« sagte er. »Sie legt mir Schweres auf. Sie sehen es. Täglich mehr!«

»Oh – oh . . . Mrs. Higgins . . .«

»Ihre Nerven versagen, weil meine Vernunftgründe versagen! Nichts ist schwieriger, als Mrs. Higgins begreifiich zu machen, daß dieser Krieg gar kein Ding von ernstlicher Bedeutung ist! Eine kleine Lektion für ihr Land. Weiter nichts!«

»Oh bitte – hören Sie es doch, Mrs. Higgins!«

»Tun Sie es uns zu Liebe! Bald ist ja Alles vorbei!«

»Sie brauchen doch keine Schiffe und nicht so viel Soldaten!«

»Ihre Landsleute werden viel ruhiger leben ohne die Sorgen der Seefahrt und die Plage mit den Kolonieen!«

»Wie gut von Ihnen, wenn Sie das einsähen!«

Hannah Higgins schaute mit einem sonderbaren Ausdruck auf die lächelnden Gesichter.

»Schauderhaft . . . diese Heuchelei . . .,« sagte sie wieder auf Deutsch. »Alles Andere könnte ich eher ertragen!«

»Was? . . . Was?«

Aber die paar, die es verstanden, hatten keine Lust, es zu übersetzen, und nun wurde auch der Hausherr nachdrücklich.

»Ich hege ernstliche Zweifel, ob man sich zur Zeit in Deutschland in englischer Sprache unterhält! Ich wünsche in meinem Hause kein Deutsch mehr zu hören! Wenigstens nicht bis zum Einmarsch dieser unwiderstehlichen russischen Riesen in Berlin! Wollen Sie mir das Vergnügen machen, ein Glas Wein mit mir zu trinken, Mr. Schjelting?«

Er hob lächelnd sein Glas. Nicolai Schjelting tat ihm Bescheid. Er wurde dabei den Gedanken nicht los: Ich und diese blonde junge Frau neben mir – wir bilden hier einen Geheimbund. Sie, die Deutsche, ahnt mit der Seele, wie es in Deutschland steht. Ich, sein Todfeind, sah es mit Augen. Und um uns das frohe Alt-England. Er konnte sich nicht halten. Er frug – und bei den ersten Worten des vornehmen Verbündeten aus Rußland trat Stille am Tisch ein.

»Immerhin: die Heere Wilhelms II. sind zahlreich!«

»Die Euren noch mehr!«

»Wir brauchen große Anstrengungen!«

»Wir machen sie! Wir sind bereit, bis zu fünfhundert Millionen Pfund auf diesen Krieg zu verwenden!«

»Silberne Kugeln . . .,« sprach der alte Gentleman von vorhin beifällig, und ein Anderer: »Wir und Deutschland im Kampf um die letzte Million! Das ist ein Rennen zwischen einem Derby-Crack und einem Youngster!«

»Der prominente Australier, den ich gestern traf, hatte Recht!« sagte Sir William. »Der Match wird im Wesentlichen durch die Kontrolle über Kupfer und Baumwolle entschieden!«

»Sie hätten das glorreiche Bankett in der Guildhall mitmachen sollen, Mr. de Schjelting! Da war ein wahrer Jubel: ›Geschäft wie immer!‹ . . .«

»Die Versicherungen bei Lloyds sind um 7⅜ . . .«

Schjelting unterbrach, mit einer ungeduldigen Handbewegung, den achtungswerten Stock-Broker. Man sah nur ihm, dem Russen, den Verstoß gegen Britensitte nach.

»Niemand kann zweifeln, daß man auf mechanischem Weg zu unumstößlichen Formeln des Erfolgs gelangt!« sagte er. »Aber ich bin bekümmert, ob dieser Weg nicht doch weiter ist, als man denkt! In der Tat: wir brauchen mehr!«

»Wir haben es!«

»Wieso?«

Sir William Higgins sah strahlend umher.

»Wohl: Soll ich das große Geheimnis verraten?«

Ein Händeklatschen.

»Ja! Ja!«

»Es ist ja gar keines mehr, Sir William! Man spricht ja davon schon in allen Klubs!«

»Oh . . . bitte! . . . bitte!«

Die Damen bogen sich neugierig vor. Der Hausherr zerlegte das mächtige Roastbeef und bat um die Wünsche der einzelnen Gäste.

»Der Gedanke ist nicht neu und wahrhaft einfach!« sagte er. »Wir hungern Deutschland aus!«

»Hört! . . . Hört!«

»Eine magere Scheibe, Mr. Ash? . . . Deutschland hat wenig Korn im Land. Wir sperren ihm jede Zufuhr. Binnen Kurzem wird der letzte teutonische Laib Brot ein Schaustück für Barnum sein!«

Er strahlte und legte der alten tauben Dame auf ihre Bitte ein besonders braungebratenes Stück vor.

»Sie werden morgen in meinen Blättern bereits einen Artikel finden: ›The Hungerkur in Germany!‹ Er ist spaßhaft zu lesen . . .«

Die Herren lachten herzlich. Die Misses kicherten. Ein mit ihnen flirtender, athletenhafter junger Gentleman meinte hoffnungsvoll:

»So ist bis zur Season Alles im Rechten?«

»Längst! Wenn die letzte Krume verzehrt ist, – was sollen dann Wilhelms Grenadiere machen?«

»Die Daheimgebliebenen werden mit ihnen ihr Brot teilen!« sagte plötzlich Hannah Higgins auf Englisch. »Die Greise. Die Frauen. Die Kinder . . .«

»Die haben doch selbst nichts!« Ihr Schwager lächelte freundlich. Er stand vor dem Braten, das blutige Messer in der Hand. »Noch ein Stückchen, Mr. Lumley? Bitte?«

»Die sollen mithungern?«

»Anders geht es leider nicht!«

»Mitverhungern?«

»Deutschland braucht sich nur zu unterwerfen!«

»Und wenn es das nicht tut? Wenn es lieber stirbt?«

». . . das mögen die Teutonen unter sich entscheiden!«

». . . dann sterben doch zuerst die kleinen Kinder . . . die zarten Frauen . . . die alten Leute . . .«

»Ja. Der Gedanke ist wahrhaft betrübend . . .«

»Und Ihr könnt das vor Gott verantworten? Ihr habt die Bibel neben Eurem Bett und sprecht hier mit vollen Backen vom Hungertod von siebzig Millionen Christen! Könnt Ihr den Aschanti-Negern noch in die Augen schauen? Denkt an den bethlehemitischen Kindermord . . .«

Jerôme Higgins erhob sich halb.

»Ich verbiete Ihnen, weiter zu reden, Hannah!« sagte er scharf zu seiner Frau. »Diese Sprache ist nicht britisch. Sie gehört sich hier nicht!«

»Also auch Du billigst das?«

»Vollkommen! Genug!«

Sobald es ging, gab die Dame des Hauses den anderen Ladies einen Wink. Alle erhoben sich. Die Herren überließen sie oben im Drawing-Room sich selbst und rückten an der Tafel beim Portwein zusammen. Sir William sagte halblaut zu seinem Bruder:

»Ich bin ängstlich, zu sehen, ob Hannah in dieser Stimmung bleibt! . . . Es wäre eine ernste Sorge für uns Alle, Jerôme!«

»Sie hat einen Briten zum Mann! Sie soll britisch sein!«

»Aber ihr Bestes, es zu werden, tut sie nicht!«

»Sie wird es schon, je mehr das ›Vaterland‹ zusammenbricht! Sie wird den Herrn preisen, hier in Sicherheit und Freiheit zu sitzen, wenn drüben die Kosacken und Turkos in Deutschland hausen! Es wird ein trauriges Schauspiel. Auch unsere Gurkhas und Australier möchte ich lieber nicht am Werk sehen! Es ist höchst schmerzlich, daran zu denken!«

Jerôme K. Higgins sprach das, die Zigarre in der Hand, mit zürnender Strenge. Sein früheres, gönnerhaftes Wohlwollen für das Land Goethes und Beethovens war geschwunden. Erst mußte da Ordnung geschaffen werden. Er hatte den Ausdruck eines respektablen Hausvaters, der mit der Rute in der Hand den Erdball mustert. Er seufzte und trank einen Schluck Port. Es war ein unter Kennern seit einem halben Jahrhundert berühmtes Faß, das schon oft die Reise um die Erde gemacht hatte, häufiger noch als die, die es austranken. Sie waren schon wieder beim Yachting. Der Wind war stärker geworden. Man hörte sein stöhnendes Heulen über der noch dunklen See. Schjelting schwieg. Sein Blut war erstarrt. Er dachte sich: da draußen jagen die apokalyptischen Reiter über Länder und Meere. Wir haben sie entfesselt. Wir haben einen Weltensturm beschworen, von dem die Menschheit noch nach tausend Jahren sich mit Schrecken erzählen wird . . . Und diese Geister sind stärker als ihre Meister. Sie wachsen uns kirchturmsgleich über den Kopf . . . Ihr aber sitzt da im brennenden Hause . . . schwatzt . . . lacht . . .

»Sie waren auf der ›Sunbeam‹, Mr. Lumley?«

»Sicherlich! Wir hatten den Tee bei Seiner Herrlichkeit!«

»Wie glorreich!«

»Gentlemen! . . . Die Ladies . . .«

Sir William Higgins, M. P., mahnte zum Aufbruch. Man stieg hinauf zu den Damen. Setzte sich mit ihnen um das knisternde Kaminfeuer, genoß das warme Behagen des großen hellen Raums in dunkler Nacht, der die Unangreifbarkeit der alten englischen Insel selber inmitten der Stürme draußen in seiner Flackerglut widerzuspiegeln schien. Hannah Higgins war nicht da. Die anderen Damen hatten nicht auf sie geachtet. Sie vermuteten, daß sie schon vor einer halben Stunde, gleich nach Tisch, gegangen sei, um nach Bob und Bill, ihren beiden Boys, zu sehen.

Sie kam nicht wieder. Vielleicht hatte sie es als Pro-Deutsche für besser befunden, sich an diesem Abend überhaupt zurückzuziehen. Man begriff das. Auch der Professor. Er unterhielt sich lebhaft mit einem weißhaarigen Reverend über die wahren Methoden der Lachsfischerei in den norwegischen Flüssen. Es gab da verschiedene, sich ernstlich befehdende Schulen. Nach einer Stunde ließ er das Angeln sein und stutzte:

»Ich muß doch einmal nach Mrs. Higgins schauen!«

Zehn Minuten verstrichen. Man hörte seine Stimme im Hause. Treppauf, treppab. Erst leise, dann immer lauter, angstvoller, fragender. Antworten der Dienerschaft. Rufe durcheinander. Aus dem Garten. Sir William hob stirnerunzelnd die dürre befrackte Gestalt aus den Abgründen des Klubsessels. Da stürzte sein Bruder herein, außer Atem, die Brille über die Stirn geschoben, mit schreckensstarren, kurzsichtigen Augen.

»Sie ist weg . . .«

»Wer?«

»Bill und Bob sind weg! Alle Drei!«

»Wann?«

»Vor zwei Stunden schon. Zu Fuß durch den Park!«

»Wohin?«

»Auf die Straße nach Harwich! Die Gärtner sahen sie!«

Sir William riß die Taschenuhr aus der Westentasche.

»Zehn Minuten nach zehn!« sagte er und dann halblaut, vor sich hin: »Um zehn Uhr fährt der Dampfer nach Holland!«

Der würdevolle Haushofmeister in Kniehosen und Halskette wand sich durch die Gruppen. Er trug einen Brief auf silberner Schale.

»Soeben abgegeben, Sir! Ein Mann brachte ihn zu Rad. Von Harwich!«

Jerôme R. Higgins griff darnach, riß den Umschlag auf, las:

»An Bord der City of Vienna, 9.55 p. m.«

»Bis heute habe ich es ausgehalten. Ich kann es nicht mehr, seit ich Euch heute Abend bei Wein und Braten über die Hungersnot deutscher Frauen und Kinder lachen sah. Ich glaubte, Euch zu kennen, aber ich erkannte Euch erst in dieser Stunde. Ich gehe jetzt mit Bob und Bill, um in Deutschland mitzuhungern. Und mitzuverhungern, wenn es so sein sollte! Aber Ihr werdet uns nicht besiegen!

Hannah.«

Professor Higgins zerknitterte das Blatt. Er sprang auf. Er schrie in Todesangst:

»Um Jesu Willen! Meine Frau . . . meine Kinder . . .«

»Komm' zu Dir!«

»Helft mir! Rettet!«

»Jerôme . . . sei ein Mann!«

»Haltet sie zurück! . . . Sie fahren ja nach Deutschland . . . Es giebt ja dort nichts zu essen . . . Sie kommen ja um . . .«

»Oh armer Mr. Higgins!«

»Erbarmt Euch! . . . Telefoniert nach Harwich!«

»Zu spät!«

Ein bläulicher Mondstrahl zuckte suchend über das Meer. Er kam von den Scheinwerfern des Hafens, an dem sonst alle Küstenlichter gelöscht waren. In seiner Helle sah man draußen auf der See gleich einem Geisterschiff einen mächtigen Dampfer. Er stampfte schwer in den grauen Wellen. Schwarze Zerstörer umhuschten ihn wie Ratten der Nacht. Ein grüner Stern stieg auf . . .

»Die ›City of Vienna‹ . . .« sagte Jemand halblaut. Es wurde draußen wieder dunkel. Jerôme K. Higgins umklammerte das Fensterkreuz. Er lallte vor Schrecken:

»Meine Frau . . . meine Kinder . . . Sie fahren nach Deutschland . . . dort sind ja die Kosacken. Sie morden und brennen!«

»Oh . . . sagen Sie das nicht vor Mr. Schjelting!«

»Dorthin kommen ja die Senegalneger . . . die Marokkaner . . . Die Turkos . . .«

»Beruhigt ihn doch!«

»Ich werde ja wahnsinnig! Das sind ja Bestien! Die läßt man doch nicht gegen Weiße los! Man läßt doch Frauen und Kinder nicht verhungern!«

»Oh – the Hungerkur in Germany!« Im Nebenraum lachte die aus der Nachbarschaft zum Besuch herübergekommene Miß herzlich. Ein junger Herr hatte ihr den Spaß erzählt.

»Sie kommen ja erst in acht Stunden nach dem Hook! Ein Funkenspruch nach Holland . . . rasch . . . rasch . . . Sir Francis Oppenheimer aus Frankfurt tut dort für uns Alles, um die Deutschen zu schädigen!«

»Er wird nichts machen können!« sagte Sir William kalt. »Eine freie Britin in einem neutralen Staat kann gehen, wohin sie will!«

Jerôme K. Higgins brach auf einem Sessel zusammen. Er warf das Gesicht auf die Kniee und schluchzte laut und hell. Die Miß von nebenan stand mit großen Augen auf der Schwelle. Sie frug verdutzt:

»Oh – was ist das?«

»Ein Echowort aus Deutschland!« sagte Nicolai von Schjelting. Die Engländer schauten ihn an. Sie verstanden ihn nicht. Er setzte hinzu:

»Ihr wißt hier nicht, gegen wen wir kämpfen! Und wenn Ihr es wißt, wird es zu spät sein für uns Alle!«

Wieder ein Kopfschütteln. Was wollte nur dieser bleiche Geisterseher aus Petrograd? Ein neuer Mondstrahl glitt draußen über die Wasserwüste. Die ›City of Vienna‹ war schon weit hinaus. Das Licht um sie schwand, und sie arbeitete sich weiter durch Wind und Finsternis dem Festland zu . . .

Zwei Tage später sagte Hannah Higgins im Abenddämmern des deutschen Eisenbahn-Abteils zu Bill und Bob:

»Da schaut!«

»What's the matter?«

»Wer Englisch spricht, kriegt einen Klaps! . . . Da fließt der Rhein!«

»Buh – der ist zu schmal zum Segeln!«

»Er ist nicht zum Segeln. Er ist ein heiliger Strom.«

». . . Kann man in ihm Fische fangen?«

». . . und die große Stadt dort drüben – die heißt das goldene Mainz . . .«

»Ist sie englisch oder schottisch, Mutter?«

»Sie ist nicht britisch, sondern deutsch!«

»Es ist doch Alles britisch, Mutter! Ist es nicht?«

»Da irrt Ihr Euch gründlich, Ihr Bengels!« sagte Hannah Higgins schon mit einem Anflug ihrer alten Tatkraft. »Das werdet Ihr schon merken! Ihr heißt von jetzt ab überhaupt nicht mehr Bob und Bill, sondern Max und Moritz. Verstanden?«

»Oh – wird das Vater recht sein?«

». . . wenn es nur mir recht ist . . . Ihr werdet deutsche Jungen! Verstanden? . . . Und nun macht Euch zurecht. Wir sind gleich in Wiesbaden!«

In der Halle des Hauses Tillesen in der Sonneberger Straße standen gepackte Koffer und Kisten mit wissenschaftlichen Instrumenten. Das Mädchen meldete, Exzellenz reise als beratender Hygieniker morgen zum Heer. Ein bärtiger Landwehrmann kam hinter ihr lachend auf Hannah Higgins zu. Es war die letzte Abbröckelung englischer Gewohnheit an ihr, daß sie unwillkürlich bei der Annäherung eines gemeinen Soldaten erschrak, bis sie in ihm ihren Schwager, den Reichstagsabgeordneten und Kriegsfreiwilligen Hugo Martius erkannte.

»Alt werde ich hier beim Ersatztruppenteil nicht!« sagte er. »Man ist ja eigentlich gar nicht mehr Mensch, eh' man nicht im Schützengraben war! . . . Dein Vater ist im Laboratorium!«

In einem sonst zu Versuchszwecken dienenden Ofen brannte ein Feuer. Geheimrat Tillesen saß davor und legte, ehe er morgen sein Haus verließ, langsam die Dokumente in die Flammen, die ihm seine Töchter Inge und Phila reichten. Es waren die Ehrenmitgliedsdiplome all der wissenschaftlichen Vereinigungen der Welt, die jetzt die Deutschen aus ihren Reihen ausgestoßen hatten. Sein stilles, graubärtiges Gelehrtenantlitz, über das der Flackerschein spielte, war sachlich und ruhig wie immer, während er von der Grundlage seines Lebens und Forschens, der Gleichheit aller Menschen vor der Wissenschaft, Abschied nahm. Nur einmal sagte er durch die Stille dieser Räume, in denen sonst die Vertreter aller Völker als Jünger und Gäste geweilt hatten, alle Sprachen des Erdballs erklungen waren: ». . . Röntgen, Ehrlich und Behring von der Pariser Akademie ausgeschlossen . . .« und lächelte. Es war ein deutsches Lächeln.

Dann steckte seine eine Assistentin, Dr. Käthe Cornelius, den Kopf durch die Nebentüre.

»Wir sind so weit, Exzellenz!«

Er erhob sich und ging in den anstoßenden Raum. Da standen zwei Offiziere und ein Chemiker im Bürgerkleid. In einem Glaskäfig saß leise winselnd ein dreibeiniger Spitz. Die eine Hinterpfote war ihm von einem Lastwagen abgefahren. Dr. Irma Enderlin kniete davor. Sie trug einen Respirator vor dem Mund und leitete den Inhalt eines Gasschlauchs in den Kasten. Die Luft innen färbte sich grünlich. Das Tierchen begann zu taumeln, fiel um . . .

»Tot!« sagte der Geheimrat ruhig. Von den Wandregalen blinkten Reihen von Gläsern mit Reinkulturen. Auf den Tischen lagen die Glasplättchen unter den Mikroskopen, die Tabellen der geimpften Versuchstiere. Die unsichtbaren Schädlinge des Seins wurden hier erkannt, Gift fand sein Gegengift. Eine Zwergschlacht zwischen Angreifern und Schutztruppen der Menschenzelle hatte da im Stillen getobt, wie jetzt draußen in Europa die Riesenschlachten der Menschen selbst. Viele Gelehrte aller Völker der Erde, Slawen, Angelsachsen, Romanen, gelbe Asiaten, braune Inder hatten hier gesessen und gelernt. Was sie hier als Gäste aus goldenem deutschen Überfluß geschöpft, bannte jetzt draußen in ihrer Hand die tausendjährigen Furien der Menschheit, Seuchen und Pestilenz.

Auf einem Stuhl lag eine englische Zeitung. Sie war anonym aus der Westschweiz gekommen. Ein Bild im Text blau angestrichen: Alle Völker des Erdballs, bis zum winzigen Japanesen und vierschrötigen Buren hin schlugen blindwütend auf eine zähnefletschende Dogge ein, die eine Pickelhaube trug. Darunter stand: »Halloah: Alle Mann ans Werk! Man muß den deutschen Wehrwolf niederknütteln!«

Und es war, als spräche aus diesen Retorten und Reagenzgläsern und Mikroskopen eine Geisterstimme zur Antwort: ›Der Erde geschehe, wie sie gewollt! Deutschland war das Licht der Welt. Es kann auch seine Nacht sein. Deutschland gab den fremden Völkern blühendes Leben. Nun sendet es ihnen ebenso den Tod. Es ist stark in Einem wie im Andern. Schöpfung, Sein und Vernichtung, die geheimnisvoll dreifache Gottheit vom Ganges, wohnt auch hier am deutschen Rhein, in der angewandten Wissenschaft, die hinter dem furor Teutonicus steht . . .‹

»Menschen werden durch diese chemischen Mischungen selbstverständlich nur betäubt, nicht erstickt!« sagte Geheimrat Tillesen ruhig, auf den toten Spitz weisend. »Genügt Ihnen diese Gasentwicklung so?«

»Ich denke, ja, Exzellenz!«

»Wir werden weiter daran arbeiten. Man muß praktische Versuche in leeren Schützengräben machen. Ich schreibe Ihnen noch. Oder vielmehr: ich diktiere es meiner Tochter. Sie begleitet mich nach Posen.«

»Sehr wohl, Exzellenz!«

Nun erst, nachdem die Versuchskommission sich verabschiedet, kam Geheimrat Tillesen aus der Wissenschaft zur Gegenwart zurück und sah, daß da auch seine dritte Tochter mit ausgebreiteten Armen stand. Und die sagte nach der ersten Begrüßung nur:

»England liegt hinter mir!«

Ihr Vater nickte. Es war wie ein:

»Und hinter mir die internationale Gelehrtenrepublik!«

Und ebenso lag es auf dem Antlitz seines Schwiegersohns:

»Und hinter mir das Traumland des ewigen Friedens!«

Und auf dem seiner Frau:

»Und hinter mir die alte deutsche Sehnsucht, die Insel der Seligen im Süden!«

Und auf dem ihrer Schwester Inge:

»Und hinter mir die Luftspiegelung angelsächsischer Freiheit überm Meer!«

»Du kannst Dich nützlich machen, Phila, und während des Kriegs auch auf meine beiden Bengel aufpassen!« sagte Hannah Higgins. »Ich melde mich morgen als Pflegerin!«

»Morgen ist das Haus hier leer . . .«

Und doch fühlten Alle: Wir sind in unser Haus zurück. Was Deutsch war, giebt die Fremde wieder. Alles kehrt heim. Von allen Seiten rauschen die Wasser. Tausend Bäche sprudeln und eilen. Fluß an Fluß flutet dahin und ergießt sich in den einen heiligen Strom. Feierlich, in mächtigem Schwall, wälzt dort drüben der deutsche Rhein seine Wogen zum fernen Ziel.


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