Rudolph Stratz
Das deutsche Wunder
Rudolph Stratz

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XIII.

Eine Ohrfeige klatschte. Eine zweite. Der kleine, dicke russische General von ausgesprochenem Mongolentypus kniff schmerzlich die Schlitzaugen zusammen. Seine Hamsterwangen brannten unter dem krausen, aschblonden Backenbart.

»Kaiserliche Hoheit . . .«

»Das nächste Mal wird man Dich davonjagen! . . . Genug! Hinaus mit Dir!«

Der Großfürst Nicolai Nicolajewitsch überragte ihn hager und baumlang, mit seinem grimmig funkelnden Geierkopf.

»Kaiserliche Hoheit . . . Diese Deutschen haben vier Füße! Sonst hätten sie nicht plötzlich meinen Rücken . . .«

». . . Weil Du beim Stehlen warst . . . Man kennt Dich!«

». . . Unsere Soldaten wurden verwirrt. Wer konnte die Preußen von hinten vermuten?«

»Geplündert habt Ihr! Man sah den Brandschein in Deinem Sektor bis hierher!«

»Kaiserliche Hoheit . . . Majestät . . .«

Der Generalissimus stampfte mit dem Fuß.

»Pascholl! An die Front!«

»Ich höre!«

Die geohrfeigte Exzellenz zog sich rückwärts gehend in das Vorzimmer zurück. Jetzt erst kam die Wut. Er schritt finster an den anderen Generalen und ihren älteren Gehilfen, an den Flügeladjutanten und Generalstabsoffizieren des Kaiserlich Russischen Hauptquartiers hindurch. Er hörte nur, wie der Eine der Machthaber durch den Zigarettenqualm, über sein Teeglas weg, einen andern frug:

»Sind die ostpreußischen Förster erschossen?«

»Erschossen, Euer Hohe Exzellenz!«

»Die Gestüte angezündet?«

»Angezündet, Euer Hohe Exzellenz!«

»Die Domänen niedergebrannt?«

»Niedergebrannt, Euer Hohe Exzellenz!«

Der kleine, mongolische General stieg grimmig an dem Garde à Cheval-Posten an der Türe vorbei, die winklige Holztreppe des Rheinischen Hofs in Insterburg hinab. Draußen brütete die Septembersonne auf dem durch feldbraune Posten weithin abgesperrten Marktplatz. In der offenen Glasveranda saßen viele russische Offiziere. Er wollte jetzt, in seiner Bekümmernis, nicht mit ihnen sprechen. Er warnte nur den Zivilisten mit der weißen Schirmmütze und dem eleganten Sommer-Raglan von Pariser Schnitt, der da eben aus der Droschke stieg.

»Gehen Sie jetzt nicht hinauf! Ich rate es Ihnen als Freund! Das ›liebe Biest‹ ist böse!«

Sie umarmten sich und küßten sich nach Moskowiterart rechts und links auf die Wangen. Nicolai von Schjelting dachte dabei: ›Was er für heiße Backen hat!‹ Dann erriet er den Zusammenhang und sagte sich beim Anblick des brutalen, dicken Kerls: ›Nun – der Generalissimus sieht sich seine Leute an! Er weiß, wen er prügelt und wen nicht!‹

»›Er‹ sitzt hier in Insterburg und ist damit beschäftigt, Ostpreußen unserem Mütterchen Rußland einzuverleiben!« sprach die Exzellenz in der schmutzigen weißen Sommeruniform bitter. »Weiter sieht und hört er nichts. Und man hört es doch deutlich genug!«

Jetzt, wo es einen Augenblick still war, grollte dumpf aus weiter, weiter Ferne ein Rollen.

»Ein Gewitter!« sagte Schjelting zerstreut und fuhr sich nervös mit der Hand über die Augen. »Gut. So bekommt Ihr Wasser. Man erzählte mir, die Wasserleitung hier sei in die Luft geflogen . . .«

»Ja. Ein Gewitter . . . Es scheint, es gibt viele Gewitter in diesen Tagen . . . In Gilgenburg . . . in Ortelsburg . . . bis Johannisburg hin . . . Du hörst es von Nikolaiken bis Tapiau, Bruder! . . . Freilich! Wie sollten es nicht Gewitter sein? Der September ist heiß!«

Ein Flügeladjutant kam sporenklirrend den Gang neben dem Wirtschaftsvorraum entlang. Er war wie aus dem Ei gepellt und legte den Kopf nach Petersburger Art etwas zur Seite, während er lächelnd und, aus Ehrfurcht vor der höchsten Person lispelnd, zu Schjelting sagte:

»Sie haben das Glück, von Seiner Kaiserlichen Hoheit empfangen zu werden!«

»Ich danke, Knjäs!«

»Nun ja . . . Sie zählen zu den hohen Günstlingen!« Der General winkte einer Droschke. »He . . . Fuhrmann . . . fahre hier vor! . . . Mich behandelt man wie einen Dwornik! Aber kommt solch Petersburger Herrchen . . . Nun – mit Gott!«

Er schnaubte sich kummervoll mit der Hand, murmelte: »Gott hat mich gestraft!« und fuhr in dem rasselnden Wagen nach dem Artillerie-Kasino. Dort speiste jetzt der Stab der Rennenkampf'schen Armee. Der Tisch-Älteste war ein General mit Bartkoteletten und einem fröhlichen, rohen und gesunden Gesicht. Er ließ sich eben von der Kasino-Wirtin, die vor ihm stand, die Speisen vorkosten. Der Generaladjutant seiner kaiserlichen Majestät von Rennenkampf hatte stets Angst, vergiftet zu werden.

Der kleine Front-General nahm Platz, langte unwillkürlich nach dem Schnapsglas, als Begleitung des Vorschmacks, und seufzte. Es gab kein Wässerchen. Der Alkohol war verboten. Wenigstens hier. Anderswo verschaffte man sich wohl Likör und trank ihn gewandter Weise »auf deutsche Art« aus Kaffeetassen, um kein Aufsehen zu erregen.

»Nun – es ist ja Einer von unsern Bismarcks eingetroffen!« sagte der General mit heiserer Stimme. »Schjelting. Er wurde eben gewürdigt, sich bei ›ihm‹ vorstellen zu dürfen!«

»Schjelting!«

Viele dieser weltläufigen, den Petersburger und Moskauer Fürstengeschlechtern und dem baltischen Adel entstammenden Offiziere kannten ihn.

»Ah . . . Schjelting . . . von woher kommt er?«

»Wie ist es mit ihm? Was sagt er?«

»Er ist wie ein Träumer . . . sieht an Euch vorbei . . . hört kaum, was man spricht . . .«

Ein bebrillter Adjutant war dienstlich oben an den Tisch getreten, Papiere in der Hand. Der Oberbefehlshaber überlas die Todesurteile gegen den Unteroffizier Babikoff und die Gemeinen Tupik und Mokrij wegen Plünderns und unterzeichnete.

»Heute Nachmittag zu vollstrecken! Das schuldige Regiment wird an den Leichen vorbeidefilieren.«

»Die nach uns kommen, werden nicht so streng sein!« sagte ein Rittmeister von den vornehmen Grodnoer Husaren, der den Arm in der Schlinge trug, halblaut zu seinem Nachbar. Sie kannten ihre slawischen Brüder, diese dumpfen, ungezählten Massen, die jetzt erst fern im Inneren des Zarenreichs von Omsk und von Turkestan und vom Amur, wie ein lehmfarbig trüber, angeschwollener Strom von auf Erden noch nicht erlebter Größe sich gen Westen wälzten.

»Da kommt ja Schjelting!«

Man schaute durch die Fenster. Nicolai von Schjelting überschritt eben die Straße. Zu Fuß. Seltsam. Das tat ein russischer Edelmann nur, wenn er nicht richtig im Kopf war. Den hielt er vornübergesenkt, blickte in Gedanken vor sich auf das holperige Pflaster.

»Du sprachst wahr, Andrej Konstantinowitsch . . . Er sieht wunderlich aus!«

»Wie ein Träumer!«

»Er sollte doch froh sein! Seine Ziele sind es doch, die sich jetzt erfüllen! Zehn Jahre sah man ihn tätig. Er war unser Windhund auf dem Balkan . . .«

». . . und verdarb sich den Magen bei den Engländern . . .«

». . . war mit diesen Eintagsfliegen von Pariser Ministern ami et cochon . . .«

». . . und küßte den kleinen Bürgersfrauen, ihren Gattinnen, die Hand!« sagte ein Anderer lachend, der das blauweiße Band des Andreas-Ordens trug.

». . . und nahm sich selber diese schöne Belgierin als amie et alliée . . .«

»Ein Glückspilz! Ein Hauptkerl! . . . Nun: willkommen! . . . Nun hört man doch Etwas aus der großen Welt . . . Was bringen Sie Gutes . . .?«

Nicolai Schjelting hatte sich gesetzt und sagte unvermittelt:

»Was habt Ihr Euch hier für eine gewitterreiche Gegend ausgesucht . . .«

»Wie denn Gewitter . . .?«

»Es ist schwül draußen. Es donnert überall im Südwesten und Süden!«

Die im weißen Waffenrock lachten. Hier, im Stimmengewirr hinter geschlossenen Fenstern hörte man nichts. Und auch, wenn man draußen fuhr, übertönte das Rasseln der Räder jeden anderen Lärm. Schjelting hob unruhig die großen und klugen grauen Augen.

»Belieben Sie mir zu sagen: Wo stehen eigentlich die Deutschen?«

Sein Nachbar zur Linken, ein General mit einem Bart, der so lang war, wie der eines Moskauer Mönchs, wies unbestimmt in die Ferne und meinte mit tiefem Kirchensängerbaß:

»Gott allein weiß, bis wohin sie zurückweichen! Sie liefern nur noch Nachhutgefechte!«

»Wilhelm hat ihnen einen neuen General geschickt!« rief lachend Einer oben am Tisch.

»Wie heißt er?«

»Chindenburg . . .«

Chindenburg. . ? Chindenburg. . ? Nun gut! Man beruhigte sich über Chindenburg, lächelte, frug Schjelting:

»Und wo waren Sie in diesen Tagen der allrussischen Sammlung?«

»In Deutschland.«

Allgemeines Erstaunen.

»In Deutschland? . . . Wie ist es möglich? . . . erklären Sie . . .«

»Ich habe dort die Mobilmachung erlebt . . .,« sagte Nicolai von Schjelting mit einem dumpfen und sonderbaren Ernst.

»Man hat Dich nicht aufgehängt, Freundchen?«

»Lacht nicht . . . laßt ihn doch . . .«

»Man ließ mich über die Grenze nach Holland. Ich wollte von da nach Belgien. Unmöglich. Überall die Deutschen.«

»An allen Straßenecken Insterburgs klebt eine Krons-Depesche!« sagte der General mit dem weichen singenden Baß. »Die Deutschen gehen zurück. Sie ließen allein vor Namur zehntausend Tote liegen.«

»Namur ist in ihrer Hand!«

»Wie das?«

»Ein Leutnant nahm es mit vier Mann!«

Ein Leutnant mit vier Mann eine Panzerfestung . . . Schjelting sah besorgte Blicke auf sich gerichtet. Man zweifelte an seinem Geisteszustand.

»Ob ich den Umsturz in Berlin miterlebt habe? . . .« sagte er, immer halb geistesabwesend, ». . . oder wo sonst den allgemeinen Zusammenbruch Deutschlands? . . . Nichts davon . . . Es ist Alles anders, als man . . . Wozu davon reden . . .«

»Sie sehen so bleich aus wie die Heiligen in der Lawra. Waren Sie krank?«

»Ich war. In Kopenhagen warf mich auf der Reise hierher die Aufregung nieder. Vierzehn Tage lag ich. Dann fuhr ich über Schweden nach Finnland weiter.«

Sonst gab es in einer Gesellschaft, in der Schjelting war, sofort Leben. Widerspruch, erregte Gesichter, Stimmengeschwirr, wenn er die bunten Leuchtkugeln seiner Doktrinen steigen ließ. Jetzt schwieg er wieder und starrte vor sich hin.

»Gott gab uns die Zunge zum Reden!« sagte der Stabsrittmeister Kudriascheff. »Wie ist's? Meine Frau schickte mir englische Zeitungen aus Petrograd. Fanden Sie das überall in Deutschland, daß sich die Reservisten weigerten, einzurücken? Warum lachen Sie denn?«

»Nun – erlauben Sie mir doch zu lachen!« sagte Nicolai von Schjelting.

». . . daß die Krupp'schen Werke von den Arbeitern angezündet sind?« forschte Fürst Donskoi.

»Schjelting lacht immer nur, dieser Spitzbube!«

»Er weiß mehr, als er verrät!«

». . . daß Bayern seine Neutralität erklärt hat . . .?« erkundigte sich der Generalarzt Professor Dr. Moskwin, der selbst seine wissenschaftlichen Kenntnisse München und Heidelberg verdankte.

Schjelting fuhr aus seinem Brüten auf und machte eine unruhige, abwehrende Handbewegung.

»Beliebt, mir das Erzählen zu erlassen! . . . Ich kann nichts sagen . . . Ich weiß es selbst nicht, was da war . . .«

Ein Schweigen. Dann rief der Generalstabs-Major Prokofjeff:

»Die Deutschen haben ihm Etwas eingegeben! Er ist wie vertauscht!«

»Macht nichts! Wir werden bald selbst sehen . . . Am ersten Oktober alten Stils sind wir in Berlin . . .«

»Ich habe mit Winogradoff von den Chevaliergarden gewettet. Er meint, erst am fünfzehnten!«

»Er ist mattherzig, weil die Gardekavallerie so viel Verluste hatte!«

»Wer hieß sie auch, die preußische Artillerie von vorn zu attakieren?«

»Höre doch: Man dachte . . .«

»Man dachte nichts! Jetzt ist von der ersten Kürassierbrigade nichts mehr übrig . . . Der Großfürst Oleg tot. Da hast Du's!«

Man war eine Sekunde nachdenklich, in Erinnerung an diese Verheerung unter der Blüte des russischen Adels. Dann meinte der Major Prokofjeff:

»Wenn uns nur die Engländer nicht schon an der Elbe empfangen!«

»Zuzutrauen ist es ihnen, diesen Teufelskerlen!«

»Ein Engländer gilt für zehn Deutsche! Kein Deutscher hält vor den fixen Jungen, den Tommys, Stand!«

»Woher wißt Ihr das?« frug Schjelting.

»Die Engländer sagen es selbst!« rief der Stabsrittmeisier Kudriascheff frohlockend. »Es steht in den ›Times‹! Hier . . . Bitte . . .«

Nicolai von Schjelting seufzte und stand mit umdüsterter Miene auf.

»Es tut nicht not! Ich werde bald die ›Times‹ auf der Straße kaufen. Ich gehe in den nächsten Tagen wieder in besonderem Auftrag nach London und Paris . . .«

Man kannte seine hohen Gönner. Er war der kommende Mann, wenn er auch jetzt sehr leidend schien. Man sah ihn schon, nach dem nahen Triumph, aus dem Salonwagen auf die hölzerne Plattform des Bahnhofes von Gatschina steigen, ehrerbietig auf dem Weg zum Zaren von allen Beamten und Gensdarmen begrüßt, man sah ihn im Auto, von Sebastopol her, in sausender Fahrt die Windungen hinter Baidar Thor hinab zum blauen Glyciniengerank des Kaiserschlosses Livadia am Krim'schen Meer. Man verabschiedete sich achtungsvoll von ihm und schüttelte erst hinterher den Kopf, als er in die Stadt hineinging. Wieder zu Fuß. Da hörte man dies unaufhörliche ferne Brüllen der Sommergewitter besser. Sie schienen sich immer weiter nach Süden zu ziehen. Hier störte das Niemanden. Die russischen Soldaten von dem baltischen dritten Armeecorps in Wilna, von denen viele Letten Deutsch konnten, standen in den Läden und feilschten so hartnäckig, wie sie es bei ihrem Generalissimus Nicolai selbst gesehen, um Tabak und Ansichtskarten. Nach der Bahnhofstraße zog eine Schwadron der Grodnoer Husaren auf ihren weißen Pferden. Schjelting rief einen der Schimmelreiter an:

»Seid Ihr auf dem Marsch zum Regiment?«

»Dies ist das Regiment!«

»Und die Anderen?«

»Alle tot!«

»Und Ihr?«

»Man ruft uns nach Petrograd zurück!«

Nicolai von Schjelting ging weiter. Er dachte sich: dieser Bauer zu Pferd hat etwas Gottergebenes. Sein . . . Nichtsein . . . Sieg . . . Niederlage . . . Wie Gott will . . . Alles gleich . . . Was ist das Leben? Es ward befohlen, zu kämpfen, zu bluten, zu sterben! . . . Gewiß . . . dafür bist Du ein Muschik. Ein Stück geduldige, russische Erde . . . Aber vor seinen Augen stand ein wildtosendes, grimmsprühendes feldgraues Gewimmel statt dieser feldbraunen Ergebung in das Schicksal, in seinen Ohren hallte ein eherner Trutzgesang von Zehntausenden statt dieses slawischen Schweigens, in dem die endlose Winterstille verschneiter Dörfer in weltfernen Steppen wohnte. Er fröstelte, als sei es Winter, trotz der Septemberhitze und der Glut der schwälenden Brandstätte gegenüber. Gensdarmen wachten und verhinderten das Löschen. Die Brasche'sche Fabrik war auf Befehl des Gouvernements angezündet worden. Weiter zum Bahnhof hin, an der langen Seitenmauer, klebte ein Aufruf des Generalissimus an die Polen. Nicolai Schjelting stellte sich davor und übersetzte es sich aus dem Polnischen: ». . . Mit offenem Herzen, mit brüderlich ausgestreckter Hand kommt Großrußland Euch entgegen. Der Morgenstern eines neuen Lebens geht für Euch auf . . .«

»So? Das ist mir ein feiner Vogel . . . lacht vor den allerhöchsten Erlassen . . .«

Eine Hand zupfte ihn scherzhaft am Ohr. Der Staatsrat und Hofmeister Morskoi stand neben ihm. Der wohlbeleibte Herr trug die kleine Uniform eines hohen Zivil-Tschinowniks. Er wischte sich den Schweiß aus dem roten, vom schwarzgefärbten Kinnbart umrahmten Gesicht.

»Trifft man Sie endlich! . . . Man sagt mir, Sie sind da . . . kommen aus Deutschland . . . ich gestern aus Dwinsk. Man fährt ja nun schon mit der Bahn bis hierher nach Insterburg . . . Lange sahen wir uns nicht, Nicolai Wassiljewitsch!«

»Zuletzt in diesem April in Moskau.«

»In Kiew.«

»Im Petrowski-Dwor in Moskau!« sagte Schjelting hartnäckig. »Dieser alte Teufel, dieser Deutsche, saß noch hinter uns . . . Mit seiner Tochter . . .«

Es ging ihm durch den Kopf: Wie lang ist das her und doch nicht ein halbes Jahr . . . da fing es an . . . warf mich aus der Bahn . . . man wird willenlos . . . wird mitgerissen . . . ich habe keine Frau mehr . . . habe noch nicht sie, die Andere . . . Mein Reichtum ist mit den Belgiern hin . . . mein Boden ist die große Zukunft . . . Aber was soll dies Zittern unter den Füßen? . . . dieser plötzliche Schwindel? . . . so als ob Alles um Einen schwankte? . . .

Der Hofmeister rieb sich befriedigt die großen weißen Hände.

»Alles steht gut, durch Gottes Gnade! . . . Sie sollten unser Petrograd sehen! . . . Diese Macht des slawischen Gedankens, für den Sie und ich und wir Allrussen seit Jahren stritten . . . Wehe, wer auf dem Newski noch ein Wort Deutsch spricht! Man reißt die deutschen Firmentafeln ab . . . Man schließt die deutschen Läden . . . man verhaftet alle Deutschen . . . schickt sie nach Sibirien, Männer, Frauen, Kinder . . . Zehntausende sind schon unterwegs . . .«

»Auch die deutsche Botschaft wurde gestürmt?«

»Sie wurde von Grund aus zerstört und der örtliche Beamte erschlagen . . . Beklagenswert . . . Aber wer zügelt die russische Kraft? . . . Nun erst erkennen wir sie . . . sehen, wieviel Freunde wir haben . . . Man küßt in Petrograd die Franzosen, man schüttelt den Engländern die Hand, man grüßt die Amerikanski, man ist in einem Rausch . . . Ohne ein Tröpfchen Wodka . . . wie durch ein Wunder der Heiligen Dreifaltigkeit . . .«

»Man merkt es Ihnen an, Wassili Andréitsch!«

»Jedem im Mütterchen Rußland, vom Gossudar bis zum letzten Barfüßler! Nur Ihnen nicht! Was ist Ihnen?«

»Etwas fehlt!«

»Nennen Sie es! Ich werde Sorge tragen! Man wird es anschaffen!«

»Es hat keinen Namen . . .«

»Wie das?«

»Es ist Alles da! Sehen Sie den Soldaten da . . . dieses Lederzeug . . . diese Schuhe . . . Nichts wurde diesmal vernachlässigt . . . Niemals wurden solche Anstrengungen gemacht. Wir haben beinahe mehr Offiziere als Napoleon vor Moskau Soldaten . . .«

»Drum vorwärts mit Gott!«

»Aber Etwas fehlt . . .«

»Sie sind sehr klug, Nicolai Wassiljewitsch. Das brauche ich Ihnen nicht zu sagen. Man bewundert Sie. Aber vielleicht sind Sie jetzt zu klug. Sie denken zu viel!«

Nicolai Schjelting scheuchte mit dem Fuß eine Taube, die vor ihm auf dem Pflaster Körner pickte.

»Da fliegt das Sinnbild unseres Glaubens!« sagte er. »Der Heilige Geist. Ihn suche ich!«

»Nun . . .«

»Es geht nicht ohne ihn. Nicht ohne den Heiligen Geist. Das ward mir klar.«

»Nun – diese Stadt hier ist voll von Balten, Fürsten, Garde. Das ist nicht echte russische Luft. Das echte, das heilige Rußland, unser Rußland, liegt dort draußen vor dem Feind . . .«

»Das hoffe ich . . .«

»Ich bin im Begriff, an die Front zu fahren und unseren Freund aus Moskau, den General Schiraj, zu begrüßen. Kommen Sie mit? Da wird sich Ihnen die weite russische Seele offenbaren!«

Die heilige russische Erde, aus der diese Soldaten selbst geformt zu sein schienen, die da drüben in ihrer seltsamen, halblauten, fatalistischen Ruhe den Bahnhof erfüllten, diese Muschiks in Waffen und die vielen Millionen ihrer Brüder, in ihrer erdfahlen Uniform, ihren erdfarbenen Bärten, ihren erdbraun gebrannten Gesichtern. Schjelting atmete etwas hoffnungsvoller auf und stieg ein. Der russische Infanteriehauptmann, der ihm und Morskoi im Auto gegenübersaß, zeigte auch eine jener fünf, sechs Massentypen, mit denen die russische Natur ihre sonst nicht zu bewältigenden Menschenmengen roh und oberflächlich abstempelte und schied. Er hatte eine kleine, knollige Nase, kleine tiefliegende Augen, war klein von Wuchs. Er lächelte fortwährend. Warum? Schjelting reizte das. Er frug schließlich:

»Wir fahren schon durch das dritte verbrannte Dorf. Nichts blieb, außer dem Kriegerdenkmal. Ist es überall so?«

»Es wird wohl so sein . . . Ich weiß nicht . . .«

Sie überholten einen Trupp Infanterie. Köpfe tief, tief aus dem Inneren, zwischen Wolga und Ural. Im Marschieren brachen sie mit einem mechanischen Handgriff jedes Obstbäumchen am Weg entzwei. Die Chaussee hinter ihnen war gesäumt von geknickten Stämmchen mit rotbäckigen Äpfeln. Schjelting schüttelte finster den Kopf. Der Hauptmann lächelte.

Schwerer schwarzer Qualm wälzte sich drüben am Walde. Millionen roter Funken tanzten in ihm. Darüber das angstvolle Todesflattern weißer Tauben. Ein großer Herrschaftshof stand da in vollen Flammen. Dragoner trugen noch armvoll Betten, Leinenzeug, Puppen, Matratzen, Damenkleider, Schaukelstühle, Wasserstiefel aus dem Hause und verstauten sie auf den Leiterwagen. Ein paar galoppierten den Weg heran, zwischen ihnen in langen, flüchtigen Sprüngen ein Dutzend edler ostpreußischer Remonten. Der vierschrötige kleine Hauptmann lachte aus vollem Hals . . .

»Krieg!« sagte er, wie ein Naturkind, das sich an Etwas ergötzt.

»Gehen Sie gern in den Krieg?«

Der halbasiatische Hauptmann zündete sich eine Zigarre an und schnitt eine Grimasse. Er war nur an Papyrossen gewohnt. Dann spuckte er aus.

»Man dachte nur an Österreich und Serbien. Wir sollten inzwischen Deutschland in Angst halten. Unseren dicken Stabsoffizieren wäre es recht gewesen. Die schönen Mobilmachungs-Rubelchen ohne Strapazen . . . Sie verstehen? . . .«

»Und jetzt? . . .«

»Jetzt? . . . Es ist befohlen. Es ist auch so recht . . .«

Und wieder sagte Schjelting unvermittelt, nach langem Schweigen, zu Morskoi:

»Es fehlt Etwas . . .«

»Petró . . . paß auf, Du! . . . He!«

Der Hauptmann hatte es zu dem Wagenführer hinaufgerufen. Die schnurgerade Chaussee nach Nordenburg lag vor ihnen plötzlich voll von Baumstämmen. Hunderte und Tausende von russischen Soldaten arbeiteten in fiebernder Hast am Fällen der prachtvollen Ulmen. Da waren sie in ihrem Element. So waren sie oft genug im roten Hemd, die Axt im Gürtel, als Bauern in den Wald gegangen. Sie hieben die Zweige ab, bauten kunstvolle Astverhaue längs des Straßengrabens.

»Das sieht ja nach Verteidigung aus!« sagte der Moskauer Staatsrat stirnerunzelnd. »Wie das? Man erwartet doch nicht den Feind?«

»Ich weiß es nicht . . .« sagte der Hauptmann.

Und Schjelting dachte sich: Ja . . . ich weiß es nicht . . . Wo hört man es nicht bei uns . . . dies: ich weiß es nicht! Niemand weiß Etwas . . . Alles ist unbestimmt . . . Alles verschwimmt . . . Von irgendwo wird befohlen . . .

Sie machten einen scharfen Bogen und fuhren gegen Gerdauen weiter, nunmehr genau in die Richtung nach Deutschland hinein. Das dumpfe, schwere Grollen umher wurde jetzt mit jedem Kilometer stärker. Wenn das Auto hielt, hörte man es vor sich, rechts, noch heftiger links, scheinbar von allen Seiten. Schjelting und Morskoi hatten nie gedient. Aber sie sahen sich trotzdem fragend und besorgt an. Der Hauptmann vor ihnen lächelte und rauchte. Träumerisches Asien war in seinem Blick.

Der Bahnhof von Gerdauen lag vor der Stadt. Ihm gegenüber flammte das große Kreishaus, das Landratsamt, die Reichspost . . . Die Güterschuppen längs der Schienenstränge standen in Brand. Glühende Getreidewirbel hoben sich knatternd gleich Raketen in die Luft, verkohlten noch im Fallen das verhungerte Vieh, das draußen in den Sumpfwiesen lag. Es war eine Hitze wie in einem Backofen. Mitten darin stand ein nagelneuer Petersburger Sanitätszug, weißlackiert, mit rotem Kreuz. Die Soldaten liefen und schleppten und stopften ihn im Schweiß ihres Angesichts voll mit Pflügen, Eggen, Heuwendern, Weinkisten, Zuckerhüten, Kleiderbündeln. Der Offizier, der dabei stand, strahlte. Er kannte den Hauptmann im Auto und reichte ihm die Hand.

»Wie wird sich meine Fenitschka freuen! Ich schicke ihr eine ganze Ausstattung für unsere Datsche bei Jekaterinoslaw. Sogar ein Klavier fand sich! Da steht es in der Ecke unter den Kopfkissen. Sie kann doch spielen. Sie lernte es in dem Pensionat in Odessa. Tafelgeschirr. Ein amerikanischer Lederstuhl. Selbst eine Spieluhr für meinen kleinen Fedka. In Öl gemalte Bilder. Hübsche Hörnerchen von Waldziegen. Ein Photographie-Album . . . Ich nahm nur die Bilder dieser deutschen Windhunde heraus. Nichts ist vergessen.«

»Und das nehmt Ihr Alles mit?« frug Schjelting.

»Wie denn? Es ist doch Krieg!«

Naive Genugthuung lag in seinen Worten. Da waren tausend Dinge. Die hatte man bisher nicht. Nun durfte man sie nehmen. Sie gehörten ja den Deutschen. Endlich erlaubte es der Zar. Schjelting dachte sich: Für Euch da ist das Alles nur ein Europäischer Pogrom. Mehr begreift Ihr nicht. Jeder sackt ein, was ihm Gott beschert! Und der Offizier auf dem Bahnsteig bestätigte das auch, nicht ohne Neid, indem er sich zu dem Hauptmann wandte.

»Prjanikoff . . . Du weißt: Der Lange . . . der mit dem Ziegenbart . . . der kann lachen! Er kommt in ein verlassenes Adelshaus . . . Man zündet es an . . . Was findet er, schon im Weggehen? . . . Ein ganzes silbernes Tafelgeschirr, der Glückspilz . . .«

». . . Und das Alles stopft Ihr in die Wagen mit dem roten Kreuz?« forschte Schjelting finster.

». . . auf sie allein schießen die Deutschen nicht. Sie sind ja so dumm! . . . Bald fahren wir ab! . . .«

»Warum denn? Kommt denn der Feind . . .?«

»Man weiß es nicht . . .«

Sie sausten weiter. Umgestürzte Flüchtlingswagen lagen am Weg. Zerwühlter, ärmlicher Hausrat. Große Blutlachen. Schjelting dachte sich: Kaum eine Stunde Fahrt liegt zwischen Insterburg und Asien – da, wo Ihr nicht seid, Nicolai und Rennenkampf . . . liegt zwischen Euren Garden und der breiten russischen Seele hier. Von ihr und ihrer Art des Kampfs seht Ihr nur, was Ihr wollt . . .

Immer wieder rauchende Scheunen, die Brandmauern von Domänen, eine in die Luft gesprengte Kirche . . . Ein betäubender Gestank von faulenden Karpfenmassen im Schlamm des nutzlos abgelassenen Teichs. In einem leergeplünderten Entenweiher schwimmend ein halbaufgelöstes Ding wie eine Mumie, das die Kosacken aus der Ahnengruft gerissen und hineingeworfen hatten. Schjelting schlug sich zornig auf das Knie:

»Was soll das Alles?«

Der Hauptmann lächelte ein Lächeln, nun schon mehr vom Amur als von der Wolga.

»Krieg heißt nicht, daß wir uns wie die Schweine benehmen!« . . . sagte Nicolai von Schjelting. Der Andere warf ihm einen tückischen Blick zu. Darin hob sich Etwas empor, von Asien, aus Tatarensteppen – gegen diese feinen Petrograder Herrchen – – gegen diese Westlichen . . . oh – wartet nur! Auch Eure Zeit wird kommen! Auch Euch wird man verjagen . . . später . . . Alles, was nicht Rothemd und Bastschuhe trägt . . .

Die Straße entlang galoppierten Dragoner, krumm wie die Fiedelbogen, mit hohen Knieen, die struppigen Klepper ihre Sternguckerköpfe steil in der Luft. Die Kerle sahen aufgeregt und unruhig aus. Man konnte nichts Rechtes von ihnen erfahren. Auf der Bahn da vorne, die von Gerdauen gegen Allenstein hinführte, rollte langsam, dichthintereinander, Zug auf Zug, gegen Norden, rückwärts. Es lag Etwas in der Luft, eine Unbestimmtheit . . . eine Ungewißheit . . . ferner Donner durch die Schwüle . . . Schjelting sagte sich wieder: Kaum eine Stunde zwischen Insterburg und hier . . . Wißt Ihr denn wirklich, Ihr dort hinten, Nicolai und Rennenkampf, was hier vorne vorgeht . . .? Und nicht nur in der russischen Seele?

Seltsam, daß die Tauben sich nicht von ihren Schlägen in den brennenden Giebeln trennen konnten. Da kreiste wieder eine über dem flackernden Gelb und Purpur, stürzte flügellahm hinein. Das rief eine Gedankenverbindung in Schjelting wach.

»Ja – wo ist der Heilige Geist?«

»An der Front!« sagte der Staatsrat mit seiner starken, russischen Stimme. »Bald sind wir dort!«

Der General Schiraj lag noch vorwärts von Barten in einem Gutshof im Quartier. Er war nicht da. Er war mit seinem ganzen Stab nach vorn gefahren. Ostrussische Infanterie und Kosacken, die nicht zu seinen Truppen gehörten, waren nachgerückt und richteten sich eben ein. Ein riesengroßer, weißblonder Major stand mit offener Hemdbrust auf der Schwelle. Sein Gesicht war fröhlich und gerötet. Er war stark angetrunken. Er streckte stürmisch den beiden Ankömmlingen, obwohl er sie gar nicht kannte, die Arme entgegen.

»Gott brachte Euch, Brüderchen! Beliebt einzutreten! . . . Was ist das für ein Land! Warum nehmen wir es erst jetzt? . . . Alles in Fülle! Was das Herz begehrt . . . Traubenwein! . . . Man trinkt Sekt, Bordeaux, Kognak . . . Unten ist der ganze Keller voll . . .«

»Man merkt es . . .«

»Man raucht Zigarren! Schläft unter Seidendecken! . . . Schweine, Hühner, Gänse . . . man ißt, soviel man kann . . . Man bekreuzigt sich und ißt wieder . . . Ihr bleibt zum Nachtessen da, Brüder! Meine Kosacken sind eben Hühner kaufen gegangen! Sie sind darin gewandter als unsere Burschen . . .«

Draußen sah man die roten Hosenstreifen der Kosacken. Sie umstellten die flatternden Hennen wie der Jäger das Wild, klatschten in die Hände, fingen die Tiere aus der Luft. Der Major schluckte ein paarmal und zeigte selig auf die Kiesfläche der Auffahrt vor dem Herrenhaus. Da war aus Hühnerköpfen im Sand riesengroß ein Schnörkel gebildet, der wie der Buchstabe I [и] aussah. In Wirklichkeit war es ein russisches ›N‹ [н], der Namenszug des Zaren Nikolaus.

»Die Kaiserkrone kommt aus Gänseköpfen darüber! Es sind Spaßvögel! . . . Schleppt es dort hinüber, Kinder! Setzt es vorsichtig auf freiem Felde nieder, damit kein Unglück geschieht . . .«

»Was tragen die vier Leute? Einen Sarg?« frug der kurzsichtige Staatsrat.

»Nein. Ein deutsches Ding. Ich kenne es nicht. Besser fort damit, ehe es explodiert!«

»Es ist der Schokoladen-Automat aus der Ausspannung gegenüber!« sagte Schjelting zu Morskoi, während sie eintraten. »Welch ein Gestank! . . . Sind denn die Schweineställe hier im Hause?«

Die altpreußischen Ahnenbilder der Halle schauten durchstochen und durchlöchert auf eine halbmannshoch das Parkett bedeckende Schicht von Stroh, Roßdünger, Bettfedern aus aufgeschnittenen Matratzen, zerfetzten Kleidungsstücken, Kohlstrunken, Knochen, Suppenresten, Stuhlbeinen, Hirschgeweihen, zerrissenen Briefen und Aktenbündeln, zertretenen Damenfederhüten, Sofakissen, Lappen, Straßenschmutz. Zersäbelte Sofas und Plüschsessel ragten nur noch mit den Lehnen aus der weichen, wie ein Misthaufen dünstenden Masse, durch die der mächtige und feierliche Saal des alten Grafenhauses weit niedriger als sonst erschien. Viele Soldaten hatten sich in das warme Nest eingewühlt und schnarchten. Man unterschied sie kaum von dem Schmutze selber. Dazwischen standen die Pferde. Die Luftmischung schwankte zwischen dem scharfen, säuerlichen Brodem des Schweinekobens und dem Aasgestank vor einem Fuchsbau. In der Ecke lehnte schief, mit aufgeklapptem Deckel und zerschmetterten Beinen, das Klavier. Der Bechsteinflügel diente als Abort wie auch sonst jeder Perserteppich, jede Bronzevase, jeder Zylinderhut, jeder Winkel im Haus. Der Major musterte, mühsam in dem federnden Trümmerhaufen sich auf den Beinen haltend, befriedigt die eine leere Wand.

»Seit vielen Stunden bestreichen sie sie mit Honig!« sagte er. »Von oben bis unten! . . . Seht die hundert leeren Gläser! . . . Gut! . . . Munter sind sie, die Seelchen!«

»Und warum tut Ihr das?« frug Schjelting einen der Kerle, dem ebenso wie seinem Kameraden der Schweiß der ungewohnten Arbeit von der Stirne rann. Der überlegte und sagte dann, mit einer plötzlichen slawischen Entmutigung in den wasserblauen Augen:

»Man weiß es nicht, Herr!«

»Woher kommst Du?«

»Aus Samara, Euer Wohlgeboren!«

»Bist Du gern im Krieg!«

»Gern, Euer Wohlgeboren!«

»Warum?«

»Ich weiß es nicht, Euer Wohlgeboren!«

»Haßt Ihr die Deutschen?«

»Man haßt sie, Euer Wohlgeboren!«

»Und warum?«

»Ich weiß es nicht, Euer Wohlgeboren.«

»Weißt Du, wo Du jetzt bist?«

»Nein, Euer Wohlgeboren!«

»Weißt Du, wohin Ihr geht?«

»Nein, Euer Wohlgeboren!«

»Kannst Du lesen und schreiben?«

»Nein, Euer Wohlgeboren!«

»Was denkst Du Dir also bei dem Krieg?«

»Es ist befohlen, Euer Wohlgeboren!«

»Nun genug der Fragerei!« schrie der Major. Er war plötzlich zornig geworden. »Euch Monumente vom Newski-Prospekt braucht man hier nicht! Dort ist Gott und die Türe.«

Er stapfte schwerfällig in den Raum gegenüber, setzte sich vor die halbleere Kognakflasche und brütete vor sich hin. Während die Beiden vor das Haus traten, schrie er ihnen noch nach:

»Nicht ausleben soll man sich! Ihr seid mir schöne Vögel! So ist's hier überall! Wenn's Euch nicht gefällt, geht zu den Deutschen!«

»Ja – so ist's hier überall!« sagte Schjelting. Er hatte mit dem Hofmeister in einer Laube im Garten Platz genommen. Bis hierher waren noch nicht einmal die Kosacken gedrungen. Angefangene Handarbeiten lagen da, Bücher, ein Band Tauchnitz-Edition, ein französischer Roman, eine Übersetzung von Tolstois ›Auferstehung‹, die indischen Gedichte des Rabindranath . . . Er setzte sich. Er wollte nicht sprechen. Er zog finster die Nummer der ›Times‹ heraus, die ihm vorher der Stabsrittmeister Kudriascheff gegeben, begann zu lesen. Die engen Buchstaben tanzten vor seinen Augen. Er warf das Blatt zornig zur Seite.

»Eine nette Sprache gegen Verbündete!«

»Wie das?«

»Nun – da ist von den modernen Hunnen die Rede – von den Barbaren . . .«

Der Staatsrat nahm das Blatt und lachte:

»Das sollen doch nicht wir sein, sondern die Deutschen!«

»Ach so . . . ich war zerstreut . . .«

»Kinder, laßt Euch nicht durch diese Weißhändigen verwirren!« schrie im Hause der Major. »Wo stehen wir? Dicht vor Berlin!«

»Urraha! Vor Berlin, Euer Hochwohlgeboren!«

Es grollte dumpf in der Ferne. Dazwischen in Abständen ein schweres, dröhnendes Aufpoltern. Fast nur ein einziger Schlag.

»Die Deutschen schießen schon mit Batterielagen, . . .« sagte ein staubbedeckter Dragoner-Unteroffizier vor der Laube zu einem Burschen. »Wo ist Dein General?«

»Eben kommt er, Herr Wachtmeester!«

Der General Schiraj fuhr im Landauer des geflüchteten Gutsherrn heran. Die Gäule keuchten. Das Handpferd blutete von einem Granatsplitter. Das Wappen am Kutschenschlag war von einem Sprengstück geborsten. Der General stieg aus, finster wie seine Begleiter, drückte stumm den beiden Gästen die Hand, fertigte den Dragoner ab, schritt dann unruhig auf und nieder, schaute nach allen Seiten, witterte förmlich in der Abendluft, die voll war von fernen, unbestimmten, murmelnden, schütternden, sausenden, heulenden, hämmernden Tönen, wandte sich nach dem Herrenhaus. Dort war ein zorniger Wortwechsel. Er jagte den Major mit seinen Leuten nach hinten in die Scheunen, setzte sich an das Feldtelefon, sprach immer wieder hinein, mit ernstem Gesicht, kam plötzlich wieder angeritten, vollbärtig und stattlich, den Feldstecher in der Hand.

»Ich muß noch einmal nach vorn . . . Es ist soeben . . . Wie? . . . Ihr wollt fort? Bleibt lieber hier! Da sind ja Fremdenzimmer genug im ersten Stock . . . Wie es steht? Gut . . . gut . . . Aber es finden Truppenverschiebungen in der Nacht statt . . . man gruppiert um . . . Ihr kämt da in der Dunkelheit mitten hinein . . . Auf Wiedersehen!«

Schjelting konnte nicht schlafen. Er lag mit offenen Augen in der Giebelstube des Herrenhauses. Sonderbar . . . Er war mit seinen Gedanken immer in Deutschland . . . in einem Brausen von Massen, einem feldgrauen Gewimmel, einem Stürmen der Glocken, einem ehernen Gesang . . . Er sagte sich: Ich bin ja in Deutschland. Als Eroberer. In einem deutschen Bett. Alles hier fängt gut an . . . Freue Dich . . .

Dabei stand er voll Unruhe, mit überwachten Augen auf, kleidete sich an – mochte Einer schlummern bei diesem ewigen Scheibenklirren und Bodenzittern von dem schon viel näher gekommenen Erdbeben draußen in der Runde – trat in das Freie, machte jäh Halt . . .

Die Nacht war dunkel und doch hell. Wohin er sah, brannte Ostpreußen. Rechts, links, nah, fern, überall flackerte es wie von Scheiterhaufen im Schwarz, rötete den Himmel fleckenweise mit einem unheimlichen Widerschein. Die Feuersbrünste all dieser Dörfer und Domänen, dieser Mühlen und Weiler, dieser Schlösser und Höfe schienen zu leben, in Flammen zu atmen, zu schwinden, in neuen Funkengarben aufzusprühen. Darüber zogen sich am Horizont sonderbare feurige Bogen wie von zu niedrig gehenden Raketen . . .

Schjelting sah stumm auf das Schauspiel. Er dachte an die Brandfackeln der Kosacken, die er am Tag vorher gesehen, so wie sie sie fertig aus Rußland mitgebracht – Dinger, die man auf die Erde werfen, mit dem Fuße treten, ins Wasser halten konnte, ohne daß sie verlöschten. Dann sagte er sich: Aber wenn wir Alles einäschern, dann bedeutet das doch den Rückzug . . .?

Neben sich hörte er ein Seufzen. Da saßen im Halbdunkel der General Schiraj und der Hofmeister, Beide wach wie er, schwiegen und rauchten. Er nahm neben ihnen Platz. Eine Weile hörten alle Drei stumm auf den Kanonendonner. Dann sagte Schjelting:

»Es fehlt Etwas . . .«

Morskoi wandte sich an den General.

»Das ist seine stehende Rede!«

»Was denn?«

»Wer kann es nennen? Sie wollten es mir an der Front zeigen. Aber es ist nicht da . . .«

»Wahrlich – wir haben uns bemüht, Alles zu schaffen!« sagte der General Schiraj mit seiner ruhigen Stimme.

»Alles haben wir geschaffen! Nur . . . sehen Sie . . . da treiben Feuerfunken durch die Nacht vorbei! Vielleicht mangelt uns dieser eine Funke . . .«

»Anderswo aber ist das anders?«

»Anderswo – ja . . .«

»In Deutschland?«

»Was heißt das für uns . . . Deutschland? . . .«

»Sie kommen doch von dort, Nicolai Wassiljewitsch?«

»Nein.«

»Wie denn nicht? Sie erzählten doch selbst . . .«

»Ich war in einem Land, das wir nicht kennen!« sagte Nicolai von Schjelting. »Sie werden es auch auf keiner Karte finden!«

»Er spricht in Rätseln . . .«

»Kurz . . . es existiert nur für den, der es erlebte.«

Dann, nach einem Schweigen:

»Viel haben wir vor dem Krieg erwogen! Aber vielleicht das Letzte nicht!«

Um sie die fremdartig rotgefleckte, unheimlich wie ein Raubtier murrende Nacht. Morskois Stimme:

»Wie sieht's in Wahrheit? Ist unsere Lage gefährlich?«

»Ja – wenn wir Japaner vor uns hätten!« sagte der General langsam. »Aber die Deutschen . . .«

Er stand auf.

»Damals vor zehn Jahren . . . in Mukden . . . Einerlei . . . Gehen wir schlafen! Wir haben noch ein paar Stunden bis Sonnenaufgang!«

Und nun war Nicolai von Schjelting doch so ermüdet, daß er den Schlummer fand. Träumte. Er stand in der großen Dorfschmiede seines Guts im Twer'schen Gouvernement. Inge Tillesen neben ihm. Es schien, daß sie jetzt seine Frau war. Sie trug nun auch russische Züge. Sie sagte ihm Etwas oder schrie es ihm vielmehr in die Ohren. Er verstand es nicht. Der Schmied machte einen so furchtbaren Lärm beim Beschlag der kleinen Bauernpferde. Es waren mehrere Schmiede. Sie hämmerten durcheinander. Die Ambosse dröhnten, schmetterten, knallten . . .

Schjelting fuhr empor, angekleidet wie er war, stürzte an das Fenster, riß es auf. Es war ein klarer, blauer Septembermorgen. Und in dieser milden Spätsommerluft zwischen Himmel und Erde ein unsichtbares, stürmisches Leben wie von tausend Geistern. Ein langgezogenes Heulen, zorniges Hämmern, wie von einer Riesenfaust an eine Haustüre, heiseres, metallenes Gelächter, das Gepolter von Fässern, peitschenknallähnliche Töne. Dabei erblickten seine Augen nichts. Die weite Landschaft lag völlig menschenleer, wie ausgestorben, im hellen Sonnenschein. Auch die Züge auf der Eisenbahn verkehrten nicht mehr. Nichts regte sich. Nur da jagte ein reiterloser Gaul die Straße entlang. Er schleifte seine Eingeweide zehn Fuß lang hinter sich her, verschwand taumelnd um die Ecke. Schjelting überwand einen Anfall von Übelkeit . . . Er nahm seine Mütze, rannte die Treppe hinab. Durch das gespenstig leere Haus. Traf vor ihm Morskoi.

»Wo ist der General?«

»Längst nach vorne geritten!«

»Und dieses Viehstück von gestern Abend . . .«

»Weg, mit seinem Bataillon . . .«

»Und unser kleiner Hauptmann . . .«

»Auch verschwunden . . .«

»Ja – was ist denn? . . .«

»Sie sind doch klug! Begreifen Sie's noch nicht . . .? Gott hat uns verlassen . . . Schon seit Tagen . . . Nur wußte man es nicht . . . Er strafte uns schon dort vorn, im Süden von Ostpreußen . . .«

»Dort steht doch unsere Narew-Armee . . .«

»Nichts steht dort! Nichts ist da! Nichts mehr!« Morskoi schien beinahe zornig, daß man seinen Nachrichten widersprach. Er badete sich förmlich in diesem Worte ›Nichts‹.

Fern in der Luft entstand ein weißes Wattebäuschchen und stand wie mit der Scheere ausgeschnitten vor dem blauen Himmel. Plötzlich waren dort überall am Horizont diese zarten Federwölkchen.

»Eile Dich, Wanja!«

»Bemühe Du Dich auch!«

Zwei Kosacken kauerten da am Bach, die Zottelgäule frei neben sich. Der Eine war im Hemd. Er hielt seine Hose auf den Knieen und riß in Eile den breiten, roten Besatz, der ihn als Kosacken verriet, herunter. Der Andere steckte die Füße in das Wasser und rieb das gleiche verräterische Rot von ihnen herunter.

»Seid Ihr verrückt, Euch jetzt die Füße zu waschen!«

Der Eine der beiden Kerle blinzelte stumpfsinnig aus seinem bartlosen, rohen Gesicht zu Schjelting hinauf.

»Es ist besser, Herr . . .«

»Wie das: besser?«

». . . falls man uns gefangen nimmt! Sie sind ja schon überall . . .«

»Die Deutschen? . . . Lüge nicht!«

»Man sieht ja weit und breit keinen Deutschen!« sagte Morskoi und zündete sich mit zitternden Fingern eine Papyros an.

. . . Er lag vor Schrecken auf der Erde. Er wußte nicht wie. Die Andern kugelten sich über ihn, um ihn. Um sie wirbelte die Luft von einem jäh herangeflogenen, nervenzerreißenden Heulen, der Boden tat sich, vierzig, fünfzig Schritte von ihnen entfernt, donnernd auf, spie einen schwarzen Pinienbaum von Rauch, Erde, Steinen und sausenden Splittern über sich in die Höhe. Über Schjeltings Kopf war das helle Klirren der getroffenen Dachziegel. Sie fielen langsam, stückweise herunter. Die jäh bloßgelegten weißen Sparren lugten neugierig in das Freie und fingen dann rasch an zu kohlen. Das war das Erste, was er sah, als er, betäubt aufstehend, sich mechanisch den Staub von den Kleidern klopfte. Ein Gardeoffizier ritt in Karriere vorbei. Ein Petersburger Beau. Sein keuchendes Tier wies die deutschen Farben. Auf sammetschwarzem Fell weiße Schaumflecken und in den Flanken das rote Blut der Sporenstiche. Morskoi rief ihn an: »Was geschieht?« – Der Andere wies mit der Hand atemlos hinter sich . . .

». . . Chindenburg . . .«

Es verhallte im Hufschlag und dem letzten Nachgrollen der Granate. Da stand das Auto. Der Chauffeur, ein Pole, geängstigt daneben. Sie sprangen hinein. Sausten blind hinter dem Petersburger Adjutanten her. Immer näher schob sich der Donner. Rauch- und Brandwolken in der Ferne.

»Wir fahren ja nach Süden!« schrie Morskoi, sich im Wagen aufrichtend. »Das ist ja Torheit. Dort eben ist ja Chindenburg . . . hört doch nur!«

Zurück. Hinauf nordwärts in der Richtung nach Gerdauen, woher sie tagszuvor gekommen. Schjelting biß die Lippen zusammen.

»Wir fahren ja abermals in den Kanonendonner hinein!«

Eine Gruppe Offiziere, abgesessen hinter einem Haus und um ein Fernrohrgestell herum. Ein abwehrendes Winken.

»Hier kann man nicht weiter. Die Straße liegt unter Feuer!«

»Wohin?«

»Nach Osten! Über Drengfurth! Sputet Euch!«

Sie fuhren dahin, kreuzten am Seeufer wieder eine Eisenbahn. Eine Lokomotive schoß mit Volldampf vorbei, der Tender dicht gedrängt voll von Rotekreuzdamen und Popen mit flatternden Haaren und Bärten. Der Pole steuerte das Auto wieder angesichts der Wasserfläche gen Norden, verirrte sich in den Wäldern, arbeitete sich stundenlang durch Sandwege, blieb stecken . . . weiter . . . da endlich die Türme von Insterburg. Vor der Stadt trafen sie den Generalstabsmajor Prokofjeff, bemüht, Ordnung in ein staubbedecktes Gewirr von Fuhrwerken zu bringen.

»Fahrt nicht erst in die Stadt. Es steckt alles voll von Truppen und Kolonnen!« schrie er. »Fahrt außen herum, nach Gumbinnen. Der Großfürst ist schon dorthin voraus!«

Der Großfürst auf der Flucht! . . . Schjelting und Morskoi schauten sich bleich und stumm an, während sie zwischen den Teichen durch und an der mächtigen Brandstätte des Gestüts Georgenhof vorbeiflogen. Nun lag schon die Flußniederung der Angerapp in ihrem Rücken. Der Staatsrat atmete auf.

»Wir sind in Sicherheit!« sagte er.

»Was kommt uns denn da auf der Chaussee entgegen? . . . Ein ganzer Zug Automobile . . .«

»Sie rasen nur so . . .«

»Es sitzen Zivilisten darin! . . . Was heißt denn das? . . .«

»Sehen Sie den Langen, Hageren . . . Mutter Gottes von Kasan: der Generalissimus in Zivil . . . bin ich denn wahnsinnig geworden? . . .«

»Dreh' um, Chauffeur . . . dreh' um . . .«

Dadurch zwangen sie den nächsten, heranflüchtenden Wagen, langsam zu fahren. Zornige Rufe:

»Macht Platz, Ihr da! Wir haben keine Lust, gefangen zu werden!«

»Wie denn – – in Gumbinnen? . . .«

»Sie sind schon hinter Gumbinnen . . .«

»Die Unsern?«

»Die Deutschen!«

»In unserm Rücken? . . .«

»Chindenburg in Gumbinnen . . .«

»Chauffeur . . . zurück, was der Wagen kann . . .«

Eine Sturmfahrt durch Staubwirbel. Wildes Gedränge vor dem Bahnhof in Insterburg. Trotz des strengen Verbotes standen schon die Einwohner auf den Dächern, riefen, winkten zum Himmel hinauf. Dort zog ein Eindecker als Vorbote des deutschen Heeres seine Bahn. Das Eiserne Kreuz schimmerte von seinen Tragflächen. Aus dem ›Dessauer Hof‹, der mit seinem hohen graugetünchten Aufbau und Turm die Stationsgebäude gegenüber überragte, rannte ein Herr in Zivil mit ausrasiertem Backenbart und hochmütig-brutalem Gesicht und kletterte in ein Auto. Ein Kellner hinterher.

»Exzellenz . . . die Wochenrechnung . . .«

»Ich komme in vierzehn Tagen wieder!«

Rennenkampf fuhr davon. Nur seine hohen Stiefel aus feinstem Juchten standen noch oben vor seiner Tür. Die beiden Russen sahen dumpf den Generaladjutanten des Zaren und Führer der Njemen-Armee im Bürgergewand fliehen. Um sie herum waren Rufe. Deutsche jubelnde Stimmen. Sie pflanzten sich fort. Man wußte nicht, woher sie kamen. Es flog durch die Luft, von Haus zu Haus . . .

»Ulanen . . .«

»Preußische Ulanen . . .«

»Man sieht schon einzelne Garde-Ulanen vor der Stadt . . .«

Morskoi faßte einen russischen Heeresintendanten an der Schulter und frug heiser:

»Wohin floh Seine Hohe Exzellenz!«

»In der Richtung nach Tilsit! Dort ist der Weg noch frei . . .«

»Dort allein ist Chindenburg noch nicht!«

»Mit Gott! Über Skaisgirren! Fahre wie der Teufel . . . Du dort oben!«

Sie rasten dahin, durch Tilsit hindurch, über die Königin-Luisenbrücke auf das Nordufer der Memel. Nun trennte sie der breite Strom von den Verfolgern. Fern vergrollte das Ungewitter. Wie weit es nach Süden hin noch seine Verheerungen erstreckte, wußte Keiner.

»Auch bei Lyck wird gefochten!« sagte neben dem haltenden Auto ein sibirischer Schützenoberst aus tiefer Brust, und ein Anderer neben ihm, mit einem fatalistischen Zug um die bärtigen Lippen:

»Diese Tage kosten uns viel . . . Die Deutschen sind anders als man dachte . . .«

»Uns Beide hat Gott bewahrt!« versetzte der Hofmeister Morskoi zu Schjelting. »Doch was nun?«

»Zurück nach Kowno!«

»Und dann? . . .«

»Dann gehe ich gleich mit meinen Aufträgen nach dem Westen!« sagte Nicolai von Schjelting. »Dort ist unsere Hoffnung. Denn das Eine habe ich nun schon erkannt, Wassili Andréitsch: Wir hier allein, mit der Kraft der russischen Erde, erreichen es nicht . . .«


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