Rudolph Stratz
Das deutsche Wunder
Rudolph Stratz

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VII

Es war das animalische Behagen Old Englands unter den Gästen von Sir Higgins' Dampfyacht während der Überfahrt durch die junistille Nordsee nach Deutschland. Die Heiterkeit von zwei Dutzend Menschen, die alle gleichmäßig gut schliefen, tüchtig aßen, pünktlich verdauten. Sie waren wunderbar einig. Ihre Unterhaltung harmlos wie die der Kinder, ihre Späße und Gesellschaftsspiele die von halbwüchsigen Jungen. Es war schwer, unter ihnen nicht vom Wetter zu sprechen, nicht jäh aufzuspringen, wenn sich ein Segel zeigte, sich nicht träge auf den Bordplanken in der Sonne zu kuscheln wie eine Katze: Hannah Higgins kannte sie und wunderte sich doch wieder, wie wenig diese Ladies und Gentlemen, von denen doch die Hälfte schon die Erde umsegelt hatte, sich zu sagen wußten oder sagen wollten. Sie dachte sich: Innerlich feige und selbstsüchtig sind sie doch auch da. Sie heucheln sich lieber ihr ewiges oh yes, als daß sie sich einmal zanken. Denn Aufregungen vor dem Mittagessen sind nicht weise! Aber trotzdem lullte das ein. Es war ein träumerischer, behaglich schaukelnder Stumpfsinn auf blauer See, bis das rote Feuerschiff aus den Wogen tauchte und sich da vorn die Kieler Föhrde auftat.

»Oah – ein feiner Platz!«

»Well! Ein gut Ding – dieser Hafen!«

Die Wasserratten an Bord, männliche wie weibliche, waren elektrisiert. Sie standen in langer Reihe von blauen Bordjacken und weißem Flanell links und rechts von Hannah Higgins, hielten sich an der immer noch leise schwankenden Reeling fest, starrten sachverständig auf die grünen Hügel von Holtenau, auf die bewimpelten Uferbauten und Schleusenmauern. Wieder sagte Einer halblaut wie neulich in Hydepark:

»Nichts ist gefährlicher für uns, als das Stück Wasser, das sie da verbreitert haben!«

Aber Hannah Higgins wußte von der englischen Kunst, das, was man nicht wollte, nicht zu hören und nicht zu sehen. Es war manchmal ihr einziger Trost, daß sie sich sagte: die Christenmenschen, die von ihnen am raffiniertesten betrogen werden, das sind sie selber! Jetzt wollten sie fidel sein, ohne Störung. Da war die graue Bucht in silberfarbener Luft, im Hintergrund die Türme von Kiel, die glitzernde Wasserfläche bedeckt mit den dunklen britischen, den lichtgrauen deutschen Panzern. Zwischen den über und über bewimpelten schwimmenden Festungen schossen die schwarzen Torpedoboote, wiegten sich seitlings die Schwärme der Segelyachten, lag in der Mitte, weiß, schlank, majestätisch, die Kaiserstandarte am Großmast, die »Hohenzollern«. Flaggen rings unter dem grauen Himmel. Drüben am Land ein windbewegtes Fahnenmeer. Musik an Bord der Panzer. Helle Damenkleider unter den langen Schlünden der Geschütze. Auf dem Strandweg ein Gewimmel von Menschenmassen bis zum Schloß. Hannah Higgins dachte sich: Wenn ich nach Deutschland komm' und wohin ich komme, so hängen die Fahnen aus den Fenstern und feiern sie Feste. Bei der Arbeit sieht uns Keiner . . .

Old England um sie herum war vergnügt wie ein losgelassener Schuljunge. Der kleine Hobson trällerte das Tipperarylied von der Sehnsucht des dummen Iren nach seiner grünen Insel:

»It's a long way to Tipperary,
it's a long way to go.
It's a long way to Tipperary,
to the sweetest girl I know!
«

und die ganze Gesellschaft fiel lachend in den Kehrreim des neuesten Gassenhauers von Paddy und Dolly ein:

»Good bye, Piccadilly!
Fare well, Leicester Square!
It's a long, long way to Tipperary,
But my heart's right there!
«

Von den wie Ameisenhaufen von Menschen wimmelnden, gleich riesigen Bügeleisen im Wasser liegenden Britenpanzern winkte man herüber. Die Yacht fuhr am »Georg V.« vorbei, der die Flagge des Deutschen Kaisers als Großadmirals der englischen Flotte gesetzt hatte, am »Centurion«. Auf einem der nächsten Ungetüme hielt ein Offizier die Hände an den Mund, um seine Stimme zu verstärken.

»Halloah – was für ein Schiff, Gratwick?«

»Audacious!«

Seiner britischen Majestät Dreadnought »Audacious«! Man musterte ihn sachverständig. Und was meldete der Gentleman drüben? Er wiederholte es. Ein Sturm der Entrüstung. Oh – poor old Lord Brassey!

»Was ist denn geschehen?« frug Hannah Higgins trocken.

Oh – es war schimpflich! Die Deutschen hatten den Earl verhaften wollen, weil er in einem kleinen Nachen allein zur Dämmerzeit in den verbotensten Gewässern der Kaiserlichen Werft herumruderte.

»Na – da hat er eben umsonst zu spionieren versucht!«

Stummes Entsetzen rings um Mrs. Higgins. Strafende Blicke, auch von ihrem Mann. Es war peinlich, derlei zu hören! Seine Herrlichkeit und spionieren! Ein Mann, der auf seiner Yacht ›Sunbeam‹ der Auszeichnung eines Besuches des Kaisers gewürdigt wurde! Und außerdem – man hatte doch genug andere Augen mit nach Kiel gebracht. Der kleine Hobson verriet es:

»Auf jedem Schiff sind ein paar mehr, als wir zeigen! Damit sie ungestört spazieren gehen können – verstehen Sie? Es ist eine liebliche Gegend! Was, Mr. Turner?«

Der blonde Reverend, den sie mit an Bord hatten, starrte, ohne zu antworten oder sich zu rühren, nach dem Ufer. Seit der Vorbeifahrt an Friedrichsort verschlang er stumm mit den Augen die Küste und holte sich mit dem Fernrohr jeden Hügel und jede Erdwölbung heran, um sie auf etwaige Panzerkuppelungen zu untersuchen. Im Vereinigten Königreich drüben konnte man den athletischen Gottesmann täglich in der Informations-Abteilung des Marinekriegsstabs als Hilfsarbeiter sehen. Man setzte dort in Whitehall große Hoffnungen auf den jungen Seeoffizier.

Vor der Seebadeanstalt und dem Kaiserlichen Yachtklub wiegten sich die Yachten der internationalen Sonderklasse auf den Wellen. Alle Segler der Meere trafen sich hier, dänische Lehensgrafen und französische Schokoladenfabrikanten, englische Admirale a. D. und die Dollarjäger New-Yorks. Weiterhin ankerte der Spielbankfürst von Monte-Carlo. Deutschland sah wieder einmal die ganze Welt zu Gast, arglos und mit herzlichem Handschlag, so wie da unten Jan Maat von der Waterkant und die Sailors von Portsmouth und Sheerneß sich begrüßten. Hannah Higgins blickte vom Fenster des Logierzimmers auf den Strandweg hinab. Ihr Schwager hatte schon Tags zuvor, nach der Ankunft in Kiel, seine Gäste an Land untergebracht. Sie dachte sich wieder: Ewiger Feiertag! Dann schrak sie zusammen. Im Gewühl oben surrten Propeller. Ein Zeppelin überflog in majestätischer Runde den Hafen, die Menschen, die Schiffe. Und Hannah Higgins fröstelte in ihrer Stimmung beim Anblick des grauen Riesen, der wie ein Verhängnis von oben über Fahnenpracht und Festesfreude schwebte, als wollte er die stummen, langen Stahlschlangen da unten grüßen, die paarweise über die blumengeschmückten, zum Ballsaal gewandelten Verdecke aus den Panzertürmen herausstarrten.

»Herrgott: Inge!«

Ingeborg Tillesen war in Reisemantel und Strohhut hereingekommen. Sie sah blaß aus. Aber sie hatte sich in der Gewalt und fiel lachend, mit ausgebreiteten Armen, der Schwester um den Hals.

»Man muß sich förmlich bücken, wenn man Dich lieb haben will, Du kleiner Pussel!« sagte sie, sich nach den Begrüßungsküssen in ihrem hohen Wuchs wieder aufrichtend. »Wie geht's Dir denn? Und Deinem Mann und Deinen greulichen Rangen? . . . Ich bin nur auf einen Sprung von Lübeck herüber. Der Vater doktert dort herum. Na – was macht Ihr denn hier?«

»Du siehst es ja: Wir verbrüdern uns wieder 'mal! Die deutsch-englische Freundschaft wird jeden Tag neu geleimt!«

»Wenn wir nur nicht dabei die Geleimten sind . . .«

»Wem sagst Du das? Aber Ihr wollt ja hier von nichts hören!«

»Was ist denn da unten für eine Musik?«

»Die Düppelkämpfer von 64! Sie haben eine Paradeaufstellung vor dem Kaiser!«

». . . Und die himmelblauen Bayern!«

»Regimentsabordnungen! Die waren auch bei Düppel.«

»Gott, die Massen englische Matrosen . . .«

»Es war, glaub' ich, ein großes Sportfest zwischen ihnen und den Deutschen!«

»Und Studenten in vollem Wichs! . . .«

». . . die bringen abends den Veteranen einen Fackelzug! Es steht Alles hier im Blättchen.«

Von ferne klang der Düppeler Sturmmarsch. Inge setzte sich.

»Störe ich Dich, Hannah? Du hast sicher für heute noch was vor?«

»Großer Ball in der Admiralität. Aber die ist ganz nahebei. Vorläufig flirtet meine Jungfer noch irgendwo in der Stadt herum!«

»Mit unseren Matrosen?«

»Da kennst Du eine freie Britin schlecht. Die sieht keinen Deutschen an! Die hält sich nur an ihre Landsleute.«

»Weißt Du: eigentlich sind wir Deutsche doch zu geduldig! Es ist merkwürdig!«

»Es ist Vieles merkwürdig!« sagte die kleine blonde Mrs. Higgins. ». . . Ich greife mir immer an den Kopf . . . ich weiß nicht: bin ich allein so dumm oder kommt es, weil ich mit einem Bein in jedem Land stehe – da in Deutschland und da in England . . . Aber sag' selbst: Zur großen Verbrüderung kommen die Einen auf Mordmaschinen angeschwommen, und die Anderen stellen ihre Schlachtenveteranen am Ufer auf . . . Zwischen den Kanonen wird auf dem Wasser getanzt, zu Land sitzen sie bei Tisch mit dem Säbel an der Seite. Und wenn sie sich beim Einlaufen freundlich mit Breitseiten einen gesegneten guten Morgen wünschen, dann zittert das ganze Ufer. Das ist doch Krieg im Frieden oder Frieden im Krieg. Aber: eines von Beiden kann doch nur richtig sein!«

»Sonderbar . . .«

»Wie ich jetzt in dem Jubel und Trubel hier hereingekommen bin, hab' ich mich wieder gefragt: haben wir denn ein Recht, ewig Feste zu feiern? Wo um uns Alles voll Gefahren ist? Siehst Du . . . da drüben improvisieren sie ein Tänzchen auf dem Verdeck . . . Nein . . . links vom ›Ajax‹! Da – ja! Aber wir waren gestern an Bord von so einem Kasten. Unten ist alles voll von Munition und die Torpedos liegen im Kühlen. Ein Funken und . . . Und oben tanzen sie eben! Aber wielange noch?«

»Hannah! So hab' ich Dich noch nie gesehen!«

»Also hör' mal!« Die kleine Frau rückte näher an die Schwester heran und barg sich an ihrer Schulter. »Ich war seekrank auf der Überfahrt!«

»Das wirst Du ja immer!«

»Ich hab nicht die Pferdenerven, wie das People. Gut also, ich lag da und konnte nicht schlafen. Und oben, an Deck, grade über mir, sprachen noch ein paar Herren . . . Es war tote See, weißt Du. Da klatscht es nur alle Minute einmal. Aber sonst ist's still!«

»Na und –?«

»Und ich erkannte die Stimme meines Schwagers, des großen Higgins. Er nölt doch so. Genau wie 'ne verrostete Türangel. Der Andere – Du, wir haben einen ganz gefährlichen Kunden mitgebracht. Du denkst natürlich, er wäre Reverend, aber – Ja so – das darf ich ja auch wieder nicht sagen . . . Also die Beiden saßen oben. Und mein Schwager William sagte: Nein, Captain! Die russische Probe-Mobilmachung diesen Herbst ist nicht weise! 1916 ist ein gutes Jahr zum Krieg!«

»Das hast Du gehört?«

»Dann sagte der Cap . . . Ich wollte sagen der Reverend – etwas, was ich nicht verstand . . . Und wieder Higgins: Der Verrat Italiens – schön! Aber der Verrat Italiens geht seit zehn Jahren!«

»Was erzählst Du da?«

»Dann sprachen sie was vom Balkan und von Japan und lachten . . . Da kam gerade eine Welle . . . und dann sagte mein Schwager: Ich glaube nicht, daß wir vor 1916 den Krieg gegen Deutschland eröffnen können!«

»Um Gotteswillen!«

»Dann standen sie auf und gingen schlafen. Ich werd' die Geschichte nicht los . . . es ist mir seitdem immer, als hinge eine dunkle Wolke über allem . . .«

Durch das Fenster wehte eine laue Abendbrise. Sie brachte die Menschenstimmen von unten mit sich. Lachen und Schwatzen in drei, vier Sprachen auf der Strandpromenade. Ferne Musik. Wieder ein Windhauch von der See. Es war wie friedliche Atemzüge der ganzen großen Menschheit auf Erden. Völkerverbrüderung. Das goldene Zeitalter im bunten Festgewand. Silberne Lichter über Meer und Land. Der Tag schwand. Ein wohliges Dämmern breitete sich über den Fahnenprunk der Stadt.

»Ach, Inge, mir ist das Herz schwer!« sagte Hannah Higgins. »Es ist alles so unheimlich um Einen her. Ich bin froh, daß Du gekommen bist . . . vielleicht bringst Du mir ein bischen Ruhe . . .«

»Die wollte ich mir grade bei Dir holen!«

»Was ist denn mit Dir geschehen? . . .«

»Ach . . . es ist ein Mensch in mein Leben getreten . . . Höchst ungerufen und unerbeten . . . Unheimlich! . . . Er ist mir gräßlich . . . Aber, wenn ich denke, ich bin ihn los, dann meldet er sich wieder! Sag': Du hast doch durch Deinen Schwager Einblick in Vieles! Hast Du einmal zufällig Etwas von einem Herrn von Schjelting gehört?«

»Nicolai Schjelting?«

»Ja.«

»Aus Petersburg?«

»Ja. Um Himmelswillen, Hannah, ist der Mensch denn so bekannt?«

»Wie ein bunter Hund!«

»Auch bei Euch drüben?«

»Überall, wo gegen Deutschland gehetzt wird. Mein großer Schwager liebt ihn zärtlich. Dieser Schjelting hat mich ja gerade bei Higgins neulich Abends aufdringlich nach Dir gefragt.«

»Das glaub' ich . . .«

». . . und wo Du jetzt wärst?«

»Um mich auch noch brieflich zu verfolgen . . . Da! Das kriegt' ich vorgestern von ihm!«

»Zeig' her!«

»Lies gleich da, von dem Absatz an . . .«

»Ich sagte es Ihnen früher schon, Fräulein Tillesen: es wird bald die Zeit kommen, wo man Freunde braucht. Ich gebe Ihnen anbei meine Adresse: St. Petersburg, Bolwar Italianskja, Haus Schjelting. Oder Bruxelles, Boulevard du Régent 417, chez Mr. Lambert, oder Gutsverwaltung Kulinowo über Kortschewa, Gouvernement Twer, Russie. Doch auf meinen Gütern bin ich fast nie. Schreiben Sie die Adresse mit lateinischen Buchstaben. Sollten besondere Ereignisse den Verkehr mit diesen Ländern unmöglich machen, so bleibt immer noch die Schweiz. Ein Telegramm nach Bern, Chancellerie de l'Ambassade de Russie, erreicht mich immer, wenn auch auf Umwegen. Die Schweiz ist überhaupt am sichersten. Dort kann ich stets zur Verfügung stehen, was auch kommt! Bitte rechnen Sie auf mich und erinnern Sie sich zur gegebenen Zeit daran, daß Niemand auf Erden besorgter als ich um Ihr Schicksal sein kann . . .«

»Gieb her!« sagte Inge und zerriß in einer jähen Aufwallung den Brief. »Ich kann nichts dafür, daß der Mensch so ist, Hannah. Ich hab' ihm weiß Gott keinen Anlaß gegeben! Ich war wie vom Donner gerührt, wie ich merkte, daß er . . . Gott, 's ist ja an sich egal! . . . Aber es ist dasselbe, was Du eben erzählst. Es ist wie ein Vorzeichen, als läge Etwas in der Luft . . . Irgend etwas Furchtbares . . .«

»Weißt Du, was ganz sonderbar ist? Auch wie eine Warnung? Der letzte Mensch, den ich jetzt bei der Abreise von London gesehen und gesprochen hab', das war wieder Herr von Schjelting! Er stand in aller Gottesfrühe vor Victoriastation und erkundigte sich nach Dir . . .«

»Er soll mich in Ruhe lassen!« sprach Inge Tillesen erbittert. Ihr Schwager trat ein. Hinter ihm schlüpfte die Jungfer ins Zimmer. Es war Zeit für Mrs. Higgins, Toilette zu machen. Inzwischen saßen ihr Mann und ihre Schwester nebenan beisammen. Der Oxforder Professor war in bester Laune. Sein schwammiges, bebrilltes Chinesengesicht strahlte. Nicht nur, weil er dem Herzog von Huntingdon begegnet war und Seine Gnaden, ein alter Undergraduate von Christ Church, ihn erkannt und angesprochen hatte – oh ja – auch das tat einem Britenherzen wohl. Er zerkaute das ›His Grace‹ wohlgefällig zwischen den bartlosen Lippen. Aber dann war er in dem Universitätsgebäude gewesen, hatte wieder die Vorlesungszettel am Schwarzen Brett gesehen, die Studenten, die Hörsäle, war in winkeligen niederdeutschen Gäßchen des alten Kiel umhergewandert, hatte an seine Jugend und an seine Studentenzeit in Deutschland, an Heidelberg und Göttingen, gedacht.

Das war das Deutschland, an dem Professor Jerôme K. Higgins in seiner Weise hing. Ein Gegensatz zu Englands Nebel, Nüchternheit, Geschäftssinn, Weltherrschaft. Der Zwerg Perkeo und das Große Faß, der Rodensteiner und Auerbachs Keller, die Wartburg und die Rittersitze am Rhein, das Goethehaus in Weimar und das Münchner Hofbräu, Posthornklang und Mondenstrahl über verschlafenen Landstädtchen – so sah er Deutschland und wollte es nicht anders sehen, und wurde dabei förmlich warm. Plötzlich hob Inge Tillesen den Kopf.

»Ach was, der Römer in Frankfurt! Bist Du auch einmal in Höchst draußen gewesen, in unseren Fabriken?«

»Wie?«

»Warst Du mal bei uns auf einem Exerzierplatz?«

»Gottseidank, nein!«

»Hast Du den Hamburger Hafen gesehen?«

Professor Higgins lehnte ab. Er kannte den Hamburger Hafen nicht und wünschte ihn auch nicht kennen zu lernen. Wenn er Häfen betreten wollte, gab es genug in England. Und jedenfalls größere.

»Ja, sag' mal: was kennst Du denn dann eigentlich von Deutschland?«

Der Oxforder Physiologe schaute sie verwundert durch seine Brillengläser an.

»Oh – das wirkliche Deutschland kenne ich, meine Liebe!«

»Das heißt, das Deutschland von dazumal. Das Deutschland vor 1870 war Euch bequem. Also sind wir's 1914 auch noch! Komische Leute!«

»Ich bin wahrhaft betrübt! Wenn die Tochter eines Gelehrtenhauses schon so spricht . . .«

»Man muß ja so sprechen, wenn man Euch hört! Ihr reizt einen ja dazu!«

». . . bisher kannte ich Dich nicht so! Nichts war früher erfreulicher, als Deine Vorliebe für das Angelsachsentum!«

»Ach!«

»Du warst durch die schöne Schule amerikanischer Freiheit gegangen . . .«

»So? . . . Na ja . . .«

»Aber jetzt trägst Du ja förmlich die Pickelhaube auf dem Kopf! Der Militarismus redet aus Dir!«

»Nein. Aber die gesunde Vernunft!« sagte Inge schroff, trat zum Fenster, wandte ihm den Rücken und blieb stumm. Jerôme K. Higgins saß unbehaglich da. Seine mitleidige und gönnerhafte Vorliebe für verträumte deutsche Winkel und verstaubte Ecken war wieder einmal erschüttert. Immer, wenn er über den Kanal kam, fühlte er mißbilligend die Zeichen einer neuen Zeit, ahnte sie sogar unbestimmt bei seiner frischen, kleinen, blonden Frau, die eben fertig zum Abendfest hereinkam. Es war in ihrer Lebhaftigkeit wie in ihrer Versunkenheit etwas Fremdes, anders als bei ihm und selbst bei den kleinen Söhnen. Das ›Fatherland‹ wirkte nach. So weiches Wachs, wie er bei seiner Heirat gedacht, war solch ein deutsches Herz doch nicht mehr.

Unter dem Laubdach der Düsterbrookerstraße rollten Autos und Wagen vorbei, schimmerten Marineuniformen und Damenkleider, wurden nach der Stadt zu immer mehr. Plötzlich kam ein Kraftwagen von dort zurück. Raste um die Ecke, die Reventlov-Allee hinauf, zwei Offiziere darin.

»Die haben 'was vergessen!« sagte Inge Tillesen, die, auf dem Weg nach dem Bahnhof zurück, das Ehepaar zu Fuß bis zur Marinestation begleitete.

»Da brauchten sie doch nicht so furchtbar ernst auszusehen! Ich bin ganz erschrocken!«

Schon zwei Tage vorher war ein Militärflieger tötlich verunglückt. Hannah Higgins dachte daran. Sie wies ängstlich mit der Hand:

»Wieder ein Auto!«

Es schoß ungestüm dahin. Sein Insasse war ein hoher Beamter in Zivilfrack und Dreispitz. Auch er hatte dies starre Gesicht.

»Well – was diese Telegraphenboys strampeln!« meinte der Oxforder Professor kopfschüttelnd und zeigte auf einen atemlos vorbeiradelnden Depeschenboten.

»Da kommen ja Gäste von der Admiralität zurück!«

»Dort auch!«

»Du, Hannah: mir scheint, das Fest fällt aus!«

»Da dreht ein Leutnant um und ruft den Damen drüben was zu!«

»Hast Du's verstanden?«

»Nein! Der Straßenbahnwagen rasselte zu sehr!«

Der Wagen fuhr vollgepackt mit fröhlichen und ahnungslosen Menschen vorbei. Aber an der Haltestelle zehn Schritte weiter änderten sich die Mienen. Selbst Jerôme K. Higgins vergaß seine britische Zurückhaltung.

»Ist denn ein Unglück geschehen?«

»Ist Jemand krank geworden?«

»Ach, krank! Tot! . . .«

»Dort ziehen sie ja schon eine Fahne auf Halbmast!«

»Dort auch!«

»Überall . . .«

Ein Menschengewirr um sie her.

»Sie sprechen von einer Mordtat!«

»In Serajewo! Heute Nachmittag!«

»Der Erzherzog Thronfolger und seine Gemahlin . . .«

»Beide!« . . .

»Serben waren's!«

»Da kommen schon die ersten Extrablätter!«

»Der Mord von Serajewo!«

Serajewo . . . Serajewo . . . Wer kümmerte sich sonst viel um die Hauptstadt Bosniens? An diesem Abend des 28. Juni 1914 klang ihr Name vielhundertmillionenfach auf der bewohnten Erde, hallte im Telefon, zitterte im Telegrafendraht, lief im Kabel auf dem Meeresgrund, dröhnte im Stampfen der Druckereimaschinen, gellte mit der Lungenkraft der Zeitungsverkäufer in allen Hauptstädten der Welt, lag auf den Lippen der Menschheit von Lissabon bis Tokio, von Washington bis Melbourne.

Und dann die große Stille . . .

Hannah Higgins saß am nächsten Tag allein in ihrem Zimmer. Nun wehten überall in Stadt und Hafen, auf Schiffen und Häusern die Flaggen und Fahnen auf Halbstock. Was noch an Festschmuck vergangener Tage da und dort hing, wirkte wie Hohn in dieser bleiernen, stummen Schwüle. Vom Strandweg her hörte sie die halblauten Mitteilungen der sich Begegnenden.

»Seine Majestät reist eben ab. Nach Potsdam.«

»Das englische Geschwader fährt morgen nach Hause.«

Hannah Higgins sah hinüber nach der Rhede. Da lagen noch die britischen Kolosse. Aber sie hatten nicht mehr über die Toppen geflaggt. Kein Gewimmel von Gästen belebte sie mehr. Kein fröhlicher Empfang mehr am Fallreep, kein Flirten unter den lang starrenden Geschützrohren, kein Tänzchen auf dem Deck. Diese Verdecke wurden jetzt von Hunderten von barfüßigen Matrosen gesäubert, Alles zur Abfahrt gerichtet. »Georg V.« und die Seinen waren aus schwimmenden Festsälen wieder zu schwimmenden Festungen geworden.

Zwei deutsche Marineoffiziere gingen unten vorbei. Der Eine sagte zum Andern:

»Seit gestern sind die Engländer wie ausgewechselt! Die reinen steinernen Gäste!«

»Die Kälte ist schon beinahe feindselig.«

Professor Higgins trat herein. Er hatte von seinem Bruder Abschied genommen. Sir William ließ seine Yachtgäste im Stich und fuhr mit dem nächsten Schnellzug nach London zurück.

»Ach Jerôme!« sagte seine Frau auf Englisch. »Welch ein schimpfliches, schmähliches Verbrechen!«

Zu ihrem Befremden antwortete der Professor nicht. Sie frug sich: Um Gotteswillen, hat ihm am Ende sein großer Bruder gesagt, es sei in diesem Falle weise für einen Engländer, beide Augen zuzumachen?

»Findest Du denn als Brite kein Wort gegen diese elenden Mörder, Jerôme?«

»Die gerechte Strafe wird sie ereilen!« sprach Jerôme K. Higgins salbungsvoll. »Uns geht diese Tat nichts an. Wir haben nur die Folgen ins Auge zu fassen!«

»Was für Folgen?«

»Nichts wäre verfrühter, als darüber jetzt schon zu reden!«

Ein dumpfer Donnerschlag vom Wasser her – ein zweiter – ein dritter – nun ein einziges betäubendes Krachen und Rollen. Die Scheiben klirrten. Die Wände schienen zu zittern. Hannah Higgins fuhr mit einem unterdrückten Angstlaut empor. Ihr Mann nahm ihr die Hand vom Ohr und schrie hinein:

»Warum erschrickst Du denn so?«

»Sie schießen ja da draußen! Alle Schiffe!«

»Nun ja! Der Trauersalut für den Erzherzog Thronfolger!«

Grauer Pulverdampf umqualmte außen auf der Föhrde die langen Reihen der verankerten Schlachtkolosse bis zu den Mastspitzen. In ihm zuckten die kurzen Feuerstrahlen, füllten Luft, Erde und Meer mit ihrem schmetternden Widerhall. Nahe dabei lagen die deutschen Kriegsschiffe. Es war, als kämpften die beiden Geschwader miteinander auf Tod und Leben, beinahe unsichtbar in dem donnernden Dampf, der sie umwob. Nur den »Audacious« vorn erkannte man deutlich, wie er aus seinen Feuerschlünden Blitze schnob und sie unschädlich, wütend in geballten Rauchwirbeln gegen die Ufer Deutschlands schleuderte.

»Wie lange feuern sie denn noch?«

»Einundzwanzig Schuß. Solange weht auf jedem Schiff die österreichische Kriegsflagge halbstock!«

Es schien Hannah Higgins das Bild einer Seeschlacht. Sie sah schweigend, mit bangen Augen, daraufhin. Endlich, nach einer langen, bangen Stunde verhallte das Gebrüll. Der Rauch lichtete sich. Aber noch war ihr, als bebte der Boden unter den Füßen und als liefe ein dumpfes Grollen über die ganze Erde.


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