Rudolph Stratz
Das deutsche Wunder
Rudolph Stratz

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VI

»Meine liebe Schwester Inge!

Nun liegt Deutschland schon wieder drei Wochen hinter mir! Die alte Hannah Tillesen ist wieder einmal tot, und die höchst respektable Mrs. Higgins sitzt statt ihrer hier bei Mann und Boys auf dieser ehrenwerten Insel.

Ach, Inge . . . Seit ich wieder hier bin, ist mir Etwas Gräßliches passiert! Stell' Dir vor: ich finde die Engländer nicht mehr komisch! Ja, Kerlchen, Du lachst! Aber für mich ist's traurig! Ich habe die Gebrauchsanweisung für das People verloren! Nun fängt es an, mir fürchterlich zu werden . . .

Inge . . . Inge . . . Was mache ich, wenn es Krieg zwischen uns giebt? Ihr drüben denkt natürlich nicht daran. Ihr habt ein reines Gewissen wie die Waisenkinder am Samstag Abend. Liebste Maus, über so was ist man hier weit erhaben. Die Gesellschaft hier ist nachgerade zu Allem fähig. Es ist schamlos, wie sie gegen Euch hetzen. Namentlich mein großer Schwager Higgins in seinen Zeitungen. Dabei ist es so glorreich, einen Baronet zum Verwandten zu haben. Wir liegen vor ihm auf dem Bauch. Dafür sind wir freie Briten. Augenblicklich sitzen wir und lauern wahrhaft angstvoll, ob er uns vielleicht zum nächsten Wochenende nach London einlädt, um einen Blick in die Season zu tun. Oder gar auf seine Yacht zur Kieler Woche? Aber das wär' zu viel! Der Reverend hat erst in seiner letzten Predigt vor irdischer Vermessenheit gewarnt.

Inge – was stelle ich denn nur hier mit den Engländern an? Wenn man sie erst richtig erkannt hat, wird man an ihnen direkt elend. Drüben im College sitzt mein Mann in seinem Studiencabinet. Er hat augenblicklich eine Laus unter der Lupe, ein ganz verschmitztes Tier, das, ohne selbst dabei krank zu werden, irgend eine Unannehmlichkeit von einem Lebewesen zum andern überträgt. Du, im Vertrauen, die Engländer sind auch nicht viel anders.

Sie verhetzen die ganze Welt gegen Euch! Jeden Tag wird es schlimmer. Manchmal frag' ich mich: Wo soll denn das hinaus? Warum merkt Ihr denn nichts? Sie hassen uns wie die Sünde, weil wir die Arbeit erfunden haben. Nämlich die eigene Arbeit, statt daß die Nigger für Einen schuften. Gegen einen Weißen, der arbeiten will, ist uns, den Christen, jede Notwehr erlaubt. Frag' nur meinen Schwager Higgins. Dieses herrliche M. P. kriegt jeden Morgen das Lügen, wie ich das Nießen. Auf die Weise entsteht ein Penny-Abendblatt. Sie sind voll blödwitzigem Dünkel, und dabei haben sie vor uns eine Heidenangst. Nun reim das mal zusammen. Sie sind eigentlich alle wie ihre alten Jungfern, die hier rudelweise herumrennen. Ganze Kerle sind nur ihre Suffragettes. Du, die hab' ich gern, weil sie das People so piesacken! Neulich haben sie erst wieder unter gräßlichem Geschrei sieben Bilder in der Nationalgalerie mit Beilen kaput gemacht. Einen Minister haben sie auch geohrfeigt! Famos! Denk' Dir nur: einfach so Klatsch mitten in die steifleinene Visage! Hurrah! Da möcht' ich immer gleich mit! Aber Jerôme K. Higgins findet, das sei nicht ladylike. Er hat leider Gottseidank Recht. Hier in Oxford weht ja noch eine mildere Luft. Hier sind wir gebildet und haben wenigstens einen schwachen Schimmer von Etwas außerhalb von England und seinen Kolonien. Aber sonst . . . ach, Inge . . . Es wird doch keinen Krieg geben . . .? Sie reden hier immer ganz friedlich davon, wie vom Wetter. Ich bin ja dann wie der Frosch zwischen den beiden Enten.

Ich mag gar nicht nach Kiel, so sehr es mich auch freuen würde, Dich da vielleicht von Lübeck aus zu treffen. Ich mag nicht mehr nach Deutschland. Es hat etwas Närrisches, wenn wir uns da verbrüdern und uns die biedere Männerrechte schütteln und dabei die linke Faust im Hosensack ballen! Inge: Sie leimen Euch! Sie kommen auch nur zu dem Zweck nach Kiel! Paß' auf!«

Die Sonne schien durch das Blätterdach vor den Fenstern in goldenen Lichtern auf den Blondkopf, den Mrs. Hannah Higgins über die Tischplatte neigte, während sie den Brief an ihre Schwester Inge Tillesen vollendete: »Fertig, Inge! Und nun verbrenn' den Wisch. Du brauchst mir nicht zu antworten. Schicke mir lieber endlich einmal Deine Verlobungsanzeige. Aber bleib' im Lande! Verheirate Dich dort redlich. Glaub' der Stimme überm Meer: Es ist besser!«

Das Higginssche Haus lag, die kleinen Fenster von wildem Grün umsponnen, mitten in den Mauerresten der mittelalterlichen Stadtumwallung von Oxford. Nach rückwärts sah man auf die saftigen Wiesengründe und hundertjährigen Eichen des Parks von St. Paul's College, an dem Professor Higgins lehrte. Zahmes weißes Damwild äste da in Rudeln inmitten der Stadt. Der riesige Angora-Kater des College dehnte sich süffisant wie ein Lord unter den Tieren in der Sonne. Dahinter wölbten sich die Kreuzbogengänge und Spitzfenster, hoben sich die uralten Mauern und Glockentürme, Erker, Nischen und Kapellen der einstigen Klosterschule, einer der vielen der Universität, alle im Äußern noch aus der Zeit, da die Wissenschaft sich scheu wie ein Küchlein unter die wärmenden Fittiche der Kirche duckte. Aus jeder dieser ehemaligen Mönchzellen hätte jetzt noch Dr. Faust mit seinem Famulus zum Oster-Spaziergang heraustreten können. Nun hauste dort in drei reichen Räumen je ein glattrasierter jüngerer, angeblich studierender Sportathlet aus der Gentry des Vereinigten Königreichs. Den Luxus, der ihn hier umgab, war er von Klein auf aus seinem elterlichen Tudor-Hall oder Castle auf hohem Hügel in grüner Landschaft gewohnt. Wozu gab es sonst die Hunderte von Millionen dunkelhäutiger Menschen auf der Welt als zur Frohnde für dies fröhliche Alt-England?

Der Higginssche Garten stieß an den Park des College. Zwei kleine Jungen von acht und neun Jahren, aber schon in schwarzen Röckchen und weißen Umlegkragen spielten darin. Sie stürmten der Mutter entgegen. Bob, der Ältere, strahlte. Er hatte Sommersprossen im Gesicht, einen breiten Mund und eine kleine Nase. Er war ein ganz verschmitzter Boy.

»Mother! Die deutsche Flotte kommt!« schrie er aus Leibeskräften. Hannah Higgins erschrak wirklich einen Augenblick. Dann ärgerte sie sich über die Dummheit.

»Bist Du denn ganz verdreht? Die deutsche Flotte! . . . Und noch dazu hier mitten im Land!«

»Die deutsche Flotte!« verkündete atemlos jetzt auch der jüngere Knirps.

»Wo denn?«

Durch den Garten floß ein Bächlein. Drei winzige Papierschiffchen schwammen auf ihm herab, und Bob wies sie triumphierend:

»Da ist sie, mother

Das Wasser spritzte. Sein kleiner Bruder versenkte mit einem wohlgezielten Gertenstreich den ersten Nachen, den zweiten, den dritten. »Päh!« sagte er dann verächtlich und spuckte hinterher in die Flut.

»Ihr Lausbuben – wer hat Euch denn wieder diesen dummen Witz gelehrt?«

»Mr. Ferguson vom Corpus-Christi-College, mother! Er giebt jedem Boy Sixpence, wenn er sein Lied kann!«

Und Bill, der Kleinere, trompetete mit seiner schrillen Jungenstimme:

»We have the men,
We have the ships,
We have the money too!
«

»Die Kinder sind in einer Weise ungezogen!« sagte herankommend das deutsche Fräulein, eine helläugige, lebhafte junge Rheinländerin. »Sie werden fortgesetzt von anderen Jungen und Erwachsenen aufgehetzt. Auf der Straße und überall! Wenn ich sie noch so oft deutsch anrede, sie antworten englisch! Da, bitte!«

Bob zog eine gräßliche Grimasse und streckte dabei die Zunge heraus. Bill versenkte herausfordernd die Fäuste in den Hosentaschen und stand breitbeinig wie ein Matrose.

»Ich fühle mich den Aufregungen nicht mehr gewachsen. Ich bitte gnädige Frau, mich lieber nach Deutschland zurückkehren zu lassen!«

»Nun, nun – wir werden sehen, Fräulein Rohmüller! Gehen Sie jetzt nur auf Ihr Zimmer und beruhigen Sie sich!«

Das »Fräulein« verschwand. Hannah Higgins wandte sich strafend an ihre Söhne.

»Seht Ihr wohl, Ihr bösen kleinen Burschen! Sie hat Tränen in den Augen!«

»Schad't nichts, mother

»So? – Wie heißt der Spruch: ›Show me, Bobby, if you can – be a little gentleman!‹ Bist Du ein kleiner Gentleman?«

»Well, mother!«

»Nun: Ein Gentleman bringt nie eine Lady zum Weinen!«

»Ach, das ist ja gar keine Engländerin, mother

Hannah Higgins hätte ihm am liebsten Eins hinter seine großen, abstehenden Ohren gegeben. Aber Professor Higgins hatte das ein für allemal verboten. Er war ein Feind jeder Gewalt des Menschen gegen den Menschen, bei seinen Söhnen wie auf der ganzen Erde. Es waren die Gesetze der Humanität und Kirchlichkeit, die er ehrte und bei jeder Gelegenheit öffentlich vertrat. Wenn trotzdem Wilde niedergeschossen oder zwei Boys durchgehauen werden mußten, dann hatte das wenigstens so zu geschehen, daß er es nicht zu sehen brauchte. Jetzt aber stand er drüben an einem der gothischen Fenster des großen Saals von St. Pauls College, dieses ehrwürdigen Raums, von dessen Wänden die lebensgroßen Ölbilder aller berühmten, aus dieser Schule hervorgegangenen Engländer und Schotten, Admirale, Parlamentsmitglieder, Gelehrte, auf die uralten eichenen, von Hunderten von Inschriften gekerbten Eßtische hinabschauten, und sprach mit einem der Fellows. Seine Frau ging ihm entgegen. Sie wollte sich einmal ernstlich über die Bengel beschweren. Bobs Flottenlied haftete ihr im Kopf.

»Wir haben die Männer und Schiffe,
und das nötige Kleingeld dazu!«

Und wieder die Todesangst: Schließlich fangen sie wirklich an, mit ihren Männern und Schiffen! . . . Was wird denn dann aus mir?

Professor Jerôme K. Higgins' wulstiges, bartloses Gesicht lächelte wohlwollend wie das eines gelehrten Mandarinen in Peking unter der goldenen Brille. Er war tief befriedigt. Er hielt einen Brief in der Hand. Die Einladung nach London war gekommen? Nein, zwei Fliegen auf einen Schlag: Auch gleich die nach Kiel.

»William schreibt, er habe gerade für uns Platz bei sich in London zum Wochenende reserviert!« versetzte er, und seine Frau dachte: ›Das heißt: ’Es hat im letzten Augenblick sonst Jemand abgesagt!‘‹ Ihr Mann fuhr fort: »Er hofft ernstlich, daß Du zufrieden sein würdest, in Kiel wieder deutschen Boden zu betreten!« und sie sagte sich: Mit anderen Worten: Ich soll den Ladies und Gentlemen auf der Yacht als landeskundige Vermittlerin in Germany dienen! Kinder, was seid Ihr verlogen! Kein wahres Wort fährt aus Eurem Munde! Professor Higgins neben ihr rieb sich vergnügt die Hände. An sich hatte er, der kurzsichtige Stubengelehrte, der beim Hindernisreiten nie die Gräben vor sich sah, wenig von dem großen Jahrmarkt der Eitelkeit am Strand der Themse. Aber es war der Kitzel der Gesellschafts-Heuchelei. Man gehörte zur ›Society‹ und die ›Society‹ zur Season.

Die Londoner Season im Mai und Juni, wenn es der Frühsommersonne gelang, selbst durch die Rauch- und Nebelmassen zwischen Hampton und Plumstead, zwischen Tottenham und Croydon zu dringen und das sonst nie in seinem ganzen Umfang geschaute steinerne Meer von Häusern und Schornsteinen endlos bis an den fern verschwimmenden Horizont zu enthüllen – die Season zur Zeit, wenn die weiten Rasenflächen von Green Park und St. James, von Kensington Gardens und Regents-Park noch frischer grünten als sonst in der feuchten Seeluft des ganzen Jahres, – die Season, in der der Sturmwind, der sonst ewig das Inselreich durchbrauste, zum Mailüftchen wurde und das Land rings um London bis zur Irischen See ein einziger, gepflegter Park, ohne störende Getreidefelder, ohne häßliche Kartoffeläcker, nur Hammelherden auf friedlicher Weide unter schattigen Bäumen und darüber auf hohem Hügel das Schloß des Lords.

Die Season, das Fest der Lords. Keine Saison wie anderswo, wo gleiches Geld gleiche Rechte gab. Eine Frühjahrsparade aller fremden Völker, der Yankees und der Japanesen, der Argentinier und der Südafrikaner, der Australier und der Portugiesen vor ihren angelsächsischen Herren. Sie kamen scheinbar als Gäste. In den Herzogsschlössern von Hydepark und St. James flammten jeden Abend die hellen Scheiben, stauten sich die Automobilreihen, blendete unerhörter, seit Römerzeiten nicht gesehener Reichtum, von den Rembrandts und Rubens an der Wand bis zu den Scharen sechs Fuß langer Lakaien, die Geladenen, bot an der Schwelle des Palastes der Halbgott selbst und seine Gemahlin freimütig lächelnd linkischen Amerikanern und gelbhäutigen Asiaten den Händedruck, den sie einem der Geringeren unter ihren eigenen Landsleuten niemals gewährt hätten. Von den Zinnen des Buckingham-Palastes flatterte das königliche Banner. Mit Herzklopfen drängten sich vor den Stufen des Throns die tiefausgeschnittenen Töchter der Schweinemetzger von Chikago und die vor einem Jahr aus der Klosterschule gekommenen schönen Frauen der dreifachen Granden Castiliens und Navarras, stießen sich die Maharadschas vom Ganges mit dem Schwertadel Japans, stand der Minenkönig aus Transvaal mit schwarzen Goldgräbernägeln hinter dem Fabrikarbeiter und Enkel deportierter Verbrecher, den Neuseeland zum Minister ernannt, scharten sich ägyptische Prinzen und kanadische Männer des Volks, Araberscheichs und chinesische Dynasten, bestaunten das riesige Ausstattungsstück und merkten nicht, daß sie es selber spielten und sich gegenseitig den Sand in die Augen streuten, den ihnen die lächelnden britischen Gastgeber lieferten.

Und draußen, auf der blauen Rhede von Spithead, soweit ein Menschenauge sehen konnte, ein buntbewimpelter Kriegspanzer neben dem anderen. Die ›Victory‹, Nelsons altes, weißgebordetes Schlachtschiff, tat den ersten Schuß des Königssaluts. Der Donner brüllte durch die ganze Linie, rollte über die ganze Erde mit dem trügerischen Lärm seiner leeren Manöverkartuschen, blendete die Menschen mit den Taschenspielerkunststücken des Inselreichs bis zu der willenlosen Hypnose: England ist groß. England ist stark. Was England sagt, ist wahr. Was England will, ist Gesetz.

Das war der Zauberspiegel der Gaukler an der Themse, in der großen Völkerkirmes der Season. Sie versteckten dahinter ihre eigenen steinernen Züge, und wem sie das Trugglas vorhielten, dem Rajah und dem Emir, dem Squatter und dem Trustkönig, dem Mandarinen und dem Samurai, dem Principe und dem Woiwoden, der lächelte und sah sich in dem Spiegel frei, reich und groß und empfand sein Helotentum als Lust, sobald mit dem ersten Frühlingsgrün der Vorhang von der Fata Morgana von London emporrollte und ihren Bildern von verwirrender Buntheit und Zahl: das Tosen der Hunderttausende beim Ringen um das blaue Band auf dem grünen Rasen von Epsom, die verständnislos-feierliche Stille der oberen Zehntausend, wenn Hans Richter in Coventgarden den Taktstock zum Nibelungenring hob, die Farbenpracht des Adels in den geschichtlichen Trachten seiner eigenen Vorfahren auf den abgeschlossenen Kostümbällen des Westens, das Gedränge von drei-, viertausend Gästen zugleich beim Nachmittagsgartenempfang des Herzogs im Park eines turmreichen Shakespeareschlosses, das allnachmittägliche Gewühl von Reitern, Viererzügen, Spaziergängern im Hydepark, diesen wimmelnden und flimmernden Orgien des Nichtstuns zwischen Serpentine, Rotten Row und Ladies Mile.

Hannah Higgins saß da mit ihrem Mann in einem Kreise anderer Engländer. Es war Montag um fünf Uhr Nachmittags. Die Heuchelei der Sabbatheiligung war wieder einmal vorüber, die Season neu belebt, neidloser Sklavensinn auf den Gesichtern aller Zuschauer. Man hatte ja nicht selbst vier kastanienbraune Stuten im Stall, aber man sah doch, wie der Earl da drüben sie majestätisch, den grauen Zylinder auf dem Haupt, vom hohen Kutschbock aus lenkte. Man besaß selbst nicht dreißigtausend Acres Land, aber dort fuhr in ihrem Elektromobil die Marchioneß, die noch mehr ihr Eigen nannte. Man war ja selbst nicht Mitglied der Royal Yacht Squadron oder des Marlborough-Clubs, aber dicht vor Einem tummelten ja, wie im Zirkus, die vornehmsten Männer des Königreichs ihr englisches Vollblut. Man freute sich, wie Andern das Leben schmeckte. Hatte man doch selbst auch satt zu essen und fand: die Erde war ein gutes Ding und vom lieben Gott eigens für die Bequemlichkeit der Menschheit zwischen Aberdeen und Falmouth erschaffen.

Und doch mischte sich in dies Schwatzen und Lachen und Flirten ein Unterton und klang immer wieder von schnurrbärtigen, wie von rosigen Lippen, von Alt und Jung, von nah und fern, beharrlich wie grollender Tropfenfall, ein Wort: Germany – Germany – Germany – . . . der dunkle Punkt – – Nein, mehr schon: die schwarze Wolke, der Alp mit der Pickelhaube, zu dem man keine rechte Stellung mehr fand, sondern nur noch ein nervöses Schwanken, von lächelnder Verachtung bis zur blinden Angst, vom erzwungenen Gleichmut bis zum vierschrötigen Haß.

Die drei alten Jungfern in dem Higgins'schen Kreis hatten jetzt eben auf der Rückkehr von einem Winteraufenthalt in Ceylon und einem Frühlingsspritzer nach Damaskus Deutschland besucht. Sie schüttelten sich vor Heiterkeit. Oh! was für ein Land! Wahnsinnig komisch! Sie nahmen sich kichernd das Wort vom Mund. Ihre Berichte waren durch die tägliche Wiederholung ins Kraut geschossen, wie die Dschungeln unter Indiens Glut. Es gab auf jeder Straße in Deutschland drei Wege: einen für die Herren, einen für die Damen, einen dritten für die Ehepaare. Wer über die Straße wollte, mußte vorher den Schutzmann um Erlaubnis fragen. Jeder Herr grüßte jeden Schutzmann an jeder Straßenecke durch Hutabnehmen. Eigentlich hatten die Deutschen immer den Hut in der Hand. Oh – how ridiculous! Wieder wanden sich die Spinsters vor Lachen. Ja, aber die Unzufriedenen? Oh, es gab überall große, befestigte Plätze. Da sperrte man sie ein. Viele Tausende. Bei Brot und Bier. Soldaten standen davor. Überall Soldaten. Jeder junge Mann lernte zunächst das Gewehr präsentieren. Dann schrieb er sein Buch über den ›Faust‹ und widmete sich den Rest seines Lebens der chemischen Industrie. Yes! Es war schon interessant, in acht Tagen das ›Fatherland‹ gründlich kennen gelernt zu haben.

»Nun – es ist doch Mrs. Higgins' frühere Heimat!« sagte eine ältere Lady, die sich etwas mehr Feingefühl bewahrt hatte. »Sie gehen ja jetzt auch nach Kiel, nicht wahr?«

Hannah Higgins fuhr aus ihren Gedanken auf. Sie hatte absichtlich nicht mehr zugehört und bejahte.

»Oh – oh – Kiel!«

Der alte, hagere, in Zivil gekleidete Commander a. D. brummte es grimmig zwischen den Zähnen.

»Oh, dear Mr. Bowle – wir schicken sechs unserer besten Panzer durch den Kaiser Wilhelm-Kanal!«

». . . nachdem wir den Deutschen glücklich Zeit gelassen haben, den Kanal um das Doppelte zu vergrößern. Nun sind sie fertig! Oh – es ist schimpflich!«

Die alten Jungfern kicherten wieder.

»Die Deutschen. . . oh, Mr. Bowle . . . mit denen hat es nichts auf sich. Da war am Rhein ein grober Eisenbahnbeamter . . .«

Der alte Seebär schnitt ihnen gegen britische Höflichkeit das Wort ab. Er stand steifbeinig auf.

»Meine Familie war immer auf dem Wasser. Wir haben schon auf der Doggerbank mitgekämpft und zuletzt bei Sebastopol. Da ist keine Flotte eines Landes, die wir nicht mitgeholfen hätten zu versenken. Wir hielten die Meere rein. Aber als ich neulich einmal wieder um die Erde fuhr, sah ich mehr fremde Flaggen als den Union Jack. Und vor allem das Eiserne Kreuz in vielen, vielen Flaggen! Wir haben das Alles wachsen lassen und inzwischen Jagden geritten . . . Ich habe fünfundfünfzig Jahre gedient und nur einmal auf den Feind geschossen. Und da schossen wir in Alexandrien unsere eigenen Häuser entzwei. Aber bald werden desto rauhere Zeiten kommen. Nun – good bye

Da war wieder der Krieg. Fern an Marble Arch blinkten rote Fähnchen. Dort hielten Anarchisten ein Meeting. Weiter drüben predigte ein Oberst der Heilsarmee vom Stuhl herab zur Menge. Längs von Park Lane zog eine Schar von Suffragetten mit ihren regenbogenfarbenen Bannern. Das störte hier Niemand. Aber da drüben – über der Nordsee – diese kommende dumpfe Notwendigkeit, die man hier immer wieder zugleich mit der linden Mailuft einatmete . . .

»Well – Du bist so schweigsam, Hannah?« sagte Professor Higgins.

»Ich habe Angst!«

»Wovor?«

»Ach – sprich es nicht aus. Es ist so furchtbar. Es kommt immer wieder über Einen . . .«

»Ich weiß nicht, was Du meinst!«

»Ihr denkt auch immer daran, auch wenn Ihr davon still seid.«

Jerôme K. Higgins verstummte. Über die deutsche Gefahr sprach man nach Tisch, wenn man die Damen in den Drawing-Room hinaufgeführt hatte, beim Glase Portwein unter den Herren. Er stand in einem Gastzimmer im Hause seines Bruders in Mayfair vor dem Spiegel und knüpfte sich die weiße Binde zum Abendanzug. Unten fuhren schon fortgesetzt Automobile vor, kamen Ladies und Gentlemen in Gesellschaftskleidern nachbarlich über die Straße. Bei dem ehrenwerten Sir William Higgins war heute einer der großen Empfänge der Season. Er und seine Frau standen auf der Schwelle und begrüßten liebenswürdig jeden Ankommenden mit einem Händedruck und der herzlichen Freude, grade ihn zu sehen. Sie wiederholten das ein paar hundertmal. Das Haus des Londoner Zeitungsherrschers und Parlamentsabgeordneten war größer als sonst die Absteigequartiere des Landadels. Aber geladen waren nach Londoner Brauch doppelt so viel Leute, als darin Platz hatten.

Machte nichts! Heute war Sir William Higgins nicht der eisige Geschäftsmann der City bei Tag, der nüchterne Unterhaus-Debatter von Westminster bei Nacht. Jetzt war er ein jolly good fellow . . . alle Geister schalkhaften Britentums und trockenen Humors um die dünnen Lippen. Nichts konnte freimütiger sein als deren Lächeln, nichts vertraulicher als seine dargebotene Rechte. Nur in den Augen blieb etwas, das nicht zu der Unschuldsmiene stimmte. Sie überflogen immer wieder das Dienerspalier im Hausflur. Sie suchten. Seine Schwägerin Hannah, die ihn von innen aus dem Menschengedränge heraus beobachtete, wußte, was das hieß. Es fehlte noch etwas: der Löwe des Abends. Irgend ein Tüpfelchen auf dem i der Society-Eitelkeit.

Dann ein freundlicher Schein auf seinen pergamentenen Zügen. Er streckte die Arme aus und ging einem Gast drei Schritte entgegen. Das war das Höchste, was er tun konnte. Der Neuangekommene überragte ihn, trotz seiner lässigen Haltung, mit den abfallenden Schultern seiner hageren aristokratischen Gestalt. Sein Frackschnitt und Hosensitz hätte den ersten Schneider Londons mit Neid erfüllt. Auf seinem lebhaften und länglichen Gesicht mit den grauen klugen Augen war ein geschmeidiges Lächeln. Neben ihm seine schöne junge Frau. Eine Vollblut-Pariserin, dachte sich Hannah Higgins. Man sah es schon an dem spielerisch treffsicheren Wunder ihrer Toilette gegenüber den barbarisch bunten, an Indiens Grellheit erinnernden Kleidern der Engländerinnen.

»La belle Madame de Schjelting!« sagte Jemand neben Hannah. Es schien ihr ein vornehmer Rumäne zu sein. Neben ihm, auf Englisch, ein säbelbeiniger Japanese.

»Und ihr Mann? Ein Russe?«

»Ein Petersburger de pur sang

»Sehen Sie doch, wie man sich um ihn drängt. Oh – der Herzog von Woodford selbst steht auf und tritt auf ihn zu!«

»Merken Sie sich diesen Russen, Vicomte Osako! Er trägt Krieg und Frieden unter den Klappen seines Fracks!«

»Ist er vom Tschin?«

»Sein Vater war der bekannte Minister, der vor zehn Jahren in Petersburg starb. Er selbst trat bald aus dem Staatsdienst. Seitdem ist er der gefährlichste Außenseiter der russischen Politik, vom Winterpalais bis zum Cettinjer Konak.«

Nicolai Schjelting kam langsam näher. Fortwährend waren neue Menschen um ihn. Er drückte rechts und links Hände, winkte Bekannten zu, wechselte bei jedem Satz die Sprache, französisch, englisch, italienisch, auch, besonders laut und verbindlich, deutsch zu einem deutschen Diplomaten, dann einmal obenhin, schnell, kaum hörbar, auf russisch, zu einem Landsmann:

»Noch nichts Neues aus Serbien?«

»Nichts!«

Er lächelte wieder. Etwas von Asiatendünkel schimmerte, für Hannah Higgins' Augen, durch den spiegelglatten Kulturschliff seines Wesens. Er sah in der Nähe bleich und nervös aus.

»Sind Sie krank, Herr von Schjelting?«

»Ah – ce bon Nicolas! Er reibt sich auf!«

»Ich?« Nicolai Schjelting zuckte nachlässig die Achseln. »Erbarmen Sie sich! Was hat denn ein armer Privatmann, wie ich, zu tun?«

Und wieder neben Hannah Higgins die gedämpfte Stimme des Rumänen zu dem Japanesen:

»Dabei kennt er alle Geheimnisse der Kriegspartei drüben!«

»Ich wähnte Sie schon in Montenegro, Herr von Schjelting?«

Nicolai von Schjelting schüttelte ahnungslos den Kopf.

»Ich? Ich bin ein friedlicher Mensch. Jetzt ist mir zu viel Pulverdampf da unten.«

»Wieso? Die Albanesen?«

»Ach nein! die bosnischen Manöver! Der Erzherzog-Thronfolger besichtigt doch die K. und K. Truppen. Ich kann das Schießen nicht vertragen. Ich warte, bis es auf dem Balkan wieder ländlich-still ist!«

Der Balkan und Ruhe! Man lachte. Auch Schjelting. Eine Sekunde war etwas Freches darin. Moskauer Hochmut. Wenigstens für Hannah Higgins. Dann sah sie, wie er sich zu ihrem Schwager wandte. Beide sprachen und blickten dabei auf sie. Sonderbar . . .

Plötzlich machte er sich von seinen Verehrern los, kam mit der lächelnden Sicherheit eines Mannes von Welt auf sie zu, stellte sich selbst vor, und setzte sich, ohne eine Aufforderung abzuwarten, neben sie. So war er, in dem Gedränge und Geschiebe der Menschheit zum Buffet, vorläufig unsichtbar und ungestört.

»Sie entsinnen sich meiner nicht mehr, gnädige Frau!« sagte er rasch und lebhaft in seinem harten Petersburger Deutsch. »Ich war kürzlich mit Ihnen zusammen, in Wiesbaden, im Hause Ihres Vaters. Ich muß gestehen: ich wußte nicht, daß Sie da waren, obwohl Sir William mir schon in Paris von Ihnen erzählt hatte. Erlauben Sie mir, daß ich nun mein Versehen gut mache!«

Er sprach leise und höflich. Er war ganz bescheiden. Verändert gegen vorhin. Hannah Higgins dachte sich: Was will er denn von mir, dies große Tier? Sie frug:

»Aber da waren doch nur Gelehrte? Sie sind doch nicht Arzt?«

»Im Gegenteil: Patient!«

»Bei meinem Vater?«

»Leider nein. Il m'a mis à la porte!«

Nicolai Schjelting sagte das mit einer malenden Geste des Hinauswurfs in das freie Feld. Er machte dabei ein harmloses und rätselhaftes Gesicht.

»Mein Vater wollte Ihnen nicht helfen? Das sieht ihm doch gar nicht ähnlich!«

»Ihm vielleicht nicht. Aber Ihrem Fräulein Schwester!«

»Meiner Schwester Ingeborg?«

Er rückte näher zu ihr heran. Beugte sich vor, redete schnell, vertraulich. Die bebänderte Lackschuhspitze seines linken Fußes wippte dabei nervös über dem Perserteppich auf und nieder.

»Der Cherub mit dem flammenden Schwert! Voilà! Schon in Moskau! Ich soll weiter leiden! Ich kann nun einmal nicht schlafen! So wünscht es Ihr Fräulein Schwester!«

»Was bilden Sie sich da nur ein? Was sollte denn meine Schwester Inge gegen Sie haben? Sie kennt Sie doch jedenfalls kaum!«

Nicolai Schjelting sah sie fest aus seinen ernsten grauen Augen an. Jetzt erschien ihr der Leidenszug um die Mundwinkel plötzlich echt.

»Ja – warum sind die Menschen so böse gegeneinander, gnädige Frau? Das frage ich mich auch oft! Soyons amis, Cinna! Aber wir vergessen's! Sagen Sie: Ist denn Ihr Fräulein Schwester immer bei Ihrem Vater?«

Hannah Higgins lachte.

»Ja. Wenigstens, bis sie endlich mal heiratet!«

»Ach so – ich verstehe: sie ist verlobt?«

»Nicht, daß ich wüßte!«

Es war ihr, als ob der sonderbare Mensch neben ihr erleichtert aufatmete. Sie hatte wieder eine unbestimmte Angst vor ihm. Sie dachte, er könnte nun gehen. Es war ja auffallend, daß er hier bei ihr im Winkel saß, während man ihn wahrscheinlich in allen Zimmern und Sälen suchte. Statt dessen hub er unvermittelt, stoßweise wieder an:

»Bleibt Ihr Fräulein Schwester den Sommer über in Wiesbaden?«

»Das hängt davon ab, ob mein Vater irgendwohin berufen wird. Dann begleitet sie ihn. In nächster Zeit wahrscheinlich einmal nach Lübeck.«

»Oh!« sagte Nicolai Schjelting und versank in ein stummes Sinnen. Sein Gesicht war dabei düster und unruhig. Sie wollte ihm helfen. Sie nahm es von der komischen Seite.

»Ich werd' es meinem Vater melden, daß gegen Sie eine Verschwörung in der Sonnebergerstraße besteht. Die Schuldigen werden kaltgestellt. Verlassen Sie sich darauf!«

Aber das war ihm zu ihrem Erstaunen wieder nicht recht, daß er dort Ingeborg Tillesen nicht begegnen sollte. Er winkte nur ab, mit einer Handbewegung, deren zerstreute und nachlässige Ungeduld sie ärgerte, und blieb stumm . . . Es war ihm etwas eingefallen, mit Schrecken über seine eigene Gemütsverfassung: Wo ist denn meine Frau? Oder vielmehr: wo ist denn meine Eifersucht geblieben? Sonst hatte er Ghislaine bei einer solchen Gelegenheit nicht aus den Augen gelassen, jedes Kopfnicken, jeden Handkuß, jede Schleppenbewegung düster verfolgt. Jetzt sagte er sich: So weit ist es mit mir schon gekommen! Ich muß schon nachdenken, wann wir uns getrennt haben. Vor einer halben Stunde. Da sind wir zusammen hereingetreten. Sie hat sich dann nach links gewandt – glaub' ich! . . . Irgend eine Lady nahm sie unter den Arm. Er hob das Haupt und schaute umher. Da merkte er plötzlich, zuerst an einem ganz feinen Hauch ihres Parfums: Mein Gott – Ghislaine stand ja dicht hinter ihm, stand vielleicht schon die längste Zeit, im Gespräch mit einem dürftigen und engbrüstigen Jüngling von den Boulevards oder aus Brüssel. Dieser halbausgebackene Stutzer war ihr nicht gefährlich. Das wußte er. Er entwickelte ihr in einem rasend-raschen, französischen Geratter seine Thesen über den Sâr Peladân. Ihre reizvollen, leicht gepuderten Züge trugen auch nur die leere und liebenswürdige Aufmerksamkeit der Weltdame. Ihrem Mann schwante es, als hätte sie eher auf das gehört, was er da unten, auf seinem Sessel inmitten des Gedränges, redete. Deutsch genug, um es zu verstehen, konnte sie, vom Kloster her und durch die flämischen Verwandten ihres Vaters, wenn sie es auch nicht sprach.

Diese Vorstellung beunruhigte ihn. Er stand brüsk auf. Zugleich trat der Herr des Hauses heran. Er hatte sich die neuesten spätabendlichen Reuter- und Sondermeldungen von seinem Generalsekretär telefonieren lassen. Rasch und heimlich! Nur nicht zeigen, daß man arbeitete! Man hatte Geld. Aber man verdiente es nicht.

»Nun, Sir William?«

»Ihr Zar und die Seinen sind noch wohlbehalten bei den Festen in Rumänien, my dear Mr. de Schelting

»Sonst nichts Neues vom Balkan?«

»Griechenland hat sich bei der Türkei beschwert!«

»Weiter nichts vom Balkan?«

William Higgins, M. P., schüttelte den gefurchten, glattrasierten Kopf und schaute, erstaunt über die zweimalige Wiederholung der Frage, sein Gegenüber forschend an. Aber dessen Züge blieben undurchdringlich.

»Halloah! Nehmen Sie auch Ihr Zivil mit nach Kiel?«

Der junge Mann neben ihnen wurde es scherzend gefragt. Niemand hätte seinem kleinen, brünetten Wallisertyp den Briten angesehen. Er zeigte nur lachend die weißen Zähne in dem gebräunten Gesicht. Irgend Jemand sagte:

»Lord Cowley ist ein zäher Sportcharakter! Er geht nun einmal nicht mit seiner Yacht aus der deutschen Nordsee hinaus!«

». . . oder er ist Kurgast auf den friesischen Inseln! Das ist er seiner Gesundheit schuldig!«

»Nehmen Sie sich nur in Acht, daß es Ihnen nicht geht wie Clément-Bayard!«

Rasche Blicke ringsum. Nein – es war kein Deutscher zur Stelle. Man konnte ruhig von den Heldentaten des Vorsitzenden des französischen Aëroklubs reden!

»Er hat alle deutschen Luftschiffhallen besucht!«

»Er hat den Flugplatz Fuhlsbüttel photographiert!«

»Aber dann haben sie ihn in Köln festgenommen . . .«

». . . und freigelassen! Er ist schon wieder in Paris!«

Die Franzosen lachten über die deutsche Gutmütigkeit, die Engländer, die Schotten, die Yankees. Selbst über das Gelbgesicht des kleinen japanesischen Schwertritters flog das rätselhafte Greinen der ostasiatischen Sphinx. Nicolai Schjelting, hatte die Gelegenheit benutzt, unbemerkt mit seiner Frau zu verschwinden. Es war schon spät am Abend. Trotzdem wollte er mit ihr noch zu einer dritten ›Reception‹. Während der Londoner Season mußte man die Zeit nutzen. Aber kaum in der Limousine, versetzte sie mit ungewohnter Härte: »Ich will nach Hause!« Dann schwieg sie, bis der Wagen vor dem Ritz-Hotel in Piccadilly hielt.

Das war ihm neu. Sonst stand ihr der Mund nicht still. Gerade in letzter Zeit hatte es mehr Auftritte in ihrer unglücklichen Ehe gegeben als je. Ihr fliegendes, messerscharfes Pariserisch hallte ihm noch in den Ohren. Jetzt brach sie oben in ihrer Suit, ihrer Zimmerflucht, auf einmal los, nachdem sie die Zofe hatte schlafengehen heißen. Sie stand in einem weißseidenen Frisiermantel, die Elfenbeinbürste wie eine Waffe in der Hand, das rötliche Haar in losen Wellen um Wangen und Schultern. Ihre Nasenflügel bebten. Die rot getönten Lippen spielten und zuckten in atemlosem Redefluß. Ihr Gesicht verlor jetzt, wo nicht mehr trällernde Lebenslust darauf lächelte, an Reiz. Ihre Stimme bekam in der Erregung einen heiseren, welschen Klang.

»Ah – mein Freund: das ist zu viel! . . . Es ist genug! . . . Ich habe Alles geduldet! Ich habe meine Zeit und meine Jugend verloren! Aber ich bin dieser Opfer satt! Sie führen ja zu nichts . . . zu nichts . . . zu nichts . . .«

Er hatte seinen Frack mit der bastfarbenen Verschnürung einer Pyjama-Jacke vertauscht. Er nahm übernächtig und übellaunig das Glas Whisky mit Soda von den Lippen.

»Was denn? . . . Verzeihung: Ich gestehe, daß ich Deine Aufregung nicht begreife!«

»Ich habe Dir hunderttausend Francs Rente mitgebracht!«

»Ich danke, meine Teure! Das weiß ich!«

». . . Und was habe ich durch Dich gewonnen? Seit sieben Jahren bin ich Madame de Schjelting! Weiter nichts! Ich sitze in Brüssel in meinem Elternhaus, als hätte ich es nie verlassen! Meine Cousine Blanche ist Komtesse! Meine Freundin Germaine ist Exzellenz, als Frau eines deutschen Diplomaten, und dabei ein Jahr jünger als ich . . . Sie macht ein glänzendes Haus . . . Désirées Mann ist jetzt in Paris Minister. Sie ist die erste Dame. Wohnt in einem Palais der Regierung. Du bist aus dem russischen Staatsdienst ausgetreten . . .«

»Meine Zeit wird kommen!«

»Wann?«

»Vielleicht schneller als Ihr Alle denkt!«

»Wieso?«

»Mehr kann ich nicht sagen!«

»Und das sagst Du dafür seit Jahr und Tag! Es fängt an, langweilig zu werden, mein Freund, weil es sich nie erfüllt! Augenblicklich bist Du den Leuten noch interessant. Das Mysterium ist noch nicht gelüftet. Um Dich ist noch der Hauch der großen Affären. In ein paar Jahren wird man über Dich lächeln . . .«

»Das lasse meine Sorge sein!«

». . . sich fragen: Mein Gott, wer hat denn eigentlich diese leere Nuß ins Rollen gebracht?«

»Nein!«

Er schrie sie wütend an. Sie ebenso, Funkelaugen im vorgestreckten Haupt:

»Doch!«

»Warte, wie die Welt in wenigen Wochen aussieht!«

»Ja – warte – warte!« Sie äffte ihm nach. »Man kennt Deine Weisheit! Aber sie verfängt nicht mehr. Du bist ein Blinder, mein Freund!«

»Ich!« sagte Nicolai Schjelting nur, lächelnden Dünkel auf dem fahlen Gesicht.

»Jetzt fange ich es erst an, zu merken, ich, Deine Frau! Später werden es auch die Andern merken! Mein Lieber: wir werden eine Mode von vorgestern sein und ich inzwischen die Dreißig überschritten haben! Das ist Alles!«

»Ein Achselzucken, meine Beste, ist auch eine Antwort!«

»Eine Antwort, aber keine Widerlegung!«

»Diese Szenen . . .,« sprach Nicolai Schjelting leise und nervös und fuhr sich mit der Hand über die Augen. Dann wandte er sich wieder zu seiner schönen jungen Frau. »Sehr gut! . . . In der Tat! Und unser Eintritt in jeden Salon? Ist es nicht ein Ereignis, wenn der Diener ruft: Monsieur und Madame de Schjelting?«

»Wie lange noch? Sie nutzen Dich aus und lachen Dich aus! Die Großfürsten lassen Dich laufen wie ihre Troikapferde. Du bist ihr Galopin für ganz Europa! . . . Kein Balkankönig, wo Du nicht antichambrierst!«

»Du wirst dreist, meine Freundin!«

»Man nennt Dich schon den Rubel auf Reisen! Ein schönes Metier, die ganze Welt zu bestechen – französische Deputierte, italienische Zeitungsschreiber, serbische Minister, Leute, die kein Mensch sonst mit der Feuerzange anrührt! Dafür bist Du der Montenegriner-Partei in Petersburg gut genug! Wenn Du erst die Schwindsucht hast, wird man Dich vergessen!«

»Genug davon!« sagte Nicolai Schjelting müde und ein Gähnen unterdrückend. Ghislaine hatte ihren Toilettenspiegel auf die Marmorplatte geworfen, daß das Glas zersprang. Sie trat drohend, mit geballten Fäusten auf ihn zu, erbittert durch sein nachsichtiges Lächeln, als sei sie ein ungezogenes Kind.

»Inzwischen vergißt Du mich! Ich habe Dir hunderttausend Francs Rente mitgebracht . . .«

»Still davon!«

». . . und bin dafür die Strohwitwe von Brüssel. Jedes Kind kennt mich schon. Man lächelt. Man fragt mich längst nicht mehr nach Dir. Man weiß, Du bist ja doch nicht da. Man wundert sich, mein Lieber! . . . Man schüttelt den Kopf, daß Du nicht mehr Sorge um mich hast, eine Frau wie mich . . .«

Zum ersten Mal jetzt kam ihm der Schrecken: diese Veränderung stammt nicht aus ihr selbst . . . aus dem flachen Leichtsinn ihres rasch bewegten, rasch gestillten Pariser Seelchens. Hinter so viel Zittern und Zorn steckt fremder Einfluß! Steckt irgend ein Mann! Es ist wahr: ich habe nicht mehr auf sie aufgepaßt in diesen letzten Monaten. Ich war wie verhext . . .

»Schließlich: Jeder nach seinem Geschmack!« sagte Ghislaine Schjelting verächtlich. »Wenn es Dir besser da unten gefällt, wo sich Floh und Wanze gute Nacht sagen, unter bewaffneten Räubern statt bei mir und in dem schönen Brüssel: Ich beglückwünsche Dich zu so viel Entsagung, mein Lieber, aber ich beklage mich nicht!«

»Nun also!«

Er trat rasch zurück. Er dachte wirklich einen Moment, sie würde ihm in die Augen fahren, so schoß sie auf ihn los. Ihr heißer, junger Atem wehte ihn an.

»Auf Flöhe und Räuber bin ich nicht eifersüchtig. Von Politik verstehe ich nichts. Ich ließ Dich ruhig kommen und gehen! Ich habe mich nie gefragt, was Du in der Fremde treibst! Ich habe nachsichtig gelächelt, wenn Du in den Pariser und Petersburger Salons vor den Damen Deine Künste spielen ließest! Meine Eltern sagten mir, der Abbé, Alle: Solch Blendwerk gehört mit dazu!«

»Sehr richtig!« versetzte Nicolai Schjelting.

»Die Frauen gehören mit dazu! Wohl verstanden! Aber nicht eine Frau, mein Lieber! . . . Siehst Du: Jetzt kannst sogar Du Dich nicht verstellen! Du wirst blaß! Du weichst meinem Blick aus!«

»Nicht weiter! Seien wir darüber einig: die Lächerlichkeit tötet!«

»Glaubst Du denn, ich kennte Dich nicht! Ich merkte nicht, wie Du Dich seit vier oder sechs Wochen verändert hast! . . . Du, – der weiße Othello – hattest ja unter Menschen keinen Blick mehr für mich . . .«

»War es etwa nötig?«

»Ich konnte reden, mit wem ich wollte – tanzen, mit wem ich wollte . . . flirten, mit wem ich wollte . . . Archibald Cowley ist ein Ladykiller, mein Lieber. Jedermann weiß es! . . . Ich habe heute Abend eine halbe Stunde Ellbogen an Ellbogen mit ihm gesessen. Dir war es ganz gleich!«

Sie drehte sich weg und sagte über die Schulter, kurz und kalt wie ein Dolchstich.

»Er ist es übrigens nicht . . .«

Wieder in ihm der Schrecken:

»Wer denn also? Wer spricht denn aus Dir? Was heißt das?«

»Das frage ich Dich! Nein: Ich frage Dich nicht! Es ist unter meiner Würde. Geh' nur zu Deiner Deutschen. Ich halte Dich nicht!«

Ein Schweigen.

»Welch lächerlicher Irrtum . . .,« sagte Nicolai Schjelting endlich langsam.

»Geh nur zu Deiner Deutschen!«

»Ich gebe Dir mein Ehrenwort, daß . . .«

»Geh' nur zu Deiner Deutschen! Du wolltest nach Cettinje! Liegt Wiesbaden auf dem Balkan? Mein Freund: Man hat Dich ja dort in ihrem Hause gesehen . . .«

»Beim Arzt!«

»Man hat Dich mit ihr dort auf der Straße gesehen . . .«

»Ein Zufall!«

»Du warst mit ihr bereits in Moskau zusammen!«

»Woher weißt Du das?«

»Ihr wollt Euch wieder in Lübeck treffen!«

»Ich glaube, Du träumst!«

»Nein . . . Aber ich habe gute Ohren. Ich stand hinter Dir, wie Du vorhin mit ihrer Schwester oder Verwandten das neue Stelldichein verabredetest! Ich war schon vorher gewarnt. Du bist zu bekannt in Europa, mein Lieber! Es giebt zu viel Augen, die Dich verfolgen . . .«

»Aber nichts finden!«

Ghislaine von Schjelting lachte.

»Ich gestehe: Ihr seid originell: Du und diese Deutsche! Ihr spielt nicht Heinrich und Gretchen, sondern das Gegenteil. Aus reinem Haß trefft Ihr Euch, bald da, bald dort! Es hat Stil! Schade, daß nur grade ich nicht dazu Beifall klatschen kann!«

»Ghislaine – – – so höre mich einmal ruhig an.«

»Mein Freund: ich bin in Brüssel geboren. Aber ich fühle ganz als Pariserin. Ich habe das in den Fingerspitzen. Ich sehe es Dir an den Augen an. Ich rieche förmlich ein fremdes Parfum. Und wenn ich gar nichts von dieser Deutschen wüßte, ich würde es Dir doch ins Gesicht sagen: Du bist in eine andere Frau verliebt! . . . Und siehst Du: Nun bist Du still und findest kein Wort mehr!«

. . . Das war die tiefe, dunkle Londoner Nacht, durch die Nicolai Schjelting schlaflos und ziellos dahinschlenderte. Er hatte in dem schweren Schweigen zwischen ihm und seiner Frau den Pyjamarock mechanisch wieder mit dem Frack vertauscht, den Mantel wieder umgehängt, den Hut aufgesetzt. An einsame Spaziergänge durch die Dunkelheit war er gewöhnt, er, den so oft der Schlummer floh.

Das war die dunkle Nacht, das Kehrbild Londons bei Tage, kein lärmendes, lichterhelltes Babel wie in Berlin. Schweigen und Leere. Die ehrenwerte Welt war längst zu Hause und in den Federn. Alle Restaurants geschlossen. Was sich jetzt auf die Straße wagte, waren Schatten wie die Nacht selbst. Große Federhüte, heiseres Lachen an den Ecken, daneben, als Freunde und Zuhälter, in scharlachroten Jacken, das Spazierstöckchen unter dem Arm, die Garden Seiner britischen Majestät. In zerrissene Kohlensäcke gehüllte, halbnackte, kaum mehr menschenähnliche Lumpensammler in den Gossen. Quer über die Straßen hingestreckt, wie schmutzige Kleiderbündel, zwei, drei grauhaarige Frauen. Ein Fuselgeruch jetzt noch um die Betrunkenen. Ein wachsgelber verhungernder junger Mensch, der sich mühsam an die Hausmauer, an den Anschlag einer Bibelgesellschaft zur Bekleidung der Maoris auf Neuseeland stützte. Das alles kroch jetzt lautlos aus der Finsternis hervor, wie die Tiere des Waldes. Diese Stunden zwischen Mitternacht und Morgen waren von der Weisheit der Vorsehung für sie vorbehalten. Bei Tag wäre ihr Anblick den Ladies und den Reverends ernstlich peinlich gewesen.

Das war die Londoner Nacht. Das runde helle Cyklopenauge auf dem Uhrturm des Big Ben glotzte über sie hin. Nicolai Schjelting hörte den Wiederhall seiner Schritte auf dem langen leeren Embankment. Zu seiner Rechten flutete die Themse, scheinbar unendlich breit in dem Dämmern, in dem das andere Ufer sich verlor. An der Nadel der Kleopatra blieb er stehen. Schlank schoß der Obelisk zu dem rauchigen Nachthimmel empor. Runen der Jahrtausende zwischen Nil und Themse rankten sich auf seinen Flächen. Runzeln des Nachdenkens furchten sich auf Nicolai Schjeltings Stirne. Sonst lagen in seinem Kopf die Lebensziele einzeln nach ihrer Wichtigkeit geordnet nüchtern nebeneinander. Jetzt sah er einmal sein Leben im Ganzen vor sich.

In seinen jüngeren Jahren, ehe der Ehrgeiz alles Andere in ihm erstickte, war er ein leidenschaftlicher Spieler gewesen. Es war ein altes, abgedroschenes Gleichnis, daß man alles auf eine Karte setzte. Aber wer nicht wagte, der gewann auch nicht. Er sagte sich im Zurückgehen: Es wird Zeit, daß ich gewinne! Seit sieben Jahren spiele ich! Nicht mehr mit Kartenkönigen, sondern mit Balkankönigen, nicht mehr mit Kartendamen, sondern mit Damen von Petersburg und Paris, nicht mit Pique-Buben, sondern mit allerhand Buben in französischen Ministerien und römischen Redaktionen. Aber der große Schlag bleibt aus. Drei-, viermal haben wir schon Feuer gelegt. Auf dem Balkan. In Libyen. Im Aegäischen Meer. Es ist immer wieder verflackert. Ehe es zum Weltbrand wurde. Heute ist die Erde wieder so still und friedlich, wie diese Juninacht. Unter mir aber wankt der Erdboden. Man beginnt an mir zu zweifeln. Meine Frau macht den Anfang. Sie kennt mich schließlich am besten. Bald folgen Andere. Meine Karte muß bald kommen. Ich brauche den Krieg . . .

Er erschien sich wie ein Geist des Kriegs, während er mit unruhigen Augen, die Zigarette nervös zwischen den Lippen, die Hände in den Taschen, den Mantelkragen fröstelnd hochgeschlagen, unhörbar in seinen Gummigaloschen durch die unermeßliche, schlafende Nacht schritt. Hinter ihm im Osten über Tower und India Docks wurde es allmählich hell. Er wiederholte sich: Ich brauche den Krieg. Er trägt mich an die Sterne. Will Ghislaine nicht mit – nun gut: dann bin ich frei, wenn wir Europa verteilen. Ich kann dann andere Partieen machen – ich, le comte Nicolai de Schjelting, ambassadeur et ministre plénipotentiaire, der gefeierte diplomatische Vertreter des siegreichen Rossijskaja Imperija. Es wurde ihm warm bei dem feierlichen Wort. Dann eine Glut im kalten Herzen: oder ich kann mir den höchsten Luxus meines Lebens leisten und die heiraten, die ich will! Und die dann muß, weil alles um sie verloren ist . . .

Und im Weitergehen sagte er sich, in einer fixen Idee: Ich fahre nicht wieder nach Wiesbaden. Es hat jetzt keinen Zweck. Aber ich werde ihr schreiben. Sie wieder warnen. Sie darf mich nicht vergessen.

Da war die leere Weite zwischen den Palästen und Ministerien von Whitehall. An der Ecke von Downing-Street waren einige Fenster im Auswärtigen Amt jetzt noch im Morgengrauen hell. Dort oben saßen sie auch und rechneten und addierten die Summen der Welt und multiplizierten Menschen mit Millionen Pfund und dem Tonnengehalt von Schiffen und fanden sich selber kaum mehr zurecht in der Wirrnis heimlicher Verträge, mit denen sie seit Eduards VII. Tagen Deutschland von allen Seiten umsponnen hatten.

Nicolai Schjelting sah von unten zu den Seelenfängern hinauf. Er dachte sich: Spieler sind wir Alle. Nicht ich allein. Spieler seid auch Ihr da oben, Ihr Minister und Steuerleute an Englands Ruder. Spieler seid Ihr Advokaten an der Seine, im Elysée und Palais Bourbon. Spieler seid Ihr, König Peter und Paschitsch, und Du, Albert von Antwerpen. Spieler bist Du selbst, mein großer Gönner Nicolai, und Alles, was um Dich ist, und Dein Schwiegervater in den Schwarzen Bergen. Wir Alle sind es müde, daß Deutschland in Frieden die Welt erobert. Wir wollen es ihm im Krieg wieder abnehmen. Wir werfen die Würfel. Mögen sie endlich fallen! Ein Gedanke durchzuckte ihn. Es konnte eigentlich nichts Neues in den Blättern stehen, was nicht der Zeitungskönig Higgins schon diese Nacht gewußt. Trotzdem eilte er nach Victoria-Station. Da waren schon Jungen mit den ersten, noch feuchten und nach Druckerschwärze riechenden Morgenausgaben.

Der Balkan . . . Albanien . . . Der Mbret . . . Kämpfe seiner Truppen bei Tirana – Oberst Thomson bei Durazzo gefallen – – Ach was, das war die Selbstverständlichkeit von Mord und Blut da unten! Weiter: Sitzung der serbischen Skuptschina. Österreichische Manöver in Bosnien . . . Der Erzherzog-Thronfolger in Illidze. Illidze war ein hübscher, still und geschützt in weitem Park gelegener Kurort. Eine Viertelstunde Eisenbahnfahrt von Serajewo. Nicolai Schjelting kannte den Platz wohl . . .

Er steckte düster das Zeitungsblatt in die Tasche. Neben dem bereitstehenden Frühzug fuhren schon die ersten Cabs und Taxis vor. Plötzlich erkannte er unter den Abreisenden Professor Higgins und Frau. Er trat so jäh auf sie zu, daß Inges Schwester durch eine Kopfneigung ihm die Erlaubnis geben mußte, sie zu grüßen. Er lüftete lächelnd den Hut und frug auf Deutsch:

»So früh auf, gnädige Frau?«

Hannah Higgins lachte. Sie war morgenfrisch, rosig und lustig. Ärger und Sorgen vom Abend mit einemmal weg.

»Auch so'ne miserable deutsche Angewohnheit. Ich bin immer gern früh auf! Mr. Higgins auch – nicht wahr?«

»Oh ja!« sagte der Oxforder Physiologe. Er hätte viel lieber bis acht Uhr Morgens geschlafen, statt dieser unchristlichen Zeit, und den zweiten Frühstückszug benutzt.

»Und wohin, gnädige Frau?«

»Auf ein paar Tage nach Cowes. Von da mit der Yacht meines Schwagers zu den Festlichkeiten nach Kiel.«

»Werden Sie dort Ihr Fräulein Schwester sehen?«

Sie stutzte, daß er schon wieder von Inge anfing. Sie erwiderte zögernd:

»Kann sein, daß sie von Lübeck herüberrutscht! Soll ich ihr vielleicht bestellen, daß Sie ihr sehr böse sind?«

»Oh Gott – ich kenne sie ja kaum!« sagte Nicolai Schjelting hastig und abwehrend, verbeugte sich und eilte davon.

Hannah Higgins schaute ihm kopfschüttelnd nach. Sie hatte sich vor ihm gefürchtet gehabt. Noch als sie mit ihrem Mann am nächsten Tag, von der Mündung der Medina her, die Rhede von Cowes entlang schritt, sagte sie:

»Denke Dir, ich kriege diesen Russen von gestern früh nicht aus dem Kopf. Er war mir direkt unheimlich. Ich weiß nicht warum. Dabei muß das Geschöpf die ganze Nacht durchgebummelt haben. Er hatte noch eine schiefsitzende, weiße Binde um, und unterm Mantel guckten die Frackzipfelchen raus.«

Professor Higgins hörte nur zerstreut zu. Ein Ausländer interessierte ihn nicht. Er war belebt, wie nur ein richtiger Brite bei Seebrise und Salzluft. Auf der Terrasse des Yacht-Clubs, am Ende der Marine, saßen in blauen Mützen und Jacken die Admirale und Sportsmen. Auf dem blauen Becken des Solent schossen wie weiße Sturmvögel die Segelyachten der Lords, in der Ferne qualmten Dreadnoughts-Geschwader vor Portsmouth, Mittags gab es zum Lunch noch Hummern – was wollte der Mensch mehr? Er rieb sich befriedigt die Hände: »Well, Hannah!« sagte er. »Übermorgen stechen wir nach Kiel in See!«


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