Rudolph Stratz
Das deutsche Wunder
Rudolph Stratz

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XII.

Nicolai von Schjelting's Genosse an diesem Abend war ein Moskauer Däne, einer jener Finanzmänner, die sich den mächtigen Schutz der Kaiserin Mutter und der Kopenhager Clique für ihre Geschäfte im Zarenreich, im Land der unbegrenzten Möglichkeiten zu Nutze machten. Er war klein, brünett und hager. Er hatte seine Freunde in dem Petersburger Minister-Komité, im Reichsrat und in der Gossudarstwennaja Duma. Mit Schjelting einte ihn der Deutschenhaß. Sie hätten sich trotzdem am leichtesten deutsch miteinander verständigt. Aber, um nicht durch dessen fremdartigen Klang aufzufallen, sprachen sie englisch.

»Nun – Sie brachen so plötzlich auf, Herr von Schjelting?«

Sie gingen in der lauen Sommernacht durch die Ottostraße dahin. Nicolai Schjelting hatte seine Sicherheit wieder. Etwas gönnerhaften Hochmut gegen den homme d'affaires neben ihm.

»Ja wie? Man kann doch nicht ewig sitzen bleiben! Diese Deutschen . . .«

Herr Niels Poulsen war noch dänischer Staatsangehöriger und also neutral. Es war ihm, seit dem fluchtartigen Rückzug, in Gegenwart des Russen mit der Yankee-Schleife nicht mehr ganz behaglich zu Mut. Schjelting achtete nicht auf das betretene Schweigen des Andern. Er sagte wieder nachdenklich vor sich hin:

»Diese Deutschen . . .«

Und dann, in jähem slawischen Stimmungswechsel, seinen Begleiter am Arm packend.

»Wie ist das? Verstehen Sie das?«

»Was denn?«

»Haben Sie gesehen, wie dies gelbe Automobil vorhin abging? Diese Offiziere lachten und scherzten. Sie hatten sich mit Blumensträußchen bestecken lassen. Sie hatten Eichenlaub am Helm und am Wagen. Sie fuhren in den Krieg mit uns, mit Frankreich, mit England, mit der halben Welt, so wie man Sonntags auf die Tatsche fährt! Belieben Sie! Was heißt das?«

»Es sind Soldaten!«

»Nun – und ihre Frauen? Haben Sie bemerkt, daß keine von ihnen beim Abschied weinte? Auch die jungen Mädchen nicht? Die Bräute? Wie machen sie das? Sind diese Deutschen von Stein?«

»Vielleicht waren es nur entfernte Verwandte . . .«

»Es war schon eine Braut unter ihnen!« sagte Nicolai Schjelting mit einem sonderbaren Lächeln. »Ich weiß es. Und auch, wem dieses Gretchen-Herz gehört!«

Er warf den Kopf höhnisch in den Nacken.

»Aber die letzte Stunde des preußischen Militarismus hat geschlagen. Der Krieg wird diese Kriegskaste verschlingen. Es ist ja nur eine Handvoll Menschen. Das deutsche Volk hat nichts mit ihr gemein!«

Um die Ecke der Briennerstraße wälzte es sich uferlos, tosend, im Sturm flutend, wie ein von Blitz und Donner der Berge angeschwollener Alpenstrom, in der Nacht verschwimmend, von Fackeln erhellt, von Fahnen überflattert, von geschwungenen Hüten und Tüchern, von Hurrah und Massengesang überbraust. Der Däne riß Schjelting zur Seite.

»Passen Sie auf! Das Volk reißt Sie mit!«

»Das Volk? Wie denn das Volk?«

»Nun, was ist denn das da?« Der Andere mußte schreien, um sich in der tausendfach erschütterten Luft verständlich zu machen, und deutete auf die endlos in Schritt und Tritt über das zitternde Pflaster ziehenden Reihen. »Da marschieren junge Fabrikarbeiter und Studenten Arm in Arm, Handwerker, Ladenverkäufer, Lehrlinge, Mädchen, Frauen aus dem Volk . . . Alle aus dem Volk! Wo kämen denn sonst die Tausende her?«

Schjelting nickte.

»Ganz richtig!« sagte er lächelnd. »Meine These! Sie demonstrieren! Gegen den Krieg! Gegen den Militarismus!«

»Es braust ein Ruf wie Donnerhall!« Alle die vorüberzogen, sangen es aus voller Kehle. Schjelting zuckte zusammen. Er wollte es nicht hören.

»Sie demonstrieren!« wiederholte er. »Sie rufen die Rechte des Volks gegen die Machthaber aus!«

Der Däne hatte sich höflich auf Deutsch an einen Herrn im Zylinderhut gewandt.

»Bitte! Wohin wollen diese Mengen von Menschen?«

»Dort, zum Wittelsbacher Palais, – den König begrüßen!«

Nicolai von Schjelting drehte mit einer hochfahrenden Bewegung den Kopf zur Seite.

»Gehen wir!« sagte er. »Gott mag wissen, was das für Leute sind! Der Polizeiminister hat diesen Aufzug bestellt. Man hat die Fahnen geliefert. Die Schreier. Die wahre Stimmung ist anders. Wir haben sie studiert. Wir wissen die Ergebnisse der Wahlen in Deutschland. Wir kennen die Unzufriedenheit des Handarbeiters, die Mutlosigkeit der Intelligenz. Beide gingen bisher nebeneinander her. Nun werden sie sich gegen den Militarismus vermählen! Ah da . . . sehen Sie: da stürmen sie die Kasernen der Garde.«

Vor den langen blumengeschmückten Fensterreihen des Leibregiments in der Türkenstraße drängten sich lärmende Haufen. Fast nur junge Männer. Viele in bloßem Kopf. Im Schurzfell. So, wie sie von der Arbeit kamen. Sie hoben die Hände. Pochten an die Tore. Riefen. Schutzmannshelme dazwischen. Nicolai Schjelting trat triumphierend näher. Er hörte, wie ein dicker Polizist beruhigend sagte:

»San S' doch stad! Es kommt a Jeds dran! Morgen früh um Acht!«

»Ja – dös kennt ma! Nachher is wieder alles kumplett!«

»I steh' seit heut Mittag und wart', daß S' mi nehme, bal Einer drin' schlapp macht!«

»Da kannst nix machen! Es müssen ja net grad die Leiber sein! I fahr' noch heut' Nacht nach Nürnberg!«

»Hat's dort Platz?«

»Dös glaabst!«

»Wart, i kumm mit!«

Ein paar junge Gesellen liefen in langen Sprüngen über die Straße, dem Bahnhof zu. Ein junger Kaufmann schüttelte den Kopf.

»Nürnberg nimmt seit heute Mittag nichts mehr. Alle Regimenter besetzt. Ich hab's telefonisch. Ich reis' morgen früh nach Metz, zur bayrischen Brigade!«

»Warum nöt gleich, Herr Nachbar?«

»Ich hab' net Geld genug! Ich muß erst meine Uhr versetzen!«

»Jetzt i tät' mi doch schämen, so zu drängen!« sagte der Schutzmann. Und dann, auf die Frage des Dänen:

»Bald man sie hier los wird, ziehe sie vor's Generalkommando oder zu den Schwollescheh's!«

»Was wollen sie denn?«

»Aufbegehren tun's, weil sie nöt glei' alle als Kriegsfreiwillige eingestellt werden! Ja, lieber Gott, wann's immer glei' zu Zehntausend ang'ruckt kommen . . .«

Nicolai Schjeltings Züge zwinkerten unruhig. Er wandte sich jäh ab.

»Kommen Sie, Mr. Poulsen!«

Er schritt hastig die nächste Straße hinab. Zu seiner Rechten, in der Richtung gegen Nymphenburg, lagen die industriellen Vorstädte Münchens. Arbeiterviertel. Fabriken. Mietskasernen. Er horchte in die Nacht hinaus. Sein Gesicht verklärte sich.

»Hören Sie diese fernen, wilden Schreie?«

»Ja. Seltsam.«

»Sie kommen näher. Schreie der Verzweiflung! Nein, der Wut! . . . Der Schlachtruf des Volks . . . Endlich! Ah . . . Da naht der Aufruhr . . .«

»Juhu!!«

Es klang wie der Schrei des Steinadlers über Karwendel und Werdenfelser Land, wie der Ruf des Wanderfalken über Wildem Kaiser und Steinernem Meer. Weißer Adlerflaum wehte trotzig von den Berghüten. Braungebrannte Gesichter voll lachenden Schneids darunter, Holzhacker, Jäger, Senner, Bauernburschen, in grüner Jacke und kurzen Gamslederhosen an gestickten Trägern, mit nackten Knieen und Wadenstutzen und Nagelschuhen.

Die ersten Kriegsfreiwilligen aus dem Bayerischen Hochland. Die Vorboten von vielen Tausenden. Schielting hörte, wie ein Bürger es dem andern ins Ohr schrie, und dann der, mit einem strahlenden Blick auf die wilden, stutzengeübten Burschen:

»Wo die Bub'n hinschiassen, da möcht' i nöt an Franzosen machen!«

Sie sprangen und schuhplattelten im Marsch, klatschten mit der flachen Hand auf die Schenkel.

»Juhu! Juhu!« Die ganze Menge jubelte mit, sang, schrie, riß Nicolai Schjelting in ihrem Brausen fort. Es klang wie eine Stimme. Es war, als schritte da ein unsichtbarer Riese neben ihm und brüllte ihm in die Ohren: ›Ihr habt mich gerufen! Ich bin gekommen. Da bin ich!‹

»Nun – was sagen Sie dazu, Herr von Schjelting?«

Sie hatten sich aus dem Gedräng herausgearbeitet. Schjelting war etwas bleich geworden.

»In der Tat: es ist anders, als ich . . . Ich war oft in München. Man traf sich hier. Man hatte seine Formeln und Schlüsse für die Stimmung . . . In Preußen sieht es jedenfalls ganz anders aus. Berlin ist in dieser Stunde unzweifelhaft schon in der Hand der Blusenmänner!«

»Oh . . .?«

»Ich kenne die wahre Seele Deutschlands. Man wird in dieser Nacht in Württemberg weinen, man wird in Sachsen die Faust gegen die Militaristen ballen!«

»Meinen Sie?«

»Man wird am Rhein zittern und an der Oder verzweifelt die Kirchen füllen.«

»Nun – ich weiß nicht . . . ich würde an Ihrer Stelle machen, daß ich hier nicht festgenommen werde!«

»Wie kann man das? Ich bin nicht wehrpflichtig – meiner Gesundheit wegen. Man kann mich höchstens ausweisen!«

»Glauben Sie wirklich, daß man so viel Rücksicht nimmt?«

»Wir nicht! Aber Karl Karlowitsch wohl!«

»Der Deutsche?«

»Ja, er ist doch so pedantisch.«

Sie standen unter der Wölbung des Neuhausertors. Unheimlich ragten neben ihm die Trümmer des am Abend vorher der Volkswut gegen die Ausländer zum Opfer gefallenen Kaffeehauses. Drei Stockwerke hoch war alles, bis auf die Mauern, zerschmettert. Selbst die armdicken, gußeisernen Kandelaber davor von einer Riesenfaust krummgebogen. Es war wie der erste rasende, noch blind gegangene und irre geleitete Ausbruch fürchterlicher deutscher Kraft, die noch kein rechtes Ziel gefunden. Der Däne betrachtete es unbehaglich. Dann sagte er:

»Gestatten Sie, daß ich es Ihnen als Freund gestehe: es wird mir etwas unheimlich in Ihrer Nähe . . . Dies Volk hier . . . Kann ich Ihnen noch mit Etwas dienen?«

»Da swidanje

Zwei Fingerspitzen, die Hutkrempe einen Zoll hoch vom Scheitel. Dann ließ Nicolai Schjelting den Andern stehen. Ihn verabschiedete man nicht. Das tat er selbst. Er sagte sich, während er allein weiterging, verächtlich: Wie soll er nicht Angst haben? Eine Krämerseele . . . Ein Rubelraffer . . . Päh! Ein halber Ausländer außerdem . . .

Aber dann gab er sich mit einem Frösteln zu: Dieser Mensch aus der Antichambre des Finanzministers hat mich angesteckt! Wie ist das? . . . Man kennt doch die Deutschen! . . . Man belächelt sie! . . . Sind sie denn das noch, diese Menschen hier um Einen . . .? Sonst waren sie ruhig. Friedlich. Übertrieben höflich gegen Ausländer. Man machte unter ihnen, was man wollte. Deutschland war so recht der Ort, um sich gehen zu lassen. Eben hier in Bayern. Nicht umsonst hatte Iswolsky seinen ständigen Sommersitz in Tegernsee, Sonnino in Marquardtstein. Aber jetzt?

Er warf nervös seine Papyros weg. Lieber die Koffer gepackt und davon! Nein: am besten gleich, so, wie man ging und stand! Er hatte auf einmal Angst vor München, vor diesem tosenden, brausenden, erbitterten Bienenschwarm um ihn her. Arbeitsbienen – ja. Aber sie stachen. Besser nach Berlin. Dort war man sicher. Wo man ohnedies bald dort einrückte, wo inzwischen schon der Mann der Straße, dieser aufgeklärte, mit den Zielen der europäischen Demokratie vertraute Mann des Vierten Standes sein Veto gesprochen und den örtlichen Machthabern die Gewalt entwunden hatte . . .

Er fand sich plötzlich in einem der vollgepfropften Nachtzüge nach Berlin. Auch draußen auf dem Gang stauten sich noch die Menschen. Um ihn herum waren lauter junge Männer. Er antwortete englisch auf ihre Frage, ob er sich bei der zweistündigen Ablösung von Sitzen und Stehen beteiligen wolle. Ein eleganter, junger, mit Schmissen bedeckter Student neben ihm sagte:

»Kinder . . . quält nie einen Amerikaner zum Scherz! Der hat ja keinen Schimmer von deutsch! Der Fremdling bleibt sitzen!«

Nicolai Schjelting drückte sich in die Ecke. Er blinzelte nur zwischen den halbgeschlossenen Lidern. Er dachte sich: Ich habe jetzt keine Zunge. Nur Augen und Ohren. Aber die werde ich brauchen. Jetzt werdet Ihr ahnungslosen Deutschen mir Eure geheimsten Gedanken offenbaren . . . Eure dumpfe Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung . . .

Unter denen, die hereinkamen und mit den Anderen die Plätze tauschten, war ein blondbärtiger Dreißiger. Er ließ sich hinfallen:

»Donnerwetter ja . . . Das tut gut!«

»Kommen Sie weither?«

»Es geht! Aus Marokko.«

»Bei der Hitze!«

»Ich hatte als Ingenieur für meine Firma zu tun. Urlaub schon angetreten. Nun komm' ich grade zurecht. Kolossales Glück!«

»Infanterie?«

»Regiment Elisabeth!«

»Ich bin Ulan!« sagte der junge Graf. »Aber erst Unteroffizier der Reserve. Mein Bruder da, mit dem ich eben vom Tiroler Ferienbummel komm', hat's besser. Der ist schon Rittmeister!«

»Aktiv?«

»Nein. Im Hauptamt: Privatdozent der Assyriologie,« sagte der ernste, bärtige Herr lächelnd. »Aber ich freue mich recht! Meine Familie hat durch vier Generationen das Eiserne Kreuz. Nun holen wir's uns in der fünften!«

»Was der Amerikaner da 'rüberglupscht! Dabei versteht er doch nicht 'ne Bohne!«

Nicolai von Schjelting schloß die Augen. Er frug sich: Wie denn? Dieser deutsche Adel erkennt doch nichts neben sich an. Und doch trinkt da der Graf mit dem Ingenieur aus einer Flasche! Die deutsche Wissenschaft ist doch international. Und doch träumt dieser Assyriologe vom Eisernen Kreuz! Die teutonische Verschwörung geht weiter, als man in der europäischen Intelligenz dachte . . .

»Wohin denn, Herr Landgerichtsrat . . . Verzeihung, Herr Hauptmann?«

Ein großer, breitschultriger Herr war aufgestanden.

»Ich will mir 'mal den Mann da draußen hereinholen, der sieht ja elend aus! So kommen Sie doch schon!«

»Ich hab' dritte Klass'!«

»Ach was! Hier giebt's keine Deutschen erster, zweiter und dritter Klasse! Hingesetzt. So!«

»Danke, Ihr Herre! . . . 's isch so saumäßig heiß . . .«

»Na, Sie Wüschteberger! Wollen Sie denn nach Berlin?«

»Ja. Ich meld' mich bei den Preißen!«

Der Neuangekommene war ein einfacher Mann. Schon über die Mitte der Vierzig. Er wischte sich den Schweiß von der Stirne.

»Mei alter Hauptmann, unter dem ich in Weingarte Unteroffizier war, hat jetzt ein Regiment in Spandau. Ich hab's meiner Frau g'sagt: 's isch so und bleibt dabei! Ich geh zu mei'm alten Hauptmann!«

»Wielange ist denn das in Weingarten her?«

»Fünfzehn Jahr! Ich bin schon lang Rentamtsbote im Sigmaring'schen!

»Der Amerikaner ist gottvoll! Der macht 'n Gesicht, wie 'ne Katze, wenn's donnert!« sagte der kleine Graf halblaut. Nicolai Schjelting stellte sich schlafend. Er dachte sich: Immer hat man gehört, die Deutschen werden in den Kasernen geknechtet. Und da kommen sie, nach langen Jahren, von weit her zu ihren früheren Offizieren . . . Wieder Stimmen um ihn:

»Sie sind gewiß ein Frankfurter, Herr Doktor, nach Ihrer Sprache?«

»Nicht weit davon! Ein Offenbächer! Aber hören Sie 'mal den da draußen: wenn das kein Pälzer ist . . .«

»M'r wird doch noch kreische derfe . . . Wie? . . . Ha, freilich bin ich schon im Landsturm!«

»Der ist ja noch gar nicht einberufen!«

Aber der Metzgermeister und Kriegervereins-Vorstand aus der Pfalz verstärkte seine Lungenkraft.

»Jo – do könnt' ich lange warte! Ich will nix, als norr zu mein'm alten Regiment nach Nürreberg. Bei sellerer Artillerie hab' ich als junger Borsch g'stanne. Do gehör' ich nei!«

Und wieder frug sich Nicolai Schjelting: Das Volk . . . ja aber da ist doch das Volk . . . es drängt sich herein – – setzt sich zwischen seine Bedrücker, ist mit ihnen ein Herz und eine Seele . . . Wenn ich wirklich Amerikaner wäre, wofür sie mich halten – ich müßte mich wie zu Hause fühlen, so gleich ist Einer dem Andern. Wo bleibt der Aufschrei der Massen! . . . Ah – da endlich ein Weinen!

Der junge, kaum achtzehnjährige Mensch vor ihm kämpfte wirklich mit bitteren Tränen. Er war sauber gekleidet, guter Leute Kind, und hatte eine Pappschachtel mit seinen Habseligkeiten unter dem Arm. An dem schüttelte ihn Einer:

»Zum Donnerwetter – wer flennt denn da? Sind Sie denn schon einberufen?«

»Sie wollen mich ja nirgends haben! Bei sieben Regimentern hab' ich mich schon gemeldet. Immer sprechen sie, das wär' noch nichts mit meinem Brustumfang . . .«

Er schaute kummervoll mit nassen Augen auf. Es zeigte sich, daß er ein Kaufmannslehrling aus Kassel war. Nun hatte er seine Stellung aufgegeben und reiste überall herum mit seinem Pappbündelchen unter dem Arm, und sie mochten ihn nicht. Seine Hoffnung war jetzt die Marine. Er war auf dem Weg nach Wilhelmshaven. Man tröstete ihn. Der Student gab ihm eine Karte:

»Mein alter Herr ist Staatsminister! Schlimmstenfalls kann er 'was für Sie tun! Aber eilen Sie sich. Er rückt zugleich mit mir und meinen Brüdern aus!«

Und vom Gang her rief es aufmunternd wie ein Hauch von Salz und See:

»Jong . . . Jong . . . Kopf hoch . . . Dich können wir bruken!«

Ein blonder Siegfried von einem deutschen Seemann war es, auf dem Weg von seinem Handelsschiff in Genua zu seinem Gestellungsort in Kiel. Er stand mit ein paar deutschen Köchen und Kellnern, die aus der Schweiz zu ihren Regimentern eilten. Er trug Bürgerkleid wie sie und all die Andern. Aber es war Nicolai Schjelting in seiner Ecke, als hätten sie alle zusammen schon denselben Waffenrock, denselben Willen, den die Pickelhaube krönte. Er begriff das nicht. Er versuchte, es sich zu analysieren. Er frug sich: Wie können die Deutschen denn jetzt auf einmal einig sein? Fröhlich? Herzlich wie Brüder. Der Alkohol? Er ist ja auf allen Bahnhöfen gesperrt. Nein: dieser Rausch kommt ihnen von Innen . . .

Dieses neue Fiebern und Brausen. Dieses tausendstimmige ›Deutschland, Deutschland über Alles!‹ über strudelndem Menschengewoge. Es war wieder wie das grimme Lachen eines unsichtbaren Riesen unter der Bahnhofswölbung von Nürnberg. Dann fuhr der Zug wieder in die Nacht hinaus. Man schlief. Aber die draußen auf dem Gang Stehenden hatten kleine elektrische Taschenlampen, sahen nach der Uhr, lösten auf die Minute alle zwei Stunden die Innensitzenden ab wie die Schildwachen. Das war im Handumdrehen organisiert. Nicolai Schjelting saß wach. Er sann: Was haben diese Leute für Nerven? Sie haben ihre Heimat verlassen, Abschied von ihren Eltern und Familien genommen, ziehen in einen furchtbaren, aussichtslosen Krieg gegen die halbe Erde, und dabei schlafen sie! Und wenn sie aufwachen, machen sie womöglich im Dunkeln miteinander Witze . . . Wahrlich – wenn sie nicht so verblendet wären, könnte man sich vor ihnen fürchten . . .

Ein Frösteln der Seele überlief ihn in der glühend heißen Augustnacht. Er prüfte sich mit gerunzelter Stirne. Er liebte es, immer mit sich und über sich im Klaren zu sein. Das war sein Vorsprung vor der Verschwommenheit allrussischen Denkens. Und er gestand sich: Das war etwas, was er noch gestern für unmöglich und lächerlich gehalten hatte. Das war Angst vor Deutschland! Unbegreifliche Angst . . .

Er wollte sich beruhigen: Das sind die Nerven. Die schlechte Luft. Die Enge zwischen diesen schnarchenden Teutonen. Man ist im Gefängnis. Wehrlos. Wenn sie mich entdecken, schlagen sie mich tot, oder werfen mich aus dem Zug. Diese lachenden Leute sind zu Allem fähig . . .

Nicolai von Schjelting schluckte ein paar mal heftig. Er hätte gewünscht, im Freien zu sein. In der schützenden Finsternis draußen. Seine Angst stieg und stieg. Er hielt es kaum mehr aus. Er wollte sich mechanisch eine Papyros drehen und zuckte im letzten Augenblick zurück. Um Gotteswillen – dadurch verriet er sich wieder als Russen! Bei jeder Gelegenheit! Nur fort von hier . . . fort . . . Das da um Einen – das war nicht mehr der Deutsche Michel . . .

Der Zug hielt. Noch vor einer Station, die keine Einfahrt gab. Es schien ein Vorort von Leipzig zu sein. Man hörte es aus den Gesprächen von Menschen draußen, die aus den Wagen kletterten. Offenbar wohnten sie in der Nähe und legten die kurze Strecke lieber zu Fuß zurück. Nicolai Schjelting sprang auf, drängte sich zwischen den vielen verschränkten Beinpaaren durch, atmete auf dem Bahnsteig die kühle Morgenluft . . . ah . . . man war gerettet . . . Er fand sich allein auf einer der äußersten Randstraßen des rings um Leipzig gelagerten Fabrikgürtels, im Dämmergrauen, halb auf freiem Feld, halb zwischen den letzten Häusern. Und doch war ihm plötzlich jubelnd ums Herz. Er sagte sich: Hierhin hat mich das Schicksal geführt. Dies ist die Stelle, wo Deutschland sterblich ist. Ich habe dieses Problem studiert. Ich habe in meinem »Essai contre le Teutonisme« geschrieben: Industrialismus und Militarismus heben sich in Wilhelms Landen gegenseitig auf. So wird uns in der Stunde der Entscheidung dort kein Bismarck, sondern ein Hamlet gegenüberstehen. Die Pangermanisten kennen sie wohl, diese Hymne: ›Alle Räder stehen still, wenn Dein starker Arm es will!‹ Sie wissen, daß dann allüberall eine schwielige Faust den ehernen Riegel des Volkswillens vor die Fabriktore legt!

Es glühte noch kaum das erste Morgenrot im Osten, und doch war ringsum im Zwielicht eine geheimnisvolle Helle, ein rotflackerndes Atemholen der Schlote, purpurnes Funkensprühen, ein summendes Stampfen von Nah und Fern. Im Zwielicht lebten die Wege. Waren erfüllt von langen Zügen dunkler, rüstigschreitender Männer. Reihen von Radfahrern schossen an ihnen vorbei. Die ersten Straßenbahnen klingelten. Nicolai Schjelting fuhr sich über die Stirne und sah im dumpfen Staunen: Deutschland ging, als wäre nichts geschehen, auch heute morgen mitten im aufziehenden Weltkrieg an die Arbeit . . .

Es fiel ihm schwer, das zu glauben. Wo blieben die roten Fahnen? Es wurde hell. Nichts war zu erblicken als Ordnung und Ruhe. Schjelting schritt nach der Stadt . . . Er sagte sich zum Trost: Man hat diese Enterbten unter die Waffen gerufen. Sie werden da innen irgendwo zusammenströmen, um zu protestieren! Ah – da biegt es um die Ecke – es nimmt kein Ende – ein vielhundertköpfiger Zug – Sie marschieren in Schritt und Tritt, diese jungen Männer – sie singen – aber sie singen ein Schlachtlied des Trotzes! Das Pflaster zittert unter dem Tritt der Arbeiter-Bataillone . . . Die Kriegspartei zittert vor ihnen . . .

Er drängte sich heran. Er beugte atemlos, mit aufgerissenen Augen, den Kopf vor, um die Worte des brausenden Massenchors aufzufangen. Hunderte, die Bündel unter dem Arm, auf dem Marsch zur Kaserne sangen es in Schritt und Tritt:

»Mit Herz und Hand
für's Vaterland . . .«

Nicolai Schjelting eilte davon, blindlings die Straßen hinab, durch das immer wildere Gewimmel der Innenstadt, die Fahnen, das Hurrah, die Umzüge, alles, was er nun schon kannte. Er erreichte den Hauptbahnhof. Auch da, trotz des frühen Morgens, ein unabsehbares Gewühl. Aber sonderbar: ein unsichtbares Uhrwerk regelte das Chaos. Für jeden war gesorgt. Auch er fand seinen Stehplatz im Gang eines Wagens nach Berlin. Eben als man abfuhr, sprang noch ein kleiner, behender Sachse auf und drängte sich neben ihn.

»Gottvertimmich! Ich mächte doch ooch mitgommen!«

Dann winkte er, noch atemlos, seinen Freunden draußen:

»Adche Leipz'g! Mir wärsch lieber, ich wär schon in Johannisthal! Nu – ich schreib' Eich von dort ne Garte!«

Er erzählte unaufgefordert denen um ihn, daß er Optiker von Profession sei und sich als Flieger ausbilden lassen wolle. Ein stämmiger Maurer, in der zweiten Hälfte der Zwanzig, neben ihm, meinte trocken:

»Aujust – fall nich' von's Jerüste!«

Und der Zweite, mit Vollbart, sein Arbeitskollege, sagte in tiefem Baß:

»Mensch: woher nimmste denn den Zimmt?«

»Hären Se – ich hab doch mei' Erspartes! Machen Sie ooch nach Berlin?«

»Ja, wat jloobste denn, daß die Jardepioniere ohne mir anfangen?« sagte der Maurer geringschätzig. Und der Zweite mit dem heiseren Baß:

»Wat der Nicolajewitsch is, da wär's doch jut, wenn der seine Knochen beizeiten numerieren tät'! Nachher will es wieder Keiner jewesen sind!«

»Pst! Wat schaut denn der da neben uns so 'rüber?«

»Der? Det is nur ein janz entfernter Fremder von außerhalb! Der kann nur Amerikanisch! Da kannste schreien wie Du willst – der versteht Dir nich!«

Die beiden Berliner trugen rote Federchen am Schlapphut, der Leipziger eine blutrote Kravatte. Sie erkannten sich als Genossen. Der im Bart frug:

»Sind Sie ooch orjanisiert?«

»Nu freilich! Was danken Sie denn?«

Und es ging Nicolai Schjelting durch den Kopf: Wie ist denn das mit Euch? Ihr seid doch die Unzufriedenen. Der eigene Hemmschuh der Teutobarbarei. Der Kummer Potsdams. Auf Euch steht unsere Hoffnung. Und nun? . . . Der Maurer neben ihm brannte sich eine Zigarre an.

»Ich war lange jenug im Osten uff Arbet, nah bei die Russen. Ich kenne die Brieder. Senge muß der Blutzar besehen, daß er denkt, Ostern und Pfingsten fällt uff eenen Tach!«

»Nieder mit dem russischen Despotismus!« sprach der Andere. Er lachte nicht mehr. Jetzt war ein heißer und starker Haß in seiner tiefen Stimme. Nicolai Schjelting fuhr sich unwillkürlich mit der Rechten über die Augen, als lüftete sich da eine Binde. Also so war das? . . . Er frug sich: Ja, aber wo bleiben denn da die Methoden unseres experimentellen Denkens? Deutschland war doch für uns ein Präparat unter dem Mikroskop. Die pathologischen Resultate waren festgestellt, an der Seine und Themse, wie an der Newa. Und nun auf einmal . . . Ah, wir täuschen uns nicht. Diese Deutschen täuschen sich. Sie sind in einem Fieber!

»Morjen, Morjen, Herr Karfunkelstein! Immer flott auf der Tour bei die Zeiten?«

»Wie heißt auf der Tour, Herr Krause?«

»Na – reisen Sie in Bettfedern oder nicht?«

»Zu meinen Eltern reise ich, nach Berlin. Um adieu zu sagen. Morgen werd' ich in Zittau eingekleidet!«

»Nanu! Ich denk', Sie hat man nicht brauchen können, voriges Jahr bei der Musterung!«

»Jetzt hab' ich mich aber doch als Kriegsfreiwilliger durchgeschmuggelt!« sagte der blasse junge Handelsbeflissene triumphierend. »Mein Vetter Sally auch! Und der kleine Lesser von Boas und Kompagnie, wenn Sie den kennen!«

Das wurde hinter Nicolai Schjelting gesprochen. Vor ihm sagte im Gedränge ein Achtzehnjähriger aus gutem Hause zu einem weißhaarigen Herrn:

»Es wird sein! Unsere halbe Prima geht 'raus mit dem Ordinarius zusammen!«

»Nun, Gott mit Euch Allen!«

»Ach, auf uns junge Leute kommt's ja nicht so an! Besser wir fallen, als die Verheirateten!«

Wieder dachte sich Nicolai Schjelting: Die Deutschen fiebern! Sie lachen, aber sie sehen sich dabei an, als hätte Jeder über Nacht Ehrfurcht vor dem Andern bekommen. Einer wächst durch den Nächsten! Irgend etwas trägt sie empor. Sie verlieren den Boden unter den Füßen. Sie schweben über den Dingen. Das sind Symptome, die sich nicht so rasch analysieren lassen . . . Nun: wir nähern uns Berlin! Voilà le revers de la médaille!

Er hatte sich angewöhnt gehabt, in seinen Petersburger Damenzirkeln im Salon Ignatjeff an der Newa, von Berlin nachlässig im Ton eines höheren Nachtasyls zu sprechen. Schlecht angezogene Leute und Dollar-Jagd bei Tag, Vergnügungstaumel, die Friedrichstraße bei Nacht, halb Chikago, halb Babel. Jetzt schätzte er es in seinen Gedanken höher ein. Es war die ragende Hochburg der Verneinung für ganz Deutschland. In der Spree floß nicht Wasser, sondern Lauge. Die geschmacklosen Zinspaläste an ihren Ufern waren die steingewordene Unzufriedenheit der preußischen Bürgerseele. Ah, nun würden die Steine reden! Die Steine von Berlin . . .

Sein Herz jubelte, als er, in Eile durch Koffer und Wäsche-Ankauf neu ausgerüstet, am Fenster seines Hotels am Brandenburger Tor auf die Linden hinausschaute. Da unten war endlich das Volk! Das wirkliche deutsche Volk. Ein Meer von Köpfen und Hüten. Eine unabsehbare schwarze Masse. Nicht mehr nach Tausenden, nur noch nach Zehntausenden zu zählen, vom Brandenburger Tor bis zur Spreebrücke. Es grollte und rauschte unheimlich aus diesen Tiefen wie der Donner zürnender Brandung. Auf Nicolai Schjeltings abgespannte Züge kehrte die lächelnde Ironie zurück. Er eilte hinunter, das Sternenbannerchen im Knopfloch. Hier im Hotel war alles voll Yankees und reisefertiger Briten. Der Krieg von England noch nicht erklärt. Er fühlte sich wieder ganz sicher inmitten der guten Deutschen. Er trat Unter den Linden auf einen Schutzmann zu, dem dienstfertige deutsche Gastfreundschaft das englische Dolmetscher-Zeichen verliehen, und frug:

»Wohin wollen diese Bürger Alle?«

»Zum Kaiser!«

Der Schutzmann wies nach dem fernen Grau des Hohenzollernschlosses. Ein kaum sichtbares Blinken von Uniformpünktchen war da auf einem Balkon. Helle Damenkleider. Eine Stille. Dann ein Brausen, wie wenn der Sturm über die Meeresfläche fegte. Das Aufstiegen von Tausenden von Hüten und weißen Tüchern gleich den Schaumspritzern über den Wellen. Hoch oben von den Dächern wie Flaggenflattern am Schiffsmast die Reichsbanner mit dem Eisernen Kriegskreuz, der schmetternde Pariser Einzugsmarsch vor der verlassen daliegenden französischen Botschaft. Und dann weiterhin, die Linden hinauf, das Sturmlied von Blut und Eisen: »Ich bin ein Preuße! Kennt Ihr meine Farben?« Tausende sangen es mit. Schjelting wandte sich wieder zu einem Schutzmann:

»Wo sind denn nun die Unzufriedenen?«

»Was für Unzufriedene?«

»Giebt es denn keine?«

»Höchstens als wie ich!« sagte der Schutzmann Nr. 20103. »Daß ich nicht mit 'raus darf! Unabkömmlich! Aber ich werd' denen was husten! Ich komm' schon noch mit!«

Nicolai Schjelting stand wieder im Hotel. Er befahl geistesabwesend:

»Eine Fahrkarte. Zum nächsten Zug nach Kopenhagen!«

»Bedaure! Es geht keiner mehr! Um Mitternacht schließt in ganz Deutschland der Eisenbahnverkehr!«

»Auf wie lange?«

»Mindestens für Wochen. Vielleicht für Monate!«

Er suchte sein Zimmer auf, setzte sich hin, starrte verstört vor sich nieder. Gefangen! Was war denn das? Das hatte er nicht erwartet. In Deutschland wurde Einem doch sonst alles so bequem gemacht. Namentlich einem Amerikaner, für den er galt. Mit etwas Dünkel kam ein Ausländer da immer durch. Er frug unten am nächsten Morgen noch einmal:

»Die Fremden müssen doch abreisen! Früher nahm man doch auf sie jede Rücksicht.«

»Gewiß!«

»Warum nun auf einmal nicht mehr?«

»Ja, jetzt befehlen unsere Offiziere!«

Draußen wimmelte es von Offizieren. Viele nun schon in Feldgrau. Die Menge machte ihnen überall Platz. Die Massen schienen Schjelting noch gewachsen, die Stimmung noch gehoben. Ein feierliches Leuchten auf allen Gesichtern. Deutschland rüstete sich zum vierten August. Er, der Russe, verstand den deutschen Auferstehungstag nicht. Er hatte in der Verklärung draußen plötzlich noch eine letzte Hoffnung. Er sagte sich im Lauf der nächsten Tage: Wie war denn das mit Deutschland? Es trug in letzter Zeit nicht mehr die Pickelhaube, sondern kam mit dem Musterkoffer über die russische Grenze. Nicht mehr aus Potsdam, sondern aus Essen. Es nutzte nicht die heilige Allianz, sondern den neuen Handelsvertrag. Es war überall. Auf der ganzen Welt hatte es sich sein windiges Gerüst industrieller Unternehmungen gebaut. Nun kommt der Orkan. Wirft seine Kartenhäuser über den Haufen. Das Ende ist da . . .

Er lief hinüber in die Behrenstraße. Die dehnte sich still und friedlich. Nicht mehr Menschen als sonst gingen durch die Portale der Banken aus und ein. Er bog um die Ecke der Französischen Straße. Dasselbe Bild. Er stand auf dem Opernplatz vor der Dresdener Bank. Wieder das Gleiche. Diese deutschen Finanzpaläste ragten stumm und unerschütterlich, Schulter an Schulter, wie von Kopf bis zu Fuß gepanzerte Ritter.

Er bemäntelte sein hartes Russisch-deutsch, indem er am Bankeingang sagte:

»Ich komme aus Ostpreußen! Kann man da bei Ihnen herein?«

»Nu jewiß!«

»Ich meine, weil man so wenig Leute sieht . . .«

»Na, die Börse is doch jeschlossen!«

»Aber die vielen Tausende, die um jeden Preis jetzt ihr Erspartes wiederhaben wollen!«

Der Pförtner sah kopfschüttelnd den Herrn aus Ostpreußen an.

»Davon ist hier nischt bekannt!«

Und ein herauskommender Kassenbote ergänzte:

»Immer kalt Blut und warm anjezogen!«

Nicolai Schjelting schritt durch die Säle. Menschen genug. Geschäftiges Hin und Her. Gedränge und Wortwechsel an einzelnen Schaltern. Aber wenn man näher trat, hörte man meist Englisch, Spanisch, slawische Laute vom Balkan. Ausländer, die in Eile ihre Beglaubigungsbriefe zu Geld machen wollten. Die Deutschen, die verzweifelten, geängstigten Deutschen, die er mit grausamer Neugier suchte, fand sein Auge nicht. Die Deutschen waren draußen. Ein ungeheures Brausen klang vor den Fenstern, aus dem schwarzen Menschengewimmel der Linden. Sturmstöße von Hurrah über dem Meer von Köpfen, zu den grauen Zinnen jenseits der Spree empor, auf denen das Kaiserbanner purpur-golden vor dem tiefblauen Sommerhimmel wallte.

Auch dies ist anders als ich dachte, sagte Schjelting zu sich. Er stand immer noch, in Gedanken versunken, vor der Bank. Ein kleiner, dicker, brünetter Herr, mit pechschwarzen Rattenaugen in dem pfiffigen Gesicht kam heraus, stutzte und grüßte ihn. Er erkannte Achille Macrî, den Petersburg-Pariser Finanzagenten, den er zuletzt in Konstantinopel gesehen. Er frug den Levantiner halblaut auf Französisch von obenher:

»Nun . . . Sie noch hier?«

»Ich bin doch griechischer Staatsangehöriger. Ein Neutraler! Aber Sie, Herr von Schjelting?«

»Ich kann doch nicht mehr fort. Sie müssen mir helfen!«

»Unmöglich!«

»Nun: Im September werden hier in Berlin unsere Ussuri-Kosacken die Stirnringe der Gurkhas küssen! Man wird sich dann in Petersburg erinnern, wer am Vorabend des Siegs einen Sohn des großen Rußland im Stich ließ!«

Seltsam, in dem Augenblick, wo er das sagte, glaubte er nicht mehr so fest an den Sieg, wie sonst. Das schien ihm selbst unbegreiflich und unmöglich. Aber es war so. Auf Achille Macrî indessen machte die Drohung Eindruck. Er rollte unruhig die schwarzen Augen:

»Es fährt ein Amerikaner in dieser Woche im Auto nach Holland. Man hat es ihm erlaubt. Ich kenne ihn . . . Haben Sie gefälschte Pässe?«

»Wie denn nicht? Eben einen amerikanischen! Von einem unserer ersten Moskauer Spezialisten!«

»Dann halten Sie sich bereit!«

Als er einige Zeit später früh Morgens von Achille Macrî abgeholt wurde, lächelte er geringschätzig und warf die glimmende Zigarette im Hinabsteigen auf die Teppichecke.

»Haben Sie vor ein paar Tagen diesen Lärm Unter den Linden gehört? Diesen Jubel? . . . Diese Teutonen sind doch wie die Kinder! Sie lassen sich allen Ernstes aufbinden, Lüttich sei gefallen!«

Die beiden Ausländer sahen sich an und platzten gleichzeitig heraus. Schjelting war plötzlich guter Laune. Er lachte ebenso herzlich wie der Andere.

»Da sieht man, was man den bebrillten germanischen Augen bieten kann! Lüttich – diese uneinnehmbare Panzerfestung, von Brialmont selbst erbaut, auf einem Nachmittagsspaziergang mit dem Bajonett genommen! Und sie glauben's. Sie glauben's!«

»Es sind Spaßmacher, diese Deutschen! . . . Da ist das Auto. Gestatten die Gentlemen: Mr. Ley . . .«

»Mr. Frank!«

Es war ein schweigsamer, älterer Amerikaner, mit einem faltigen, steinernen und sorgenvollen Gesicht. Er schwieg und sah nur zuweilen ungeduldig auf die Uhr. Schon nach einer halben Stunde Fahrt frug er:

»Was ist das für ein Platz?«

»Potsdam.«

Das preußische Sparta lebte von Soldaten. Trotzige Kreideinschriften an den Kasernentoren verkündeten: ›Hier werden noch Kriegserklärungen entgegengenommen!‹

Schjelting zuckte die Achseln. Nun ja – die Garde! Nun ja – Potsdam! Nun ja – Berlin! Das war nicht Deutschland! Deutschland, in seiner Not und seinem Bangen jedes Einzelnen und Kleinen, seiner Verzweiflung in Haus und Hütte, das würde man jetzt erst sehen! Man fuhr ja mitten durch Deutschland, bis an den Rhein.

Da schon ein Stück: Ein märkischer Edelhof, einstöckig, langgestreckt, im grünen Park. Der alte Junker auf der Freitreppe, mit Frau und blonder Töchterschar, Mamsellen und Mägden. Vor ihnen im Sattel ein junger Ulanen-Leutnant.

»Gott befohlen!«

»Kriegsheil!«

Galopp! Weg. Und der alte Herr grimmig zu dem Frauenvolk:

»Nu mal Kopp hoch! Alle Viere werden sie wohl nicht wiederkommen, Mutter! Na . . . dann ist's eben Zeit, daß wieder 'mal 'n Kalck für den König stirbt!«

»Können wir nicht rascher fahren?« frug Schjelting nach einer Weile des Schweigens. Der Chauffeur zuckte die Achseln. Man wurde ja alle Augenblicke, so wie eben an dem Schloß, von den Schutzwachen angehalten, die Papiere durchbuchstabiert. Nie fehlte einer der bärtigen Männer auf seinem Posten.

»Es sind Pedanten der Pünktlichkeit, diese Deutschen,« sagte Schjelting. Sie hielten wieder in einem Dorf. Die bekränzte Kirchentüre war weit offen. Ein weißhaariger, greiser Emeritus auf der Kanzel. Der Gesang der Gemeinde:

»Wir treten zum Beten
Vor Gott den Gerechten . . .«

Er segnete eine Anzahl junger Männer, die vor ihm knieten. An ihrer Spitze ein vollbärtiger Reserveleutnant in Uniform.

»Es ist sein Sohn, der jetzige Ortsgeistliche. Er zieht als Offizier mit seinen Pfarrkindern ins Feld.«

»Der Pfarrer selbst?«

»Ja.«

Schjelting hörte es. Der Amerikaner frug ihn im Weiterfahren:

»Friert Sie's?«

»Der Morgen ist kühl!« sagte er und wickelte sich fröstelnd in seinen Mantel. Der Andere seufzte und rechnete:

»Morgen Nacht am Hook van Holland! Ich erreiche in Liverpool noch die Mauretania.«

»Haben Sie es so eilig?«

»Ich sollte längst drüben sein. Ich hatte hier eine Operation. Die deutschen Ärzte haben mir das Leben gerettet.«

Deutschland ringsum in Sommerfrieden und Erntesegen! Ährengold unter dem Himmelsblau. Die weißen Kopftücher der Frauen und Mädchen, die mit der Sichel die Garben schnitten, die grauen Schlapphüte der Wehrkraftjungen, die sie zu den kuhbespannten Leiterwägen schleppten.

Wo die Pferde? Sie füllten in langen Zügen die Landstraßen. Sie quollen in Massen aus allen Dörfern, von Knechten geführt. Schjelting dachte: Man sollte gar nicht glauben, daß es so viel Pferde auf der Welt gäbe . . .

Wo die Männer? Sie kamen aus jeder Hütte und aus jedem Haus. Sie wanderten auf allen Ackerpfaden, einzeln und in Gruppen. Sie nahten sich aus entlegenen Forsthäusern und Windmühlen. Es gab keine Schwelle, wo nicht Einer stand und Abschied nahm. Jeder hatte die gleiche Haltung. Jeder schritt rüstig, in wortkarger norddeutscher Art, der Station, der Kreisstadt in der Ferne zu. Nicolai Schjelting warf den Kopf zu dem Amerikaner herum.

»Können Sie begreifen? Diese Leute kommen von selbst! Niemand holt sie. Kein Kosack treibt sie. Wie ist das möglich? Dabei sind es nicht mehr die ganz Jungen. Sie lassen Weib und Kind zu Haus.«

»Bei uns verdient ein Arbeiter Dollars fünf den Tag!« sagte der Yankee. »In den Zeiten der Prosperität läßt er sich nicht leicht anwerben!« Dann plötzlich, unvermittelt, mit einem Seufzer: »Meine Mutter war noch eine Deutsche! Sie kam mit sieben Jahren hinüber!«

Sonderbarer Mensch! dachte Schjelting. Sie hielten auf dem Marktplatz einer kleinen altmärkischen Stadt. Wieder die Ausweise. Nebenan war das Bezirkskommando. Das Klappern der Schreibmaschinen durch das offene Fenster. Junge Mädchen zur Aushilfe. Und ihre geschäftsmäßigen Stimmen: »Zweihundert Doppelachsen Preßheu um 2 Uhr 20 an Rampe II des Güterbahnhofs.« . . . »Fräulein Runge – geben Sie mir doch mal die Benzin-Beschlagnahme-Liste herüber!« . . . »Heute Abend noch diese Verfügung ins Amtsblatt, betreffend Erdarbeiter für Pommern.« Und im Nebenraum saßen die Unteroffiziere in ihren blauen Litewken wie sonst, fertigten die Wehrpflichtigen ab, die sich draußen auf dem Hof vor dem Bezirksoffizier aufreihten. Und in dem nächsten Zimmer telefonierte eben der Bezirkskommandeur selbst nachdrücklich und langsam an die Bahnhofswache: »Also Punkt 12 Uhr 35 fassen 1018 Mann hier Mittagessen . . . Von Nachmittags 4 Uhr ab abgestandenes Wasser in Eimern zum Tränken der durchkommenden Kavallerietransporte. Nicht frisch vom Brunnen. Sonst holt den Betreffenden der Deubel. Für Kaffee sorgt das Rote Kreuz!« Und dann, das Hörrohr abhängend, zu der Dame hinter ihm: »Aber ununterbrochen, wenn ich gehorsamst bitten darf, gnädige Frau. Die Züge folgen sich nach wie vor mit fünf Minuten Abstand!« Und die frische Landrätin hinter ihm lachte. »Na – auf meine Helferinnen-Organisation können Sie sich verlassen. Die Mädels sollen nur springen!«

Die Telegrafen-Apparate tackten rastlos. Radfahrer in Uniform flitzten davon. Bestaubte Ledergestalten sprangen vom Motor ab. Stadträte, Ärzte, Lieferanten gingen aus und ein. Aber Alles erfüllte sich in Ruhe wie das Walten eines Naturgesetzes. Im Weiterfahren schleuderte Schjelting jäh die Zigarette aus dem Wagen:

»Das ist kein Land – das ist ein Mechanismus! Es hat keine Seele! Wo bleibt die allgemeine Unordnung? Sie ist doch unvermeidlich, wenn man Millionen aufruft! Aber hier ist alles zur Stelle. Jeder Mensch ist numeriert. Jedes Ding hat seinen Stempel. Das begreife, wer mag! . . .«

»Ich habe von Deutschland nur Gutes erfahren!« sagte der Amerikaner langsam. »Es rettet mir jetzt mein Vermögen, indem es mir die Ausreise erlaubt!«

Es klang bedrückt. Er hörte kaum, wie Schjelting fortfuhr, mit einer Hoffnung in der Stimme:

»Aber vielleicht endet diese Maschine mit dem eigentlichen Preußen. Wir haben die Elbe hinter uns!«

Niederdeutschland begann, mit seinen fruchtbaren Ebenen und dem Dämmern der Harzberge im Süden, den mächtigen Dächern seiner Bauernhöfe, den mittelalterlichen Fachwerkbauten der Welfenstädte. Aber das Bild blieb das gleiche. Nur die Pferde, in ihren zusammengetriebenen, endlosen Zügen auf der Landstraße, scheuten jäher als bisher, vor dem der sinkenden Sonne nachrasenden Kraftwagen. Denn sie waren hier von edlerem Schlag. Dann grüßte plötzlich zwischen wilden Heckenrosen ein Muttergottesbild am Wege. Nicolai Schjelting war orthodox. In seinem Byzantiner-Glauben trat die Jungfrau Maria hinter die Taube des Heiligen Geistes zurück. Trotzdem lächelte er mit neuer Zuversicht beim Anblick der sieben Schwerter im Herzen der Dolorosa. Nun verblich der harte Luthersche Norden. Der weichere deutsche Süden und Westen hub an. Klöster auf den Hügeln. Heiligenbilder und Blumensträußchen hinter Glas im Steinschrein am Weg. Nun würden auch die Menschen anders werden . . . Gedankenvolle, träumerische Deutsche, wie er sie liebte . . .

»Halten Sie s–till, nich?« Da standen jetzt blonde, blauäugige Riesen der roten Erde statt des weißen märkischen Sands und hemmten das Auto. Es war unter den Mauern eines großen Klosters. Aber dieses Kloster lag leer mit gähnend offenen Zellenfenstern. Der eine Niedersachse erklärte es dem Chauffeur, die Papiere zurückgebend.

»Die hochwürdigen Herren haben sich zur Verfügung der Militär-Behörden ges–tellt! Der Prior, der Subprior, die Patres, die Fratres, die Novizen, alles ist im Feld!«

Am Dorfeingang stand noch ein bärtiger, kräftiger Mönch. Er war gestiefelt und gespornt, trug Schlapphut und Reitgamaschen und über dem violetten Feldbesatz der Kutte ein großes Kruzifix. Er nahm Abschied und schüttelte rechts und links die Hände seiner Beichtkinder. Der Kraftwagen schoß dahin. Nach einer Weile sagte Schjelting erbittert:

»Erklären Sie mir! Wir fahren seit vierzehn Stunden durch halb Deutschland. Warum findet man denn nirgends ein erschrockenes Gesicht? Warum verzagt denn Niemand? Wo sind denn die Kleinmütigen? Hat die Polizei sie eingesperrt? Man sieht sie nicht.«

»Ich schätze: es giebt keine!« versetzte der Yankee trocken.

Nicolai Schjelting zog wieder, mit einem leichten Schauer, den dicken Mantel fester um die Schultern. Sie hatten einen Bogen um das Ruhr-Kohlengebiet gemacht, durch dessen zusammenhängende Industriedörfer man nach der Versicherung des Chauffeurs nicht vorwärts kam. Nun stand da ein mächtiger Dom mit himmelsuchendem, gothischem Steingerank vor der Abendglut des Westens. In silbernen Lichtern blinkte feierlich der Rhein. Das alte heilige Köln nahm sie auf. Ein schwarzes, stürmisches Menschengewimmel zwischen Bahnhof und Fettenhennen. Heißes rheinisches Leben. In schweren Klängen von oben das Geläute der Domglocken. Nicolai von Schjelting rieb sich die Augen, kam wie aus einem Traum zu sich und sagte tonlos:

»Das versteh' ich nun schon gar nicht . . .«

»Was denn?«

»Die Engländer . . .«

»Welche Engländer?«

»Die englischen Garden. Ihre Schotten. Ihre Rifles. Ihre Lancers. Sie müßten doch längst hier sein . . . Oder in der Nähe . . .«

»Es scheint nicht.«

»Niemand erwartet sie hier am Rhein. Niemand fürchtet sich. Was soll nur dies bedeuten?«

»Da kommen Offiziere auf uns zu. Aber es sind Deutsche!«

»Was sind Sie? Amerikaner? Ja, hier in der Festung können wir keine Ausländer brauchen! Fahren Sie schleunigst über Grevenbroich-Gladbach nach Holland weiter! Wie, Chauffeur? Sie müssen Benzin fassen? Na denn 'mal fix!«

In der Zwischenzeit betrat Nicolai Schjelting den Dom. In geheimnisvollem Licht dämmerte ganz dort hinten der Hochaltar, feierlich hallten in den Steinwölbungen die Responsorien. Kopf an Kopf die Schiffe füllend, stand und kniete die Menge. Viele Soldaten darunter. Offiziere mit ihren Frauen. Da vorn ein hoher General mit schlohweißem Haupt und Schnurrbart. Feldbereite Nonnen in weißen Flügelhauben. Maltheserritter. Ärzte. Nicolai Schjelting sah diese andächtigen Gesichter, diese Hände, die sich aus dem Weihwasserkessel heiligten, die ernsten Reihen harrender, barhäuptiger, feldgrauer Männer vor den Beichtstühlen. Er frug sich: Wie? Dies ist doch nicht mehr Potsdam, von dem man die Welt erlösen will? . . . Dies ist . . . Ja, was ist das Alles? Er gab sich keine Antwort. Er lief hinaus.

»Können wir noch nicht fort?«

Und auch der Yankee drängte.

»Vorwärts! Ich bin es unsern Shareholders schuldig!«

Als sie nach kurzer Zeit die Grenze der Niederlande hinter sich hatten, brach er in hoffnungsvollem Ton das Schweigen.

»Voriges Jahr zahlte die Kanaan-Steel-Company Dollars fünfundvierzig auf den Share. Aber dies Jahr will ich eine Rekord-Dividende erzielen!«

»Womit machen Sie Ihr Geld?«

»Granaten, Sir! Von jetzt ab Granaten!«

Nun begriff Schjelting, woher Achille Macrî den Mann aus den Vereinigten Staaten kannte.

»Granaten für die Engländer?«

»Von allen Sorten. Auch mit Dynamit und mit giftigen Gasen. Manche Engländer hielten das im Burenkrieg für weise!«

Er schaute nach dem letzten deutschen Haus zurück, das friedlich in der nächtigen Ferne im Schein des schwindenden Mondes lag. Seine Läden waren geschlossen wie im Schlaf. Ein sauber gepflegtes Blumengärtchen umduftete das stille Stückchen deutscher Welt.

»Ein Treffer und dies ganze Ding dort und was darin ist, wird zu Staub,« sagte er und preßte die dünnen Lippen zusammen. Dann, nach einer Weile: »Und dabei ist heute Sonntag . . .«

»Stört Sie das?«

»Ich habe die Kirche versäumt. Ich tue das sonst nie!«

Der Mond war gesunken. Die Nacht dunkel. Der Wagen suchte sich langsam und vorsichtig mit seinem weißglühenden Augenpaar den Weg. In den Limburgschen Dörfern standen noch viele aufgeregte Leute auf den Straßen. Aber man verstand ihre holländischen Wegweisungen nur schwer. Dann verloren sich auch sie. Man fuhr in Finsternis und Leere. Schließlich schon ins Ungewisse. Stunde auf Stunde verrann. Endlich hielt der Chauffeur ratlos an. Rings tiefes Schweigen.

»Wieviel Uhr?«

»Halb drei Uhr Morgens. Ich kann nicht weiter!«

»Wir müssen weiter! Wir müssen doch schließlich an die Maas kommen!«

»Dort ist sie ja! Dort drüben! . . . Nun immer nur am Ufer entlang!«

Der Wagen rannte wieder in die Nacht hinein, folgte dem Fluß, dann über eine Brücke, durch eine ausgestorbene Stadt. Immer weiter mit dem Lauf der Wellen. Der Yankee saß mit der Taschenuhr in der Hand und entzündete zuweilen ein Streichholz. Dann tat es nicht mehr not. Der neue Morgen graute. Ein Mensch stand am nebeligen Rain.

»Geht es bald ab nach Nymwegen?«

»Que voulez-vous, monsieur

»Er spricht Französisch!«

»Wir sind doch in Holland?«

»In Belgien, mein Herr!«

Der Mann sah sie tückisch wie Feinde an und war plötzlich verschwunden.

»Unmöglich! Wir hatten doch die Maas zur Linken. Also fuhren wir nach Norden!«

»Aber vorher über eine Brücke! Also maasaufwärts nach Süden!«

»Umso besser!« sagte Schjelting. Aus einer Hecke hinter ihnen krachte es kurz und scharf. Auf der Chaussee wirbelten Staubwölkchen im Hagel des kleingehackten Bleis.

»Der Kerl schießt auf uns!«

»Er hält uns für verirrte Deutsche!«

»Schnell los, eh' er wieder ladet!«

Sie sausten dahin, sahen sich um, waren in Sicherheit . . . Bis zu irgend einem neuen Schuß . . . Weiter . . . nur immer weiter . . . unter Menschen . . . Schjelting, der von dem Knall etwas bleich geworden war, sprang jäh im Wagen auf und schwenkte verbindlich mit slawischem Lächeln seine Kappe.

»Die Engländer! Die Engländer! Ich sehe dort hinter der Mauer ihre Bärenmützen! . . . Ah – diese tapferen Söhne Marlboroughs und Wellingtons! Good morning, Sir – . . . good morning

Aber der Husarenleutnant zu Pferde vor ihnen sagte auf Deutsch, durch sein Monocle die Yankee-Abzeichen der Beiden betrachtend:

»Ja – wo kommen Sie denn her?« Und dann zum Chauffeur: »Merken Sie denn nicht, daß Sie hier zwischen den Forts spazieren fahren, Sie Transuse!?«

Die Forts . . . Was für Forts? Es war nichts davon auf dieser sanft gewellten, gegen Westen ansteigenden Saat- und Ackerfläche zu sehen. Nur ein sonderbarer, endloser Erdeinschnitt, so schmal und tief, daß ein Mann gerade in ihm stehen, aber sich kaum umwenden konnte. Der junge Leutnant warf einen Blick auf die ersten, in fliegender Hast, in der Not der Stunde ausgescharrten Feldbefestigungen und sagte:

»Diese Schützengräben sind gar nichts für Neutrale! Bitte los . . . Richtung Herstall! Ulekamp, fahren Sie mit und melden Sie unten, die Herren kämen aus dem Abschnitt Pontisse-Liers!«

Der Wagen rollte davon. Der Husar auf dem Bock drehte sich um und deutete nach rechts in die Ferne. Dort flatterte, scheinbar über dem gewellten Erdboden, eine kleine, schwarz-weiß-rote Fahne.

»Fort Loncin!« sagte er befriedigt. Der Amerikaner frug mit trockener Kehle:

»Wo sind wir denn?«

Und Schjelting, ebenso heiser:

»Wir sind offenbar auf einen kleinen deutschen Streiftrupp gestoßen!«

»Einen Streiftrupp . . .?«

Eben waren es noch ein Dutzend Lanzenreiter vor ihnen auf der Chaussee gewesen. Jetzt waren es hundert, wurden zu einem nickenden Wald von weiß-schwarzen Wimpeln. Pickelhauben tauchten dahinter auf. Erst einzeln, auf Rädern, zu Pferd, dann Klumpen, Bäche, Massen, eine graue Flut von Trommelwirbel und Piccoligeschrill, Paukenschlag und Musik, dumpfem Kollern der Geschütze. »Ein' feste Burg ist unser Gott!« Die Häuser der Stadt, durch die das Auto fuhr, hallten von dem Gesang von tausend Kehlen. Tausend Gesichter lachten unter laubbestecktem Helmgrau, machten Witze: »Jongs, da kommen die Unparteiischen!«

Nicolai von Schjelting saß wie im Traum. Er frug sich: Was ist das für eine Stadt? Was ist das da vor uns für ein Platz, wie ein kochendes, graues Meer? Was sind das für Geräte, diese plumpen, aufglotzenden, ungeheuerlichen Geschöpfe der Urzeit, scheußlich seitlich und unten von kleinen Nebenschlünden umquollen, auf einem grotesken Räder-Rund abgestufter breiter Bretter? Was sind diese halbmannslangen, drehbaren Bulldogg-Revolver auf fauchendem Motor, diese fahrenden Trommeln mit Schornstein und Erbsensuppen-Geruch . . . Platz . . . Platz . . . Da donnern Ungetüme, lächerlich zwitschernd wie die Spatzen um die Ecke – – – ein Lastauto nach dem andern . . . Warenhaus Tietz . . . Nordseebäderdienst . . . Aktienbrauerei zum Storchen . . . Rheinische Zeitung . . . was wollen diese Leute denn hier? Dort schleppen sie Reihen sonderbarer, riesiger, eiserner Waschtröge auf Wagen . . . dort fahren sie den Vogel Rock spazieren, ein Ding, wie eine zwanzig Fuß lange, leinenverhüllte Taube, dort wachsen geheimnisvolle Masten und Drahtgewirr und Räderkasten empor . . . Immer neue graue Massen entstehen aus dem Morgengrauen. Es ist Alles ein Traum! Ein grauer Traum. Es ist Alles nicht wahr . . .

»Also bitte, über die Maas! Und das Vesdrethal entlang. Der fußkranke Unteroffizier fährt bis Herbesthal mit! Los!«

Der Generalstabsoffizier war trotz der frühen Stunde im Feld so tadellos angezogen, rasiert und manikürt, als ginge er zum Ball. Er setzte hinzu:

»Hier können wir Sie nicht brauchen! Hier ist nämlich Krieg!«

Er lachte dabei. Und Schjelting hätte am liebsten mitgelacht. Alles herum lachte ja. Viele Tausende von Männern, diese ganze unwahrscheinliche Luftspiegelung einer grauen Springflut lachte.

»Verzeihen Sie eine Frage: Wo sind wir eigentlich?«

»Na, in Lüttich!«

»In Lüttich?«

»Ja, was dachten Sie denn?«

»Lüttich ist doch uneinnehmbar.«

»Gewiß!« sagte der Generalstäbler trocken. Und die um ihn lachten wieder, als er's übersetzte. Und die Heiterkeit rollte weithin. Und hinter dem davonfahrenden Auto her. Und Schjelting dachte sich, fahl geworden vor Schrecken: Was hat man mir denn in Paris gesagt? In London? Alle Sachverständigen? Auch der Großpapa Rigolet: Hinter der Maas sollte doch das englische Flankenheer aufmarschieren! Nun steht da mitten auf dem Platz ein Deutscher. Hält seine Morgenzigarre in der Hand. Empfängt Einen, als müsse das so sein!

»Der Fall der Festung hat Sie erschüttert? . . .« sagte der steinerne Yankee. Schjelting wollte antworten: »Meine Frau ist eine Belgierin!« und machte doch nur eine stumme Handbewegung. Ghislaine . . . das lag so fern. War ohne Bedeutung. Alles. Man wurde mitgerissen. Die Dinge um Einen verloren Farbe und Wert. Feldgrau und blutrot wurde die Welt. Er sagte sich, beinahe mechanisch: »ah, c'est ma guerre!« Der Amerikaner neben ihm fuhr plötzlich auf und wies nach vorn. Ein Zucken ging über seine Züge. Da vorn kam erst endlos aus dem flimmernden Staubschleier auftauchend die eigentliche Völkerwanderung in Waffen. Ein Heerwurm von Pickelhauben wälzte sich ihnen in den Krümmungen des steilen Flußbetts entgegen. Soweit man blickte, solange man fuhr, er nahm kein Ende. Staubwolken standen über dem Brausen seines Gesangs. Staubwolken zogen sich seitlings über das Land. Staubwolken brauten noch am fernen Horizont. Ohne Anfang und Ende rollte dazwischen und hinterher das Fuhrwerk. Die Doppelgestelle der Munitionskolonnen, die Leinwandplane der Proviantwagen, die Feldschmieden und die Feldbäckereien, die schweren Parke auf dem Marsch. Schjelting sah das Stund' um Stunde und fragte sich: Wo bleibt die Verwirrung? Es muß doch ein Chaos von Rädern, Pferdebeinen, Menschen geben. Aber nein: dies deutsche Uhrwerk läuft und schlägt . . . Von der ersten Stunde ab pünktlich auf die Minute . . .

Und nun begriff er und sagte sich: Was man gestern auf der Fahrt durch Deutschland sah, vom Klappern des Schreibmaschinenfräuleins im Bezirkskommando bis zur bärtigen Wache an irgend einer einsamen Brücke – das da hinten war die Wolke. Hier zuckt der Blitz!

Und schlug ein. Ihn beschlich jenes seltsame erste Gefühl der Sinnlosigkeit beim Anblick der langsam auftauchenden Kriegszerstörung. Jenes weiße Schloß, mit seinen weißen Brücken im Wasserpark – warum lagen da innen in den Zimmern so unordentlich verkohlte Balken auf den seidenen Möbeln? Eine alte Dame, ein Ölbild im Rahmen, lächelte liebenswürdig durch das zerschossene Fenster. Warum baute man eigentlich den Vordergiebel eines Hauses mit Gardinen und Blumentöpfen und dahinter weiter nichts als schwarzes Steingerümpel? Warum dies Bauernhaus da hinten nur zur Hälfte? Warum errichtete man eine Gruppe Schornsteine auf freiem Feld und grade auf so einer häßlichen, versengten Stelle? Hatte es einen Zweck, eine verbogene eiserne Veranda verkehrt an eine freistehende Brandmauer zu hängen, ein Dreieck von einem verbogenen Blitzableiter davor, und dann darunter zu schreiben: ›Hotel des Familles‹? Was sollte der halbe Hühnerhund auf der Straße? Die vordere Hälfte. Wo war die andere? Wer hatte jetzt die Zeit gefunden, aus dem mannshohen Pappelstumpf eine schöne Fächerpalme von weißem Splitterholz zu schnitzen? Jagte denn Niemand das sonderbar dicke Pferd aus dem Rosenbeet, in dem es so behaglich und still in der Sonne lag. Ein Hinterbein vergnügt nach oben? Der Kies zur Seite dunkelbraun. Da und dort breite, rostrote, fliegenumsummte Flecken . . .

Nicolai Schjelting schluckte heftig: Was hat sich dieser bärtige Kerl dort drüben mitten in der Prallsonne auf freiem Feld schlafen gelegt, um sieben Uhr Morgens – liegt verkrümmt, mit geballter Faust, rührt sich nicht? . . . Päh – wieder dieser bittre Rauchgeruch in der Nase . . . Geruch von etwas Angebranntem? Wer brät denn da die Ochsen ganz, wie bei der Kaiserkrönung des Mittelalters, und noch dazu im eigenen Stall und mit dem eigenen Stroh des Dachs? Rasch eine Papyros an die Lippen . . . Was war das im Vorbeiwehen für ein furchtbarer Verwesungsdunst am Weg aus verschütteten Kellerluken? Was bedeutete dies Kanapee mitten im Kartoffelacker? . . . Die drei leeren Stühle am Kreuzweg? . . . Waschbecken und blutbeflecktes Handtuch auf einem? . . . Weshalb räumte man das nicht auf? Die Deutschen waren doch sonst so ordentlich . . .

›Vorsicht! Marie ist krank!‹ Warum hebt der Unteroffizier vor der Kreideinschrift an der Wegbiegung warnend die Hand zum Chauffeur? Warum reißt der den Wagen zur Seite? Da ist die kranke Marie. Eine abgestürzte Lokomotive mit zerschelltem eisernen Eingeweide. Warum räkeln sich denn überall diese Lokomotiven neben der Bahn, statt daß sie auf ihr stehen, und strecken wie die Maikäfer auf dem Rücken ihre drei Räderpaare in die Luft? Welcher kirchturmlange Riese hat denn alle tausend Schritt so dumm gespaßt und Reihen von Eisenbahnwagen von den Schienen in die Tiefe gefegt und zu einem Brei von Stahl und Holz zertreten, auf dem noch steht: › Défense de fumer‹? Warum hat das unsichtbare Ungetüm, weil es grade dabei war, im Weiterbummeln die Telegrafenstangen bündelweise wie Streichhölzer geknickt und die stählernen Brücken in der Mitte mit einem Handgriff auseinandergebogen, daß die Schnörkel zierlich in die Luft starren? Warum hat es im Wasser unten die vielen Autos ertränkt? Die Kette von Lowrys drüben am andern Ufer mit einem herausgerissenen Eichbaum erschlagen und liegen lassen?

Wer hat das Zweirad an den Baum gelehnt und ist weggegangen, Gott weiß wohin? Was sind das für viele, kleine frische weiße Holzkreuze mit Pickelhauben und verwelktem Laubkranz mitten in zertretener Saat? Warum haben sich diese deutschen Eisenbahnbeamten in dem entgleisten Schlafwagen vor dem Tunnel eingerichtet wie die Biber im Bau, kochen da, schlafen auf Stroh, telefonieren in die dunkle Nacht der Wölbung hinein, aus der Pioniere kommen, der kalte Luftzug Stimmen und Hammerschläge mit sich trägt? In seinem Hauch tanzen dicht davor am aufgehängten Faßreif die drei lebensgroßen, ausgestopften Puppen: Albert von Antwerpen, der Zar, Poincaré! Der dicke Landwehrmann schreibt bedächtig, wie daheim als Gastwirt seine Speisekarte, unter die drei wirbelnden Schacher: ›Mit unserer Macht ist nichts getan! Wir sind gar bald verloren!‹ . . .

Wer ist nur der unsichtbare Riese, der hier Alles so durcheinanderwirrt? Der dem Kirchturm da vorsichtig seine Stützmauern wegzieht, daß die Uhr oben wie ein Vogel beinahe in freier Luft schlägt? Warum liegt die ganze Dorfstraße vor dem Schulhaus voll von Uniformstücken, lehmigen Stiefeln, weißen und dunkelroten Lappen? Die Genfer Kreuz-Fahne über dem Eingang. Eine bleiche Krankenschwester tritt auf einen Augenblick heraus, schöpft hastig frische Luft, geht wieder hinein. Schjelting und sein Begleiter folgten ihr mit den Augen, fuhren zusammen, wurden stumm und gelb, wünschten, daß das Auto Flügel hätte, um dem Anblick zu entfliehen . . .

Und Nicolai Schjelting dachte sich: Das ist der Krieg. Nein. Sein erstes Aufdämmern nur. Sein schwacher Anfang. Der Krieg, an dem ich in meinem »Essai contre le Teutonisme« den Geist in tausend Fazetten schliff, den unsere politischen Petersburgerinnen auf den lächelnden Lippen führten, wenn sie nicht grade verzuckerte Kronsbeeren dazwischen schoben. Der Krieg, den dicke Männer in Frack und blau-weiß-roter Schärpe beim Ehrenpunsch der Patrioten-Liga in Paris mit einer großen Geste begrüßten. Der Krieg, über den die belgische goldene Jugend in den Kaffeehäusern Witze riß, weil sie nichts von ihm wußte. Der Krieg, der in der City nur die eine Seite des großen Hauptbuchs der Gewinn- und Verlustrechnung war. Nicolai Schjelting fuhr empor, in einem Zorn, in einer Angst, in einer Handbewegung der Abwehr: Nicht um Euch geht es mehr! Nicht um Jobber und Mondänen, um Stutzer und Festschwätzer dreht sich mehr die Welt. Sie wurde anders über Nacht. Wurde finster. Wurde furchtbar. Die Wirklichkeit ist da. Unsere Gedanken wurden zur Tat. Wir ließen den unbekannten Riesen von der Kette . . .

Um ihn herum donnerte, lachte, lärmte, befahl, pfiff, sang, wirtschaftete mit tausend Zungen, Kehlen, Händen, Beinen, qualmenden Lokomotivschloten, fauchenden Motoren, rollenden Rädern, wiehernden Pferden, brüllenden Ochsen, schrillen Signaltrillern, schmetternden Trompetenfanfaren, lief, sprang, drängte sich in grauem Gewimmel der unsichtbare Riese. Nicolai Schjelting stand vor dem Bahnhof in Herbesthal. Er sah den stürmenden, mit rastlosem Schlagen hämmernden Pulsschlag der Etappe hinter der Front. Er sah, wie die endlosen bekränzten Züge einliefen, wie auf den Kornstoß: ›Geht langsam vor!‹ feldgraue Sturzbäche aus den Abteilen sich ergossen, Bahnsteige und Schienen weit überschwemmten. Er sah, wie ein Güterwagen sich in endloser Reihe an den andern schob. Vorsichtig – ohne Stoß. In jedem schlief tausendfach, in Granaten- und Schrapnell-Wölbung gebannt, der Feindestod. Er sah das langsame, feierliche Zurückrollen langer Reihen weißer Wagen mit dem roten Kreuz. Sah um sich immer wieder diese furchtbaren, lachenden, jungen Mienen, die wild blitzenden Augen, hörte wieder den ehernen, tausendstimmigen Vollklang: ›Deutschland, Deutschland über Alles!‹ Drüben winkten die Verwundeten, Einzelne richteten sich auf und sangen mit. Ein ungeheurer Höhenrausch hob all die Menschen umher empor über Tod und Leben und Ich und Vergangenheit. Und Nicolai Schjelting stand vor einem fliegersicher eingedeckten Benzintank und las mechanisch das Verbot, die oberste, noch gefährliche Wassertröpfchen enthaltende Benzinschicht an die Luftfahrer statt an die Kraftfahrer abzugeben, und dachte sich dumpf: die Deutschen denken an das Kleinste! Aber was ist klein und was ist groß?

»Ihre Papiere sind in Ordnung!« sagte neben ihm eine Stimme. »Nun fahren Sie unverzüglich wieder über Moresnet nach Holland!«

Es waren nur wenige Kilometer. Dann war man zum zweitenmal über der Grenze. Dahinten lag Deutschland. Nicolai von Schjelting blickte bleich, mit eingesunkenen Augen, zurück. Und nun sah er da plötzlich den unsichtbaren Riesen. Seine Füße ruhten auf dem Horizont, sein Haupt ragte in den Himmel, seine Stimme war wie der ferne Donner der Geschütze und seine Augen wie deren Blitz: »Ihr habt mich gewollt! Ihr habt mich gerufen! Da bin ich. Die Menschen kennen mich. Ich bin zweitausend Jahre alt. Wenn ich erwache, bebt die Erde und bersten die Reiche. Ich bin der furor Teutonicus.«


 << zurück weiter >>