Rudolph Stratz
Das deutsche Wunder
Rudolph Stratz

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XIV.

Der schlampige französische Polizeikommissar stand auf und schloß trotz der Oktoberglut des Mittelmeers die Fensterscheiben. Nun brauchte man wenigstens nicht mehr den tausendfältigen Lärm des Hafens von Marseille, sein Sirenengeheul und Peitschengeknall, sein Wagengerassel und Kranengeklirr zu überschreien, um das Verhör fortzusetzen.

»Schreiben Sie, Panard! ›Es erscheint der Zivilgefangene aus dem bisherigen Konzentrationslager bei Château Borély, Hugo Martius, Groß-Industrieller aus Deutschland‹ . . .«

». . . und Mitglied des Reichstags . . .«

»Ah – – das wird Ihnen wenig helfen, mein Herr Deputierter, im Gegenteil . . . schreiben Sie, Panard: . . . ›zu nochmaliger Vernehmung auf Antrag des amerikanischen General-Konsulats!‹ . . . Wie kommt der dazu?«

»Meine Frau hat, soviel ich vom Vertreter des Konsulats bei seinem Besuch hörte, alle Hebel in Bewegung gesetzt. Sie hält sich seit Kriegsbeginn an der französisch-italienischen Grenze auf . . .«

»Es wird Madame nichts nützen! Hein? Sie haben nie gedient? Sie sind vierzig Jahre alt. Ein großer, kräftiger Mann . . . Deutschland würde auch Ihnen die Muskete in die Hand drücken – – Jedem, um seinen unvermeidlichen Untergang um einige Tage zu verschieben! Wir stehen bereits am Rhein, mein Herr, unter dem Beifallsklatschen der gesitteten Welt. Diese tapferen Kosacken haben Breslau erstürmt – Breslau, eine der glänzendsten Residenzen Ihres verbündeten Österreichs! – – Helgoland verneigte sich vor dem Donner der britischen Geschütze . . . Ihre Flotte ist da unten, bei den Fischen . . .«

»Es ist nicht wahr . . .«

»Hier die letzten französischen und englischen Zeitungen! Lesen Sie!«

»Ich danke!«

»Kurzum: Ihr Schicksal ist entschieden! Warum kamen Sie kurz vor Kriegsausbruch nach Frankreich? Niemand lud Sie ein!«

»Doch! . . . Jaurès selbst!«

»Monsieur Jaurès ist tot!«

»Ein Pro-Boche!« sprach verächtlich der kleine, dicke, schwarzhaarige Hauptmann. Er hatte bisher als Beisitzer nur Zigaretten geraucht und teilnahmlos auf den Hafen hinausgeblickt.

Hugo Martius richtete seine stattliche, vollbärtige Erscheinung auf. Die französische Sprache gehorchte nicht so dem Wohllaut seiner Beredsamkeit, wie ihm sonst das Deutsch von den Lippen floß, aber es klang doch stark und überzeugend, als er sagte:

»Die Sache des Völkerfriedens führte mich mit Gleichgesinnten aller Nationen in Paris zusammen . . .«

»Deutschland und der Frieden . . .«

Der Schreiber lachte. Der Kommissar. Selbst der Hauptmann.

»Beinahe ein halbes Jahrhundert, meine Herren, hielt Deutschland den Frieden. Rußland bekriegte die Türkei und Japan. Italien bekriegte die Türkei und Abessinien. Die Balkanstaaten bekriegten die Türkei und einander selbst. Amerika bekriegte Spanien. England bekriegte die Buren, nahm Ägypten und den Sudan. Frankreich ging nach Tonking und Tunis, nach Madagaskar und Marokko. Deutschland allein zog in zwei Menschenaltern nicht das Schwert gegen seine Nachbarn!«

»Deutschland und der Friede! Ich beglückwünsche Sie, mein Herr Deputierter, daß Ihnen der Humor noch nicht ausging!«

»Es hätte das Schwert oft genug furchtbar ziehen können. Es konnte sich am Tage von Faschoda im Bund mit England vernichtend auf Frankreich stürzen. Es tat es nicht. Es konnte sich vor zehn Jahren auf das durch Niederlagen und Aufruhr wehrlose Rußland werfen. Es tat es nicht. Es konnte im Burenkrieg Englands Macht für immer brechen. Es tat es nicht!«

»Genug, mein Herr!« Der Kommissar gähnte und stand auf. »Man wird die Erde jetzt für immer von der Kampflust der Pickelhaube befreien! Ihr Fall ist erledigt. Sie schließen sich morgen mit den drei Anderen, zur Nachprüfung Zurückgehaltenen, dem Transport nach Korsika an . . .«

»Nun gut!« sagte Hugo Martius. »Ich bitte nicht für mich! Aber Sie haben unter den Zivilgefangenen, die Sie dorthin senden wollen, Männer von sechzig Jahren . . .«

»Oh, noch ältere, mein Herr!«

»Das Fieberklima dieser Insel wird sie hinraffen!«

»Es ist nicht so ungesund wie das der Sümpfe von Dahomey!« sagte der Kommissar lächelnd. »Und auch dort sitzen schon Ihre Landsleute!«

»Und das können Sie verantworten?«

»Ah . . . wenn der Zar Euch zu Zehntausenden nach Sibirien schickt! . . . Bei uns herrschen nicht Seuchen und Hungersnot in den Konzentrationslagern wie in England  . . . man erschlägt Euch nicht wie in diesem heldenmütigen Belgien . . .«

»Nun gut . . . die Männer! . . . Aber ich sah unterwegs die Gefangenenlager mit Tausenden von deutschen Frauen und kranken Kindern! . . . Was haben sie verbrochen? Seit der Steinzeit steht die Frau außerhalb des Krieges . . .«

». . . weil man Euch ausrotten wird . . .,« sagte der Hauptmann plötzlich leise und ruhig. Nur in seinen pechschwarzen Augen funkelte die kalte Wut. »Ich bin ein Corse. Ein Landsmann Bonapartes. Jetzt ist die Zeit, sich seiner zu erinnern. Jahrzehntelang haben wir Euch ertragen. Eure Liebenswürdigkeiten waren uns noch verhaßter als Eure Drohungen. Nun jauchzen wir, indem wir Euch den Todesstoß versetzen. Panard, man führe diesen Herrn ab! Zu den drei Anderen, die morgen nachträglich auf das Schiff gebracht werden!«

Die Fenster einer kahlen Zelle im Fort St. Nicolas am Eingang des Hafens von Marseille gingen auf das Meer hinaus. Durch die Eisengitter sah man fernhin seinen strahlend blauen Glanz, mehr nach rechts das Mastengewirr und Schlotqualmen der Häfen, und weiter über Hügel und Täler die Dächermassen der großen Mittelmeerstadt. An den Luken lehnten drei deutsche Zivilgefangene. Sie hörten in dem Lärm von draußen den Eintritt des neuen Ankömmlings nicht und drehten ihm den Rücken zu. Der Eine, ein älterer Mann, sagte müde im österreichischen Tonfall:

»Aber ich bitte: Nehmen diese Wilden denn kein Ende?«

Und der neben ihm, der den Arm in der Schlinge trug und sich auf einen Stock stützte, mit Zwicker und Studentenschmissen auf seinem Gesicht:

»Das ist seit heute früh der vierte Dampfer allein mit dem roten Kroppzeug!«

Das Deck des schmalen, langen, von Algier kommenden Passagierdampfers »General Chanzy« schien auf den ersten Blick vollbesetzt mit vielen Hunderten von mittelalterlichen Henkern. So unheimlich wirkten die Gestalten der Wüsten-Spahis in ihren bis zu den Füßen reichenden blutroten Mänteln. Erst in der Nähe unterschied man die wilden, kaffeebraunen Gesichter im Schatten der Scharlach-Turbane. Der Dritte der Deutschen, ein verwegener junger Geselle, bartlos und sonnverbrannt, in verschossenem Matrosenwams, lachte:

»Jongs, Jongs – wenn Ihr wüßtet, wat die Klock' geslagen hat!«

»Und da dieselbe Couleur in Blau!« sagte neben ihm der Arzt mit dem Zwicker und wies auf die im Kielwasser des »General Chanzy« steuernde »Ville d'Oran«. Bei diesem Dampfer schien es, als hätte er aus dem Azurblau des Mittelmeers einen Haufen auf Deck geschöpft. So dicht war das Gewimmel der langen blauen Mäntel der Oasen-Spahis, die mit ihren Tausenden von Schimmeln auf der Überfahrt nach Europa waren. Das Schiff glitt langsam dahin. Dicht vor ihm lag, gegenüber dem Joliette-Leuchtturm stoppend, schon von dem geschäftigen Gewimmel der kleinen Schlepper umgeben, ein mächtiger Ostindienfahrer. Hunderte von roten Kopftüchern, weißen Hemden, farbigen Flecken leuchteten auf. Zimmtbraune Männer mit seidenschwarzen Vollbärten kletterten wie die Katzen auf und nieder oder schauten gleichgiltig hinüber auf die Schiffsbecken von Marseille. Das war eine Hafenstadt der Engländer mehr, so gut wie Bombay oder Calcutta, von wo sie kamen. Den Engländern gehörte See und Welt.

Der Dampfer zog weiter. Seitwärts, gegen die Medizinschule hin, lag ein anderer verankert. Es sah aus, als hätte man seine Bordwand mit den schwarzlackierten, holzgeschnitzten Mohrenköpfen aus dem Aushang von Hunderten von Tabackläden und Gewürzkrämereien besteckt, so fletschten sie reihenweise die weißen Gebisse in pechschwarzen Zügen.

»Turkos!«

»Ich glaube eher Senegal-Neger! Ich habe mich als Arzt da draußen ein wenig mit Völkerkunde beschäftigt . . .«

»Ich bitte: Weshalb lassen sie denn die nicht an Land . . .?«

»Wahrscheinlich fürchten sie sich selber vor den swarten Düwels . . .«

»Es war schon gegen Sonnenuntergang. Die Abendblätter waren erschienen. Die Stimmen der kleinen Zeitungsverkäufer gellten durch den Hafen- und Straßenlärm: »Le petit Marseillais! . . . Le sémaphore . . .«

»Le soleil du midi! . . . Sir Grey im Unterhaus: die Basutos bitten, Steine auf die Deutschen werfen zu dürfen!«

»Le petit Provençal . . . Die Maoris auf Neuseeland schiffen sich ein. Der König von Nepal bewilligt dreißigtausend Gurkhas mehr!«

»Le Radical! – Clemenceau gegen die deutsche Barbarei!«

»Le Niçois . . . Die Deutschen fliehen, wo sie den Feind sehen! Die Generale Wilhelms stürzen sich weinend in die Maas. Ihre Frauen plündern die belgischen Schlösser!«

»So geht das von Tokio bis hierher!« sagte der junge Arzt zu Hugo Martius, mit dem er sich bekannt gemacht hatte. »In jedem Hafen, den wir anliefen, derselbe irrsinnige Dreck von Druckerschwärze!«

»Aber man glaubt es doch nicht?«

». . . wenn die Engländer Etwas kabeln? Ganz Asien schwört darauf, vom Mikado bis zum Kuli!«

»Der Mikado? Die Japaner sind doch unsere Freunde!«

»So? Na – ich kam gerade noch weg, ehe sie uns den Krieg erklärten!«

Hugo Martius schwieg.

»Und kurz vor dem Hafen hier haben mich dann die Mynheers auf dem Maatschappij-Schiff an die Engländer ausgeliefert.«

»Ja warum denn?«

». . . weil die sie sonst nicht an Gibraltar vorbeigelassen hätten.«

»Da sollten Sie 'mal erst Südafrika sehen!« versetzte der österreichische Diamantenhändler. »Kein Haus in Johannisburg mehr ganz, wo ein Deutscher wohnt!«

»Ja – was sagen denn unsere Freunde, die Buren, dazu?«

»Die ziehen ja schon zu vielen Tausenden unter Botha gegen uns zu Feld.«

»Gegen uns?«

»Na ja . . . – die hassen uns doch!«

Hugo Martius verstummte wieder.

»Ich hab' gemacht, daß ich wegkam. Aber bei Cap Spartel kriegte ein französischer Kreuzer unseren Norwegischen Dampfer zu fassen!«

»Und die Norweger lieferten Sie aus?«

»Ja – was sollen die wohl gegen die Engländer machen!«

Hugo Martius schüttelte den Kopf.

»Ich war die ganze Zeit in Einzelhaft!« sagte er. »Ich erfuhr von nichts. Ich kann es kaum glauben!«

»Na – dann belernen Sie sich 'mal da – nich?« Der junge Seemann gab ihm ein paar illustrierte Zeitungen. »Die hab' ich noch von Buenos Aires her bei mir. – So sieht es in ganz Südamerika aus!«

Hugo Martius sah die Bilder: die deutschen Fürsten, einander aus Totenschädeln Blut zutrinkend, Reihen gespießter belgischer Kinder auf Ulanenlanzen, preußische Generale in Photographenpose auf Leichenhaufen von Frauen, nackte Wilde mit Pfeil und Bogen und der portugiesischen Unterschrift: Verhungernde Bayern auf der Eidechsenjagd!

»Auf der ganzen Erde holen sie die Deutschen von den Schiffen herunter und lassen dafür solche Ansichtspostkarten da!« sagte der von der Wasserkante, während er sich fortwährend dabei an dem einen Zellengitter zu schaffen machte. »Wie? Ob man das glaubt? . . . Na – wenn es die Engländer sagen! . . . Und so, wie man uns in ganz Süd-Amerika haßt . . .«

»Ja, ist denn die ganze Erde wahnsinnig geworden?«

»Aber nich zu knapp! Bis New-York hinauf, da kam ich ja nun noch als Mexikaner durch . . .« Er sah, mit seinem braungebrannten, verwegenen Gesicht in der Tat einem Gaucho ähnlich. »Aber nu? Jeden Tag marschierten die französischen Reservisten hinunter auf ihre Schiffe und sangen die Marseillaise . . . Und die Engländer zogen Arm in Arm an und gröhlten den Tipperary. Aber, wenn die Deutschen kamen, da hieß es: Zurück! Erst versucht' ich es bei einer dänischen Linie. Ja woll! German? Back! . . . nich?«

»Warum denn?«

»Die Dänen dürfen doch nicht anders – nich? Da schmuggelte ich mich als Trimmer bei 'nem Griechen ein. Aber da haben sie mich an der Tätowierung auf dem Arm erkannt und gesagt: ›Anker und Schlüssel – das ist doch der Bremer Lloyd‹ . . . nich? . . . und mich den Engländern ausgeliefert!«

»Die Griechen auch . . .?«

»Na – die Engländer wollen es doch so – nich? . . .«

»Aber die Amerikaner sind doch deutschfreundlich . . . Konnten die Ihnen nicht helfen?«

»Die Deutsch-Amerikaner beim besten Willen nicht. Und die richtigen Yankees – na, die hassen uns doch – nich?«

»Auch die . . .?«

»Jetzt ändern sie ja wohl nun erst ihre Fabriken um. Aber von Weihnachten ab, da schicken sie den Engländern die Granaten in Schiffsladungen hinüber. Wo hat man Sie denn eigentlich abgeklappt?«

»Ich war auf einem internationalen Friedenskongreß in Paris!«

Die drei Anderen lachten. Sie glaubten, er hätte einen Witz gemacht, und Hugo Martius lachte selber mit. Der junge Bremer Seemann bastelte wieder an dem einen eisernen Fensterkreuz. Es drehte sich sonderbar leicht in seiner Hand.

»Nun wart' ich nur noch auf die Gorillas!« sagte er.

Ein Transportdampfer hatte nahebei auf dem Exerzierplatz hinter dem Pasteur-Institut seine Ladung von marokkanischen Hilfsvölkern an Land gesetzt. Sechs Fuß lange, blauschwarze Menschenaffen kauerten nackt am Strand. Wildblickende, nußbraune Scheichs und Scherifs in breitkrämpigen Sonnenhüten und grünbesetzten, weißen Mänteln standen dazwischen. Von einem vorbeifahrenden Dampfer winkten Hunderte von roten Käppis, blinkten krepprote Hosen unter den blauen Tuniken. Er brachte die Eiterbeule der Erde, den Abschaum der Menschheit in Soldatengestalt, das erste Regiment der Fremdenlegion aus Sidi-bel-Abbés zum Kampf gegen Deutschland.

»›Le soleil!‹ Glückwünsche des Zaren an Monsieur Poincaré zur Verteidigung der Zivilisation gegen den Teutonismus!«

Und eine zweite schrille Jungenstimme von der Gasse:

»›Le petit Marseillais‹ . . . Aufruf des Poeten Kipling! Deutschland der tolle Hund Europas! Ehrenpflicht, ihn zu erschlagen!«

»Mr. Roosevelt gegen die Wilden in der Pickelhaube . . .«

»Alt werd' ich hier nich!« sagte der Seemann. »Wenn man das Kroppzeug sieht, das sie gegen Deutschland loslassen, da muß man sich in die Hände spucken, um noch zurechtzukommen!«

Er schraubte plötzlich mit einem Griff die von ihm längst durchfeilten Eisenstangen aus ihrer Höhlung und steckte sie lose wieder hinein. Hugo Martius faßte ihn hart am Arm.

»Nehmen Sie mich mit!«

»Na – Sie mit Ihrem Frieden . . .«

»Nur handeln . . . nur dreinschlagen . . . sich von diesem erstickenden Ekel vor der Menschheit befreien . . .«

»Ja . . . zu Zweit wär's schon besser – nich? . . . Der Doktor hat 'nen kaputten Arm. Den haben sie auf dem Bahnhof hier lynchen wollen, weil er verwundeten deutschen Gefangenen half. Mit Mühe haben ihn die französischen Offiziere gerettet. Und der Andere ist alt und krank. Die schlafen auch schon Beide auf ihren Strohsäcken. Aber Sie . . . Können Sie denn zur Not 'nen Menschen umbringen?«

»Ja. Ja. Ja.«

». . . auf die Gefahr hin, daß die uns so an die Wand stellen – nich?«

»Ja. Ja. Ja.«

»Die Wache muß ja wohl eins von hinten auf den Kopf kriegen! Dann gehen wir ruhig ins Freie. Wir sind nicht im Fort selbst, sondern in einem Verwaltungsgebäude daneben für die eine Nacht eingelocht.«

»Und dann?«

»Dann weiß ich schon Bescheid. Dunkel genug ist es auch. Wir müssen nur warten, bis der Posten abgelöst wird. Dann kommt die Schlafmütze von vor vier Stunden. Den kenn' ich schon. Da . . . nehmen Sie 'mal die Friedensflöte!«

Er drückte Hugo Martius den einen Eisenstab in die Hand und frug etwas besorgt:

»Na – wie fühlen Sie sich denn mit dem Ding in der Faust?«

»Ich fühl' nichts . . . ich denk' nichts . . . mag meine Frau zur Witwe werden und meine Kinder zu Waisen . . . Es ist mir Alles gleich! Ich will nur zuschlagen . . . Der Grimm erstickt mich . . .«

»Dann ists gut . . . pst . . . da draußen sind sie . . . Sie wechseln den Posten . . .«

»Rangez-vous!«

»En avant . . .«

Die Schritte der Ablösung verhallten.

»Nu durchs Fenster. Herz in die Hand! Um die Ecke! . . . Die Stangen hoch . . . so . . . man fixing damit an die Mauer! Igitt . . . igitt! . . . Der Hof ist ja leer . . .«

»Wo ist er denn?«

»Drin im Pförtnerhäuschen, bei so 'ner lütten Deern! . . . Lacht nur, Kinnings . . . Immer ruhig daran vorbei. Sprechen Sie mal' recht laut Französisch – – nich? . . . So – das machen Sie ja wunderschön . . . Sie hätten Volksredner werden sollen . . . Uff . . .«

Sie waren im Freien. Es schien Hugo Martius wie ein Traum, daß sie durch das schwüle Abendgrauen der Gassen hingingen, auf einmal auf einer Schwebebrücke hoch durch die Luft über dem Eingang zum alten Hafen hinschwammen, sich drüben im Ameisengewimmel und Mastengewirr der Joliette verloren.

»Ich kenn' mich doch in so 'nem Hafen aus!« sagte der Seemann. »Sie haben Geld bei sich? Geben Sie mir 'mal!«

Er handelte in einem abenteuerlichen Spanisch Wurst, Brot und ein paar Flaschen Wein ein und steckte sie sich in die Taschen. Hier fiel keine Sprache außer der deutschen auf. Der Turmbau von Babel wogte durcheinander. Die indischen Söldner Asiens schritten hochmütig an den bewaffneten Negern Afrikas vorüber. Kanadische Offiziere Amerikas erwiderten kaum den lallenden Gruß betrunkener Quartiermacher der australischen Miliz. Die Mittelmeermenschen Europas schrieen dazwischen, und hoch oben von ihrem Hügel schaute als riesenhafter goldener Schatten die Heilige Jungfrau, Notre Dame de la Garde, auf diese Anglikaner und Buddhisten, diese Moslim und Hindus und Fetischdiener, diese weißen, gelben, braunen und schwarzen Menschen in Tropenhelm und Turban, in Käppi und Panama, die einander nie gesehen hatten, nicht kannten, nicht ansprechen konnten, einander haßten und fürchteten, sich vor einander ekelten und nur in dem Einen einig waren, Deutschland aus der Reihe der Christenheit auszurotten.

»Hier muß es doch irgendwo sein!« sagte der von der Wasserkante. »Ich hab' doch gute Augen. Ich hab' es bei Tag deutlich von drüben gesehen . . . Aha . . . da!«

Im bläulichen elektrischen Licht der Bogenlampen, dem Pfeifen der Hafenbahn, dem Rasseln der Kranenketten lag am Lazaret-Kai ein großes Handelsfahrzeug schon unter Dampfgekräusel aus den gelben Schloten. Der lange blaue Heimatwimpel spielte in der lauen Nacht. Die grün-weiß-roten Querstreifen der italienischen Handelsflagge, die tagsüber daneben geweht, waren eingezogen. Aber der Name des Dampfers an der Bordwand: »Città di Ravenna« zeigte den neutralen Boden dieser Schiffsplanken, die der Bremer Seemann über eine Laufbrücke bestieg, als ob sich das von selbst verstünde.

»Nehmen Sie einige Papiere in die Hand . . . So!« Und er begann plötzlich sprudelnd, mit den Handbewegungen des Südländers, spanisch zu reden: »Le dije que se fuera sennor! Yo qensaba: Cuanto màs se da, màs piden! No puede ser . . . Eso no va asì come tú piensas!« . . .

Die herumhantierenden Schiffsleute schauten kaum auf. Der Dampfer war voll von Maklern mit ihren Konnossementen. Daß Jemand auf kastilianisch die Mehrforderungen irgend eines Kommissionärs ablehnte, geschah alle Tage.

»Hier herunter . . . schnell!«

Sie waren schon im Schiffsraum. Noch standen die Deck-Luken offen. Ein Frachtstück nach dem anderen sank klirrend am Hebelarm in den eisernen Bauch. Dessen vorderer Teil schien schon ganz gefüllt.

»Noch ein Stockwerk tiefer! Fix, eh' man uns sieht . . . So . . . In die Ecke kommt nichts mehr hin . . . Das ist ein ganz hübsches Plätzchen – nich?«

Der Hanseate knipste vorsichtig in der hohlen Hand eine elektrische Taschenlaterne auf und las die Aufschriften auf den Kistenstapeln umher: Fratelli Ghirardini, Genova . . . Wieder die Fratelli . . . nagelneues, würzig duftendes Holz . . . Überall auf französisch und italienisch darauf die Theerpinselzüge. ›Vorsicht! . . . Leicht entzündlich! Nicht werfen!‹

»Das wird Alles in Genua ausgeladen – nich? Wir mit! Lütte Küstenfahrt! Nur schade, daß man nich ein bischen smoken kann. Aber dann fliegen wir mit in die Luft . . .«

»Was ist denn in den Kisten?«

Ein Blitz der Taschenlaterne: »Poudre. Polvere. Attenzione!«

»Wie denn? Die Italiener holen sich da aus Frankreich Munition?«

»Aber nich zu knapp! Der ganze Steamer ist voll!«

»Aber gegen wen denn?«

»Ich werd 'nen Priem kauen – das geht! . . . Na . . . gegen uns und die Österreicher!«

»Ihre Verbündeten!«

»Na – die Italiener hassen uns doch – nich?«

Das Wort, das immer wiederkam, wie draußen, als der Dampfer längst die hohe See gewonnen hatte, der Wellenschlag an die Schiffswand. Das schwache, eintönige Gefühl des Hin- und Herschwankens im tiefen Dunkel. Haß. Haß. Haß. Haß überall. Haß der Menschen aller Farben und Erdteile, jedes Glaubens und jeder Sprache. Haß, bisher huschend im Dunkeln wie die leise pfeifenden Ratten zu Füßen. Haß, sorgfältig vorbereitet und zur Entscheidung aufbewahrt wie die stummen, totbringenden Kistengebirge um Einen. Giftiger, verpestender, brütender Haß, wie der ekle Gestank des faulenden Grundwassers im Schiffsbauch.

Und in dieser achtundvierzigstündigen Nacht, bis zum ersten Schimmer des Tageslichts von Genua durch die wieder geöffneten Luken, dachte sich Hugo Martius immer wieder und grub es in seine Seele und in seinen Willen ein: Nie ward Menschen ihre Liebe zur Menschheit so gedankt wie uns Deutschen. Nie empfing ein Volk eine so furchtbare Lehre. Ist das wirklich die Menschheit und ihr Sinn, die mit Senegalnegern das Land Luthers und Goethes überfällt, nun, dann sind wir Deutsche zu gut für diese Erde. Dann wollen wir auf ihr nicht weiterleben, aus Ekel an ihr. Aber die Menschheit ist nur krank durch unsere Güte und Schwäche. Die Menschheit muß durch Blut und Feuer an Deutschland genesen. An uns und unserer Faust.

Er dachte es, und sein Herz wurde heiß von heiligem Zorn, und draußen sangen es die wandernden Wellen: ›Wir haben lang genug geliebt – wir wollen endlich hassen!‹ Und Hugo Martius sah in der Finsternis einen der ehrwürdigen deutschen Dome vor sich, aus deren Giebeln von allen Seiten der böse Feind, in Affen- und Bocksgestalt, als Basilisk und Fledermaus hinausschießt, und sagte sich: So verjagen wir jetzt die unsauberen Geister der Fremde aus unseren Herzen und Häusern, wie einen Spuk dieser Nacht um mich: Deutschland, Deutschland – werde hart!

Der Seemann neben ihm pfiff sich ganz leise eins.

»Ich bin erst wieder froh, wenn ich in der Nordsee bin,« sagte er, »und wir den lieben Kusängs auf den Kopf s–pucken! Aber nu still! Wir müssen noch warten. Das passiert den Maccaronis auch nich so bald wieder, daß sie Jemanden um Gottes Lohn s–pazieren fahren!«

Es war im Hafen von Genua ein noch wilderes Geschrei und Durcheinander wie in dem von Marseille. Mit dem Löschen der Ladung schien man, unberufener Augen wegen, erst in der Nacht beginnen zu wollen. So war es ein Leichtes, in der Dämmerung das fast menschenleer daliegende Schiff zu verlassen. Tiefaufatmend standen die Beiden auf der Ponte Adolfo Parrodi. Gingen hinüber nach dem Bahnhof. Der Seemann setzte sich unter die Palmen des Columbus-Denkmals.

»Ich warte bei dem ollen Vadding hier, bis Sie vom deutschen Konsulat zurückkommen!« sagte er und dann, nach kaum einer halben Stunde: »Nun? Sie strahlen ja!«

»Ich habe die Adresse meiner Frau! Sie ist in Mailand. Wir erreichen noch den Zug! Und mit Deutschland steht es gut!«

Während sie durch den Apennin dahinfuhren, erzählte er das Nähere dem Seemann. Der wunderte sich nicht. In ihm war die Überzeugung von Deutschlands Sieg so klar, wie sich das Meer in seinen blauen Augen spiegelte.

»Die englischen Geschichten – die sind immer lügenhaft zu vertellen . . .!« sagte er gelassen. »Jongs – warum schreit Ihr denn so?«

»Das ist schon Mailand!«

»Da ist eine Dame und winkt Ihnen!«

»Ja. Ich hab' meiner Frau vom Konsulat telefonieren lassen!«

»Oh – da will ich nich weiter stören – nich?« Der Matrose und der Millionär drückten sich fest die Hand, und Hugo Martius drängte sich durch das Gebrüll der Facchini auf die kleine, zierliche Gestalt mit dem schwarzen Gemmenköpfchen zu, die die Arme ausstreckte und ihm entgegenstürzte.

Als sie sich nach einer Viertelstunde das Nötigste gesagt hatten und den Bahnhof verließen, fuhren ihnen die Droschken quer über den Weg.

»Signore! . . . Signorina!«

Aber Phila Martius hatte nicht wie sonst das nachsichtige südländische Lächeln auf dem zarten, klassisch geschnittenen Gesicht. Sie sagte so scharf und ungeduldig wie nur irgend sonst eine Norddeutsche:

»Belästigen Sie Einen doch nicht ewig! Das ist ja gräßlich! . . .«

Das alte Geschöpf auf dem Bock begriff, daß das Deutsch war.

»Abbasso la Germania!« brüllte es hinter ihnen her. Und noch aus der Ferne: »Evviva la Francia! Evviva l'Inghilterra!«

Zu Martius' Erstaunen machte das ›Nieder mit Deutschland!‹ auf seine Frau gar keinen Eindruck.

»Wenn ich mich darüber noch ärgern wollte!« sagte sie. »Das ist das tägliche Brot in den sechs Wochen, daß ich hier und in der Westschweiz an der Grenze nach Dir bangte!« Sie gab einem Bettelbuben einen Stoß: »Willst Du mich gleich loslassen, infamer Bengel?«

»Aber das sind ja Deine geliebten Ragazzi

»Dreckspatzen sind's! . . . Nein – lieber nicht durch die enge Gasse! . . . Der Gestank ist ja ekelhaft! Alles voll Orangenschalen und Schmutz . . .«

»Nun ja: die Unschuld des Südens . . .«

»Und wie diese Frauen kreischen! Ich kann diese schrillen, heiseren Stimmen gar nicht mehr hören! Ob Eine von den Trinen sich jemals ordentlich kämmt und ihre schwarzen Haarwuscheln nicht so liederlich aufsteckt . . .«

»Aber Phila . . .«

»Liederlich sind sie . . . Betrügerisch . . . niederträchtig . . . Es ist ein widerwärtiges Volk!«

»Il Secolo!« Ein Zeitungsverkäufer stürmte vorbei. »Neue Niederlagen der Deutschen! Die Preise für Hundefleisch in Berlin schon unerschwinglich! . . . Die Russen rücken mit sicherem Schritt nach Berlin!«

»Ah – der Ekel schüttelt Einen!« sagte die kleine Frau. Sie war ganz bleich geworden.

»Dich auch?«

»Kennst Du das Märchen von Einem, der die Sprache der Vögel verstand? So ungefähr ging es die Zeit über jetzt mir! Fast alle Fremden sind doch weg! Ich sehe aus wie eine Italienerin, spreche es wie eine Toskanerin. Da glauben sie überall, ich gehörte zu ihnen, legen sich in meiner Gegenwart keinen Zwang auf . . . ich höre Alles . . . schaue in ihre Seelen . . . wie in einen Abgrund von Gemeinheit . . .«

Sie gingen über den Mercanti-Platz. Viele Hunderte von dunklen Gestalten standen in der Nacht wie die Verschwörer beisammen. Ihr dumpfes Gemurmel glich dem Summen eines Bienenschwarms. Es war das alte italienische Bild. Aber Theophile Martius zog fröstelnd die Schultern hoch.

»Nur fort von hier! Nur nach Deutschland zurück! Wenn Du mir eine Liebe tun willst, reisen wir gleich! Wenigstens die paar Stunden bis Lugano! Daß wir nur aus Italien heraus sind!«

Als sie bald darauf reisefertig und auf den Omnibus wartend vor dem Eingang des Gasthofs standen, kam noch einmal, zum Abschied, die alte deutsche Sehnsucht über sie. Da waren noch die silbergrauen Paläste, da hallte träumerisch der Glockenklang vom Campanile. Im Mondschein glitzerten fern die Wellen der Marina. Die Gondeln Venedigs, die Wolke des Vesuv, die Palmen und Veilchenhaine der Riviera – Rom . . . Du ewiges Rom . . .

»Il Corriere della Sera!« Die heisere Stimme durchschnitt wie mit einem rostigen Messer die Luft. »Neue deutsche Geldpreise für die Tötung belgischer Kinder unter drei Jahren! Die Bewohner der Erde zerfallen in Menschen und in Deutsche! Ein erhabener englischer Dichter sagt es!«

»A l'eau les boches!« heulte es um die Ecke auf Französisch. Der Schutzmann in der Mitte der Straße hörte es und lachte.

Theophile Martius warf noch einen Blick umher.

»Leb wohl, Du entzaubertes Land!« sagte sie. »Leb wohl für immer! Wir haben Dich verloren. Aber ich glaube, Du wirst auch selbst bald verloren sein!«

Dann wiederholte sie, langsam und deutlich:

»Ihr spielt palle o santi! Aber Ihr werdet keines von Beiden gewinnen – nicht die Heiligen und nicht die Kugeln – nur Schimpf und Schande!«

»Warum so laut, Phila?«

»Der Ausländer soll es nur hören, der da den Kopf nach mir dreht . . . Der mit den großen, grauen Augen und dem unruhigen Gesicht, der da mit den beiden Italienern steht . . . Er kann Deutsch! Man merkt es ihm an!«

Innen, im Restaurant des vornehmen Mailänder Hotels, setzten sich inzwischen zwei der Herren an den gedeckten Tisch.

»Nochmals: Ihr sollt Euch rascher entscheiden! Warum warten? Ihr macht sie nur mißtrauisch . . .«

Der Deputierte di Barocelli wies, als er das hörte, heiter die Zähne über dem schwarzen Spitzbart und bewegte den Zeigefinger verneinend hin und her . . .

»Die Tedeschi? . . . Niemals! Für sie ist Italien eine Theaterkulisse mit Hochzeitspärchen davor! Unser Lächeln ist das der Sphinx, Signore di Schjelting!«

»Aber man befestigt die Alpen!« sagte Nicolai von Schjelting brüsker als es sonst seine Art war. »Im nächsten Frühjahr habt Ihr es schwerer!«

»Dafür zahlt man uns vielleicht auch mehr . . .«

Ein verständnisinniger Blick des Deputierten über die Oliven- und Sardinenschüsselchen. Schjelting fuhr sich mit der Hand über die Stirne. Er sah bleich aus. Er sagte verbindlich und konnte dabei doch kaum einen Anklang von Verachtung unterdrücken:

»Man zahlt schon jetzt! Ich habe Vollmacht aus Petrograd! Wieviel . . .?«

»Zitto!« Der Onorevole legte ihm warnend die Hand auf den Arm, während sein Landsmann, der Herausgeber des »Avvenire Italiano«, herantrat. »Vorsicht! Unter vier Augen! . . . Corsi darf davon nichts hören!«

»Warum nicht?«

»Er ist längst von Barrère in Rom für die Politik der Westmächte gewonnen. Er arbeitet heimlich auf dem Balkan gegen Serben und Griechen! Schade um das Geld! . . . Nun, setze Dich, Agostino, mein Bruder! Was macht Donna Giacinta?«

Der Cavaliere dankte mit einer anmutigen Handbewegung. Ein Ordenskettchen schimmerte in seiner Frackklappe. Seine Lackschuhe glänzten ebenso wie seine spitzen Nägel. Ein geschmeidiges Lächeln übersonnte sein faltiges und hageres Gesicht.

»Wir sprachen von unseren Feinden!« sagte Schjelting. »Ich komme von der russischen Front. Überall ist der Weltkrieg im Gang. Nur Ihr fehlt. Wie lange noch? Eine ›Hülfe von Pisa‹ nutzt uns nichts!«

»Geduld, Signor – Geduld!«

»Ich war jetzt in Lemberg beim Generalissimus! Ehrlich gestanden: Man hat Euch im Verdacht, daß Ihr es heimlich mit Euren Verbündeten haltet!«

Der Cavaliere legte mit einer Miene der gekränkten Unschuld seine lange, knochige Rechte auf die Herzgegend. Der Onorevole spreizte beide Hände in schmeichlerischer Abwehr.

»Beweist, daß es nicht der Fall ist! . . . Werft die Masken ab!«

Die Beiden lächelten einander, wie Geheimbündler, in die Augen und dann zu ihm. Sie erinnerten ihn plötzlich an die leblosen, weltmännischen Wachsköpfe in den Schaufenstern der Friseure. Er dachte sich ungeduldig: Was sphinxt Ihr Euch hier überall an, Jeder den Nächsten? Wozu jetzt noch diese ölige Glätte? Die Welt ward rauh. Braucht Taten. Ich will für Rußland nicht Aale kaufen, sondern Vipern! Laut sagte er:

»Diese kleine brünette deutsche Schönheit, die da vorhin in den Omnibus stieg . . .«

»Eine Deutsche und schön . . .« Der Abgeordnete lächelte. Ein Lächeln vom Capitol herab. Ein Lächeln des Größenwahns. Dann fuhr er zusammen. So grimmig herrschte ihn plötzlich Schjelting an.

»Waren Sie je in Deutschland?«

Eine hoffnungslose Schulterbewegung als Antwort. Es hieß etwa: Frage mich doch lieber gleich, ob ich schon in Eurem Sibirien war! Ich, ein Sprosse latinischer Kultur im Schnee bei Bier und Sauerkraut in Bettlerhütten . . .

». . . sonst würden Sie wissen, Signore, daß Gottes Wille selbst den Deutschen schöne Frauen gab . . . groß . . . blond und schlank . . . wie die Königinnen . . .«

Eine Sekunde stieg Inge Tillesens Bild vor ihm auf. Er preßte unter dem Tisch die Faust wie in einem körperlichen Schmerz, einem Krampf von Wut und Grimm. Seine nervösen, länglichen Züge glätteten sich gleich wieder zu einer beinahe höhnischen und brutalen slawischen Gelassenheit. Er blies den Rauch der Papyros, die er zwischen den einzelnen Gängen des Diners rauchte, durch die geblähten Nasenflügel.

»Ich verstehe deutsch!« sagte er. »Diese deutsche Dame vorhin, die ich nicht kenne, nannte Euch offen Verräter!«

Es machte gar keine Wirkung. Die Italiener lachten nur gutmütig. Er merkte: sie glaubten ihm kein Wort von der Geschichte. So wenig wie sie sich untereinander etwas glaubten. Ein tiefes, unbesiegbares Mißtrauen wohnte bei ihnen ganz hinten in jedem Blick, klang im Unterton jedes Wortes. Dann meinte der Onorevole di Barocelli, zärtlich in der Schüssel voll gebratener deutscher Singvögel auf Risotto wählend:

»Unser Gewissen ist so rein wie nach dem Stabstreich des Beichtvaters in St. Peter. Kann man dem Blinden die Madonna zeigen? Seit zwanzig Jahren bekämpfen wir Deutschland und Österreich bei jeder Gelegenheit. Wenn sie es nicht sehen wollen, so trifft sie allein die Schuld!«

Ein Kellner rief ihn an den Fernsprecher. Turin. In dringendster Angelegenheit. Kaum war er weg, so raunte der Cavaliere, an seinem Nachtigallenflügel nagend:

»Vorsicht! . . .«

»Wie denn?«

»Bieten Sie ihm nicht zu viel! Es ist umsonst! Er bezieht bereits dreitausend Lire monatlich vom englischen Botschafter in Rom. Er intriguiert in der Dardanellen-Frage gegen Rußland!«

»Danke.«

»Unterstützen Sie lieber unsere Gruppe. Ich werde Ihnen eine Liste meiner Freunde geben. Ich habe auch Verbindungen mit Bukarest! Nun . . . Paolo . . . was war?«

»Ah – es ist schamlos . . . Es geht eigentlich Dich an . . . Es heißt, die ›Stampa‹ wolle eine Liste aller von der französischen Regierung unterstützten Zeitungen in Rom und Mailand veröffentlichen.«

»Aha . . . Giolitti . . . warte nur . . .«

Draußen eine helle Knabenstimme:

»Der ›Avanti‹! Verzeichnis aller bestochenen Deputierten! . . . Das Volk will den Frieden!«

»Es wird noch ein Handgemenge in der Kammer geben!« sagte zornrot der Onorevole.

»Man wird sie hindern, zu erscheinen. Man wird die Straße organisieren. Tausende . . .«

»Aber jeder fünf Lire den Tag . . .«

»Wir brauchen Geld . . .«

»Geld, Signore di Schjelting . . . Ihr Zar ist ja so reich . . .«

»Und was tut Ihr für das Geld?« Nicolai Schjelting war aufgestanden. Er verhandelte jetzt mit ihnen wie mit Neapolitaner Droschkenkutschern.

»Wir bereiten uns auf den großen Augenblick des Vaterlands vor!«

Das heißt: Ihr wollt bis auf weiteres von allen Seiten erpressen! dachte sich Schjelting und sagte:

»Das sind Phrasen!«

»Das ist heiliger Egoismus, Signore!«

»Jetzt solltet Ihr Farbe bekennen! Weshalb dies Versteckspiel bis zum Frühjahr? . . . Man wird aus Euch nicht klug . . .«

Ein pfiffiges, blitzschnelles Lächeln auf den Gesichtern drüben.

»Sie sind im Lande Macchiavells, Signore! . . . Wie . . . Sie wollen uns schon verlassen? . . .«

Nicolai von Schjelting gab dem Zeitungs-Politiker und dem Deputierten nachlässig die Hand.

»Eine Villa und einen Sack Lire kann ein Vater seinen Söhnen hinterlassen. Seine Klugheit nicht immer!«

»Was heißt das, Signore?«

»Das heißt: nichts schlimmer als ein dummer Macchiavell! . . . Nun . . . schlafen Sie wohl!«

Draußen war die laue Sommernacht noch voll von Menschen. Es war kein Murmeln der Menge mehr. Zornige Schreie, heiseres Stimmengewirr, Getümmel. Zwei nächtliche Demonstrationszüge waren aufeinander gestoßen. Der Führer des einen in phantastischem Garibaldi-Aufputz und der aus der Eisenbahnwerkstatt kommende Schlosser an der Spitze des anderen knufften und ohrfeigten sich. Um das rote Hemd und die blaue Bluse herum wogten geschwungene Stöcke, Realschüler schleuderten Steine gegen messerbewehrte junge Arbeiter, Frauen kreischten, eine Gruppe von Priestern stand mißbilligend und kopfschüttelnd als Friedensfreunde auf den roten Granit-Treppen des Domportals. Schjelting hielt es für besser, in sein Hotelzimmer zurückzukehren. Von da sah er durch das offene Fenster auf den wirren Kampf Aller gegen Alle. Aber er hörte nicht den wildzerrissenen Lärm da unten. In seinem Ohr klang wieder die eine ungeheure Stimme jenseits der Alpen, der Ruf des Riesen von Millionen Lippen, die eine Glut in vielen Millionen von Augen, diese furchtbare, selbstvergessene, erdentrückte Ähnlichkeit aller deutschen Menschen miteinander, diese Gleichheit in Allem, was sie dachten, wollten, sagten, taten. Und von ferne scholl es noch immer heiser: Aiuto! . . . Zu Hilfe! . . . Gelle Schreie . . . Schrille Pfiffe . . .

Und wieder dachte sich Nicolai von Schjelting mit schwerem Herzen: Es fehlt Etwas! . . . Noch viel mehr als im heiligen Rußland. Wenn irgendwo, fehlt hier in diesem Land des heiligen Egoismus der heilige Geist . . .

Dann eine neue Hoffnung: Bald bin ich in Paris. Im Herzen Frankreichs. Dies Herz schlägt stark und kühn. An seinem Mut werden wir Alle uns beleben . . .

Im April war er zuletzt in Paris gewesen. Es war noch nicht ein halbes Jahr her und schien doch eine Ewigkeit. In weiter Ferne lag das Bild des Einzugs des Britenkönigs an der Seine und, im Sechsspänner hinter ihm, des eitel lächelnden Präsidenten der Republik. Ein Menschenalter war vergangen, seit damals die Frühlingssonne ihre goldenen Lichter durch das Grün der Elysäischen Felder auf jubelnde Menschenmassen geworfen. Nicolai von Schjelting hatte Zeit genug, daran zu denken. Die Züge in Frankreich fuhren noch langsam und unregelmäßig, mit langem Aufenthalt auf den Knotenpunkten, dann wieder, auf anderen Strecken, in wilder Hast, daß die Stationen wie Farbenflecken vorüberflogen, mit ihrem bunten soldatischen Gewimmel, den roßschweifbesetzten Stahlhelmen, den verschnürten schwarzen Attilas, den schiefen graublauen Tellermützen der Alpenjäger, dem schreienden Krepprot der Käppis und Hosen, ein Stück malerisches Theater für den, der draußen schon das eintönige feldgraue und feldbraune Gewimmel der deutschen und russischen Millionen gesehen.

Dann dämmerte es wieder. Die Lichter im Zug wurden gelöscht. »Warum?« – – – »Ah – le ›Taube‹, monsieur!« Die kleine französische Offiziersfrau neben Nicolai Schjelting steckte seufzend den Liebes-Socken ein, an dem sie bisher, ohne aufzusehen, gestrickt, und saß stumm, die Hände im Schoß. Der dicke belgische Major gegenüber klappte sein »Dressage de l'infanterie française« zu, in dem er bisher stirnerunzelnd gelesen, der junge südfranzösische Rekrut ihm gegenüber zündete sich, ohne sich viel um ihn zu kümmern, eine neue Zigarette an. Paris . . . Endlich Paris . . . Eine zögernde Einfahrt in tiefer Dunkelheit . . . immer nur neben den Scheiben das rote Kreuz in weißem Feld. Der Verwundetenzug, der da auf den Schienen hielt, nahm kein Ende. Innen rührte sich nichts. Rote-Kreuz-Damen und ein Arzt schritten die Wagenreihe entlang. Ihre Tritte und Stimmen waren das Einzige, was in dem Todesschweigen unter der mächtig gähnenden, menschenleeren Riesenwölbung des Bahnhofs wiederhallte.

Paris . . . War das noch Paris – diese Stadt ohne Licht, mit gelöschten Bogenlampen, schwachem Schimmer durch festverschlossene Läden, flüchtigen, zuckenden Mondscheinbahnen der zeppelinsuchenden Scheinwerfer am düsteren Herbsthimmel? Nicolai Schjelting fuhr sich mit der Hand über die Augen, während er durch die sonderbar fremdartigen Straßen zum Hotel am Vendômeplatz fuhr. Es war beinahe das einzige, das nach der Flucht der Regierung noch offen war. Ein Manager begrüßte den Stammgast. »Ah, c'est triste, monsieur!« Das Wort klang überall. Es lag auf allen Lippen. Es raunte aus der Brettervernagelung der Juwelierläden in der Rue de la Paix. Es raschelte aus den Zeitungsblättern, die, statt der Menschenfluten, jetzt, um neun Uhr Abends, im Wind über den verödeten Boulevard des Italiens dahinflogen, es war, als murmelte selbst der kleine Korporal da oben auf seiner Säule ein: ›c'est triste!

Eine Hoffnung nur . . . Der Manager plauderte sie aus und schwatzte . . . Jetzt waren ja nur wenig Gäste im Haus, Engländer im Dienst und in Geschäften, ein paar vorwitzige Amerikaner mit ihren Ladies, die ihren Generalkonsul so lange plagten, bis sie einen Passierschein für ihre Autos vor die Bannmeile hinaus bekamen, so weit, daß man den Kanonendonner vom Oisethal her hören konnte. Aber das waren ja nur die ersten Schwalben. Im Frühjahr, wenn die Deutschen endgiltig vertrieben waren, würde halb Amerika herüberkommen, um die Spuren der Barbaren und ihrer Schlachtfelder zu sehen. Oh – die Saison 1915 – die würde die glanzvollste seit lange werden. Die Welt ohne Boches! Ein Jubel auf der ganzen Erde!

»Also, Ihr werdet die Deutschen verjagen?«

»Wir halten hier aus, mein Herr, bis diese unwiderstehlichen russischen Millionen Berlin besetzt haben . . .«

Nicolai von Schjelting schloß nervös die Augen, erwiderte nichts und suchte sein Zimmer und die Ruhe. Aber am nächsten Morgen sagte ihm der greise General de Rigolet de Mezeyrac das Gleiche. Er stand mit ihm, nahe seiner Wohnung in einer der Querstraßen des Sterns, am Eingang des Bois de Boulogne. Wenn das noch das Boulogner Gehölz war – diese Weidefläche für Tausende von Rindern und Hammeln da, wo sonst, auf der Fahrt zu den Rennen von Auteuil, der letzte Luxus der Erde seine höchsten Blüten getrieben. Gefällte Bäume vor den schimmernden Seeflächen, ein breiter Schützengraben quer über das aufgerissene Pflaster der Avenue du Bois de Boulogne, ihre Häuser zu beiden Seiten, so weit man sah, tot, mit geschlossenen Läden, auf der Promenade keine phantastischen Hüte und Trotteurkleider mehr, keine zweibeinigen Modejournale von Stutzern, keine Schoßhündchen, keine Halbwelt, keine Arche Noah von Fremden aller Völker . . . nur ab und zu Frauen . . . Viele in Schwarz . . . immer nur Frauen oder ganz alte Männer wie der General de Rigolet.

Der kleine dicke Achtzigjährige mit dem schneeweißen Knebelbart und den feurigen Augen trug wieder die französische Generalsuniform. Er hatte darauf bestanden, sich irgendwie im Kriegsministerium nützlich zu machen. Von seiner Tochter in Brüssel und von seiner Enkelin Ghislaine hatte er seit dem Kriegsausbruch nur Weniges und Unbestimmtes auf dem Umwege über England erfahren. Er wußte noch nichts von dem endgiltigen Bruch der Schjelting'schen Ehe.

»Hoho – dieser Papa Lambert!« sagte er kampflustig und voll Verachtung seines Schwiegersohns. »Er ist feige, nach Art der Krämer. Erst blieb er bei seinem Geldschrank in Brüssel, weil er nicht glaubte, daß die Preußen kämen. Dann, als sie da waren, floh er nur bis Antwerpen, um gleich mit den Engländern nach Brüssel zurückzukehren . . .«

»Nun gut . . .«

»Mein Freund! Antwerpen ist vorgestern gefallen. Die Öffentlichkeit darf es nicht wissen. Es ist streng verboten. Aber die Lage ist ernst . . . Sapristi . . .«

Nicolai von Schjelting biß sich finster auf die Lippen und schwieg.

»Zum Glück sind die Lamberts mit Ghislaine und Deinen Kindern schon in der Woche vorher über die Schelde hinüber nach Holland. Da sind sie nun in Sicherheit. Weiter hab' ich nichts mehr von ihnen vernommen!«

Schjelting machte eine Handbewegung. Genug davon . . . Es handelte sich um die großen Dinge.

»Wie steht's draußen?«

»Man kämpft!«

»Schwer?«

»Napoleon selber würde in Verwirrung geraten. Leipzig war dagegen eine kleine Affäre. Siebzig ein Aderlaß unter Freunden.«

»Aber es geht gut? . . .«

»Wie siebzig . . .,« sagte der alte Kämpe des zweiten Kaiserreichs statt einer unmittelbaren Antwort. »Alles wiederholt sich. Sie sind wieder unversehens da! Sie stehen wieder nahe vor Paris. Wir laufen wieder gegen sie an, mit denselben roten Hosen, wie vor einem halben Jahrhundert. Ah – dies Rot ist ein Verbrechen . . . Ich war draußen . . . Meilenweit, am Abend, diese Mohnfelder . . .«

»Trotzdem werdet Ihr siegen?«

Ein Achselzucken des alten Kommandeurs der Ehrenlegion.

»Sie haben nichts vergessen . . . Parbleu . . . die drüben. Aber wir werden uns schon gegen Euch behaupten, meine Herren Pickelhauben . . .«

»Nicht mehr?«

». . . bis der Einzug des Zaren in Berlin uns Luft macht! Ihr seid jetzt in Breslau – nicht wahr?«

»Ja!« sagte Nicolai Schjelting kurz.

»Bemüht Euch, daß Ihr von jetzt ab schneller vorwärts kommt. Habt Ihr schon Küstrin? Wir warten mit Ungeduld! Wir bluten! Ich habe seit dem Krimkrieg alle Feldzüge Europas mitgemacht. Aber es waren Spaziergänge gegen das da draußen . . .«

Sie drehten um und schritten zurück. Schjelting horchte.

»Kanonendonner!« sagte er dumpf. Aber der Alte lachte. Der Pulvergeruch vor den Toren belebte ihn, trotz aller Sorgen.

»Die Untergrundbahn, mein Freund! Seit Jahrzehnten lebe ich hier und höre sie jetzt zum erstenmal. So totenstill ist Paris geworden! . . . Hoho . . . halt da! Man passiert nicht an seinem alten General vorbei!«

Sie standen am Triumphbogen. Von Westen her jagte über die Avenue der Großen Armee ein offenes Auto heran. Es war über und über mit Kot bespritzt. Ebenso die französischen Offiziere in ihm. Ihre Käppis waren zerknittert, ihre Goldstickerei von Wind und Wetter gebleicht. Auf ihren hageren Gesichtern wohnte noch die Front: der allen Soldaten aller Heere eigentümliche Ausdruck des wochenlangen Schützengrabenkriegs – die stete, forschende Spannung um die hart entschlossenen Lippen, die angestrengte Erwartung in dem starren, fast leidenden Blick. Herr de Rigolet begrüßte sie.

»Was Neues?«

»Man kämpft, mein General!«

»Dumenil ist gefallen. Ihr alter Freund Ayéma! . . .«

»Bernard.«

»Kergoleys zweiter Sohn. Armer Junge!«

Der alte General lüftete stumm sein Käppi. Aus dem Auto heraus sagte der Oberstleutnant Grégoire zu Schjelting:

»He . . . wann seid Ihr endlich in Berlin, Ihr Russen?«

»Bald! . . .«

Es klang fast mechanisch.

»Schont Euch nicht . . . hört Ihr! Frankreich streitet mit der letzten Energie der Nation. Ein Glück, daß Krakau sich Euch gestern ergeben hat . . .«

»Und wo kämpft dieser sympathische Leutnant Schouman?« frug Schjelting, um abzulenken.

»Bei Mülhausen gefallen!«

»Und unser Freund, Major Michelin?«

»Er liegt bei Mörchingen begraben . . .«

Schjelting forschte nicht weiter. Der Oberstleutnant Grégoire beugte den gebräunten Kopf über den von Kugelspuren durchstanzten Blechrand des Wagens und sagte halblaut, damit es die Chauffeure vorne nicht hörten:

»Ihr habt es gut im Osten! Hinter Euch steht Euer allmächtiger Zar. Hinter diesen Deutschen ihr nationales Symbol, Wilhelm der Zweite im Lohengrin-Helm. Selbst die Belgier begrüßen ihren König im Schützengraben. Aber wir: Wo sind die hinter uns? . . . Wo sind sie – diese Advokaten – diese Minister – diese Kammerschwätzer – dieser vierkantige Lothringer selbst? Ausgekniffen nach Bordeaux . . .«

»Joffre befahl es!«

»Sehen wir zu: Er ist der Feldherr! Wir hier sind Frankreichs Arm. Aber hinter der Faust muß das Herz Frankreichs schlagen, so stark wie sie! Schauen Sie sich um: Ist dies noch Paris oder ist es Pompeji? Eine tote Stadt! Woher soll da uns die Wärme kommen? Vor zwei Stunden war ich noch im Feuer. Zu frösteln beginne ich erst hier!«

Der General de Rigolet de Mezeyrac blickte hinüber nach der fernen Kuppel des Invalidendoms.

»Vive l'empereur!« sprach er. »Meinetwegen jetzt selbst: Vive le roi!«

»Ein Banner, um das sich Frankreich sammelt . . . seien es die Lilien oder die Bienen!«

»Nur nicht diese tauben Nüsse von Bordeaux!«

»Diese Geschäftsmänner!« murmelte Einer der Generalstäbler, fiebernd in seinen Mantel gewickelt.

»Diese Hasenfüße . . .«

Und wieder ging es durch Nicolai von Schjeltings Kopf: Es fehlt Etwas . . . Es fehlt Etwas, auch hier . . . trotz Mut und Zähigkeit . . . Etwas, was drüben, überm Rhein, mir jetzt noch wie ferner Donner nachhallt. Dort ist das Volk die Wetterwolke. Sein Heer der Blitz. Der Oberstleutnant Grégoire frug ihn:

»Kommen Sie mit? Wir fahren gleich wieder an die Front!«

Und seltsam: im selben Augenblick hatte Schjelting weniger eine Anwandlung von Kanonenfieber als einen Anhauch von Grauen . . . von Entsetzen . . . Nur nicht wieder den Krieg sehen . . . nicht wieder dies unvernünftige Gewirtschafte des tollgewordenen, trampelnden Riesen mit Menschen und Wäldern, Städten und Kirchen, dieser Brei von Eisenbahnen und Brücken, dies Versteckspiel in donnernder und grollender Leere, dies Geheul unsichtbarer Geister in der Luft, dieses Aufwirbeln knallender schwarzer Dreckfontänen in verräterisch friedlicher, niederträchtig im Sonnenschein lächelnder Sonntagvormittaglandschaft. Er sagte sich: Es ist doch Dein Krieg! Wie hast Du ihn ersehnt. Dein Lebenlang an ihm gearbeitet. Nun ist er da. Über Erwarten erfüllt sich Dein Wunsch: Man schlägt sich am Ganges und am Sinai, in der Kalahariwüste und am chinesischen Strand, im indischen Ozean und im afrikanischen Urwald. Man schlägt sich in ganz Europa. Tausend Millionen Menschen sind miteinander im Krieg, mehr als die Hälfte dessen, was auf Erden atmet. Das Blut fließt in Meeren. Und das ist nur der Anfang . . .

Nicolai Schjelting schluckte unwillkürlich ein paarmal.

»Ich bin untröstlich . . .«

»Ah bah . . . Sie werden es nicht bereuen. Ich zeige Ihnen auch durch das Scheren-Fernrohr die Preußen!«

»Wie gerne folgte ich! Aber ich muß heute noch nach Bordeaux!«

»Das ist etwas Anderes! Viel Glück! Adieu!«

Paris . . . Du totes Paris . . . Nein. Es war nicht tot. Es war nur wo anders. Ausgewandert. Nicolai Schjelting fand es wieder, als er, nach endloser Fahrt vom Bahnhof die Garonne entlang die krummen, altertümlichen Straßen des inneren Bordeaux erreichte. Das war nicht mehr das verstaubte und verknöcherte Schattenleben französischer Provinzstädte. Zwischen dem Komödienplatz und den Alleen von Tourny waren auf einmal die Boulevards mit ihren skeptischen, trockenen Pariser Gesichtern unter Zylinderhüten, auf dem Richelieu- und Börsenplatz standen jene pfiffigen, rundlichen, die Renten Frankreichs in ihren weiten Taschen verwaltenden Gestalten, die man sonst an der Seine zwischen dem Boulevard Sebastopol und der Rue du Louvre sah, vor den altersgrauen, in engen Straßen gelegenen Palästen, in denen sich die hohen Würdenträger der Republik bleich und abgespannt vor der Außenwelt abschlossen, hielten wie in der Lichtstadt selbst die Reihen von Autos, liefen geschäftige Politiker aus und ein, verhandelten Deputierte achselzuckend und händefuchtelnd in der Vorhalle, umdrängten Journalisten am Eingang die herauskommenden Diplomaten. Selbst die weite, einsame Sandwüste der Quinconces war belebt. Paris überall. Der Komet hatte seinen Schweif nach sich gezogen. Die Kleinen waren nahrungsuchend den Großen in die Verbannung gefolgt. Der fette Kellner von Henry an der Madeleine lächelte einem an der Ecke entgegen, die Galgengesichter der Camelots schrieen hier den »Mann in Ketten« aus wie sonst die zweite Ausgabe des »Soir«, die Spieler der nächtlichen Privatcirkel, die Schlepper, die sonst vor dem »Grand Hotel« auf die Fremden warteten, die Glücksritter, die Buchmacher, Alles war da. Die kleinen Frauen zu Tausenden. Es amüsierte sie auch jetzt noch, die ehrsame Bürgerschaft von Bordeaux durch ihre Hüte und Toiletten zu verblüffen. Die großen Mimen promenierten majestätisch zur »grünen Stunde«, wenn die Cinémas aufzuleuchten begannen, die Bohémiens zeigten die übernächtigen Züge ihrer bis zum Morgengrauen geöffneten Cabarets – selbst die Uniform schien hier nur ein blau-rotes Wappenschild des allgemeinen Leben und Lebenlassens. Nicolai Schjelting hörte, auf seiner Rundfahrt bei den Ministerien und Missionen, wie im Nebensaal ein Abgeordneter erschöpft sagte:

»Sie sind heute allein der Vierzehnte, dessen Sohn ich vor der Einstellung in die Front bewahren soll! Mein Gott: Man kann doch nicht alle jungen Leute als Schreiber in den Bureaux verwenden!«

Und der Dicke vor ihm, halblaut und bestimmt:

»Aber ich habe dreißigtausend Francs für Ihre Wahl gegeben, mein Herr Deputierter!«

»Nun – ich werde sehen, mein Freund, was sich tun läßt!«

Und im Warteraum eines anderen Würdenträgers ein zorniger vornehmer alter Herr:

»Bei Kriegsausbruch wurde mir mein Automobil genommen. Ich gab es dem Vaterland umsonst. Ich gehe seitdem mit meiner Frau zu Fuß!«

»Vortrefflich, Herr Marquis! Und weiter? . . .«

»Weiter? Ich komme nach Bordeaux! Täglich sehe ich hier meinen Wagen! Ein junger Mensch in Zivil fährt eine dieser Damen darin spazieren! Ah, das ist zu viel!«

»Ein junger Mensch? . . .«

»Klein und blond. Seine Begleiterin nennt ihn Gaston!«

»Pst! – das ist der Neffe des Herrn Ministers! Nichts zu machen!«

Und in einer der Botschaften ein steinerner Yankee, um ihn ein Kreis aufgeregter Finanzmänner.

»Sie müssen den Russen den Kredit eröffnen. Wir garantieren ihnen doch den Betrag der Gegenbestellung in Gold!«

»Well! Fünfundzwanzig Prozent Anzahlung!«

»Und zehn Prozent Provision für uns!«

»Keinen Dollar!«

»Sapristi! Man lebt nicht von der Luft, mein Herr!«

»Aber von den Russen! Ihr nehmt von ihnen zwanzig Prozent!«

»Kein Streit unter Freunden! Siebeneinhalb!«

»Fünf Prozent! Sie verdienen noch genug!«

Ein Lachen. Schjelting ging. Unten hörte er die zornmütige Stimme eines Abgeordneten in einer Gruppe:

»Diese Generale! . . . Diese Censur! . . . Da, statt eines Artikels in der Zeitung eine weiße Wüste! . . . Man tötet den gallischen Geist . . .«

»Du bist zu scharf gegen Deine eigene Partei!«

». . . weil man mich zurücksetzt! Man intriguiert. Man verläumdet. Was soll ich meinen Wählern sagen? Das nächste Mal lassen sie mich fallen! Dann bin ich ruiniert, mein Freund! Denn der Advokatenrobe bin ich schon zu lange entwöhnt!«

Nicolai Schjelting kehrte in das Südbahnhotel an der Station zurück. Er saß schon stundenlang in dumpfem Sinnen, als es klopfte, und de Massa, der große Pressemann und Ministervertraute zwischen Paris und Rom, eintrat, lang, hager, grauköpfig, mit lauter Stimme.

»Nun – findet man Sie hier draußen! Ich habe die Reise nicht gescheut! . . . Man sehnt sich, von Ihnen Näheres von dem Marsch dieser unbesiegbaren Russen nach Berlin zu hören!«

»Wer?«

»Nun – ganz Paris ist ja hier versammelt! Sie werden zufrieden sein! Wir sind en petit comité – unter Leuten von Welt! In der ›Fetten Poularde‹. Drollig – was? Es ist die Vorschrift des Tags, dort zu dinieren – nicht weit vom Gambetta-Denkmal!«

»Schade, daß Gambetta selber Euch fehlt!«

»Wohl verstanden: Madame de Marly wird da sein! Ferner diese reizende, kleine . . .«

»Pascholl!«

»Was?«

Schjelting stand, die Hände in den Taschen, vor dem Besucher und blies ihm brutal den Zigarettenrauch mitten ins Gesicht. Aber er war dabei bleich vor Zorn.

»Pascholl! . . . Ich hab' genug gehört!«

»Ah – Sie sind nicht in Rußland! Spricht man so zu Verbündeten?«

»Mit Euch sich zu verbünden wäre nicht der Mühe wert! Euer Heer ist tapfer, Euer Bürger patriotisch – Aber Ihr da oben taugt nicht mehr als unsre Tschinowniks. Ihr seid faul bis in die Knochen. Da ist drüben, jenseits der Vogesen, ein anderer Geist!«

»Mein Glückwunsch! Sie sind Pro-Boche, Monsieur?«

»Im Gegenteil!« sagte Nicolai Schjelting. »Ich suche den Geist, der allein im Stande ist, den Deutschen zu überwinden. Auf dem Festland ist er nicht. Aber in England werde ich ihn finden!«


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