Rudolph Stratz
Das deutsche Wunder
Rudolph Stratz

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XI.

Sagen Sie mir doch um Gotteswillen: Wann kommt der Zug aus Wien?«

Keine Antwort. Jeder hatte mit sich zu tun. Es war nur ein tausendfaches, wirres, abgerissenes Stimmengeschwirr unter der glühenden Glaswölbung des Münchner Hauptbahnhofs. Die Luft trüb von Staub. Unten das Gewühl eines durcheinanderwimmelnden Ameisenhaufens gleich dem Bild des aufgestörten Erdballs im Kleinen.

Inge Tillesen wurde hin- und hergestoßen. Sie wehrte sich mit dem rechten Arm gegen einen langen Bergstock und ein daran befestigtes Alpenrosenbüschel, überall waren auf einmal Bergstöcke, saß Gamsbart und Lodenhut schief auf erregten Gesichtern. Die kamen vom Brenner. Aufgescheuchte Tiroler Sommerfrischler. Immer neue Tausende. Tag und Nacht. Sie erwischte glücklich einen atemlosen Beamten am Arm.

»Wann kommt denn wieder ein Zug aus Wien?«

»Ja, i woaß net!«

»Aber ich steh' nun schon seit gestern hier! Ich muß doch . . .«

Der Mann war irgendwo und sie zehn Schritt weiter, eingekeilt in eine neue Menschenmasse. Nun waren plötzlich ringsum weiße Hauben, stille Gesichter, niedergeschlagene Augen. Ein ganzes Nonnenkloster, paarweise, die Köfferchen in der Hand, auf dem Weg von Oberbayern nach den Vogesen. Inge Tillesen dachte sich: die gehen schon an die Front! Er auch. Ich verfehle ihn noch hier!

»Bitte, wissen Sie nicht, wann der nächste Zug aus Wien . . .«

Aber nun war sie mitten unter Angelsachsen. Flüchtende Bayreuther und Münchner Festspielgäste. Engländer und Amerikaner. Sie saßen ratlos, wie die Schiffbrüchigen, auf ihren Koffern. Soldaten rollten Handwägen mit Kaffeesäcken, Gepäckträger schoben eine kranke Dame im Fahrstuhl. Neue Menschenstrudel hinterher, auseinandergerissene Familien, die sich zuschrien und winkten, Offiziere, Papiere in der Hand. Aber alle bayrisch hellblau. Von Paul Isebrink keine Spur. Sie dachte: Wahrscheinlich ist er auch noch in Zivil! Sie wurde von der Menschenmauer mitgepreßt. Dort in der Ecke stürmte man die Züge nach Berlin. Vielleicht saß er darin. Aber wie ihn finden? Es hatte keinen Zweck. Sie drehte sich um und arbeitete sich gegen die beiden Bajonettspitzen der Bahnhofwachen durch, die den Ausgang anzeigten. Draußen in der Vorhalle, die immer noch ein brausendes Menschengewoge erfüllte, machte sie mutlos Halt. Sie war erschöpft. Sie sagte sich, was sie sich schon den ganzen Tag bis in diese späten Nachmittagsstunden hinein gesagt hatte: Den Orient-Expreß hab' ich glücklich verpaßt! Bis Mitternacht hab' ich mir die Beine in den Leib gestanden. Bei Tagesanbruch soll er mit Gott weiß wieviel Stunden Verspätung angekommen sein. Behaupten sie wenigstens! Andre meinen, er wäre überhaupt noch nicht da . . .

Dann hatte sie noch eine Hoffnung: Wenn er vernünftig ist, geht er da draußen auf und ab, damit ihn sein Vater sieht! Sie trat ins Freie, schritt suchend bis zu dem Karlsplatz. Die Sonne brannte, die Luft flimmerte, die Menschen fieberten. Das Bild des Kriegs, wie es im Frieden nur der Süden bot. Tausende und aber Tausende, die scheinbar untätig auf Straßen und Plätzen beisammen standen, halblaut sprachen, sich um die Extrablätter drängten. Ein unterirdisches Brodeln und Kochen. Ab und zu ein jäher Ausbruch. Spione im Land . . . Spione . . . »Fangt's die Schlawiner!«

Inge Tillesen konnte gerade noch zur Seite springen. An ihr vorbei stürmte es von überall nach dem vom Schutzmannspfiff aufgehaltenen Auto. Ein Handgemenge drinnen mit der wild um sich hauenden Mannsgestalt in Frauenkleidern . . . fort ins Polizeipräsidium . . . wieder ein Serbe weniger . . .

Das erste Aufzucken der seit Menschenaltern schlafenden Ur-Instinkte der Schöpfung. Der Kampf ums Dasein. Wie in der Urzeit. Auge um Auge. Leben um Leben. Vergiftetes Wasser . . . Französische Flieger über Nürnberg . . . Goldtransporte im Auto auf der Landstraße . . . Und wieder Sturmgesang um eine schwarz-weiß-rote Fahne: »Fest steht und treu die Wacht am Rhein!« Es brandete und brauste um Inge Tillesens Ohren. Sie ging weiter. Sie suchte. Und dachte sich: Wie oft konnte ich das eine ›Ja‹ sagen, das ich jetzt nicht anbringe! Damals war mir das Schicksal nah. Ich brauchte es nur zu rufen. Jetzt ist es zu groß geworden und ich zu klein. Es kümmert sich nicht mehr um Einzelne. Ich mag noch so sehr laufen – ich hol' es nicht mehr ein . . . Es geht mit Siebenmeilenstiefeln . . .

Vor dem großen gelben Eckgebäude des General-Kommandos hielten Reihen von Kraftwagen. Es war ein Hasten hin und her durch das Tor. Auf dem Bürgersteig davor standen Offiziere in Gruppen. Alle noch in bayrischen Friedensuniformen. Inge sah das Himmelblau des Fußvolks, das Grün der Chevauxlegers, die breiten, roten Beinkleidstreifen der Artillerie. Aber dann tauchte da aus dem Dunkel des Torwegs ein bisher in Deutschland nicht geschautes Waffenkleid auf. Alle Offiziere musterten es, während sie grüßten, und hatten dabei ein leuchtendes und kampflustiges Lächeln, alle Vorüberkommenden blieben stehen und wandten die Köpfe mit einem überraschten und oft ehrerbietigen Ausdruck: Es war etwas Feierliches um dies erste Feldgrau, diese gelbledernen Gamaschen, diesen staubfarben überzogenen Helm. Es war, im Fortfall alles Friedensprunks und aller Farbenfreude, die erste Verkörperung der ungeheuren Schicksalsstunde, das erste wandelnde Sinnbild des größten Krieges aller Völker und Zeiten.

Links davon ging, auch als ein Vorbote des kommenden Gewimmels feldgrauer Millionen, ein langer, hagerer Leutnant. Er trug in der Herzgegend ein Abzeichen auf dem Waffenrock, das Inge nicht kannte. Dahinter kam, noch in preußischer Friedensuniform des Großen Generalstabs der Armee, ein kleiner, eleganter Hauptmann. Zwei Damen begleiteten ihn, Mutter und Tochter. Man sah es an der Ähnlichkeit.

Paul Isebrink war in ein Gespräch mit dem anderen Generalstäbler vertieft. Aber seine scharfen Augen waren gewohnheitsmäßig überall. Ihn überraschte man nicht. Schon auf hundert Schritte Entfernung erkannte er Inge, die da unschlüssig mit umgehängtem Geldtäschchen, das Kartenpaket in der Hand, stand, sagte hastig dem Kameraden ein paar Worte und eilte allein auf sie zu. Ihr schien, als hätte er nie so gut ausgesehen wie in diesem Augenblick. Noch straffer, abgemagert und gebräunt von der Sonne des Südens, schon in Kriegstracht, und Kriegslust in den verwegenen Augen und um den lachenden Mund. Und eine ungläubige Freude, die ihr galt, die sie plötzlich stolz machte vor den Blicken all der Leute, die ringsum stehen geblieben waren und wohlgefällig auf ihn und sie schauten. Die dachten sich schon ihr Teil, während er auf sie zustürmte und ihre freie Hand zu fassen bekam und schüttelte, daß er ihr beinahe weh tat.

»Herrgott, Inge! . . . Das ist ja ein tolles Zus . . .«

Er wollte noch Etwas vom Zufall eines Zusammentreffens reden. Aber er kannte doch die Mappe, die sie in der Linken hatte.

»Das sind doch meine Karten . . .«

»Ja. Da!«

»Und ein Brief von Mutter!«

»Auch! Da!«

»Danke . . .«

In dieser Sekunde war er, der mit allen Hunden Gehetzte, in allen Sätteln Gerechte, fassungslos. Es wogte in ihm durcheinander, von Zweifel und Jubel. Sie schlug mit der freigewordenen Hand an das Täschchen.

»Und da ist auch's Geld . . .«

»Von meinem Vater?«

»Ja. Er ist jetzt schon in Berlin. Sie brauchen ihn! An der Front!«

Sie stockte, schöpfte tief Atem und redete entschlossen, während sie sehr blaß wurde:

»Na – und da hab' ich mich nützlich gemacht und es Dir gebracht!«

Sie wußte, daß sie mit dem Wörtchen ›Dir‹ ihr Lebensschicksal aussprach, und er verstand es auf der Stelle so wie sie. Sie sah es an seinem Gesicht, auf dem schon, in strengen Linien, der Ernst des Krieges lag, und darüber hin jetzt eine jähe Welle von Glück.

Küssen konnten sie sich, vor den Leuten, nicht. Er nahm nur ihre beiden Hände in die seinen und sagte:

»Endlich . . .«

Und sie, noch halb im Trotz und doch schon ganz ergeben:

»Na ja . . .«

»Ich dank' Dir, Inge . . .«

Nun war sie sehr rot geworden. Jeder mußte es sehen. Auch der lange, feldgraue Leutnant und der Generalstabshauptmann mit den beiden Damen, die inzwischen herankamen. Paul Isebrink stellte hastig und verwirrt vor:

»Flieger Graf Bläming! Herr von Hellfried . . . Gestatten die Damen . . .«

Inge Tillesen verstand die Namen von Mutter und Tochter nicht. Sie war zu erregt. Sie hörte nur, daß Isebrink sie seine Braut nannte, daß man sie beglückwünschte und ihr die Hand reichte und ihm. Dann sagte er, schon mit einem Anflug von dem alten Übermut im Ton, auf den kleinen Generalstäbler und die junge Dame weisend:

»Die haben's gut! Die werden morgen kriegsgetraut. Eben kommen sie vom Pfarrer!«

Dort hatten sie Alles für morgen beredet. Auch den Spruch der Trauung: ›So gehen wir hin, nicht zu sterben, sondern zu leben!‹ . . . Sie hatte feuchte Augen. Aber sie hielt sich tapfer. Sie war die Waise eines vor zwei Jahren verstorbenen Regimentskommandeurs. Sie frug Inge, eine Braut die andere:

»Lassen Sie sich denn nicht auch kriegstrauen?«

Ehe Inge Tillesen antworten konnte, fuhr Paul Isebrink in einem plötzlichen Zorn auf.

»Ja, das kommt davon! Wer konnte denn das ahnen, wenn man da unten bei den Türken sitzt!«

Er wies mit einer entrüsteten Bewegung auf das preußische Dunkelblau mit Carmoisin des kleinen, patenten Hauptmanns.

»Wenn man noch halb in Zivil herumläuft wie der Hellfried . . . so'n Friedenssoldat, der erst am dritten Tag mit seinem A. O. K. hinausgeht, der kann sich das leisten! Aber ich muß doch in'ner Stunde auf der Walze sein . . . ich muß!«

Er wandte sich verzweifelt an Inge.

»Ich hatte ja keine Ahnung . . . Schon unterwegs bekam ich die Drahtbefehle. Bläming und ich und noch zwei Preußen und ein Haufen bayrische Herren – wir sausen Tag und Nacht durch, mit hundert Kilometern, bis an die Ostgrenze! Es geht jetzt um Spitze und Knopf.«

»Tu Du nur Deine Pflicht!« sagte Inge.

»Aber sowie ich ein bischen Luft kriege – spätestens in ein paar Wochen – ich mache es schon irgendwie . . . ich telegrafiere Dir . . . Gottseidank hab' ich ja die Strippe ständig zur Verfügung . . . Richte nur inzwischen Alles und halte Dich zur sofortigen Abreise bereit!«

»Ja.«

Der Pilot Graf Bläming befestigte das Einglas in der Augenhöhle seines hageren Rassekopfs und sagte zu dem Hauptmann von Hellfried und dessen Damen:

»Nu schlag' ich aber vor: Wir gehen! Erstens sind wir hier total überflüssig! Zweitens hab ich einen kolossalen Hunger und drittens nur noch fünfzig Minuten Zeit. Isebrink . . . Isebrink . . . Mensch . . . Wachen Sie doch auf!«

»Ja – was ist denn?«

»Wir ziehen uns jetzt verständnisvoll zurück. Aber vorher vergleichen wir unsere Uhren! So! . . . Schlag acht Uhr fährt die Benzindroschke vom Freiwilligen Automobilkorps vor – Sie wissen ja: dort drüben . . . Anderthalb Minuten vorher müssen Sie da sein! Da wird nicht gefackelt!«

»Eine halbe Minute ist auch genug!«

»Also schön! Ich bin großmütig! Sagen wir fünfundzwanzig Sekunden! Kommen Sie, Hellfried! Mit Euch Bräutigamen muß man aufpassen! Ihr seid nicht ganz zurechnungsfähig!«

Der späte Augustabend webte im Dämmergrün des Maximilianplatzes. In ihm das Gewirr von Tausenden von Stimmen, das Glühen der Luft, das Zittern der Seelen. Ein plötzliches Anschwellen des Menschenbrausens da zu den feierlichen Klängen der »Wacht am Rhein«, dort zu wildem Getümmel, geschwungenen Stöcken, Schutzmannshelmen im Gewühl um einen neu ertappten Spion. Hurrah, erhobene Hüte und wehende Tücher beim Anblick von Generalen und von Offizieren in polizeiwidrig sausenden Autos. Isebrink und Inge gingen im Strom dieser Massen. In ihnen und dem Zwielicht verschwand sein Feldgrau, wurde nicht mehr so beachtet. Sie waren ungestört und schwiegen eine Weile, wie Menschen, die sich zu viel zu sagen haben. Oder nichts mehr. Es lag ja alles hinter Einem. Die Flammen dieses August löschten überall, was an Irrtümern und Mißverständnissen in der Vergangenheit aufgestapelt lag, im Großen wie im Kleinen. Es war nicht der Mühe wert, davon noch zu reden, und Inge Tillesen sagte schließlich nur:

»Ja. Du brauchst nicht umzulernen. Du hast Recht behalten. In Allem!«

Dann fiel ihr wieder ein, was ihr die junge Hauptmannsbraut kameradschaftlich zum Abschied gesagt: »Gottseidank! Unsere künftigen Männer sind im Generalstab lange nicht so exponiert wie die ganz da vorn in der Front!« Da dachte sie doch wieder mitten im Donnergang der Zeit an ihr eigenes bischen Schicksal. Sie merkte jetzt, an der Angst um ihn, wie lieb sie ihn hatte. Und wie sie ihn schon früher hätte haben können. Und sie sagte, sich fest an seinen Arm schmiegend:

»Ja! Ich war dumm!«

Er lachte.

»Du Schlaukopf – Du?«

»Aber wir waren's Alle! Es ging uns zu gut! Wir haben nicht mehr gewußt, was uns nottat!«

Sie schritten Arm in Arm weiter, umbrandet und umbraust von dem Rauschen eines uferlosen Meeres. Tausend Töne lebten darin, Gesang und Geschrei, Lachen und Grollen, und es war doch nur ein einziger unermeßlicher Gleichklang, das Atmen einer einzigen Brust. Alle Gesichter umher schienen einander ähnlich, leuchtende Blicke in unerschütterlich ernsten Mienen, ein großes Geheimnis über Jedem und Allem, eine trunkene und doch feierlich erhobene Stimmung, wie das letzte Abendrot dort über den Dächern oder wie das Morgenrot des kommenden, ungeheuren Tags.

Inge blieb stehen.

»Du . . . Was war das nur mit uns bisher? . . . Warum waren wir nur so verblendet . . .?«

». . . weil wir Deutsche sind, Kind! Wir vertragen uns immer erst, wenn wir müssen! Aber dann auch gründlich!«

»Ach Gott ja – was hat Jeder aus sich für ein Wesen gemacht!« sagte Inge, während sie weitergingen. »Da dachte man, es käme auf Einen an und kam sich wichtig vor – und nun sieh' mal hier die Menge . . .«

»Ja, heut' gefallen mir die Leute, durch die Bank!«

»Wer wußte denn auch, daß wir seit Jahren am Rand des Verderbens hingegangen sind . . .«

»Wir haben's Euch ewig gepredigt!«

Die Leute umher machten unwillkürlich dem Hauptmann in Feldgrau Platz. Junge Männer schauten ihn ernst an, mit dem Gedanken: Also so Einer wird uns führen! Mütter betrachteten ihn, und es lag in ihrem Blick: Euch vertrauen wir unsere Söhne an! Ein vornehm gekleideter Herr sagte zu seiner Frau: »Siehst Du die roten Streifen? Das ist der Kopf! Wir von der Landwehr sind bloß die Faust . . .«

»Deutschland, Deutschland über Alles!« Wieder klang das Lied. Ein Trupp Studenten in bunten Mützen zog vorbei. Auf dem Weg zum Generalkommando. Zur Meldung als Kriegsfreiwillige. Geschlossen, das ganze Corps. Sie riefen es lachend dem Hauptmann Isebrink zu. Er lachte und winkte ihnen mit der Hand zurück, schon wie jungen Kameraden! Eine Sekunde flackerte das Kriegswetter in seinen Augen. Es war Inge, als leuchteten all diese Menschen von innen heraus, als wären sie gar nicht mehr sie selbst. Sie dachte wieder an das Trauungswort der jungen Hauptmannsbraut von vorhin. Es war wie dessen Widerschein auf den tausend Gesichtern, in den tausend Augenpaaren umher: Unser Keiner lebt sich selber und Keiner stirbt sich selber! Sie hing sich fester an Isebrinks Arm und sagte:

»Weißt Du . . . eigentlich ist das Alles ja ein einziges Wunder . . .«

Er lachte unbekümmert.

»Ein Wunder ist jedenfalls schon geschehen: Ich halt' Dich! Und nun kommst Du mir nicht mehr aus!«

Und während sie umdrehten und den Weg zurückgingen, war ihr zu Mut, als hätten nicht nur sie Zwei sich gefunden, sondern so wie sie und in ihnen Beiden ganz Deutschland, als wäre das Alles miteinander eins, als gäbe es keine Grenze mehr zwischen Mensch und Menge, jeder Einzelne klein und doch groß und, was deutsch hieß, eine einzige Kraft, zu wagen, zu schlagen, zu tragen.

Zögernd legte sie mit Paul Isebrink die letzten Schritte zu der hellerleuchteten, offenen Veranda des Restaurants am Lenbachplatz zurück. Innen war es gedrängt voll. Uniformen, farbige Damenkleider, Helles Sommerzivil der Herren. Die Musikkapelle spielte die Nationalhymne. An einem langen Tisch, zwischen Blumen und Sektflaschen, saßen abfahrtbereit die preußischen und die bayerischen Offiziere mit ihren Kameraden und ihren Damen. Der Flieger Graf Bläming war lang und ernst auf einen Stuhl gestiegen und spähte durch das Monocle auf den Platz.

»Na endlich! Immer unpünktlich, Isebrink! Nur noch zwanzig Sekunden. Los!«

Draußen auf der Straße war neuer Jubel. Ein mächtiges, kanariengelbes, offenes Reise-Automobil war vorgefahren. In Friedenszeiten beförderte es wohl zähnestochernde amerikanische Krösusse von den Münchner Hotelpalästen zwischen Breakfast und Dinner nach Hohenschwangau und zurück. Jetzt war es mit Feldkoffern und Ersatzreifen vollgepackt, Aushilfs-Benzinkanister für ununterbrochene Eilfahrt füllten den Boden, auf dem Wagenschlag stand mit schwarzer Farbe: »Nach Petersburg!« Der Herrenfahrer in der Uniform des Freiwilligen-Automobilcorps, den Hirschfänger an der Seite, kurbelte eigenhändig die schwere Maschine an. Graf Bläming stand neben dem bayrischen Fürsten und schrie durch das Donnergerassel:

». . . 'rin in die Hochzeitskutsche, wenn ich gehorsamst bitten darf!«

»Hurrah!« »Gute Reise!« »Kriegsheil!« Die Musik spielte:

»Wohlauf, Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd . . .«

Und wenn es auch kein Pferd, sondern ein Auto war, so sang doch der Pilot Graf Vläming begeistert mit. Er lehnte, über die Menschheit erhaben, breitbeinig hoch auf dem Führersitz des Autos an der Windscheibe und sang:

»Da tritt kein Anderer für ihn ein!
Auf sich selber steht er da ganz allein!«

Und dann:

»Los, Isebrink!«

Paul Isebrink zog Inge an sich. Jetzt durften sich, auch vor den Leuten, Jeder und Jede küssen, zum Abschied, fast schon vor dem Feind. Endlich klatschte der lange Junggeselle mit dem Einglas oben ungeduldig in die Hände. Da drückte er ihr noch einmal die Hand und sprang mit einem Turnersatz in den schon vollbesetzten Wagen.

»Also halt' Dich bereit! Sowie eine Depesche kommt, los! In vierzehn Tagen ist Trauung!«

Sie nickte und lachte tapfer. Und ebenso die anderen Damen um sie. Vorn hallte die Doppelfanfare des Oberkommando-Rufs. Der Kraftwagen setzte sich in Bewegung und schoß durch die menschenwimmelnden Straßen, durch Hüteschwenken und Zurufe hinaus in die Nacht, dem Osten zu . . .

Die Damen waren eine Weile ganz still, wie betäubt. Sie hatten noch das Abschiedlachen auf den Lippen und feuchte Augen. Es war so plötzlich gegangen. Nun war auf einmal die große Leere da. Das Frösteln der Verlassenheit. Die Männer fort, die Verlobten, hinaus ins Unbekannte. Die Angst und Liebe und Stille in Einem. Und ringsherum wie bisher, die vaterländischen Weisen der Musik, Kellnergelaufe, Stimmengeschwirr an dicht besetzten Tischen.

Von einem dieser Tische, an dem nur zwei Herren saßen, flog ein Blick zu Inge Tillesen hinüber. Ihre noch nassen Augen trafen sich mit den großen, grauen dort drüben, weiteten sich in ungläubigem Zorn. Sie war auf einmal völlig bei sich. Eine rasche Röte lief über ihre Wangen.

»Das ist also doch zu toll!« sagte sie zu der Hauptmannsbraut neben ihr. »Können Sie sich vorstellen, daß sich ein Russe, ein richtiger Russe, ganz ruhig hier mitten ins Lokal setzt?«

»Ein Russe?«

»Ein Herr von Schjelting. Dort hinten an dem Tisch. Den Andern kenn' ich nicht!«

»Ist er denn verrückt?«

»Ich glaube, er hat die wahnsinnige Idee, daß die Bayern neutral bleiben! Wenigstens sagte er vorgestern so Etwas in Wiesbaden!«

»Sind Sie auch ganz sicher, Fräulein Tillesen?«

»Gott . . . ich kenn' doch den Menschen! Sehen Sie doch nur das dünkelhafte Gesicht!«

»Aber er trägt doch das amerikanische Abzeichen im Knopfloch!«

An den Tischen um Schjelting herum betrachtete man wohlwollend die Sterne und Streifchen des kleinen eingenähten Fähnchens auf seiner Brust. All die Tausende von Yankees in München und ihre Frauen und Töchter hatten es. Der Münchener Bürgersmann freute sich, wenn er sie sah und ihnen irgendwie gefällig sein konnte.

»Damit kann er freilich noch lange hier ungestört herumlaufen!« sagte Inge Tillesen entschlossen. »Wo ist denn Ihr Bräutigam?«

»Im Saal drinnen! Er hat sich zu den Schweren Reitern gesetzt!«

»Bitte holen Sie ihn! Ich verliere inzwischen den Russen nicht aus dem Auge!«

»Und dann . . .?«

»Dann lassen wir ihn verhaften! Ganz einfach!«

Das junge Mädchen drängte sich nach dem Saal. Sie kam nur langsam vorwärts. Inge blieb am Eingang auf Posten. Auf Nicolai Schjeltings länglichen, nervösen Zügen bemerkte sie, während er wieder einen blitzschnellen Seitenblick herüber warf, eine plötzliche Unruhe, dann sah er wieder schweigend und brütend in den deutschen Jubel um sich, die wild erwachte Lust der Lieder und der Waffen, mit einem ungläubigen Staunen im Blick, wie es Inge nie an ihm beobachtet hatte. Sie zitterte vor Ungeduld. Vor ihr schwatzten zwei biedere Münchner beim Bier von den Buren.

»Drüben, auf dem Balkon vom Bayerischen Hof, hat er dazumal gestanden, der Botha. Geweint hat er, der dicke, große Mann! Zweiunddreißigtausend Mark! haben's ihm an dem einen Nachmittag ins Hotel gebracht, die Münchner . . . Sie, Herr Nachbar, dös haut! Dös war damals um Gottes Lohn. Aber keine Guttat is umsonst: Wenn's jetzt wirklich mit den Engländern auch losgeht, nachher reden der Botha und die Buren auch ein Wörtel mit!«

»Ich hab' mehr Fiduz auf die Japaner!« sprach der Andere. »Die haben's eh schon im Schwung, wie man d' Russen drescht! Die haben 'was bei uns gelernt! Klein san's, aber a Schneid haben's schon. Na, zur Gesundheit!«

Er hob sein Glas und trank freundlich lächelnd zweien der vielen japanesischen Studenten Münchens am Nebentisch zu. Die gelben Geschöpfe wußten, was sich gehörte. Sie kamen grinsend nach deutscher Art nach. Draußen war wieder Lärm und Jubel. Ein Zug begeisterter junger Leute marschierte vorbei. Sie kamen vom italienischen Generalkonsulat, wo sie Hochrufe auf den Verbündeten jenseits der Alpen ausgebracht hatten. Nicolai Schjelting wandte nachlässig den Kopf nach ihnen. Sein spöttisches, sonderbares Lächeln machte Inge wütend. Wieder spähte sie nach dem Hauptmann. Da . . . endlich . . .!

»Wo ist denn der Verbrecher, Gnädigste!«

Der kleine, elegante Herr von Hellfried hatte sich zu ihr durchgearbeitet. Ein paar andere Offiziere und ein Herr in Zivil hinter ihm.

»Dort am Tisch!«

Sie wies es unauffällig mit dem Kopf. Zugleich schoben sich neue Menschenwellen dazwischen und sperrten den Ausblick. Studenten von dem Demonstrationszug zu Ehren Italiens draußen. Die Musik empfing sie mit der Marcia reale, der italienischen Königshymne. Der Hauptmann wurde ungeduldig.

»Man kann ja nichts sehen! So: jetzt. Welches ist der Tisch?«

»Ganz in der Ecke!«

»Ja aber . . .«

»Herrgott . . . der Tisch ist leer!«

Nicolai Schjelting und sein Begleiter waren in dem Gedräng verschwunden. Unauffällig hinaus in die wimmelnde, fiebernde, brausende, von Zehntausenden belebte Sommernacht, in der sich ihre Spuren verloren . . .


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