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XII.

Präsident Runkel traf um 2 Uhr nachmittags ein. Er kam unangesagt und fand alle Herren in ihren Kanzleien, was ihm einen erfreulichen Eindruck machte. Schon die äußere Ordnung und Reinlichkeit ließ ihn die Vermutung fassen, daß das Bezirksgericht in bestem Stande sei.

Der Präsident war sehr einfach gekleidet. Er trug auf Revisionen seine ältesten Anzüge ab, um ein Beispiel der Schlichtheit und Sparsamkeit zu geben. Er sprach gern von der Fülle seiner Arbeit, betonte, daß seine Zeit immer gemessen sei. Einer seiner Untergebenen behauptete, daß der Präsident an vielen Tagen gar nichts andres tue, als seine Ueberbürdung beklagen.

Der Präsident hielt auf ein gutes Einvernehmen mit seinen Beamten. Er sprach mit ihnen, als wären sie auch Präsidenten, und war darauf sehr stolz. Sein Grundsatz war, den Leuten Vertrauen entgegenzubringen. »Dann wird man nie betrogen,« pflegte er zu sagen.

Er war gut gestimmt, als er seine Arbeit begann.

Sein großes Haupt neigte sich über die Akten der Zivilsachen, die der Rat ihm vorlegte, und hob sich oft fragend empor. Dann blitzten seine Augen wie stahlharte Messer – die grauen Haare standen wie eine Bürste über Stirn und Schläfen, der blasse Mund öffnete sich und erweiterte sich, als wollte er Ungeheures schlucken – und schluckte doch nur die Antwort des Rates.

»Ganz richtig, sehr gut,« rühmte der Präsident, mit seinem buschigen Haupte nickend. »Wenn Ihnen irgendeine Sache nicht ganz klar ist, wenden sie sich sofort an mich. Ich habe die neueste Ausgabe von Staub. Ohne Staub können wir heute nicht mehr auskommen. Das wissen Sie so gut wie ich.«

»Gewiß!« versicherte der Rat. Ihm konnte der Staub gestohlen werden.

»Wie gesagt – wenden Sie sich an mich!«

Das sagte der Präsident immer – aber noch niemals hatte sich an ihn ein Richter Rat erbittend gewendet.

Im Verhandlungszimmer rühmte der Präsident die peinliche Ordnung.

»Aber, daß Sie sich die Apfelbäume so ins Fenster wachsen lassen – stört Sie das nicht?«

»Im Gegenteil, Herr Präsident, das macht mich ganz glücklich!« sagte Bauer. »Wenn ich so raus schau, hab' ich meine Freude an der Natur. Da glaub' ich, daß ich im Garten sitz'. Im Herbst, wenn ein starker Sturm ist, schlagen uns die Aepfel manchmal das Fenster entzwei …«

»Das schädigt ja das Aerar …«

O verflucht – dachte der Richter. »Die Glasscheiben zahl' ich dann selbst, ja natürlich – das ist sozusagen mein Privatvergnügen …«

»Da müssen Sie viel Geld haben …«

Dem Richter stockte der Puls – Teufel, da hab' ich mich wieder verrannt.

Eilfertig schob der Richter die Akten aus den Laden auf den Tisch, um dem freundlichen Gespräch ein Ende zu machen.

Der Präsident revidierte. Er war hier nicht ganz so zufrieden wie beim Rat. Die Urteile in manchen Uebertretungsfällen schienen ihm übereilt, oft zu mild, dann wieder zu streng, und er staunte, daß die Leute besonders die letzteren so ruhig hinnahmen.

»Aber, Herr Präsident,« sagte der Richter treuherzig. »Darauf kommt es ja nicht so sehr an! Die Leut' sitzen ja gern bei uns …«

»Erlauben Sie, das ist doch kein Standpunkt, von dem ein Richter sich leiten lassen darf!«

»Gewiß – ganz richtig – ich meinte nur gerade …«

»Sehen Sie,« – der Präsident blätterte in einem Akt. »Hier hingegen haben Sie ein zu mildes Urteil gefällt, das sich nicht rechtfertigen läßt … Der Mann hat ja sein Verbrechen gestanden …«

»Er hat Reue gezeigt, Herr Präsident, und ich hab' mich auf den Standpunkt der Menschlichkeit gestellt …«

»Ich empfehle Ihnen, stellen Sie sich immer auf den Standpunkt der Gesetze!« sagte der Präsident scharf. Darin kannte er keinen Spaß. Solche Theorien durften nicht Eingang finden. »Menschlichkeit hin – Menschlichkeit her. Ein Verbrechen fordert Sühne.«

Der Richter senkte den Kopf. »Wenn die Strafe nur zugleich auch bessern könnte,« sagte er halblaut.

Der Präsident lehnte sich zurück und blitzte den Richter mit seinen scharfen Augen an, über die Brille emporsehend.

»Die Strafe hat eine Besserung nach sich zu führen,« sagte er.

Der Richter wagte eine Entgegnung. »Herr Präsident verzeihen – aber die Besserung ist selten. Im Gegenteil, der ersten Strafe muß oft die zweite folgen und die dritte und die vierte. Und je öfter einer bestraft wird, um so schlechter wird er. Ja – wenn es wenigstens möglich wäre, einem Verbrecher, der sich in der Strafzeit gut aufführt, eine sichere Arbeitsstellung im Zivilleben zu verschaffen …«

»Das ist möglich!« erwiderte der Präsident. »Wir haben doch eine Sträflingsfürsorge. Wissen Sie denn davon nichts?«

»Gewiß – der Verein ist mir bekannt –, er hat nach einundzwanzigjährigem Bestand ein Vermögen von vierzehntausend Kronen – und nach seinem letzten Ausweis ist es ihm im ganzen Jahre nicht gelungen, auch nur einen Sträfling in eine Dienststellung unterzubringen. Und das nach einundzwanzigjährigem Bestande. Herr Präsident, das spricht Bände …«

Der Präsident sah wieder in die Akten. »Ja – wir wollen hoffen, daß es besser wird. Inzwischen müssen wir uns genau nach unsern Vorschriften halten. Ich verkenne nicht, daß Sie von edlen Motiven geleitet sind – aber für uns gibt es nur Recht und Gesetz.« Er blätterte weiter und tadelte nichts mehr.

»Nun möchte ich die Gefängnisse besichtigen,« sagte er, als er sich vom Schreibtisch erhob. »Wie viele Sträflinge haben Sie augenblicklich interniert?«

Jetzt sank dem Richter das Herz bedenklich tief.

»Vier Männer und drei Frauen – lauter kleine Delikte.«

»Das ist ja sehr erfreulich. Bessert sich das Volk oder lassen die Diebe sich schwerer erwischen?«

Die Frage hörte der Rat, der eben eingetreten war. Er übernahm die Beantwortung, indes der Richter voraneilte, um den Kerkermeister zu rufen.

»Es ist das sehr eigentümlich, Herr Präsident,« sagte der Rat. »Ich bin seit zwölf Jahren hier, und ich muß nach meiner Erfahrung sagen, es gibt Dörfer, die stehlen, und Dörfer, die absolut ehrlich sich verhalten; Dörfer, in denen die Trunksucht auftritt, vielleicht seit Jahrhunderten, Dörfer, in denen es Raufer und Wilddiebe gibt, und Dörfer, wo weder übermäßig getrunken noch gerauft oder gewildert wird. Es läßt diese Beobachtung, die ich gemacht habe, geradezu auf eine erbliche Belastung schließen …«

Der Rat war sehr stolz auf diese Erfahrung und erwartete eine Belobung; er fügte noch hinzu: »Diese Unterscheidung zwischen den Dorfbewohnern geht so weit, daß, wenn uns ein Häftling eingeliefert und die Ortschaft genannt wird, der er entstammt, wir sogleich auf das strafbare Delikt einen Schluß ziehen, der nur in seltenen Fällen nicht zutrifft.«

»Das sind Studien, Herr Rat, die mit unserm Fache eigentlich gar nichts zu tun haben, vielleicht sogar uns schädigen, weil sie uns eine gewisse Voreingenommenheit geben. Ich habe schon dem Herrn Richter meine Ansicht gesagt und möchte sie Ihnen nun noch wiederholen. Ueberlassen Sie beide derartige, ich möchte sagen, über den Rahmen des Gesetzes hinausstreifende Studien den Professoren, die ja wiederholt schon Anlaß zu Widerlegungen gegeben haben. Wir Richter haben die Pflicht, Recht zu sprechen, beziehungsweise alle uns unterkommenden Fälle den Gesetzen entsprechend durchzuführen. Moral und Vererbung oder gar die künftige Besserung des Delinquenten gehen uns gar nichts an. Solche Dinge müssen uns Hekuba bleiben, verstehen Sie, lieber Freund?« Der Präsident klopfte dem Rat väterlich wohlwollend auf die Schulter.

Der Rat hatte längst vergessen, was Hekuba sei, er empfand nur mit Schmerz den Tadel des Vorgesetzten und um so lebhafter, weil er sich gerade in diesem Punkte seiner Forschertätigkeit auf ein Lob gefreut hatte.

Der Präsident besichtigte nur flüchtig die Registratur und sah, daß der Schrank mit den Sträflingskleidern, Wäsche, Stiefeln und Decken in voller Ordnung war und eine reichliche Auswahl zeigte.

Im Erdgeschoß stand im Laubengang der Kerkermeister mit dem Schlüsselbund, und hinter ihm hielt sich der Richter. Der Rat warf einen raschen Blick auf ihn und gewahrte mit Entsetzen, daß der Ausdruck des Richters ganz zerfahren war und alle Spuren lebhaftester Beunruhigung zeigte. Was mochte denn geschehen sein? Die Sträflinge waren doch alle wieder eingebracht, wie der Kerkermeister gemeldet hatte.

Züngel riß die erste Zellentür auf. Friedlich schliefen auf ihren Betten Kutschera und Hrbacz. Entrüstet weckte der Kerkermeister sie auf. »Habt acht!« – rief er. Sie verstanden »halb acht« und erhöhen sich erschrocken. »Was, schon halb acht?« sagte Hrbacz, merkte jetzt den Besuch und strammte die alten Glieder, so gut er konnte.

»Das sind ja ganz brüchige Greise!« bemerkte der Präsident zu dem entgeistert hinter ihm stehenden Rat, der diese Gefangenen zum erstenmal sah und wünschte, eine Versenkung täte sich vor ihm auf.

»Wie heißt Ihr?« herrschte der Präsident den nächsten an, der Vinzenz Klobota zu heißen hatte.

»Kutschera,« sagte er, »nein – halten zu Gnaden, ich heiß' Klobota. Vom Schlafen ist man ganz verwirrt.«

»Woher seid Ihr?«

»Aus Hohenstadt, und der andre heißt Franz Pisch und ist aus Römersdorf.«

»Weshalb seid Ihr bestraft?«

»Der andre wegen Holzdiebstahls und ich wegen – ja, wegen körperlicher Verletzung. Drei Monate hab' ich gekriegt und der andre drei Wochen.«

»Jesus Maria, er verwirrt alles,« stöhnte der Kerkermeister, aber der Präsident merkte nichts.

»Habt Ihr eine Bitte oder Beschwerde vorzubringen?«

»Beschwerde nicht. – Aber zu bitten hätt' ich was – bitt' schön gehorsamst …«

»Was wünscht Ihr?«

»Die Strafe ist mir ein bissel zu klein,« sagte Hrbacz-Klobota. »Wenn ich was bitten darf, dann möcht' ich mir wünschen, daß ich noch länger hier sitzen bleiben könnt'!«

»Jedenfalls ein vorzügliches Zeugnis für die menschenwürdige Behandlung der Sträflinge,« sagte der Präsident zu dem erschrockenen Richter.

»Schon gut, Klobota, führen Sie sich brav auf, dann wird der Lohn nicht fehlen.« Er wandte sich ab.

»Ja, einen Lohn hat man uns zugesagt,« schwatzte der Redselige hinter ihm weiter.

Züngel schloß rasch die Tür. Der Richter hörte Stimmengewirr vor dem Schlosse. Er blickte durchs Fenster und sah mit Entsetzen die zurückgekehrten Ausreißer mit Frau Züngel unterhandeln.

»Wir müssen in unsre Zellen,« schrie lauter als alle der betrunkene, echte Klobota. »Der Herr Präsident ist da – wir wissen, was unsre Pflicht ist.« Vergebens suchte Frau Züngel sie vom Eindringen ins Haus abzuhalten.

»Was ist denn das für ein unstatthafter Lärm?« fragte der Präsident und erhob den eisgrauen Kopf.

»Es ist nichts,« versicherte eifrig der Richter. »Frau Züngel hat nur einen kleinen Streit mit ihrem Kohlenträger. Aber ich sehe – sie beschwichtigt ihn schon …«

»Ja, ja –« hörte er Frau Züngel rufen, »wenn der letzte Zug abgedampft ist, dürft ihr euch wieder zeigen – freilich – natürlich! – Und ein gutes Essen kriegt ihr extra – aber jetzt macht, daß Ihr weiterkommt – Paschol – Marsch – ab …!« Die Männer trollten sich. Dem Richter sank ein Stein vom Herzen.

Der Präsident wandte sich an den Rat. »Das ist der Vorteil unsres oft so schweren Dienstes, daß wir ihm eine ungeheure Menschenkenntnis danken. Welche Verkommenheit zeigte in der Zelle das Gesicht des alten Klobota! Auch ohne dreißig Jahre lang Richter gewesen zu sein, erkennt man sofort, daß dieser Klobota ein vielfach bestrafter Gewohnheitsverbrecher ist. Haben Sie seine zurückfliegende Stirn beobachtet, die tiefliegenden Augen? – Alles untrügliche Symptome des langjährigen Verbrechers.«

Die Züge des Rates bedeckten sich mit Leichenblässe. Die wuchtige Gestalt Klobotas des Echten erschien auf dem Gang, und hinter ihr Frau Züngel mit erhobenen Händen. »Kommen Sie zurück … Was unterstehen Sie sich!« Aber Klobota dachte nicht daran, umzukehren. Er wußte, wohin sein Pflichtbewußtsein ihn zog.

»Herr Gerichtsrat, ich melde gehorsamst …,« begann er.

»Lassen Sie gut sein,« sagte eifrig der Richter. »Halten Sie sich nur an Frau Züngel, die bespricht schon alles mit Ihnen …« Und er winkte dem verhängnisvollen Heimkehrer mit Augen und Händen, er möge den Rückweg antreten.

Der Präsident nickte huldreich dem sich tief Verneigenden zu, erwiderte gütig seinen demütigen Gruß und sagte im Weiterschreiten:

»Um auf meine frühere Bemerkung zurückzukommen … Hier sahen Sie eine neue Bestätigung meiner Theorie. Der freundliche, offene Blick des unbestraften Zivilarbeiters macht dem Physiognomiker den achtbaren, arbeitsfreudigen Mitmenschen sofort kenntlich.«

Der Rat suchte den Richter, aber der war verschwunden. Man trat in die nächste Zelle. Hier saßen die Jugendlichen; sie bemühten sich, mit einem Stück Kohle weitere Nonnen auf die Wände zu zeichnen. Der Gerichtsrat entdeckte den Frevel und war nahe daran, in Ohnmacht zu fallen.

»Die Burschen scheinen höchst merkwürdige perverse Gelüste zu haben …, aus welchem Ihrer Dörfer kommen denn die?« fragte der Präsident tadelnd. »Man sollte sie besser beaufsichtigen.« Beide Jünglinge antworteten auf die Fragen mit Sicherheit. Bitten und Beschwerden hatten sie keine vorzubringen, sie erklärten sich mit der Behandlung im Gefängnis zufrieden und lächelten dem Gerichtsrat gütig zu.

In der Einzelzelle saß Michel Helfrich. Er hatte es so gewollt. Es machte sich besser, wenn der Präsident die strenge Hand des Rates erkannte. Helfrich stand mit nach hinten gelegten Armen aufrecht da, als die Tür sich öffnete.

»Michel Helfrich!« sagte der Kerkermeister mit leichtem Stolz darauf, daß man einen so berüchtigten Einbrecher hier festhielt.

»Ja …, Sie kenne ich persönlich! Ha! Also unverbesserlich …«

»Zu Befehl, Herr Präsident!« Helfrich sah mit scharfen Raubtieraugen den Besucher an.

»Ich habe Sie seinerzeit nach Mürau geschickt …, es ist mir sehr interessant, daß ich Sie hier finde …«

»Zu Befehl, Herr Präsident …!«

»Sie sind ganz unverändert, noch immer schlagfertig … Sie müssen diesem Manne Ihre besondere Aufmerksamkeit widmen, Herr Landesgerichtsrat,« sagte der Präsident und fügte leise hinzu: »Ein ganz gefährliches Subjekt! Es ist schon gut, daß Sie ihn in der Einzelzelle halten! Ich sehe, daß Sie alles wohl überlegen. Der Mann blickt auf eine so lange Laufbahn von Verbrechen zurück, daß seine Gesellschaft für die jugendlichen Verbrecher von unabsehbarem Nachteil sein könnte.« Und zu Helfrich gewendet: »Sie sollten doch endlich zu Verstand kommen! Ihre Daten brauche ich nicht zu wissen, die sind mir bekannt, wie auch Ihre Taten.«

Der Witz fiel dem Präsidenten ganz von selbst ein, und er freute sich über ihn.

»Zu Befehl, Herr Präsident.«

»Haben Sie vielleicht eine Bitte oder eine Beschwerde?«

»Ich bitte nur den Herrn Präsidenten um Verzeihung, wenn ich ihm jemals Grund zur Unzufriedenheit gegeben.«

»Schon gut …, die Floskel lassen wir! Na …, bessern Sie sich!«

Die Tür fiel vor Helfrich ins Schloß.

»Ein ganz eigenartiger, schwerer Verbrecher …,« sagte der Präsident. »Dabei müssen wir uns leider sagen, daß wir nicht ganz unschuldig sind an dem Beginn seiner Laufbahn – die drei Jahre Untersuchungshaft damals –, ich weiß nicht, ob Ihnen der Fall bekannt ist, Herr Rat …«

»O ja – gewiß, Herr Präsident …«

»Na, sehen Sie – natürlich hätten Sie und ich nach der Untersuchungshaft trotzdem nicht die schiefe Laufbahn betreten –, uns steckt eben die absolute Korrektheit im Blute. Wir weichen nicht um ein Haar breit vom richtigen Wege ab …«

»Gewiß – gewiß – sicherlich, Herr Präsident …,« sagte der Rat, kirschrot bis zu den Haarspitzen.

»Der Mann verdient deshalb keine Nachsicht – aber immerhin ein gewisses Einsehen … Trotzdem empfehle ich ihn Ihrer unnachsichtlichen Strenge! Die Frauenzellen befinden sich auf dem andern Gange, nicht wahr?«

O großer Gott – jetzt noch die Frauen, stöhnte der Rat. Was werd' ich da erleben!

Der Kerkermeister öffnete die Tür. Drei häßliche Weiber grinsten dem Präsidenten entgegen. Er fuhr beinahe erschrocken zurück.

»Kohlendiebinnen? Venuse sind das keine … Wie heißen Sie?« fragte er die mittlere.

»Barbara!« nickte sie verschämt und schlang die schmutzigen Finger ineinander.

»Wie alt?«

»32 glaub' ich …«

»Na, ich glaub's nicht,« sagte der Präsident launig.

»Weswegen eingesperrt?«

»Oh, das ist eine lange Geschichte …,« begann sie.

»Ich bitte, Herr Präsident …, die Frau hat eine Redekrankheit …«

Der Präsident winkte der verhängnisvollen Erzählerin ab … »Schon gut,« und wandte sich um.

»Ich bitte sehr, im Kloster …,« begann Barbara wieder und schwang sich ungeduldig von einem Fuß auf den andern.

»Sie fängt bei Adam und Eva an und endet am Tage des Jüngsten Gerichtes,« erlaubte sich der Rat zu bemerken.

»Die Leute sehen ja sehr wohlgenährt aus …, da brauch' ich nicht weiter zu fragen, die Kost ist jedenfalls genügend … Ich bin zufrieden – ich bin recht zufrieden,« sagte der Präsident. »Die Gefängnisse sind rein gehalten, ich finde gar nichts auszusetzen.«

Der Rat verneigte sich beglückt. Der Präsident dachte einen Augenblick nach, dann sagte er: »Ja, jetzt möchte ich noch das Badezimmer sehen.« Das war der Prüfstein der Bezirksgerichte. Die Badezimmer waren stets in Unordnung.

»O bitte …, bitte …,« sagte der Rat. »Kerkermeister – öffnen Sie!« Hoffentlich geht das Schloß nicht auf oder der Unglückliche erfindet etwas, was uns rettet, stöhnte er. Doch Züngel riß eilfertig die Tür zum Badezimmer der Gefangenen auf. Die hatten seit Jahren nicht gebadet, denn der Boden der Wanne glich einem Sieb. Doch was war das? Der Rat stand überrascht. Die Wanne wies einen blanken neuen Anstrich – nähertreten konnte man allerdings nicht, denn sie schwamm im Wasser.

»Die Gefangenen haben heute offenbar gebadet?« fragte der Präsident.

»Zu Befehl,« meldete der Kerkermeister, »sie baden jeden Tag!«

»Was?« erzürnte sich der Präsident und sah auf den Rat. »Das ist doch wohl zu viel …«

»Halten zu Gnaden,« verbesserte sich der Kerkermeister, »jeden Tag ein andrer – so hab's ich gemeint.«

»Ah so – ja, ja, das ist ganz in Ordnung …«

Der Rat segnete die helfende Hand Helfrichs, der noch in der letzten Stunde Rettung gefunden.

Jetzt schlich sich der Richter wieder herbei. »Darf ich vielleicht dem Herrn Präsidenten eine Art Museum zeigen?«

»Ein Museum? Was Sie nicht sagen! Das ist ja etwas Neues!«

»Ich habe es vor zwei Jahren angelegt, und nun hat es schon eine gewisse Bedeutung gewonnen durch die Fülle des Materials.«

»Das ist ja recht interessant!«

»Wenn Herr Präsident sich vielleicht hinaufbemühen wollten …«

Der Präsident hätte sich bis auf den Boden bemüht. Nun war alles gewonnen. Er stand vor dem Museumschrank und ließ sich vom Rat und Richter jedes einzelne Stück erklären und seine Geschichte erzählen.

»Das ist ja außerordentlich merkwürdig!« rief er beim Anblick des verhängnisvollen Regenschirms.

»Herr Landesgerichtsrat, ich beglückwünsche Sie zu Ihrem trefflichen Einfall. Besonders die Waffen der Wildschützen bilden ein Juwel Ihrer Sammlung. Hier eine Flinte als einfacher Spazierstock – wie sinnig! Es ist ein staunenswertes Ingenium, über welches Wilddiebe bei Erzeugung ihrer Hilfsmittel verfügen. Die Erfinder sind zumeist Schlosser oder Eisenmechaniker. Wie diese Leute zu Werke gehen, das dürfte den Herren vielleicht unbekannt sein.«

»Ganz unbekannt,« versicherte der Rat. Der Präsident übernahm die Rolle eines Belehrenden mit besonderem Behagen, hob eine Flinte, die dem Schreiber Olbrich gehörte, und wiegte sie auf der Linken. »Zuerst stiehlt der Künstler irgendwo ein Gas- oder Wasserleitungsrohr geringen Durchmessers, und jetzt kommt sein erfinderischer Geist zur Geltung bei der Erzeugung des Gewehrschlosses. Bei dieser Type, die ich Ihnen hier zeige, meine Herren, sieht das Schießgewehr genau so aus wie ein elegantes braunes Spazierstöckchen; der Griff ist abschraubbar …« Der Vortragende schraubte ihn mit geübter Hand ab. »In den Stock kommt die Lancasterpatrone. In dem Griff ist, wie Sie sehen, eine Federvorrichtung mit einem Stift …« Er hob den Lauf dem Rat entgegen, dem es rot vor den Augen schwamm. »Dieser Stift ist die eigentliche Zündnadel. Die Federvorrichtung wird durch einen kleinen Knopf am Griffe angezogen, sodann losgedrückt …« Der Präsident entwickelte den Griff – die Feder schnappte zu. »Sie haben doch sicher bemerkt, wie der Stift auf die Zündkapsel losschlug?«

Gar nichts hatte der Rat bemerkt.

»Wäre die Flinte geladen, so würde jetzt die Perkussion erfolgt sein!« triumphierte der Präsident. Seine Augen blitzten vor Vergnügen. Hundert Erinnerungen an fröhliche Jagden überkamen ihn. Doch ein Blick auf die Zuhörer belehrte ihn, daß sie wohl zugehört, aber nichts verstanden hatten.

»Ich bin leider kein Techniker und drücke mich daher wohl recht undeutlich aus …«

»Durchaus nicht, Herr Präsident,« versicherte der Richter.

»Mit dieser Type I konnten tatsächlich nicht allzu hoch aufgebaumte Fasanen in mondhellen Nächten herabgeschossen werden …« Tod dem Wilddieb! raunte es in der Seele des Präsidenten. Er griff nach dem nächsten Gewehr.

»Hier sehen Sie die Type II. Wieder ein Gasrohr, ein unförmiger, selbstgeschnitzter Kolben aus weichem Holz – wieder Lancasterpatrone, aber Zentralzündung, wie Sie gewiß gleich bemerkt haben …« Der Rat mühte sich, ein verständnisvolles Gesicht zu machen.

»Der Zündstift ist hier ein gewöhnlicher Schindelnagel. Ach! Das ist ausgezeichnet!«

»Ganz ausgezeichnet!« sekundierte der Rat beglückt.

»Der Nagel wird mit diesen zwei Gummischnüren an die Kapsel rasch niedergedrückt und diese perkutiert, somit entzündet! Unglaublich, meine Herren!« Der Präsident wandte den Lauschenden sein volles, breites Gesicht zu mit der freudig aufgerissenen Mundhöhle. »Es ist dies das primitivste aller Gewehrschlösser, die ich je gesehen! Hochinteressant! Die Herren ahnen gar nicht, welches wertvolle Stück Sie hier besitzen!«

Nein, das ahnten sie nicht.

»Doch, was ist das?« rief der Präsident überrascht und griff nach der nächsten alten Flinte. »Eine Type III. Hier hat sich offenbar ein Maschinenarbeiter das Gewehr ganz aus Eisen selbst erzeugt! Es ist eigentlich ein regelrechtes Lefaucheuxgewehr! Ein Eisenrohr relativ sehr großen Kalibers … Der Schaft eine Eisenplatte, hm, hm, aufziehbarer Hahn mit Rost, schwer abziehbar …«

Um Himmels willen, stöhnte der Rat, das ist ja Züngels altes Gewehr – wie kommt denn das nur her! Die Begeisterung des Präsidenten entzündete sich an ihm.

»Der Hammerhahn schlägt mächtig auf den aus der Lefaucheux-Patrone ragenden Zündstift, und der Schuß geht mit Vehemenz los …« Dem Rat perlte die Stirn, ihm war, als würde er an die Wand gestellt, vor die Mündung dieser Kanone.

»Höchst merkwürdig,« versicherte der Präsident, und der Rat fand das gleiche. »Die erste Bedingung bei allen Typen ist selbstverständlich die Zerlegbarkeit des Gewehres in zwei Teile: Lauf und Kolben, die gewöhnlich, an eine feste Schnur gebunden, um den Hals gelegt und unter dem Rocke getragen werden.« Der Präsident legte das interessante Stück zurück und wandte sich den Herren des Bezirksgerichtes zu. »Sie wissen nicht, meine Herren, welches überaus wichtige und fesselnde Material Sie hier durch rastlosen Fleiß zusammengetragen haben …«

Das stimmt, dachte der Richter.

»Ich werde diese eigenartige Sammlung nicht mehr aus den Augen verlieren …«

Um Gottes willen – erschraken Rat und Richter.

»Sie ist von kulturhistorischem Interesse. Ich werde darüber ans Ministerium berichten und freue mich, daß unter Ihrer Leitung, Herr Landesgerichtsrat, das Bezirksgericht zu neuen Lorbeeren kommt! Ich behalte mir auch vor, bei der geplanten Jagdausstellung in unsrer Landeshauptstadt diese Trophäen in einem gesonderten Schrank der allgemeinen Besichtigung zugänglich zu machen. Ja – meine Herren – ich gehe noch weiter. Bei nächster Gelegenheit werde ich trachten, Seiner Majestät, unserm glorreichen Monarchen diese höchst bemerkenswerte Sammlung, die ich noch zu erweitern gedenke, vorzulegen. Er als echter Jäger und oberster Jagdherr wird ihr ohne Zweifel sein erhabenes Interesse zuwenden …« Der Präsident richtete sich hoch auf, als sähe er einen Reigen Sterne auf seine Brust niedersinken, indes der Rat in einem tiefen Bückling vor Ehrfurcht zusammenschauerte.

Zwei Stunden waren mit der eingehenden Besichtigung vergangen. Der Präsident sah nach der Uhr und erschrak. »Wie – schon so spät –. Ich wollte mit dem letzten Zug wegfahren – erreiche ich ihn wohl noch?«

»O ja – o ja –« riefen Rat und Richter mit einer Stimme. »Wenn Herr Präsident sich ein bißchen beeilen …«

Der Präsident beeilte sich sehr. Der Bezirksrichter begleitete ihn auf den Bahnhof und bot ergebenst zum Kartenlösen seine Dienste an; sie wurden gnädig angenommen.

»Ich habe noch immer Zeit, heute abend ins Bureau zu gehen,« sagte der Präsident – »und morgen ist Sonntag, da kann ich den ganzen Vormittag arbeiten.« Er wollte immer vorbildlich wirken.

Jetzt sah man vom Stadthügel herab eilig einen kräftigen Mann nahen im schwarzen Rock – es war der Gerichtsrat, der im Festkleid von seinem hochverehrten Chef nochmals Abschied nehmen wollte. Er erschien wie zur Audienz, vom Lackstiefel bis zum schwarzen Hut tadellos gekleidet, und war so bewegt von der Eile des Umziehens und der Weihe des Abschieds, daß er nicht sprechen konnte. Doch sein Anblick genügte. Zu beiden Herren gewendet, sagte der Präsident:

»Ich bin außerordentlich zufrieden. Das Resultat meiner Revision ist über Erwarten günstig ausgefallen. Ich gestehe, daß ich nicht ohne ein gewisses Bangen hergekommen bin. Wenn man drei Jahre lang nicht revidiert hat, ist man auf allerlei Ueberraschungen gefaßt – aber, wie gesagt – ich bin auf das angenehmste enttäuscht. Den kleinen Tadel, den ich aussprechen mußte, will ich vergessen. Die Ordnung in den Akten, in den Gefängnissen, die ganze Führung ist musterhaft. Ich kann Ihnen nur gratulieren, meine Herren, und ich werde nicht verfehlen, darüber höheren Ortes gewissenhaft zu berichten.«

Der Rat leuchtete vor Vergnügen. Eine Auszeichnung war ihm gewiß. Der Präsident ward immer aufgeräumter. Er erzählte Schnurren aus seiner Auskultantenzeit, die überaus zahm waren und in der Verehrung der Vorgesetzten gipfelten.

Endlich kam es zum letzten Händedruck; Präsident Runkel stieg ein.

Die Zurückbleibenden blickten ängstlich auf den Zug.

»Fährt er nicht bald?« fragte der Rat leise, der endlich seine Sprache wiederfand.

»Nein, er hat erst einmal gepfiffen. Er wird noch zweimal pfeifen, dann wird abgeblasen, dann kommt das schrille Pfeiferl und noch ein letztes Blasen und ein letzter langer Pfiff …«

»Wenn man nur nicht vergessen hat, den Wagen anzukoppeln wie letzthin,« sorgte der Rat. »Damals war die Baronin lachend zurückgeblieben – doch welche peinliche Ueberraschung, wenn der Präsident uns sitzen bliebe.« Der zeigte sich jetzt wie ein Monarch am Fenster und sprach leutselig zu den ehrerbietig vor ihm versammelten Untertanen.

»Es ist wohl das letztemal, daß ich hier revidierte.«

»Hoffentlich nicht!« rief der Rat.

»O doch …, doch … Natürlich – jetzt in der Kriegszeit gibt es kein Abspringen.«

Leider! sagten sich die Untertanen.

»Aber nachher – sofort. Ich möchte doch die letzten Jahre in Frieden leben, und dann, ich sage mir auch, es hilft nichts, man muß jungen Kräften Platz machen.«

Die Zuhörer hätten am liebsten Beifall geklatscht, aber sie schwiegen bedauernd.

Nun strömte die Lokomotive wie in hellem Jauchzen allen Dampf aus, den sie sich angeheizt hatte, ein Pfeifen und Blasen begann, und ein Wagen nach dem andern bekam einen jähen Ruck.

Den Präsidenten warf es fast zurück. Da er jetzt die reinste Fröhlichkeit in den Gesichtern seiner Untergebenen aufleuchten sah, rief er ärgerlich: »Adieu, meine Herren, morgen kommt vielleicht doch der Donner!«

Der Zug rollte fort, und die Herren blickten einander verdutzt an.

»Was hat er gesagt?« fragte der Rat.

»Ich hab's auch nicht verstanden,« erwiderte der Richter. Ihm lag nichts an der Drohung eines Vorgesetzten. Die hatten immer zu donnern. Gewitter, die in den Lüften verpufften. Es schlug zum Glück nicht jeder Blitz ein und der Donner schon gar nicht.

Als die Herren ins Schloß zurückkehrten, fanden sie die reumütigen Flüchtlinge um Verzeihung und um Einlaß flehend vor dem Tor.

»Verfluchte Bagage!« knurrte der Richter.

Der Rat aber erteilte eine allgemeine Amnestie und sank erschöpft auf seinen kurulischen Stuhl.

Züngel trieb die Ausbrecher schimpfend in ihre Zellen.


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