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V.

Wenn man in die gute alte Zeit tauchen wollte, dann fuhr man nach Schleppersberg. Die Stadt war im Jahre 1389 gegründet worden, und seither hatte sich wenig in ihr verändert.

Dann und wann legte eine Feuersbrunst eine Häuserreihe nieder, die neu aufgerichtet wurde. Auch das Schloß war 1780 eingeäschert worden, wobei sein wertvolles Archiv verloren ging. Der damalige Reichsfreiherr baute es im Stile seiner Zeit wieder auf und überließ es dem Sitze der Behörde.

In Schleppersberg waren die Menschen ohne Arg.

Es gab leidenschaftliche Deutsche und leidenschaftliche Tschechen, die einander gegenseitig achteten und liebten. Da die Zeitungen mit Verspätungen ankamen, regten sich die Schleppersberger niemals auf über Dinge, die vor acht Tagen geschehen waren.

Hier lebte unter den Waisen des Schlosses eine alte, brave Wienerin. Sie hatte das goldene Wiener Herz mitgebracht, und mit ihm fütterte sie zwei Waisenknaben, die ihr der Deutsche Schulverein im Frieden geschickt hatte und die sie jetzt im Kriege nur mit unendlicher Mühsal ernähren konnte. Aber sie kannte ihre Pflicht gegen das Deutschtum, und hätte jeder soviel getan, wäre es besser darum gestanden.

Die Bürger hatten sich ehemals dagegen gewehrt, die Eisenbahn in ihre Nähe zu bekommen. Es wird ja doch kein anständiger Mensch mit ihr fahren, sagten sie, und wir wollen nicht, daß sie allerlei lustiges Vagabundenpack in unsre ernsten Mauern trägt. So kam es, daß Schleppersberg sich in seiner uralten Form behauptete. Allmählich empfand die Stadt ihre Abgeschiedenheit als etwas Lähmendes; eine Zweigbahn wurde zur nächsten Eilzugstation gebaut, aber der Bahnhof wieder recht weit von der Stadt hingestellt. Darum überlegte es sich jeder Schleppersberger lange, ehe er den Weg zur Station antrat, und viele liefen lieber gleich querfeldein der nächsten Ortschaft zu.

Die Bürger pflegten sich in der Mittagstunde vor dem Rathaus einzufinden, das, ein kleines, viereckiges Gebäude, mitten auf dem Ringplatz stand, von zwei krummen Akazienbäumen überschattet und von zwei alten steinernen Heiligenstatuen beschützt, dem heiligen Sebastian, von Lanzen durchbohrt, und der Jungfrau Maria, mit einem goldenen Lilienstengel im Arm. Hier beriet der Bürgermeister, Herr Wislozil, mit den Gemeinderäten die Fragen der Gegenwart. Hier war Gericht gehalten worden über die deutschen Schilder, solange, bis kein einziges mehr in der Stadt zu finden war; von hier ging jede Bewegung aus, jede Neuerung, hier war im Frieden der Grundstein zu der Ausstellung gelegt worden, hatte sich später die Angst vor der herannahenden Russengefahr mehr oder minder lebhaft gezeigt. Hier liefen alle Nachrichten zusammen, wurde täglich über Krieg und Frieden beraten.

Der Stadtschreiber, ein Mann von 60 Jahren, ehemals Obmann des Deutschen Schulvereines, jetzt radikalster Tscheche, suchte alle Fragen zugunsten der Tschechen zu lösen. Er hatte seinen deutschen Namen Scholz tschechisiert, schrieb sich Solz und mühte sich sogar, wenn er deutsch sprach, einen tschechischen Akzent zu zeigen. War aus dem Stadtschreiber Scholz ein Tscheche geworden, so hatte der tschechische pensionierte Oberförster Frantisek Obdrzel sich in einen fanatischen Deutschen verwandelt, schrieb sich Franzel Obderschel und grüßte jeden Tschechen mit »Heil!«, wofür ihm ein wütendes » Na zdar!« zugeschmettert wurde.

»Alsdann, was tum ma mit die naiche Zeit?« fragte Solc eines Mittags, als die Bürger sich zu freundlichem Meinungsaustausch eingefunden hatten.

»Gar nichts,« sagte der Bürgermeister Wislozil, und sein gemütliches rotes Gesicht lachte freundlich.

»Aber die Turmuhr muß me verschieben in der Nacht zum ersten Mai,« sagte Solc. »Ise Verordnung schon gekommen …«

Schon wieder eine Verordnung! Am Stadthaus hingen wohl zwanzig Kundmachungen übereinander. Man hatte die eine noch nicht gelesen, da war schon die nächste da. Der Bürgermeister kraute sich hinter dem Ohr.

Vor lauter Verordnungen gab's keine Ordnung mehr, und niemand wußte, wonach er sich zu halten hatte. Man bekam bald mehr Zettel als Lebensmittel, so erzählten die Leute, die aus der großen Stadt kamen. Gott sei Dank, in Schleppersberg war's noch nicht so schlimm, zum Essen gab's genug – hatte jede Hausfrau Hühner und ein Schwein, und mancher Hausherr hielt eine Kuh im Stalle. Auch Getreide und Kartoffeln gab es in den Vorratskammern. Aber je mehr einer hatte, um so schlimmer ging's ihm, er kam aus dem Aerger über die Revisionen gar nicht mehr heraus.

»Diese verflixten Verordnungen,« sagte der Bürgermeister. Jede, die sich umgehen ließ, wurde umgangen. Aber da war nun wieder so etwas Fatales von oben herab ausgegeben worden, vom Ministerium. Wochenlang hatten schon die Zeitungen die Menschheit mit dieser neuen Zeit beunruhigt, und nun rückte sie immer näher. Die Leute fürchteten sich vor ihr.

»Heil!« rief der Oberförster Obderschel, der sich der Runde näherte, und schwenkte den grünen Hut mit dem Gemsbart.

» Na zdar!« wetterte Solc ihm entgegen. »Kommen Sie grad zurecht, Pane Obdrzel. Können Sie Kren Ihrigen geben dazu …«

Der Oberförster mühte sich, in reinem Reichsdeutsch zu sprechen. »Nu wollen wir mal sehen, wie der Hase läuft …«

»Da läuft sich nix,« rief Solc verärgert und blickte auf den Turm, der mit seinen ungeheuren Eulenaugen wie erschrocken auf die Beratenden niedersah.

»Ich nehme die neue Zeit nicht an,« sagte der behäbige Herr Dechant. »Das fiel' mir gerade ein, daß ich die Messe um 5 Uhr lese!«

»Ich kann sie gar nicht brauchen,« tobte der freiherrliche alte Verwalter Müller, ein Choleriker, der immer aufgeregt und heiser vom vielen Schreien war. »Wird sich mir das Vieh an sie gewöhnen? Nein – das Vieh bleibt bei der alten Zeit!«

»Ich führ' die neue Zeit ein,« rief Mandelbaum. »Aber richt' ich mich nicht nach ihr, wird sie sich richten müssen nach mir.«

»Alsdann wer wird die Zeiger vorschieben?« fragte der Stadtschreiber, der sich überall selbst vorschob. »Dos is Ihr Gewerbe, Herr Dudek! Sie müssens auf Turm kraxeln!«

»Möcht' mir einfallen!« sagte der alte Gemeinderat, Uhrmacher Dudek. Sein rundes Gesicht glich dem Zifferblatt einer Uhr, die Schnurrbartspitzen standen wie Zeiger darin. »Möcht' mir einfallen. Was glauben S' denn, da muß man außen herum um den Turm klettern, denn drin is schon ni mehr ganz sicher –, gehört schon ein verflucht Geübter dazu. Und wann er ni vorsichtig is, bleiben ihm auch noch die verrosteten Zeiger in der Hand. Dank' schön für die Bescherung.« Mit hervorquellenden Augen drehte Herr Dudek an seinen eigenen Zeigern im Zifferblatte seines Gesichtes.

»Diese verd… Verordnung!« stöhnte der Bürgermeister.

Der Richter Bauer kam eben aus dem Schloß und trat zu der Männergruppe. Die Herren begrüßten ihn voll Hochachtung. Er trug einen neuen grünen Jagdanzug mit dem Gurt um die Mitte und zwei Falten über der Brust. Das mochte jetzt das Neueste sein für die Männer der eleganten Welt, sagten sich die Bürger. Hinter dem Richter zottelte sein brauner Jagdhund Nero, dessen Pflege und Dressur dem Junggesellen die Sorge und Freude an der Familie ersetzte. Der Richter sah den Vätern der Stadt die Unentschlossenheit an und wußte sogleich, wovon sie gesprochen hatten, da sie alle zur Turmuhr emporstarrten.

»Vorausgeschoben müssen die Zeiger werden – Verordnung ist Verordnung,« bestimmte er.

Der Bürgermeister Wislozil war jetzt derselben Ansicht. Er blickte bekümmert. »Wann es wenigstens um elf Uhr mittags wäre – aber ausgesucht, wenn alles finster ist, soll man die Uhr verschieben! Welcher Narr wird auf den Turm steigen – in der Nacht! Der bricht sich ja schon am Tag den Kragen …«

»Vielleicht find' sich a Deutscher dazu,« meinte leise der Stadtschreiber Solc, und zog einen breiten Mund.

»Ich möcht's selber versuchen,« meinte Bauer schneidig und blickte auch zum Turm hinauf.

»Was Ihnen nicht einfällt, Herr Richter. Das geben wir unter keinen Umständen zu. Das wär' Selbstmord.«

Helfrich hatte an dem Pfeiler einer Laube gelehnt und alle Gespräche gehört. Jetzt trat er vor.

»Ich tu's, Herr Bürgermeister. Ich erbiete mich, Ihnen die neue Zeit einzuführen!«

»Sie?« fragte der Bürgermeister. Um den ist nicht schad', dachte er sich. Soll er sich umbringen. »Was verlangen Sie dafür?«

»Ich betrachte es als Ehrensache!« erwiderte Helfrich mit Würde.

»Ganz schlau spekuliert,« meinte Mandelbaum. »Die Ehrenämter tragen manchmal das meiste.«

»Aber wie wollen Sie auf den Turm steigen? In der finstern Nacht! Nicht einmal Vollmond haben wir!« sagte der Bürgermeister.

»Ich nehme mir eine elektrische Laterne …«

»Das ist etwas andres.« Die Bürger sahen sich an und nickten. Das wäre keinem eingefallen. Der Michel war doch ein kluger Kopf und für die Arbeit wie geschaffen. Vom Uhrhandwerk verstand er auch sein Teil … na, und was das übrige betrifft, an die Moral allein konnte man sich nicht halten im Kriege.

So wurde das Anbot Helfrichs mit froher Zustimmung aufgenommen. Jedenfalls war der Sträfling billiger als andre, und fiel er herab, war das Unglück nicht groß.

Helfrich zog sich mit ehrerbietigem Gruße zurück. Die Freude beflügelte seine Schritte. Nun sollte er für kurze Zeit der höchste Mann der Stadt sein, gewissermaßen an ihrer Spitze stehen.


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